MAIDIERES
Meine Mutter war siebenundvierzig Jahre alt, als ich zur Welt kam. Für mich war sie stets die Mutter, eine Frau, bei der es nicht auf Schönheit ankommt, sondern nur auf Güte, Wärme, auf die Hand, die Schnitten verteilt. Ich war ihr Dreizehntes. Mir kam sie immer wie eine Sechzigjährige vor, so wie alle alten Frauen des Dorfes, die rüstigen und tätigen Mütter; niemals hätte ich sie den zahnlosen, mürrischen Großmüttern gleichgestellt, die den lieben langen Tag mit ihren knotigen Händen im Schoß dasaßen.
Im Dorf sprach man von einer Frau, die Kinder hatte, nie als von „Madame" Soundso, sondern als von „Mutter" Soundso. Alle Mütter glichen einander. Es waren Frauen mit Runzeln und Tränen. Ihre ledernen Hände rochen nach Knoblauch. Meine Mutter hatte viel geweint, hinter ihren Brillengläsern standen Tränenseen; der übrige Teil ihres Gesichtes aber, von der Stirn bis zum Mund, lächelte weiter, auch ihre Stimme.
Wenn die Mütter einander begegneten, draußen an der Kreuzung eines Weinbergweges und der zum Wald aufsteigenden Straße, vergossen sie immer einige Tränen; sie trockneten sie mit einem großen karierten Taschentuch, während die eine ihren Schubkarren, die andere ihren Korb absetzte.
Sie alle trauerten um tote Kinder. Meine Mutter hatte fünf zu beweinen, große und kleine, die ich nie gekannt hatte.
Niemals gingen wir hinaus aufs Feld — ich um Johannisbeeren zu essen, sie um Bohnen zu stützen —, ohne ein paar Frauen des Dorfes zu begegnen. Das summende und heitere Geplauder über das Vergnügen, an einem schönen Tage im Freien zu sein, glitt bald hinüber in Klagen über Krankheit und Tote. Wenn meine Mutter ausgeweint hatte, wischte sie ihre Brille am Schürzenzipfel oder am Taschentuch trocken, und ich konnte ihre beiden armen Augen besser sehen.
Ich weiß nicht, wie sie noch die Zeit fand, das Haus in Ordnung zu halten und die Mahlzeiten zu kochen; so oft war sie im Wald und auf dem Feld oder wusch ihre und anderer Leute Wäsche.
Sie sah immer ruhig aus. Niemals schien sie in Hast. Ihre Arbeit hielt sie nicht davon ab, lange Gespräche mit Nachbarinnen zu führen, während ich ihr voller Ungeduld in Hände und Arme biss, bis zu denen ich gerade hinaufreichte.
Ich sah sie den Teig kneten und im gemeinsamen Backofen des Hauses Brot für die Woche backen, sah sie Mirabellen, Erbsen, grüne Bohnen als Wintervorrat in Gläser füllen.
Das Haus war sauber, der Holzfußboden wurde oft aufgewischt. Das war die Regel in allen Häusern des Dorfes, deren einziger Luxus ihre Sauberkeit war. Es gab keine Sessel und keine Spiegelschränke, keine schönen Fliesen und keinen gebohnerten Fußboden in diesen Häusern.
Bei uns lag die ganze Wäsche der Familie ordentlich
aufgestapelt in einer einzigen großen Truhe, über der in Reih und Glied Marmeladentöpfe standen. Schon in der Frühe waren alle Betten gemacht.
Meine drei großen Schwestern konnten Mutter nur am Sonntag helfen. Es waren drei heiratsfähige Mädchen, die in der Woche frühmorgens mit dem Zug nach Pagny-sur-Moselle fuhren. Sie arbeiteten dort in der Fabrik und kamen spät am Abend zurück. Sonntags bügelten sie die großen Betttücher, flickten sie und legten sie zu zweit zusammen; dabei sangen sie unter ihrem keck aufragenden Dutt die romantischen Schlager jener Zeit. Die Älteste wusch die beiden Kleinen, meine jüngste Schwester und mich; sie zog uns die Kleider an, zu deren Anschaffung die drei Großen zusammengelegt hatten. Mit blankgeriebenen Ohren und von der Seife noch brennenden Augen gingen meine kleine Schwester und ich zur Messe.
