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Georges Navel - Werktage (1945)
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CANARD MOUE

Seit sechs Monaten habe ich in keinem Bett mehr geschlafen. Den ganzen Sommer habe ich schwer geschuftet. Ich habe Neues gesehen und, ohne es eigentlich zu wollen, die Bekanntschaft mit Altem wieder aufgefrischt.
Ich habe auf nackter Erde gelebt, ob ich schlief oder aß.
Die Arbeit hat mich hierhin und dorthin geführt, ihrer Fährte bin ich nachgegangen. Alte Fährten und neue Fährten, Arbeit ist ein seltenes Wild geworden. Wird es mir jetzt entwischen?
Im Flachland habe ich Lindenblüten gepflückt und im Gebirge Heu gemacht. Allerhand Kleinkram, der nichts eingebracht hat.
Im Hochgebirge habe ich beim Straßenbau gearbeitet, in den Niederalpen bei der Lavendelernte und in den Salzgärten von Hyeres bei der Salzgewinnung.
Während meiner Treibjagd auf das Tier Arbeit tat ich mein Bestes, um mit meiner Beute sparsam umzugehen. Ich habe mich so haushälterisch ernährt, wie das nur möglich ist, ohne Speisehaus und Hotel. Ich trug mein Speisehaus-Hotel mit mir herum: meinen Ranzen, den Kochtopf, das Zelt und die Decken.
Nicht meinen Launen habe ich nachgejagt, sondern dem Wild Arbeit.
Zum Herbst wollte ich in Spanien sein. Um dort hinzukommen, musste ich mir etwas zurücklegen. Da unten hätte ich sicher Arbeit bei der Apfelsinenernte in der Gegend von Valencia gefunden.
Das Jahr war regnerisch. Die Zeitungen haben Überschwemmungen gemeldet. Bei den Salinen von Hyeres bin ich zu der Zeit angekommen, in der normalerweise die Salzgewinnung beginnt. Die Salinendirektion hat gemeint, man müsse noch warten, günstigeres Wetter würde eine reichlichere Ernte ermöglichen. Vierzehn Tage, ein Monat Wartezeit, womit ich nicht gerechnet hatte.
Anfänglich war ich voller Unruhe. Ich habe anderswo Arbeit gesucht, es gab keine. Auch die Weinlese sollte mit bedeutender Verspätung beginnen. Was konnte ich sonst tun?
Dann wurde das Warten angenehm. Ich schlug mein Lager unter Kiefern auf, in der Nähe des Strandes. Das Wetter wurde schön; ein warmes Licht dringt ins Unterholz, liegt über den Teichen.
In den Bäumen jagte ich mir meine Nahrung zusammen: In den Pinien gibt es Kienäpfel. Um die winzigen Mandeln herauszubekommen, habe ich die Früchte zwischen zwei Steinen zerquetscht; man braucht eine Engelsgeduld dazu, und man tut gut daran, gleich serienmäßig zu arbeiten. Man muss auf die Bäume klettern — erst einen Baum herausfinden, der sich ersteigen lässt —, sich Schrammen holen und mit einem belaubten Zweig die Bremsen verjagen.
In den Kanälen der Sümpfe habe ich Krabben gefangen. Aber trotz aller Beutezüge musste ich in die Läden von Hyeres gehen, um Speck und Nudeln zu kaufen. Von dem Geld, das ich bei der Lavendelernte verdient hatte, war nichts übrig geblieben, als es mit dem Salz losging.
Ungewollt habe ich einen Monat Ferien gemacht, einen Monat des Vergessens in halbnacktem Zustand. Bücher, Briefe, Baden; die Zeit verflog.
Dann hat die Salzarbeit begonnen. Ich habe ohne Mühe durchgehalten. Eine mir altbekannte Strecke der Ermüdung. Ich bin gewöhnt an Schaufel, Schubkarren, schwere Lasten und an den Schneeglanz der Salzfelder.
Alles ging gut, aber der Regen hat wieder angefangen, verlorene Arbeitstage. Dann ist das Wetter umgeschlagen, ist zum Sturm geworden, und während der Nacht wurde der Sturm zur Sintflut.
Unter dem wackligen Schutz des Zeltes fühlte ich mich in dem Unwetter nicht eben wohl in meiner Haut. Die Bäume krachten. Würde der Wind die leichte Zeltbahn fortreißen? Ein fahles Feuerwerk, ein Hagel von Blitzen im Getobe des Windes und der Wogen.
Am Morgen ist es zu Ende. Die Natur schöpft wieder Atem. Sie ist ermattet. Weithin dehnt sich eine schmutziggraue Flut.
