KIRSCHEN
Ich wohnte im „Weißen Rößl". Eine kleine Hütte zwischen Kirschbäumen ist oftmals besser als ein Bett im Gasthaus. Man bleibt in der Jahreszeit, mitten im Duft des unabsehbaren Obstgartens, wo im Monat Mai, wenn man schon die Kirschen pflückt, Apfelbäume, Oliven und Weinreben blühen.
Die auf der engen Straße Toulon—Nizza vorbeifahrenden Lastkraftwagen schüttelten mich zu jeder Nachtstunde in meinem Eisenbett.
Eine Hütte ist auch etwas ganz anderes als eine Spelunke. Am Abend kocht sich der Saisonarbeiter auf einem Reisigfeuer in einem kleinen irdenen Topf eine Handvoll Bohnen, Erbsen und neue Kartoffeln, während er dabei die Zeitung liest oder Radieschen knabbert.
In die Spelunke kommen jeden Abend die Gendarmen und fragen nach den Papieren der durchkommenden Gäste, die zur Kirschenzeit von überall her zusammenströmen.
Mein Arbeitgeber hatte mir keine Unterkunft gegeben. Saisonarbeiter sind bescheidene Arbeitskräfte. Die italienischen Auswanderer überwiegen. Mein Arbeitgeber war ein reicher Kauz, ein Fürst in seinem Dorf, der Sekretär des Arbeitgeberverbandes. Drei Jahre vorher hatte er den Versuch der Landarbeiter des Dorfes, sich zu einer Gewerkschaft zusammenzuschließen, vereitelt. Ich wusste das nicht.
In dieser Gegend sind die sozialen Unterschiede im Frühling nicht sehr schroff. Die Sonne scheint für alle. Mit einem Arbeitsanzug, einem sauberen Trikot, ein Paar guten Bastschuhen und glattrasierten Backen fühlt man sich neugeboren, tatenlustig.
Schön sind die späten Abende auf dem Dorfplatz mit seinen großen Bäumen und dem Brunnen. Über den Kugelspielern wimmelt es von Schwalben. Die letzten Sonnenstrahlen fallen auf die Kirchenfront. Es ist Marienmonat.
Frauen kommen vom Gebet. Der Staub riecht nach blühendem Wein, und sogar die Hunde scheinen glücklich, diese Stunde zu erleben.
Nach dem Abendessen, wenn es dunkel geworden ist, kommen Bauern, meistens ältere, setzen sich vor das Gasthaus, um frische Luft zu schöpfen. Es sind Landwirte, die kaum mehr Spaten und Pflug anrühren, sondern als Rentner leben. In Strohhut und Leinenjacke trinken sie ihre allabendliche Tasse Lindenblütentee und spielen ohne Leidenschaft Karten. Der Mond geht auf. Sie gehen schlafen.
Mein Arbeitgeber hatte meine Ausweise verlangt, um einen Blick hineinzuwerfen; das war üblich. Ein bisschen zu launig hatte ich geantwortet:
„Ich habe alles, was ich brauche, Militärpass und sogar ein Gewerkschaftsbuch!"
Der Antwort mangelte es an Unterwürfigkeit. Die zugewanderten Piemontesen haben zu viel davon. Man nimmt sie lieber. Am Samstag wurde ich entlassen. Wenn man sich allzu fest im Sattel fühlt, geht's manchmal schief. Am nächsten Tag pflückte ich für einen anderen.
Warum kommt man zur Ernte? Kirschenpflücken, das wird schlecht bezahlt. Treue zur Jahreszeit. Es ist ein Stelldichein mit alten Freunden. Heugeruch, Mailicht, Träume.
Ich kannte einen alten Bäcker, der seit fünfundzwanzig Jahren jedes Jahr seinen Backtrog stehen ließ, um Ende April hierher zu kommen. Man kommt verändert zurück, das Fell ist dicker geworden, man begeistert sich nicht mehr, fühlt sich nicht so stark mit der Jahreszeit verbunden. Dann ist man wieder von Frische durchdrungen, in einen seligen Zustand versetzt. Einmal war ich wegen des Ginsterduftes wiedergekommen, ein andermal, weil ich im Sprühregen eines Maimorgens einen Bauern unter seinem großen blauen Regenschirm am Wege stehen sah.
Man weiß nicht, warum man wiederkommt. Kirschen essen, sich weniger abschinden als auf einer Baustelle? Auch das. Man kommt hierher, damit in der Zahl der Jahre dieses Jahr zählt, um einen Frühling mehr erlebt und sich beim Einzug des Mai erdverbunden gefühlt zu haben. Es ist ein Fest, das der Saisonarbeiter sich gönnt. Einen guten Monat lang erntet er den Frühling.
Nirgends spürt man ihn so gut, wie auf einem Kirschbaum sitzend, die nackten Füße auf den Ästen, den nackten Rücken im Winde, eine Schulter im Schatten und die andere in der Sonne, der echten, der provenzalischen. Das Klettern gibt dem Pflücker sportliche Gewandtheit. Wenn er vom Boden aus die niedrigen Zweige abpflückt, spürt er unter seinen bloßen Füßen das Gras. Den Winter über hat man in schweren Schuhen einen lebendigen Leichnam herumgeschleppt, einen bleichen Mann, der lustlos umherging.