Wir wohnten nicht allein im Hause. Unsere Fenster lagen nach der Straße zu. Die der Familie Reny, unserer Flurnachbarn, gingen auf den umzäunten Garten hinaus. Vater Reny ging selten aus; hüstelnd blieb er am Feuer und rauchte seine Pfeife bei einer Zeitung, die er vom Morgen bis zum Abend immer wieder von neuem las. Er trug einen langen, weißen Bart und war Veteran von 1870. Seit der Belagerung von Metz, wo es ihn „erwischt" hatte, hustete er.
Mutter Reny war eine noch flinke Frau, sie quälte sich nicht so ab wie meine Mutter. Ihre beiden großen Kinder arbeiteten in den Büros der Fabrik in Pont-a-Mousson. Ich ging selten zu ihnen.
Wenn ich hereinkam, sah ich Vater Reny, seine Pfeife, die Zeitung, Leonies Nähmaschine und Marcels
Mandoline. Auch bei ihnen war es sehr sauber. Der summende Wasserkessel über dem Feuer, das Ticken einer großen Uhr und jene Mischung von Mus- und Gemüsegeruch, die man den Duft der Ehrbarkeit nennen möchte, verbreiteten eine warme Behaglichkeit.
Unsere anderen Nachbarn, die Familie Marion, waren so alt und so stumm, dass ich mich nur noch an die Ölfunzel erinnere, mit der sie ihr Zimmer beleuchteten, auch als bei uns schon der Glanz des Gaslichts die stille Traulichkeit der Petroleumlampe verdrängt hatte.
Ihre Tochter, eine Witwe, hatte im Erdgeschoß ein Kolonialwarengeschäft. Die meisten Häuser des Dorfes hatten nur ein Stockwerk. Über den Wohnungen der Leute hatten die Schwalben am Dachgesims zahlreiche Nester gebaut.
Das Töchterchen der Krämerin, das von Geburt blind war, tastete sich an den Wänden entlang zu ihren Großeltern hinauf; ihre Bekannten identifizierte sie, indem sie schnüffelnd die Luft einsog und sich dann an ihre Schürzen klammerte.
Im Winter ging meine Mutter zur Nachbarin Dassonville hinüber, deren Bildung sie bewunderte, und ließ sich von ihr den Zeitungsroman vorlesen. Die Handlung packte sie, und sie wartete gespannt auf den Ausgang: Heirat oder Verrat. Das abenteuerreiche Leben der vornehmen Welt, von dem sie da hörte, war ihr wie eine Offenbarung; sie glaubte, das Leben zu verstehen. Von der Wohnung im Erdgeschoß sah man zwischen den seitlich gerafften Vorhängen hindurch die Dorfbewohner vorbeigehen. War die Lektüre beendet, begann eine lebhafte Unterhaltung. Von einigen Tassen Kaffee angeregt, scherzten die Frauen und machten sich in drolligen und derben Ausrufen Luft. Das waren die schönsten Augenblicke ihres Tages, diese Kaffeestunde um drei Uhr nachmittags im Winter, wenn der Schnee fiel.
Meine Mutter bezog aus dem Zeitungsroman ihre Aufklärung über das Leben mit jenem Schuss von Wunderbarem, dessen jedermann bedarf. Während eine kleine Tabakdose von Hand zu Hand ging, lauschte ich mit geheuchelter Unschuld der Unterhaltung.
Als ich so alt war, dass ich gerade den Namen unserer Straße auf dem Emailschild lesen konnte, wusste ich schon, dass die Kinder nicht vom Himmel fallen oder vom Storch gebracht werden, obwohl meine Mutter und ihre Nachbarinnen sehr darauf bedacht waren, von den „kleinen Ohren" nicht verstanden zu werden.
Nach ihrer Heirat mit meinem Vater war sie aus ihrer Normandie nach Lothringen gekommen. Mein Vater war Jäger zu Fuß gewesen und schloss nach seiner Rückkehr aus Algerien seine Dienstzeit in Alencon ab. Ich fragte sie, ob ihr Vater nett zu ihr gewesen sei, warum sie ihre Mutter seit dem Abschied von da oben nicht wieder gesehen habe, ob sie 1870 die Preußen gesehen habe, wie alt sie zur Zeit dieses Krieges gewesen sei, und ob die Preußen böse gewesen seien.
