ZURÜCK ZUR FABRIK
  Als ich die Maschinenarbeit vor ungefähr zehn Jahren aufgab, glaubte  ich nicht, dass ich jemals wieder zu ihr zurückkehren würde. Ich hatte  die schöne Schieblehre aufbewahrt, die ich als Lehrling gekauft hatte,  dazu ein paar mit viel Geduld hergestellte Winkelmaße, einen kleinen  Werkzeughammer und einen Körner — nur meine Zeugnisse nicht. Ich wusste  nicht, dass ich das Handwerk noch einmal brauchen würde, das ich mit  gutem Willen aber nur durch Zufall erlernt hatte, als ich mit fünfzehn  Jahren nicht länger Hilfsarbeiter bleiben wollte. 
    Nun überdachte  ich meine Lage. Wieder wollte ich nicht länger Tagelöhner,  Saisonarbeiter, Landarbeiter oder Erdarbeiter sein. Zunächst einmal, um  mehr zu verdienen. Ich würde neue Verpflichtungen auf mich nehmen,  nicht mehr so frei sein. Ich hatte alle Möglichkeiten, mir außerhalb  meines Berufes mein Brot zu verdienen, erschöpft. Nun war ich ein  fertiger Mann, ich brauchte mich nicht mehr durch mühselige Arbeiten im  Freien zu stählen. Die Anforderungen meines Berufes als  Werkzeugschlosser würden mir eine bessere, glücklichere und intensivere  Nutzung meiner Fähigkeiten gestatten. Ich sehnte mich nach schwierigen  Aufgaben. 
    Ich hatte keine Zeugnisse mehr, um mich, wieder in Paris, einstellen zu  lassen. Ich hatte Vertrauen zu meinen Händen. Ein übertriebenes  Vertrauen: der Beruf verlangt nicht nur Kenntnisse, sondern auch Übung.  Ich würde mich völlig absondern. Ich würde mich ganz und gar meiner  Arbeit widmen. Ich spürte eine imaginäre Feile in meinen Händen. Man  würde mich einen Versuch machen lassen. Ich hatte Vertrauen. Ich kannte  nicht die Schranke der Zeugniskontrolle. 
    Die Zeugnisse sind das „freie" Frankreich. In Amerika soll kein Mensch  danach fragen. Ford stellt den eben aus Sing-Sing Entlassenen ein, ohne  Rechenschaft darüber zu fordern, wo er seine Zeit zugebracht hat. Bei  uns dagegen will man verwurzelte Leute. Die Fragen, die einem in den  Einstellungsbüros der Industrie und des Handels gestellt werden, sind  schon geradezu Polizeiverhöre. Man sieht im Menschen nur ein Werkzeug,  das von Geburt bis zum Verschleiß spezialisiert bleiben muss. 
    Mit fünfzig Jahren weiß ein Arbeiter, dass sein Alter ihm nicht mehr  erlaubt, den Arbeitgeber zu wechseln. Die Industrie will nur junge  Leute, deren Jugend von der Welt nichts als die Maschinen sehen will.  Man muss beweisen, dass man weder zu neugierig noch zu unstet ist. Die  Strenge der Einstellungsbüros verschärft sich. Man fürchtet sich nicht,  einen unfähigen Facharbeiter einzustellen, wohl aber einen Kommunisten,  einen Aufrührer. Da liegt der Haken. Immer gut Acht geben, dass ein  ehemaliger Betriebsrat, der entlassen wurde und für sechs Monate oder  ein Jahr boykottiert wird, sich nicht mit falschen Zeugnissen oder  unter einem anderen Namen einstellen lasst. 
    Ein größeres Maß an Freiheit würde indessen nur von Nutzen sein. Früher  hatten in allen Berufen die Männer, die sich Gesellen nannten, ihre  Wanderschaft durch Frankreich oder gar durch Europa hinter sich. Wenn  ein Mensch dadurch einbüßt, dass er sich mit anderen Arbeiten als denen  seines Berufes abgibt, so gewinnt er doch dabei an Lebenserfahrung und  Gewandtheit. Krisen treffen ihn nicht unvorbereitet, er ist imstande,  sich einer Tätigkeit zuzuwenden, die ihm geläufig ist und braucht nicht  die Stempelstellen heimzusuchen. Land und Leute kennen lernen ist auch  eine Form, sich zu bilden. 