Die Berechnungen der Salinendirektion waren schlecht; der verspätete Beginn der Salzgewinnung wird zur Katastrophe. Für mich bedeutet das vierzehn Tage Arbeit an Stelle von vierzig, nach einem Monat Wartezeit.
Ich muss auf die Fahrt nach Spanien verzichten.
Jetzt habe ich ein Bett, einen Tisch und ein paar Stühle im Hause von Canard Moue. Das rettet mich vor dem Hotel.
Im Herbst ist es frisch um acht Uhr früh, wenn der Tag auch schön zu werden verspricht. Ich zögere sogar ein wenig, mich am Bach zu waschen. Es gibt da eine kleine Schleuse und ein Gefälle, unter dem Canard Moue seine Dusche nimmt.
Im Hause ist es nicht warm. Es ist ein zugiges Haus. Es hat ein Dach, aber keine Zimmerdecke, und der Fußboden ist aus Zement. Es ist nicht fertig geworden. Nebenan befindet sich ein Brunnen im Bau.
Der Bach fließt durch ein Tal mit Gemüsegärten, Wiesen und Baumreihen. Auf dem schlammigen Pfad, der zum Bach führt, liegen Äpfel, die vom Baum gefallen sind. Ein Bauer bringt seine Kürbisse ein, bevor der Frost beginnt. „Grüß Gott!"
Das mittelalterliche Dorf auf dem Hügel, halb wucherndes Grün, halb Stein, liegt da wie eine graue Eidechse in der Sonne. In weiter Ferne, jenseits des Tales, heben sich blaue Berge gegen den Horizont ab. Es riecht nach reifem Obst und nach frischer Erde. Noch haben die Feigenbäume nicht all ihre Früchte verloren; nicht weit blühen Nelkenfelder, in den terrassenförmigen Obstgärten des Dorfes sind Apfelsinenbäume angepflanzt.
Ein Wirrwarr von Düften. Im Bach rinnt das helle Blut der morgendlichen Erde. Die Erde atmet Herbstlicht.
Das Tal birgt Gehöfte und Bauern, die mit der ganzen Familie ihr Land bestellen und ihre Erzeugnisse in Nizza auf dem Markt verkaufen, wenn nicht gerade ein Zwischenhändler vorüberkommt.
„Oh, die schönen Kürbisse!" sagt Canard Moue zum Bauern, „sind die fürs Pferd?"
„Nein, die sind nicht fürs Pferd", sagt der Bauer.
„Ich habe mir auch gedacht, die wären zu schade fürs Pferd. Was kosten sie denn, wenn sie nicht fürs Pferd sind?"
Canard Moue wiegt den Kürbis in der Hand und nimmt ihn für ein paar Groschen mit. Er versteht zu kaufen und zu verkaufen.
Aus der Zeit, in der er noch sein Kleinvieh, seine Hühner und seine stummen Enten auf den Markt brachte, hat er mir selbst eine Geschichte von stummen Entlein erzählt, die er für einen Batzen Geld an Engländer verkauft hat.
Für kleine, für kleinste Dinge entfaltet er ungeheure Arglist, bedient er sich der ausgeklügelten Tricks normannischer Pferdehändler.
„Ach, Sie gehen ins Dorf?" (Canard Moue duzt mich nicht.) „Ich hätte eine Taschenlampe und Streichhölzer nötig ..."
Die Gastfreundschaft unter seinem Dach erfordert schon ein paar Gegenleistungen. Natürlich werde ich nachher mit einer großzügigen Geste — die er ja erwartet — das Geld für diese Kleinigkeiten ablehnen. So sind unsere Beziehungen den lieben langen Tag winzige Komödien.
Er ist ein stämmiger Kerl, stark und flink, und steht fest auf seinen Beinen. Während er seinen Kürbis zubereitet, fallen ihm spanische Kehrreime ein.
„Vengo de l´Ombri-i-i-i-ia de mercar mo-o-o-o-o-o-ras ..."
Das ganze Leben macht ihm Spaß. Er singt und zappelt dabei wie Zigeunerinnen herum; sonnige und naive Lieder singt er.
Er hat eine lustige Vorstellung von den Menschen. Alle sind in seinen Augen drollige Nummern. Er spricht von einem Kumpel aus unserem Bekanntenkreis und lacht auf.
Er lebt abseits von den Menschen, weil er in seiner Jugend unter dem Gespött der Gassenjungen gelitten hat; er hat ein Muttermal im Gesicht. Einmal hat er wegen dieses Fleckes einen Jungen totgeprügelt; das war in seiner Heimat, unten in Spanien.