„Ich war zwölf", hatte sie mir geantwortet.
Ich dachte mir, dass die stolzen Dragoner mit dem Messinghelm und dem Pferdeschweif daran, die sonntags durchs Dorf zogen und den Kindern erlaubten, hinter ihnen herzugehen und ihre schweren Säbel anzuheben, uns sicher vor einer neuen Invasion schützen könnten. In der Woche ritten sie auf ihren großen Pferden an unseren Fenstern vorbei. Die Hufe klapperten, und die Trompeten schmetterten.
Mein Vater war der Sohn eines Winzers von Pagny-sur-Moselle. Er war frühzeitig Waise geworden und arbeitete schon mit sechzehn Jahren auf den großen Bauernhöfen des flachen Landes. Ein hartes Leben für einen kleinen Kerl. Mit achtzehn war er zum Militär gegangen. Die beste Zeit seines Lebens, diese fünf Soldatenjahre in Algerien. Während seiner Dienstzeit hatte er lesen gelernt. So konnte er dann und wann die Zeitung lesen, wobei er wie ein Kind Silbe für Silbe buchstabierte. Meine Mutter kannte nicht das Abc.
Beide waren bäuerlicher Herkunft, aber wir besaßen kein Land mehr. Als mein Vater aus der Armee ausgeschieden war, wurde er Hilfsarbeiter in den Gießereien von Pont-a-Mousson. Die meisten Männer des Dorfes Maidieres, wo wir wohnten, arbeiteten ebenfalls in der Fabrik. Einige hatten das Werk entstehen sehen, das unter ihren Augen immer weiter anwuchs. Es hatte die Bauernsöhne ohne Grund und Boden und die durch die Reblaus ruinierten Winzer an sich gezogen.
Die blühende Fabrik sicherte ihnen aber trotz der zehn- und sogar zwölfstündigen Arbeitstage ihren Lebensunterhalt nicht. Ein für allemal waren sie der Welt des großindustriellen Proletariats anheim gefallen. Zu einem Viertel blieben sie Bauern, da sie am Sonntag ein Stück Land bebauen mussten, um ein wenig besser leben zu können. Sie benötigten den Gemüsezuschuss der Felder, die sie gepachtet hatten. Auf dem Stückchen Erde, das wir gepachtet hatten, machte sich meine Mutter zu schaffen.
Abends im Bett, wenn mein Vater die Lampe ausgeblasen hatte, fragte er Mutter aus und erkundigte sich lang und breit nach allem möglichen. Waren die Erbsen aufgegangen, hatte sie die Kartoffeln gehäufelt und die Bohnen gestützt? Die Fragen mischten sich mit Betrachtungen über das Wetter. Es regnete nicht genug oder es hatte zuviel geregnet. Er war nicht immer zufrieden mit der Arbeit der Mutter.
Im Frühjahr halfen meine großen Schwestern und ihre Verlobten dem Vater oder den Brüdern sonntags morgens beim Umgraben.
Ich selbst tat, was ich konnte, halb als Spiel.
Die jungen Leute hätten wohl lieber andere Zerstreuungen für ihre Sonntage gehabt, als den Spaten oder die Schubkarre mit Mist. Der älteste meiner Brüder war zur Zeit meiner Geburt schon verheiratet. Die Spannung wegen der Feldarbeit war zwischen meinem Vater und den beiden anderen immer ziemlich stark, bis es ihnen unerträglich wurde, länger im Haus zu bleiben. Selten waren Familienväter mit der Hilfe ihrer Söhne zufrieden. Der Vater nannte seine voller Bitterkeit: „Meine Stromer". Rene war knapp dreizehn, als er zum ersten Mal ausriss. Drei Monate später sah ich ihn wiederkommen; er war auf einen Karren geklettert, hatte eine schöne, grüne Strickweste, neue Schuhe und lange Hosen an und strahlte vor Glück, als habe er keine Ahnung von der Tracht Prügel, der er entgegenfuhr.
Er kam aus Belgien; dort war er in der Welt des Zirkus und der Jahrmärkte untergetaucht.