    Das ist freilich nicht der Standpunkt der Personalchefs. Nicht einmal  ungelernte Arbeiter dürfen nach Belieben vom Baugewerbe zur Industrie  hinüberwechseln. Gibt es beim Bau keine Arbeit, weist man sie in den  Fabriken zurück, wenn sie nicht schlau genug sind, falsche Zeugnisse  vorzuzeigen, was allerdings immer schwieriger wird. 
    Ich sah mich gezwungen, eine List anzuwenden. Meine Geldmittel gingen  zur Neige, die Wirtin drängte. Die Personalchefs sind Beamte. Die  Direktoren sind anderweitig beschäftigt und können nicht damit  belästigt werden, eine Entscheidung zugunsten eines Arbeiters ohne  Zeugnisse zu treffen. 
    Selbst wenn der erste Eindruck günstig war, gelang es mir nicht  durchzusetzen, dass man mich eine Probearbeit machen ließ. Blieb also  die List. Nach wohlgelungener Tarnungsprozedur wurde ich bei Citroen  vorstellig. 
    Lange musste ich in einer Schlange vor einem Tor warten, dann stand ich  vor dem Personalchef, der die Einstellungen vornahm. Er saß vor einem  kleinen Tisch in seiner Wachtstube, seinem Leichenschauhaus, seinem  Gefängnis, seinem Friedhof, seinem Gestapo-Vorzimmer. Gleich würde ich  verhört, dann aufgehängt werden von diesem stämmigen Kerl, einem  grauhaarigen und gesetzten Angestellten, der kälter als ein Möbelstück  war, ein Polizeiinspektor im Ruhestand, der hier offensichtlich sein  früheres Handwerk weiter ausübte. Er hatte mit mir geredet, ohne den  Kopf zu heben. Dann hob er ihn bei jeder neuen Frage und durchbohrte  mich mit seinen Blicken. Ich fühlte mich schuldig. Schuldig, keinen  Kühler, keinen Anlasser im Herzen zu haben und nicht mit Benzin  getrieben zu werden, sondern ein lebendiges Wesen mit Gems- und  Spatzenblut unter der Haut zu sein, schuldig, Schaufel, Sonne und Moos  geliebt zu haben. 
    Von meinem ältesten Zeugnis hatte ich den Briefkopf genommen und ihn  mit einem Klebestreifen auf neues Papier geklebt — eine ausgesprochene  Antiquararbeit, bei der ich die Wirkung des Alters dadurch hervorrief,  dass ich das neue Papier mit nackten Füßen auf dem gebohnerten Fußboden  des Gasthofes hin und her rieb. Dieses Zeugnis schien ihm in Ordnung,  aber wertlos, da es von einer Provinzfirma stammte. Das andere, neuere  untersuchte er, indem er es gegen das Licht hielt; eine leichte  Radierung erschien ihm verdächtig. Fiasko. Ich sollte die Papiere  beglaubigen lassen. 
    Ein schwerer Schlag für einen, der so weit ist, dass er seine  Mittagsmahlzeit durch eine Tasse Milchkaffee und ein Hörnchen ersetzen  muss. Mehr Glück hatte ich einige Tage später in einer Flugzeugfabrik. 
    Es gibt ein Angstgefühl bei der Arbeitssuche, das dem des  Landstreichers gleicht, der bei anbrechender Dunkelheit ein Obdach  sucht, oder dem des Bauern, wenn im Frühling die Trockenheit zu lange  anhält. Auch im Besitz gültiger Papiere entgeht ihm kein Arbeiter. Mit  dem Zusammenschrumpfen des Geldbeutels sinkt sein Herz. Arbeiter oder  Bauer, vor Nahrungssorgen unterscheiden die Menschen sich kaum. Geld  ist Macht, aber wer von uns kann Ersparnisse machen? Mögen doch die,  die mir nicht glauben, einmal versuchen, ein paar Jahre unser Dasein zu  leben. 
    Das riesige Pariser Weichbild wirkt deprimierend in den Vierteln, in  die man zum ersten Male den Fuß setzt. Man zieht einen Stadtplan  hervor, um sich zurechtzufinden. Die von Fabriken gesäumten Seine-Ufer  speien öligen Schmutz aus. Die Luft riecht schlecht, sie ist von den  hohen Schornsteinen verpestet. Man fühlt sich elend inmitten der  industriellen Hässlichkeit. 