Es ist etwas ganz Außergewöhnliches, dass er mir Gastfreundschaft gewährt. Wie kommt das? In seinen Augen bin ich vielleicht amüsanter und närrischer als die andern, denen er begegnet ist, oder ich komme ihm gebildeter vor, oder ich höre seinen Geschichten besser zu, oder aber er fühlt sich als Caballero mit einem Gast unter seinem Dach; vielleicht ist es auch deshalb, weil er auf einer seiner letzten Radtouren so sehr gelitten hat, als er eine ganze Nacht hindurch vor einem Bauernhaus im Regen flehte, dass man ihm aufmache, und trotz der Drohung mit der Flinte die ganze Nacht unter dem Torbogen blieb ...
Er kocht seinen Kürbis, schneidet ihn dann in kleine Scheiben und setzt sich an den Tisch, um langsam und bedächtig zu essen, wie wohl ein Bauer aus Valencia isst, der der Nahrung durchaus ihre wichtige Rolle zubilligt.
Ich mache mir Reis. Wenn er gar ist, werde ich ihm etwas davon anbieten, und er wird es wohl zurückweisen. In seinen Augen wäre es beschämend, wenn sein Gast ihn ernährte ... und er mag wohl auch fürchten, dass er dann verpflichtet wäre, seinen Gast zu ernähren.
Auch er schwimmt nicht im Gelde. Das Haus hat er sich mit eigenen Händen gebaut. Auch in der Hühnerzucht hat er sich versucht. Zuletzt war er Hilfsarbeiter. In der Fabrik werden Entlassungen vorgenommen. Er ist ohne Arbeit und bereitet sich darauf vor, zur Apfelsinenernte nach Spanien zu gehen. Seine Mutter lebt da unten.
„Ich muss", sagt er gewichtig nach einem Niesen, „diese leichte Verkältung wegtreiben."
" Warum auch läuft er immer mit seinen großen Füßen barfuss auf dem Zementboden seiner Behausung umher? Ich sehe ihn mir an: Er wird mit dem Rad nach Spanien fahren; während der ganzen Fahrt wird er kaum viel zu beißen haben, und doch wird er ohne viel Mühe ankommen. Ich könnte das nicht; ich habe nicht seine Brustweite.
Noch während er isst, greift er nach einem Heft und müht sich ab, den geheimnisvollen Sinn des Textes zu entziffern, der in Französisch, Spanisch oder Esperanto verfasst ist. Canard Moue hat ganz allein lesen gelernt. Er hat einen ungeheuren Durst nach Erkenntnis und nach der moralischen Schönheit, die das Wissen vermittelt. Doch er ist vom Leben gehetzt, von der Arbeit gehetzt, er hat keinen Ratgeber. Arzt, Lehrer, Dolmetscher sein: wie schön! ... Vielleicht wird er an seinem Lebensende bis zur Hälfte des steilen Weges gelangen ...
Die Vorstellungen seines Dorfes hat er schon hinter sich gelassen: Er glaubt nicht mehr an den lieben Gott, er weiß, dass die Erde rund ist, und kennt die äußeren und inneren Teile des menschlichen Körpers.
Das Haus ist mit einer Fayencetafel geschmückt, auf der ein prächtiger Esperantostern prangt. Canard Moue hat seinem Adel ein Wappen geschaffen.
Der Stern bekommt seltsame Dinge zu sehen. Er sieht seinen Schützling mit der klapperdürren Hündin einen Stierkampf aufführen, er sieht ihn barfuss herumtanzen. Er sieht ihn sich am Kopf kratzen, hört ihn ein geheimnisvolles Wort murmeln, die Hacke wegwerfen, um zum Wörterbuch zu rennen.
Dieser Esperantostern ist das Firmenschild des Canard Moue, sein Firmenschild und seine Poesie. Ob er Bauer, Geflügelzüchter oder Hilfsarbeiter ist, all das zählt nicht. Der Lebensinhalt eines Menschen liegt in dem, was er erstrebt, und nicht in den Rollen, die das Leben ihm aufdrängt. Dieser Stern versinnbildlicht die Liebe zur Menschheit.
Wenn er von der „banda" spricht, kann er mit einem Achselzucken sagen: „Was tun die schon für die Menschheit?"
Die „banda" haust in einem Heuschober im Dorf. Ob sie zu sechst sind oder zu dritt, ob Franzosen, Spanier oder Deutsche, ob die Zusammensetzung der „banda" wechselt, ob die einen kommen und die anderen gehen, die „banda" bleibt immer die „banda".
„Que banda!" sagt Canard Moue, wenn er auf die verschiedenen Typen junger Vagabunden zu sprechen kommt. Und er lacht. Aber er verachtet sie.
Es kommt vor, dass zur „banda" ein Esperantist gehört. Dann steigt das Ansehen der Gesellschaft für einige Zeit in seinen Augen.