Meine Mutter hatte eine lockere Hand. Nach den Ohrfeigen gab es Brot und ein Stück Speck. Es brauchte schon ein paar Tage, bis sich der Vater an den Gedanken seiner Rückkehr gewöhnt hatte. Rene schlief auf dem Dachboden. Eines Abends kam er zur Essenszeit
leise herein, behutsam wie eine Maus — aber schon schüttelte ihn der Vater und schlug ihn mit einem Seil. Rene gelang es, unters Bett zu schlüpfen, wo ihn der Vater mit einem Hackenstiel in die Rippen puffte. Meine jüngere Schwester und ich versuchten erschrocken, ihn daran zu hindern, indem wir laut schrieen und uns an seinen Armen festklammerten. Wenn Rene damals nicht kurz und klein geschlagen wurde, so nur deshalb, weil es ihm gelang, plötzlich durch das Fenster zu springen.
Mit mir war mein Vater zärtlicher. Ich war der Jüngste. Wenn er am Sonntagmorgen aus dem Garten kam, lag auf seiner Schubkarre in einem Korb ein großes Kohlblatt voll Erdbeeren, die seine groben Hände mir reichten. An den Zahltagen brachte er mir Erdnüsse oder Apfelsinen mit. Bis zu meinem siebenten Jahr ließ er mich sonntags morgens im Winter, wenn er länger liegen bleiben konnte, im großen elterlichen Bett auf seinem Bauch herumtanzen. Er sagte mir arabische Worte und versprach mir, an Abd-el-Kader zu schreiben, der mir einen Apfelschimmel schicken würde. Mittags, wenn das Essen fertig war, fand ich ihn im Sonntagsstaat, vom Barbier kommend, frisch rasiert und mit gezwirbelten Schnurrbartspitzen, im Cafe vor einem Absinth. Ich trank ein wenig aus seinem Glase, während ich auf mein Glas Himbeerlimonade wartete.
Ich fand ihn dort in Gesellschaft meines ältesten Bruders, der bereits Familienvater war. Er war mit seinem Töchterchen, einem Mädchen in meinem Alter, oder mit einem meiner jungen Neffen über die Felder gekommen, die sein Dorf von unserem trennten, um uns zu besuchen. Manchmal saß am Tisch des Vaters auch der
eine meiner zukünftigen Schwäger, der schon seit Jahren im Hause aufgenommen war, ein schöner Infanteriesergeant mit goldenen Tressen, roten Achselstücken und roten Hosen, der mir stets erlaubte, sein Käppi aufzusetzen. Der Vater sagte gern und immer wieder, dass ich die Stütze seines Alters sein werde. Zwischen Adrien, meinem großen Bruder, und Camille, dem künftigen Schwager, machte ich keinen Unterschied. Er war mein Pate: er kannte mich von meiner Geburt an.
Camille hatte mir aus einer Seifenkiste und zwei Rädern einen Karren angefertigt, mit dem ich die Rossäpfel auf der Straße sammelte, wenn Dragonerabteilungen vorbeigeritten waren. Wenn der Misthaufen während der Ferien anwuchs, war mein Vater mit mir zufrieden.
Seine Töchter liebte er mehr als seine Söhne. Doch er sprach mit Rührung von einem meiner Brüder, einem Jungen von achtzehn Jahren, den die Schwindsucht hinweggerafft hatte. Er war ein kleiner, tapferer Kerl gewesen; zu früh war er in der Fabrik unter die Gießereiarbeiter geraten, die mit den Jungen, ihren Handlangern, rau umgingen und ihnen Maulschellen und Fußtritte in den Hintern austeilten, um sie für ihre Arbeit abzuhärten.
Meine Mutter ging sonntags nicht zur Messe. Sie hatte keine Zeit. Aber sie war fest davon überzeugt, dass es den lieben Gott gibt. Wenn wir zum Wald gingen und an dem großen Missionskreuz vorüberkamen, bekreuzigte sie sich schweigend. Ich machte es ihr nach.