    Angst vor der Not. Der Arbeiter auf Stellungssuche — häufig  vergebliches Herumlaufen — empfindet, dass nichts ihm gehört. Er hat  nur seine Kleider. Das Dach überm Kopf, seine Nahrung, alles kann zum  Teufel gehen. Er ist sogar erstaunt darüber, dass er am Leben hängt, da  er, um es zu bewahren, um Fabriktore und -mauern herumstreichen muss.  Er fühlt seine ganze Ohnmacht und die Unsicherheit seiner Lage. Das ist  bedrückend und fast eine Offenbarung. Von Zeit zu Zeit verjagt er mit  einem gezwungenen Lächeln oder mit einem Zucken seines Augenlids die  Trübsal, die ihn überkommt — wie man Fliegen verjagt. 
    Ein Bauer kann sich auch in einem schlechten Jahr angesichts seines  Ackers stark fühlen. Feld und Haus sind sein Eigentum. Wenn er Pächter  ist, hat er einen Pachtvertrag; er hat immer die Gewähr, das Nötigste  zu produzieren. Das Geld kann ihm ausgehen, nicht aber, was er zum  Leben braucht. 
    Für den Arbeiter dagegen wird es tragisch, sobald er Arbeit sucht.  Rasch ist er am Ende seiner Ersparnisse, wenn sich die Suche ein wenig  in die Länge zieht. 
    Erst bei der Arbeit wird er wieder stark, wieder sicher erst, wenn er  von neuem mit Menschen in Berührung ist, die wie er ihre Arme  verdingen, um leben zu können, wenn es ihm nach dem Alleinsein von  neuem erlaubt ist, sich im Kreise wieder gefundener Kameraden sein  Leben zu verdienen, wenn er frei geworden ist in dem Gefängnis, an  dessen Mauern er entlangstrich. 
    Vor der Einstellung — meine Zeugnisse waren in Ordnung befunden worden  — musste ich eine Probearbeit machen. Ich merkte rasch, dass ich an  Geschicklichkeit verloren hatte. 
    Ein Kollege in meinem Alter suchte mich am Schraubstock auf. Er hätte  mich übersehen, in seine Arbeit vertieft bleiben können, aber er  unterbrach sich, um sich zu vergewissern, ob ich auch alle notwendigen  Werkzeuge hätte. Er brachte mir ein paar Feilen und eine elektrische  Birne. Während meiner Arbeit kam er noch einmal, um zu sehen, ob mein  Probestück gut ausfallen würde. 
    Fürs erste nur das. Ich merkte, dass sich die Atmosphäre in den  Fabriken seit 1936 geändert hatte. Es war, als empfingen mich alle  Arbeiter mit den Worten: „Du gehörst zu uns." 
    Wieder war ich in der Welt des Metalls: Viel Rauch, wenig Luft und  jenes beklemmende Gefühl, schmerzlich für die Menschen, die an das  Leben im Freien gewöhnt sind. Die Lunge leidet, der Blick sucht einen  Fetzen Himmel und stößt gegen die blaugestrichenen Glasscheiben der wie  Sägeblätter gezackten Dächer. Sobald man aber die Hand eines Kameraden  gedrückt hat, sobald sich ein Unbekannter als Mensch erweist, sagt man  sich: ,Ich kann es hier aushalten wie die anderen, wie er, wie alle,  die da am Schraubstock oder an den Maschinen stehen.' 
    Was in der Fabrikwelt von der Natur übrig bleibt, ist der Mensch, der  Gefährte, das Ebenbild, der Mitmensch. Für sich allein würde man darin  krepieren. Keine Bäume, keine Pflanzen, keine Hunde mehr, eine ganz und  gar künstliche Welt, die menschliche Emsigkeit erbaut hat. Nichts als  harte, dichte Materie. Der Stoff, aus dem Hände gemacht sind, ist recht  zerbrechlich daneben. In der kalten Welt des Metalls wirkt es  beruhigend, einem Kameraden zu begegnen. 
    Die Halle war von einem Klirren erfüllt, als zerschlüge man überall in  gleichmäßigem, scharfem, tönendem Rhythmus zahllose Flaschen. Mittags,  wenn alles stillstand, empfanden die Ohren mit Behagen die entstandene  Leere. Es war ein erträglicher Lärm. 