Beim Kirschenpflücken wird man wieder Urwaldneger, Zigeuner, und das Gehen wird den Hüften zur Lust. Nicht nur den Hüften, jede Fiber, jeder Muskel wird schmiegsam wie Seide. Wie lange hatte man nicht mehr geatmet oder doch nur teilnahmslos wie im Schlaf. Jetzt atmet man wieder wie mit einer Hundenase. Man atmet nicht, man trinkt die Luft in kleinen Schlucken und großen Zügen mit weit aufgesperrten Nasenflügeln. Immer wieder fühlt man sich von Leben erfüllt, der Welt aufgeschlossen.
Ich zwang mich, beim Pflücken stets ganz wach und gegenwärtig zu sein, niemals in unbewussten Automatismus zu verfallen. Das Leben ist ein Geschenk. Ich wollte die ganze Zeit beim Fest dabei sein. Ich bemühte mich, meinen Händen das Höchstmaß an Geschicklichkeit zu geben und keinen Handgriff zu tun, ohne dass die Aufmerksamkeit daran teilhatte. Wenn sie entschlüpfen wollte, packte ich sie wieder beim Wickel. Ich hängte meinen Korb bequem vor mir auf, um mühelos eine Handvoll Kirschen nach der anderen hineinfallen zu lassen. Ich schaute auf die Anordnung der Büschel an den Zweigen und beobachtete, was die Finger tun, um sie abzupflücken; so entdeckte ich die Rolle des Tast - und des Gesichtssinnes. So spielte ich und erreichte dabei, dass ich flinker war, als ich es sonst bei einer Arbeit gewesen wäre, die ich nicht alle Jahre tat. Aber vor allem fand ich in meinem Staunen über die Intelligenz der menschlichen Hand Anlass zu Träumereien, die den Tag im Fluge vergehen ließen.
Mittags brannte die Sonne. Ich ging zu einem Bach, warf mich hinein, berührte mit meinen Füßen den Sand. Keine Worte, keine Phrasen mehr, kein schwacher Abglanz. Das ist der Augenblick, da Himmel und Erde eins sind. Das Licht strahlt nicht mehr, es verzehrt. Die Feigenblätter glänzen, vergoldet, vom Licht verschlungen. Das Blau des Himmels tanzt auf der roten Erde. Von Glut durchdrungen, spürt man noch seine räumliche Gegenwart durch die Fußsohlen und das Knirschen der trockenen Erde. Wie weit ist die Welt der Ausweispapiere! Kaum ist man noch eine Person.
Wenn ich mein Frühstück verschlungen hatte, schlief ich, den Kopf im Schatten, einen tiefen Schlaf. Beim Erwachen fuhr ich auf und wusste nicht, ob ich eine Stunde oder fünf Minuten geschlafen, ob die Arbeit schon wieder begonnen hatte. Es war ein so tiefes Ausruhen, dass ich eines Tages um dreißig Jahre jünger erwachte. Ich wusste nicht mehr, wo ich war. Ich hatte von Maidieres geträumt. Als ich wach wurde, war ich allein, einige Sekunden lang völlig verstört von der weißflimmernden Glut der Sonne eines unbekannten Universums. Ich betrachtete meinen Kittel, die klobigen Schuhe, die ich wieder anzog, so erstaunt, als sei ich eine Grille gewesen und nun als dicker Posaunenbläser erwacht. Dreißig Jahre hatte ich im Bruchteil einer Sekunde wieder einzuholen, um zu wissen, was ich so plötzlich verwandelt und fern den Röcken meiner Mutter hier machte. Wenn ich auch beim Wachwerden nicht genau wusste, wie spät es war, bis ich es am Schatten abgelesen hatte, so fühlte ich mich gewöhnlich doch nicht aus der Wirklichkeit gerissen. Selbst im tiefen Schlaf hatte ich das Bewusstsein meiner Pflichten bewahrt; es ließ mich plötzlich auffahren. Ich war fast verlegen, wenn ich zu spät kam, weil ich zu lange geschlafen hatte. Die Nachmittagsarbeit schloss sich ganz natürlich an die des Vormittags an. Wenn ich die Augen auftat und aus einem Schlaf erwachte, der dem Schlaf von Erdschollen glich, fand ich mich ohne Überraschung in einer Menschenhaut wieder. Diesmal aber hatte mich der Schlaf in eine zu weite Vergangenheit entrückt; ebenso stark wie das gegenwärtige Leben hatte ich eben das vergangene noch einmal durchlebt. Ich war zu Hause gewesen, in Maidieres. Im Augenblick, in dem ich wach wurde, blitzten wieder vergessene Geschehnisse in mir auf. ,Sie sind tot.' Ich war erstaunt, hier zu sein, ohne sie den Traum fortzuspinnen, der uns verknüpft hatte, erstaunt zu leben.
Bevor ich völlig wach war, während das Denken noch nicht über Worte, sondern über Visionen, die Werkzeuge des Traumes, verfügte, hatte ich mit einem Schwindelgefühl ein ganzes Leben in der kurzen Zeitspanne eines Schreies sich abzeichnen sehen. Es kam mir komisch vor, dieses Dasein in einer noch nicht abgelaufenen Zeit, ein Lebender zu sein, die Zeit nach Stunden zählen zu müssen und aufzustehen, um einen Stundenlohn zu verdienen. Ich raffte mich auf, um meine Schnürriemen zuzubinden. Belustigt rührte ich erst einen Fuß, dann den anderen. Es gefiel mir, ins Seltsame abzuschweifen und über die prallende Sonne die Sonne des Todes zu stellen.
Ich kam zur rechten Zeit, die Kumpels standen noch nicht auf den Leitern. Niemals schienen mir die Kirschen so schön, wie an diesem Nachmittag unter jener Sonne. |
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