Bei den gefällten großen Eichen schlug sie mit einer Hippe aus den Ästen, die die Holzfäller liegen gelassen hatten, Stangen für Bohnen und Erbsen zurecht, und auch das Holz für den Wintervorrat. Wenn die Zeit des wilden Spargels, der Brombeeren, Erdbeeren, Pilze und Haselnüsse kam, gingen wir zusammen in den Wald. Mit ihr war ich immer im Freien. Während sie mit der Hippe hackte, schlief ich oft ein. Der Wald macht schläfrig. Erschrocken erwachte ich dann, das hohe, grüne Gewölbe über mir. Wenn Gewitter uns überraschte und wir hinter einem Baum vor dem Regen Schutz suchten, bekreuzigte sie sich bei jedem Blitz. Nach dem Regen gurrten Tauben in einem Tannengehölz. Es roch herrlich nach modrigem Boden, Maiblumen und zerdrückten Erdbeeren. Auch ich glaubte an den lieben Gott.
Ich suchte, Schritt für Schritt, die Entfernung abzuschätzen, die die Erde vom Paradiese trennte. Zweimal die Höhe einer Eiche oder unseres Kirchturms schien mir an den unsichtbaren Sitz der Engel zu grenzen. Ich sprach zu niemandem darüber. Für meine Mutter war es vielleicht ein wenig höher.
Niemals habe ich sie bei der Arbeit verdrießlich oder mürrisch gesehen. Wenn sie mit einem schwer beladenen Schubkarren vom Walde herunterkam, sagte die erste Frau, der sie beim Dorfeingang begegnete: „Mutter Navel, Sie sind ein wahres Pferd."
Während sie ihre Brille trockenrieb und sich die Stirn abwischte, strahlte sie. Wir kamen am Garten des Bürgermeisters vorbei, aus dem Hopfenstangen aufragten. Meine Mutter begegnete niemandem, ohne ihren Karren abzustellen, guten Tag zu sagen und einen Dorfschwatz anzuknüpfen; sie begann ihn mit den Wetteraussichten, für die es im Schwalbenflug und im Verhalten der Hühner genügend Anzeichen gab, und ließ ihn in Rührung über das Unglück der anderen ausklingen; mit großer Ehrfurcht lauschte sie den Worten des Bürgermeisters. Der schon ziemlich bejahrte Mann war groß, hager und knochig. Auf dem Kopf trug er eine Mütze mit Ohrenklappen, die ihm zusammen mit seinen Ledergamaschen das Aussehen eines ehemaligen Offiziers verliehen. In unseren Augen war er ein reicher Mann. Er besaß ein paar Felder und ein Pferd. Man schlug sich damals gerade auf dem Balkan und in Marokko. Meine Mutter erwartete von ihm, dem gebildeten Mann, einen Einblick in die Ereignisse; denn schon drohte der Weltkrieg.
Ganz verwandelt, honigsüß geradezu, erschien sie mir, wenn sie einem alten Fräulein aus besserer, provinzbürgerlicher Familie begegnete. Diese Dame in tiefer Trauer, mit den wehmütigen Augen und der langsamen und sanften Art zu sprechen, schien ihr nicht aus demselben Zeug geschaffen wie sie und ihre Nachbarinnen. Es war, als glitte eine Gestalt aus einem Kirchenfenster vorbei. Wenn sie sich selbst auch vom Morgen bis zum Abend abrackerte, begegnete sie doch ganz gern jemandem, der von einem kleinen Vermögen lebte und dabei seinen toten Angehörigen oder einem alten Liebeskummer nachtrauerte. Meine Mutter mochte die Reichen und ihre Vornehmheit gefühlsmäßig gern, gerade so wie sie die vom Bläuen und vom Seifenwasser schneeweiß gewordene Wäsche liebte.
Der Geistliche, dem wir begegneten, war ein Bauernsohn des Hochlandes, aus der Gegend von Verdun. Von dort hatte er seine derbe Sprache. „Saubande" nannte er die Kinder in der Religionsstunde. Ich mochte ihn nicht; er hatte mich geschlagen. Seit meinem achten Jahr wartete ich darauf, alt genug zu sein, um ihn wieder-
schlagen zu können. Für immer hatte ich aufgehört, zur Messe zu gehen.
Drei Nonnen mit gestärkten weißen Hauben wohnten im Dorf. Sie waren beliebt. Sie hatten eine Unmenge von Heilmitteln und kurierten die Brand- und Schnittwunden der Kinder, ihre Quetschungen und die Nagelgeschwüre der Erwachsenen. Es waren sanfte Geschöpfe von unbestimmbarem Alter. Eine tiefe und stille Heiterkeit hatte sich ihren Gesichtern eingeprägt.
