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Georges Navel - Werktage (1945)
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GÄRTEN IN NIZZA

Ein Hektar Pflanzen, allerlei Sträucher, Treibhausblumen. Tropische Stille im Garten, das Klirren eines Geräts. Einer begießt die Pflanzen. Wenn der Chef da ist, dann ist er im Büro; wenn er nicht da ist, dann wird er bald kommen.
Man sucht Gartenbautechniker. Ich bin keiner, und jedes Gewächs stellt mich vor das Wunder seines Wachstums. Aber ich bin Gärtner gewesen, Gärtner geworden. Ich habe sogar als Beweis ein gutes Zeugnis über zwei Jahre. Es ist ein richtiges Zeugnis, und ein gutes dazu. Ich habe Rasen mit dem Spaten umgegraben, Gras gesät, schnörkelreiche Blumenbeete gepflegt, Alleen gejätet, Kies geharkt. Ich kann meinen Mann stehen und werde mich schon einarbeiten.
Der Chef hat die Augenbrauen hochgezogen, denn mein Zeugnis stammt nicht von hier, und wenn ich auch Gärtner bin, so besagt es doch nicht, dass ich Kunstgärtner sei. Er schien zu zögern und stellte mir eine Frage. Ich war nicht auf Bluff eingestellt und habe irgend etwas gefaselt; er hat es nicht gemerkt.
„Kommen Sie morgen früh um sieben her!"
Ich habe Glück. Erst drei Tage bin ich hier, und schon habe ich Arbeit.
Aber vom Hause Canard Moue ist es weit bis zum Dorf, das Dorf ist weit von Nizza und die Gärtnerei weit vom Zentrum der Stadt. Macht nichts, ich bin sehr froh. Nach der Lohnzahlung werde ich eben umziehen, wenn es geht.
Der Wecker neben Canard Moues Bett hat geläutet. Er hat mich gerufen. Ich habe ein Stück Brot, Äpfel und getrocknete Feigen für den Tag mitgenommen. Auf der Landstraße bin ich in den Autobus gestiegen. Ich komme nicht zu spät, der Wecker ging vor.
Sterne schimmern. Es ist halb sechs. Bauern steigen mit Körben voll Gemüse und Spaliertrauben ein. Nach der Ankunft in Nizza habe ich noch eine halbe Stunde Fußweg. Der morgendliche Gang tut gut, aber ich bin noch schläfrig.
Kollegen kommen an, die Alten sicher im Auftreten, die Neueingestellten schüchtern und zurückhaltend. Auch der Chef kommt. Er wohnt nebenan.
In Gruppen zu dreien oder sechsen ziehen die Leute ab mit ihren Karren voll junger Pflanzen und Gerät.
Nicht sehr gesprächig die Burschen. Der Chef ist da.
Der Chef selbst hat mich in den Park einer Villa geführt. Ich werde allein arbeiten. Er gibt mir eine einfache Arbeit auf: die Alleen ausharken, den Rasen unter den Palmen sprengen und die Beete jäten. Dann verschwindet er und lässt mich da. Aber ich bin nicht ganz allein: Im Erdgeschoß der mächtigen Villa im Stil einer spanischen Burg wohnt eine Pförtnerfamilie.
Bäcker und Milchmann läuten am Gittertor. Eine Frau macht ihnen auf, sie kommen herein. Dann verschwinden sie wieder, der Park versinkt von neuem in Schlaf. Auf der Straße gehen Leute vorüber, ich höre ihre Stimmen. Ein Auto fährt vorbei.
Der ganze Hügel, die Höhen von Cimiez sind von Parks und unbewohnten Villen übersät. Villen in allen Stilen: im Zwingerstil, im Rokokostil, im modernen Stil, im Stil normannischer Landhäuschen, im Haremsstil, im maurischen Stil, im protzigen Stil, im Stil eitler Zwecklosigkeit.
In den bewohnten Villen ziehen alte Leute ihr Dasein in die Länge, indem sie über Scharen uniformierter Diener herrschen. Das Geld setzt alles in Trab, stutzt alles zurecht. Selbst die Natur ist hier zurechtgestutzt, sie ist grotesk.