Die „banda" hat uns besucht, drei oder vier Burschen mit Radrennerallüren. Sie sind gut gelaunt. Mit einem breiten Lächeln auf den Gesichtern kommen sie herein, nur so zum Spaß, um diesen seltsamen Anblick zu genießen: Canard Moue, der einem Kumpel Unterkunft gibt. Ist denn das möglich?!
Was kann ich der „banda" nur anbieten? Da sind die Äpfel, die ich gestern bei einem Bauern gekauft habe.
Was für eine Überraschung! Zu essen bekommen im Hause von Canard Moue! Die „banda" lacht. Ist das möglich?
Die „banda" bezieht ihr Winterquartier im Dorf. Sie strotzt vor Gesundheit und Wohlergehen in neuen Trikots und Radfahrerhosen. Alle haben sich seit einigen Jahren auf Saisonarbeit spezialisiert. Der Turnus der Obsternten bringt sie ins Var-Gebiet, an die Rhonemündung, nach Vaucluse. Die Materie ihrer Arbeit — Kirschen, Pfirsiche, Melonen, Trauben, Feigen — trägt weitgehend zu ihrer Ernährung bei.
Ein Lebensablauf, der sich Jahr für Jahr wiederholt. Wenn nichts Unvorhergesehenes dazwischenkommt, gibt es immer wieder bei denselben Chefs Arbeit für sie. Auch die „banda" hat ein Ideal, eine Lebensauffassung: ihre Lungen vor dem Fabrikstaub zu bewahren, mit wenigem auszukommen, gerade so viel zu arbeiten, wie notwendig ist, bis zu dem Tage, da sie sich der Ausbeutung durch Arbeitgeber vollends entziehen werden, indem sie sich auf einem Fleckchen Erde niederlassen, wo sie ihr Haus bauen wie Canard Moue. Alles Pläne, die verteufeltes Haushalten erfordern und einen recht derben Trieb zur Sparsamkeit.
Wenn Canard Moue von ihnen spricht, nennt er sie die „banda". Aber die drei Burschen sind ganz zufällig beieinander, ihre übereinstimmende Lebensauffassung und das Hausen unter einem Dach haben sie vereint. Die „banda" entsteht und vergeht.
Ja, das stimmt, für die Menschheit tut die „banda" nichts.
Es gibt keine Arbeit mehr bei den Bauern im Tal, sonst würde Canard Moue für sie arbeiten. Auch ich weiß nicht, worauf ich setzen soll: auf den Zufall, die Gärtnerei oder die Erdarbeit.
Im allgemeinen werden hier die zugewanderten, die gefügigen Arbeitskräfte bevorzugt, die Analphabeten aus Piemont, die die Weltanschauung ihres Heimatdorfes beibehalten haben: Es hat immer Reiche und Arme gegeben, wir gehören leider zu den Armen. Nicht wir befehlen, befehlen tut der maestro, der padrone ...
Arbeitskräfte, die sonntags arbeiten, neun oder zehn Stunden schaffen, ohne sich darum zu kümmern, ob es Arbeitslose gibt. Denen, die nicht so denken, begegnet man hier nicht mehr; die sind anderswo, ausgewiesen.
Ich möchte gern eines Tages auf einer Baustelle arbeiten, wo die Kumpels sich Achtung zu verschaffen wissen. Muss man dazu in die Pyrenäen gehen, zu den spanischen Erdarbeitern? Jedenfalls nicht hier bleiben, in der Nähe dieser Grenze. Die Kerle lassen sich anschnauzen und machen regelmäßig Überstunden. Mit ihnen habe ich wiehernd gelacht, aber darauf beschränkt sich unsere Zusammengehörigkeit.
„Wo kommst du her?"
„Warum bist du weg aus Paris?"
„Gibt's denn in Paris keine Arbeit?"
„Du bist Franzose? Da müsstest du doch in einem Büro arbeiten!"
„Ach, wenn ich gut französisch sprechen könnte!"
Beinahe auf allen Baustellen war ich „der Franzose". Bei schwerer Arbeit hat mir das Leben gefallen, aber oft habe ich mich nach dem Achtstundentag gesehnt und meine Leidensgenossen wegen ihrer Unterwürfigkeit, wegen ihrer Laschheit verachtet. Dann bin ich eingewanderten Gewerkschaftlern begegnet, echten Männern, die aber hierzulande ohnmächtig waren mit ihrem Fremdenpass. Man muss älter werden, um die Menschen lieben zu lernen. In der Arbeit habe ich vor allem die Natur geliebt, die uns umgab, das Licht im Gebirge, die Kiefern und die Lärchen.

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