Um die moralische Wirkung ihres Daseins zu ersetzen, hätte eine lange Reihe das ganze Jahr über blühender Lindenbäume nicht gereicht.
Am Fronleichnamstag oder zum Fest der Jeanne d'Arc brachten die Männer — auch die, die nicht zur Kirche gingen — Zweige herbei, um den Altar zu schmücken, zu dem die Prozession führte. Hinter dem Geistlichen schritten Kinder und streuten Blütenblätter aus Körbchen, die sie an ganz neuen oder frisch gebügelten Bändern trugen.
Die Kirchenfeste wurden nicht nur eingehalten, sondern sie zeichneten sich auch durch Belustigungen aus. Alle zogen sich besser an, niemand ging zur Feldarbeit, und die Stunde des Aperitifs war von Glockengeläut begleitet. Die Mirabellentorten und der Pflaumenkuchen fielen größer aus, und zu Hause waren um den großen Festtagstisch mehr Gäste als sonst.
Wenn mein Vater zur Stadt hinunterging, brachte er aus Anhänglichkeit zu seiner ehemaligen Waffengattung einen unbekannten Rekruten vom Jägerregiment als Gast mit, den die ganze Familie freundlich aufnahm. Jahrelang, bis zum Kriege von 1914, brachte mir die Mutter jeden Tag um 12 Uhr nach Schulschluss einen Korb mit dem Mittagessen für den Vater. Ich trug ihn zur Fabrik, das heißt vor die Fabrik, zum „Schutthügel". Dieser, eine hohe Pyramide, wurde immer größer von all den Schlacken, die eine winzige Lokomotive mit kleinen Loren heranbrachte. Das mit Staub und Schlackenstücken vermischte Gusseisen wurde hier Schaufel für Schaufel in einem Wasserlauf von Schlacken freigeschlämmt. Dort traf ich meinen Vater mit einem halben Dutzend Männer, die ich mit Namen kannte.
Auf zwei Ziegelsteinen sitzend, den Rücken an dicke dort gelagerte Rohre angelehnt, saß ich neben ihm mit dem Trupp der Wäscher. Im Winter aßen wir in einer kleinen Baracke. Ein mit Koks gefüllter Schmelzofen wärmte den Raum und strömte einen starken Fabrikgeruch aus.
Ich fand meinen Vater immer still, selten heiter, oft kummervoll. Er war über sechzig Jahre alt. Seit fast vierzig Jahren arbeitete er in der Fabrik. Man hatte ihm schon die Medaille für dreißigjährige treue Dienste gegeben. Wenn er gar nicht mehr könnte, würde ihm das Werk eine Rente aussetzen; das waren damals zehn Sous am Tage, gerade genug, um sich einen Liter Wein oder ein Päckchen Tabak zu kaufen.
Oft genug hatte man ihn beglückwünscht, weil er ein kinderreicher Familienvater, ein treuer Arbeiter war. Er war ein guter Soldat gewesen, und er wunderte sich darüber, dass man ihn zur Belohnung für sein ehrbares Leben auf einen so harten Posten gestellt hatte. Die feinen Herren der Fabrik und der Republik schienen ihm nicht so anständig im Handeln zu sein wie im Reden. Manchmal fand ich meinen Vater nicht am gewohnten Arbeitsplatz. Ein Kollege sagte mir: „Er ist
am Carnot." Die Abteilungen des Werks trugen im allgemeinen Namen von Kolonien. Eine nannte man Tongking. Die Gusshitze brannte dort ebenso unbarmherzig wie die Sonne Indochinas.
Ich stieg über schmale Gleise. Dabei mied ich die von Pferden gezogenen Loren mit Koks und Erz und andere von kleinen Lokomotiven gezogene Züge mit flüssigem Gusseisen. Ich ging die riesenhafte Anlage der tosenden und zischenden Gaserzeuger entlang. Die Fabrik machte mir keine Angst.
Sobald ich die Carnot-Öfen erreicht hatte, stand ich vor einem Abwässerschacht. Ein Kollege meines Vaters zog an einem Tau große, mit grünem Schlamm gefüllte Kübel aus der Tiefe herauf, die einen erstickenden Geruch ausströmten. Laut, damit es mein Vater unten hörte, rief er: „Vater Navel, es ist bald Mittag, dein Kleiner ist da."