Doch die meisten Villen sind nur zwei Monate im Jahr bewohnt. Während der übrigen Zeit dämmern sie hinter der Schutzwehr von Mauern und Gittern, hinter einem schönen Vorhang grüner Vegetation, die die Mauern überwuchert.
In der Altstadt, dem alten Nizza, wohnen im Labyrinth der engen Gassen die Maurer. Man sagt, das alte Nizza müsse abgerissen werden, es stinke, es sei eine Brutstätte der Tuberkulose, die Kinder seien kränklich, die Häuser ohne Tageslicht, die Läden müssten am hellen Tage elektrisches Licht brennen.
Das ist das Nizza der Proletarier, das menschlichste Viertel und das lebendigste. Voller Kindergeschrei, ein Gettogewimmel. Der Blick wird von den Schaufensterauslagen angezogen, von den bluttriefenden Rinderseiten, von den bunten Flecken der Wäsche, die zum Trocknen vor den Fenstern hängt, von einer jähen Sonnenflut in einer Querstraße, vom Gewühl einer altitalienischen Stadt.
Es gibt keine Fremdheit zwischen den Leuten, die sich begegnen. Tritt in ein Kellerlokal, wo man an der Theke Wein trinkt, und sprich mit dem Wirt; er wird dir antworten wie einem alten Bekannten, und die Leute, die mit dir anstoßen, werden dir in fünf Minuten ihr ganzes Leben erzählen. Die schönen, die eleganten Viertel sind tote Viertel.
Ich jäte die Wege rund um die geschnörkelten Beete. Mauern, Gitter, Zäune. Es fällt mir schwer, den Geschmack der Villenbesitzer zu begreifen.
Nach der Weite der Felder und des sommerlichen Lebens fällt es mir schwer, den Geschmack zu begreifen, den diese zivilisierten Affen am Besitz unbewohnter Villen und an einer lächerlich hinter Gittern und Riegeln zurechtgestutzten Natur finden. Die Neurasthenie steht in Blüte, der Mensch ist des Menschen Feind.
Mit dem Schweigen als Gefährten verbringe ich mein emsiges Schattendasein bis zur Essenszeit. Es ist spärlich, das Essen. Glücklicherweise steht ein Feigenbaum im Garten.
In einem Mittagsschläfchen finde ich zum Zustand tierhafter Unschuld zurück. Nichts existiert mehr von der Welt der Affen. Dann nehme ich meine Tätigkeit wieder auf; sie fällt mir nicht schwer. Doch schwer fällt es mir, in dieser fremden Welt hier zu sein und ringsumher, auf dem weit auslaufenden Hügel und in der Stadt, ein nach dem Geschmack dieser Affen eingerichtetes Universum zu spüren, in dem jedes Stück Natur, die ganze Erde in kleine Schnipsel zerlegt und von Mauern eingefasst ist, und dann zu denken, dass es den Besitzenden so ganz natürlich scheint und dass sie damit vollauf zufrieden sind.
Aus dem Leben im Freien bringe ich eine Mohikanerseele mit, die Gemütsverfassung eines staunenden Hungerleiders. Ich stochere mit meinen Geräten im Erdboden herum und finde es tröstlich, an die Ewigkeit zu denken und daran, dass die Erde wieder zu ihrem Recht kommen und diese ganze künstliche Welt zu Staub versinken wird.
Das Leben ist ein Traum, ein Alpdruck — ich aber stelle mir eine gesündere und edlere Welt vor, die Welt jener Maurer der Altstadt. Keine Gitter, keine Sklaven. Ich beneide die Herren nicht um ihre Lächerlichkeit. Einem Garten lese ich die Gesellschaftsordnung ab, seinen Mauern die Barbarei. Sie verschanzen sich, sie diktieren ihr Gesetz, sie befehlen und bilden sich ein, so ihr Leben zu bereichern. Und ich jäte ihre Anlagen, weil ich Geld brauche zum Essen. Seltsam. Eine ernsthafte Arbeit ist das nicht. Mit einem Gartenschlauch lasse ich einen glänzenden Regen, ein Wasser-Feuerwerk, die Milchstraße eines Sprühregens auf den jungen Rasen unter den hohen Palmen niedergehen.