Mein Vater kam aber erst dann herauf, wenn die Sirene, von den Arbeitern „Großschnauze" genannt, ihren unheimlichen Schrei ausgestoßen hatte.
Von Schlamm bedeckt und bleich kam er aus seinem Loch heraus. Andere Kameraden folgten ihm. Sie sahen ähnlich aus. Er aß ohne Appetit und atmete schwer und fast zornig.
Wenn ich um vier Uhr aus der Schule kam und meine Mutter wieder sah, sagte ich zu ihr: „Der Vater arbeitet am Carnot." Wir waren betrübt, von Unruhe bedrückt. Wenn er um sieben Uhr noch nicht heimgekommen war, gingen wir ihm entgegen: meine Mutter, meine jüngste Schwester und ich, alle drei in der Erwartung des Unglücks. Entweder war der Vater tot — an den Carnot-Öfen waren Fälle von Erstickungen vorgekommen —, oder er war betrunken. Wenn er da herauskam, genügte ein Schoppen billigen Rotweins, um ihn zu beschwipsen.
Wir gingen die große Dorfstraße hinunter. Es war grauenvoll. Helene, meine jüngere Schwester, ein nervöses, mageres Mädchen, gab mir die Hand. Sie zitterte. Wenn der Vater taumelnd und singend herankam, weinten wir vor Scham. Er trank nur nach schwerer Arbeit. An einem Sonn- oder Feiertagsabend hörte ich ihn nie ungereimtes Zeug reden. Er trank mit Maß. Vom Ausruhen bekam er keinen Durst. An den plötzlichen Anfällen von Trunksucht der Metallarbeiter hatte die Erschöpfung durch die langen Arbeitstage ihren Anteil. Die Männer flößten mir Furcht ein.
Die schönste Zeit im Leben dieser Männer, die älter oder bald so alt wie mein Vater waren, war ihre Jugend gewesen, ihre Dienstzeit in der Armee. Alle Geschichten, die sie sich in der Kneipe erzählten, hatten sich während ihrer Soldatenzeit ereignet.
Wenn mein Vater seine Erschöpfung nicht durch ein Glas Wein aufgemuntert hatte, saß er schwer atmend und durch die Nase schnaufend zu Hause, presste die Kiefer fest aufeinander und trommelte mit den Fingern. Sein Manchesteranzug, seine Schnürstiefel, sein Schweiß rochen nach dem Staub der Gießerei. Ich fand ihn ein wenig unheimlich. Die Wut kochte in ihm. Seine Stimme war eher klagend als böse. Die Müdigkeit verbitterte ihn. Seine Söhne, die Fabrik, die Republik, alles hatte ihn enttäuscht.
Ich habe nie Hunger gehabt in meiner Jugend. Es gab immer reichlich zu essen. Wein war nur für den Vater da. Zu teuer, und wir hatten keinen Weinberg.
Wir hatten immer ein Schwein im Pökelfass. Ein zweites war zusammen mit den Hühnern und einigen Kaninchenfamilien im Stall. Trotzdem konnte meine Mutter die rückständige Miete und die Schulden bei der Krämerin nur mit Mühe und Not abzahlen. Seit der Heirat meiner großen Schwestern reichte der Lohn des Vaters, der seiner Arbeit regelmäßig nachging, nicht mehr aus, um die Haushaltskosten zu bestreiten. Sowie mein Vater seinen Zweiwochenlohn bekam, versuchte die Hausbesitzerin, eine Abschlagszahlung zu erhalten, solange meine Mutter noch über etwas Bargeld verfügte.
Mein Vater erhielt nie seinen ganzen Lohn ausgezahlt. Die Fabrik machte ihre Abzüge für die Anzahlungen, die er in kupfernen Marken erhalten hatte. Für dieses Werksgeld verkaufte uns der Betriebskonsum Kolonialwaren oder den groben Rotwein, den mein Vater nach der Arbeit in der Kantine trank.