Eines Tages werden große Landschaftsarchitekten kommen und riesige Parks und Mauern und Gitter für die freien Menschen der Zukunftsstadt errichten, für die Menschen, deren Blick ins Weite strebt, für die Maurer der Altstadt.
Ein sanftes, schwermütiges Licht schwebt über den blauen Hügeln, die sich bis ans Meer hinziehen. Ich hebe den Kopf. Die Erde, schöner als der Mensch, scheint zu träumen; als müsste ich meinen Geist der erblickten Schönheit anpassen, verjage ich die zornigen Gedanken.
Kulissenwechsel. Ich habe die spanische Burg mit einem normannischen Landhäuschen vertauscht.
Eine ganze Kolonne geht an die Arbeit. Im Handumdrehen ist der Garten verwandelt. Die Beete, die Rondells, die Rabatten sind umgegraben, geharkt und besät, die Rosensträucher verschnitten.
Meine Erfahrung im Gartenbau ist völlig zureichend, zumal da die kniffligen Arbeiten von einem alteingesessenen Hausgärtner besorgt werden.
Die Arbeit geht vorwärts, aber da kommt der Chef und fuchtelt stundenlang hinter uns herum. Dem einen reißt er den Rechen aus der Hand und erteilt wütend Anschauungsunterricht. Kein falscher Handgriff entgeht ihm. Höchstpersönlich streut er den Mist aus. Seiner Meinung nach sind alle unbrauchbar. Jeden brüllt er an. Wir sind acht Kumpels zwischen Zwanzig und Dreißig, Italiener, Schweizer, Dänen, Franzosen.
Am liebsten würde ich ihm in die Fresse schlagen, wenn das ohne Komplikationen ginge. Aber schließlich ist er krank, er leidet an Verstopfung, der kleine schwarze Kerl. Überall schnüffelt der arme Teufel herum mit seinem Früchtchen hinter sich, einem jungen Idioten im wahrsten Sinne des Wortes, der speichelsabbernd seinem Vater auf den Fersen sitzt.
Die beste Taktik besteht für jeden von uns darin, die Worte sprudeln zu lassen. Das fließt dahin und tut nicht weh. Die Kumpels lassen den Kerl ruhig meckern.
Die Arbeit zu mehreren ist nicht langweilig. Sie geht schneller voran. Der Tüchtigste wird mit den kompliziertesten Arbeiten betraut. Es gibt viele ganz gewöhnliche Arbeiten zu verrichten. Da ich kein richtiger Gartenbautechniker bin, helfe ich bei den gröberen Arbeiten mit.
Mir ist das ganz recht, außer wenn wir aus Mangel an Forken die Zweige der verschnittenen Rosenstöcke mit den Händen aufsammeln müssen: die Rosen haben nämlich Dornen. Dann werde ich zimperlich, nehme einen Rechen und eine Mistgabel, um das Zeug fortzuschaffen.
Nachdem andere ihren Anschnauzer weghaben, macht sich die schwarze Ameise über mich her. Ich werde keinen Skandal machen, ich bin auf die Arbeit angewiesen. Ich werde nicht auffahren für so ein heiseres Gekrächze. Man muss die Arbeit mit all ihrem Ärger hinnehmen, so ist das Leben.
Das Männchen schreit, aber der Garten steht in Blüte. Er liegt auf einer Anhöhe, von der aus man eine weite Sicht hat.
Ein paar Tage sind vergangen, ich habe schon einige Anschnauzer verwunden. Aber ich fürchte, der Kerl täuscht sich in mir und macht mich zu seinem Prügelknaben, wenn ich nichts sage. Ich werd's ihm zeigen.
„Sehen Sie nicht, wie idiotisch das ist, die Zweige mit einem Rechen aufzusammeln?"