Meine Mutter hätte einer bedürftigen Nachbarin schwerlich die kleine Summe geliehen, die damals einem halben Tagelohn entsprach — die Frauen des Dorfes waren untereinander sehr hilfsbereit —, aber einen Korb Möhren oder Kartoffeln oder ein Stück Speck konnte sie ihr geben. Wenn ich auch mit sieben Jahren das Wort Armut in seiner ganzen Bedeutung kannte, habe ich doch niemals erlebt, dass meine Mutter in der Klemme saß und sich den Kopf darüber zerbrach, wie sie Mann und Kinder sattkriegen könnte, so wie ich das bei manchen Frauen von Hilfsarbeitern gesehen hatte.
Mein Vater war verbittert, aber resigniert. Immer von neuem wiederholte er meinem Bruder Lucien, der mehrmals von zu Hause ausgerissen war, Nancy und Paris kennen gelernt hatte und mit achtzehn Jahren syndikalistischer Revolutionär geworden war: „Nie wird der irdene Topf den eisernen zerbrechen."
Aufgeputscht von ihren Frauen, die das ewige Geleier des Krämers und Bäckers satthatten — „Das ist das letzte Mal, dass ich anschreibe. Sie sind mir schon zu lange Geld schuldig" —, waren die Arbeiter eines Tages in den Streik getreten. In ihrer lebenslangen Unterwerfung war der Streik das historische Ereignis.
Von Nancy waren Dragoner gekommen und auf die Menge der sich wacker verteidigenden Frauen und Kinder losgegangen. Trotz ihrer Säbel hatten ein paar Reiter ins Gras beißen müssen. Man redete oft davon zu Hause. Wenn mein Vater mit über sechzig Jahren noch immer auf dem „Schutthaufen" und an den Carnot-Öfen arbeitete, so darum, weil er während des Streiks, wenn auch keiner von den Heftigsten, so doch auch kein „Gelber" gewesen war. — Ab und zu kam ein Arbeiter zu uns, der aus der Fabrik entlassen worden war. Er hatte die rote Fahne getragen. Weil das Werk ihn nicht mehr beschäftigen wollte, war er nach dem einzigen Streik, dem von 1905, Kaffeehändler geworden. In der Freude, mit der die Meinen ihn aufnahmen, schien bei jedem Besuch jener vergangene stolze Augenblick in ihnen wieder aufzuleben.
Mutter Marion, unsere Hausbesitzerin, war sehr alt, aber groß und aufrecht wie ein Husar. Sie kam ins Haus und setzte meiner Mutter mit ihren Geldforderungen zu. Ihr Mann, ein gebrochener Greis, ging gekrümmt umher, als wäre er beim Hacken auf seinem Weinberg. Es war, als hätte die alte Frau ihn ausgedörrt und bis zum Grab zur Arbeit verdammt.
Mit ihr schlich der Geiz über die Schwelle. Zunächst sprach sie vom Wetter. Das Aufeinandertreffen mit meiner Mutter glich dem Kampf zwischen Spinne und Fliege. Meine Mutter gab ihr eine Abschlagszahlung auf das rückständige Quartal. Unsere Schulden waren mein Alpdruck. Mit Unruhe hatten die Leute nach dem Drama von Sarajewo den Gang der Ereignisse verfolgt, die zum Kriege drängten.
Eines Abends gingen alle Männer bei Einbruch der Nacht zum Bürgermeisteramt. Ich drückte allen, die abfuhren, die Hand. Ich wurde nun bald zehn Jahre alt und wäre gern mit ihnen gegangen. Mit der fiebrigen Aufregung der Leute flutete eine mächtige Woge der Freundschaft durch das Dorf. Die Häuser rückten einander näher. Kaum sah ich noch meinen Bruder Lucien, der zum Abschiednehmen gekommen war und neben meinem Vater herging; dieser war glücklich, dass sich sein antimilitaristischer Sohn freiwillig gemeldet hatte.
Die großen Ferien hatten begonnen. Als ich am folgenden Tage vor unserer Tür Holz sägte und die alte Hausbesitzerin vorbeikam, rief ich voller Freude:
„Es ist Krieg! Jetzt wird nichts mehr bezahlt, morgen sind die Franzosen in Metz!"
Einen Monat später waren die Deutschen bei uns und aßen unsere Mirabellen. Oben auf den Feldern verfaulten die Getreidegarben, die schöne Ernte des Jahres 1914. |
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