„Es sind keine Forken da."
„Ach, und mit den Händen können Sie sie nicht nehmen? Sie glauben wohl, Sie sind hier auf einem Spaziergang?"
Da habe ich das Maul aufgesperrt und ohne Aufregung, mit lauter Stimme, ganz ruhig meine Antwort vorgetragen:
„Wenn ich hier bin, um zu arbeiten, so nicht, um mir Dornen in die Hände zu drücken wie Jesus Christus!"
Der Kleine ist verstummt und hat mich nicht vor die Tür gesetzt. Vielleicht habe ich mir jetzt Ruhe errungen? Die Arbeit gefällt mir.
Ich höre, dass die Leute auch am Sonntag arbeiten, dass die Arbeit drängt, weil andere Villen auf unseren Besuch warten. Sie nehmen es hin, die Löhne sind niedrig. Neun Stunden am Tag, vierundzwanzig Frank. Als Mittagessen ein simples Frühstücksbrot — die Arbeit ist nicht allzu mühsam —, es herrscht Arbeitslosigkeit, die Leute geben sich zufrieden und finden sich damit ab. Besser das als gar nichts.
Wenn ich am Abend den Garten verlasse, gehe ich mit dem Schweizer und dem Dänen zusammen los. Sie sind viel herumgereist, um zu lernen, um Kenntnisse zu sammeln und sich in ihrem Handwerk zu vervollkommnen. Jeder von ihnen hat in Nizza sein kleines Zimmer, und sie haben keine anderen Beziehungen als die zur Wirtin und zum Arbeitgeber. Abends lesen sie. Es sind die einzigen sympathischen Kumpels der Belegschaft, die einzigen, die selbständig denken, und die meinen, dass die Welt anders werden muss.
Ich gehe den Hügel hinunter. Parks, Hotels, große erleuchtete Fensterflächen und gleitende Schatten dahinter. Eine geheimnisvolle Welt von Gärten ohne Geheimnisse, leichter Nebel in den Bäumen, eine gewisse herbstliche Farbe im Licht der elektrischen Straßenlaternen.
Nach einem langen Tag, an dem man wenig spricht, hat man abends den Kopf voller Träume.
Ich erreiche die von Lichtbächen weithin belebten Straßen. Die Angestellten strömen aus den Büros und aus den Läden. Eine jugendliche Menge, die glücklich ist, weil sie der Straße zurückgegeben ist. Es ist der Augenblick des größten Verkehrs und des grellen Lichtes wie in allen Großstädten.
Ich treibe durch die Straßen dahin. Ein Gesang aus voller Brust dringt aus einem Haus; ich trete ein, es ist die Synagoge. Ich bleibe ein paar Minuten drin. So lasse ich mich von allem beeindrucken, glücklich, wieder frei zu sein und mich treiben zu lassen. Vielleicht, wenn ich lange so weiterginge, würde ich ein Wunder erleben. In den engen Gassen der Altstadt schlendere ich zwischen den beiden Ladenreihen einher: Kneipen, Fleischerläden, Kellergeschäfte mit ihrer Fülle von Esswaren. Wie ein Bienenschwarm summt es in den Straßen von Kindergeschrei, von Stimmen, Rufen, von Licht, von Menschenvolk.
Aber ich habe Hunger. Ich steige in den Autobus und verlasse die Lichter, das Summen, jene eigentümliche Traumstimmung, die in dieser Jahreszeit in den Städten aufkommt, und kehre in die Umgebung zurück, zurück in das wirkliche Leben.
Der Autobus setzt mich auf der Landstraße neben einigen spärlich beleuchteten Läden am Dorfeingang ab. Über dem Abend liegt bäuerliche Luft, der Geruch von Nelken und Gemüse: die Welt der Arbeit. Ein Weg zwischen Gärten, Kühle, fast Kälte, der sammetweiche Schatten der Hügel, ein paar Lichter über dem Dorf, das bald einschlummern wird, und der Friede eines gestirnten Himmels.
Ich erreiche mein Quartier: Das Haus von Canard Moue.

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