    Ich hatte zwölf Stunden zu meiner Probearbeit gebraucht, die  zugestandene Frist überschritten. Unruhig packte ich mein Werkzeug  zusammen, beschämt, dass ich es nicht besser gekonnt hatte. Der  Betriebsvertrauensmann war zu mir gekommen, um mich zu beruhigen: Es  fehlte der Fabrik an gelernten Arbeitern, man konnte mich in einer  einfacheren Produktionsstufe beschäftigen; er würde sich dafür  einsetzen. Man atmet freier in einer Fabrik, in der die Arbeiter  organisiert sind und sich solidarisch fühlen. Zu anderen Zeiten, ohne  unseren Vertrauensmann, hätte ich wieder auf der Straße gelegen. Ich  trat als Fabrikationsschlosser in die Abteilung Kurbelstangen und  -zapfen ein. Wir waren etwa zu fünfzig in einer Ecke der Halle, auf  mehrere Werkbankreihen verteilt. 
    Die Industrie verlangt viel. Das Auge ist nicht imstande, die  Präzisionsarbeit der Hände auf ein hundertstel Millimeter zu  kontrollieren. Ein Zimmermann sieht genau, wenn er beim Sägen von  seinem blauen Strich auf einem Sparren abkommt, ebenso wie ein Maurer  leicht feststellt, ob die Mauer, die er errichtet, senkrecht ansteigt.  Bei unserer Arbeit an den Kolbenstangen spielte der Tastsinn die  Hauptrolle. 
    Die Stangen kamen maschinenfertig zu uns herüber. Um ein vollkommenes  Ineinanderpassen der Kolbenstangen und ihres Kopfes zu erreichen,  musste ein gleichmäßig verteiltes Reiben mit der Feile genügen. Aber  die Art der Arbeit gestattete nicht den Gebrauch eines Messinstruments.  Die Hand arbeitete blind; um sie zu leiten, hätten die Augen die  Schärfe eines Mikroskops haben müssen. 
    Trotz der Präzision der Maschinen fiel kein Stück genau so aus wie das  andere. Man prüfte die Teile, indem man mit der feinfühligen  Behutsamkeit eines Blinden die Kolbenstange in ihren Kopf einpasste und  dabei den Grad des Klemmens feststellte, oder indem man das Stück mit  ausgestrecktem Arm vors Auge hielt, um sich zu vergewissern, ob die  ineinander geschobenen Teile lichtundurchlässig blieben, ob das Licht  nicht hindurchdrang, wie zwischen zwei Fensterläden. Das eine Auge  zugekniffen, das andere weit aufgerissen, schnitten fünfzig Mann vor  ihrer Lampe die gleiche Grimasse, die Augen geblendet vom grellen  Lampenlicht. 
    Die Arbeit verlangte frische Kräfte, eine Art Bereitschaft der Nerven  für die Anspannung, welche sie vom Tast- und Gesichtssinn forderte. Um  das Metall zu formen, musste man eins mit ihm werden, sich ihm  vermählen, nur noch mit ihm leben, in dauernder Beziehung mit dem  Geknabber der kleinen Feile stehen, es in sich aufnehmen und in seinem  Innern messen. Man möchte fast sagen, dass die Präzisionsarbeit, die  Mechanik, ein gedankliches Doppelleben im Menschen nicht zulässt,  sondern von ihm ein völliges Einswerden mit seiner Arbeit verlangt. Vor  lauter Aufmerksamkeit fühlte ich meine eigene Schwere nicht mehr,  obwohl mir der gebeugte Rücken weh tat und ich das Bedürfnis hatte,  mich einmal zu recken und tief Atem zu holen. Trotz des Gefühls, so  leer zu sein wie eine Trommel, freute ich mich bei meiner stets  schwierigen Arbeit, ein Mensch zu sein, Kräfte und Fähigkeiten vereint  im Kampf gegen die widerspenstige Materie. 
    Wenn die Kurbelstangen mit ihren scharfen Gussnähten öltriefend  ankamen, musste man ein paar Mal ordentlich über den Grat feilen und  sie abwischen, um sie ohne Widerstreben und ohne sich zu verletzen in  die Hand nehmen zu können. Wenn sie nach unserer Arbeit vom Polieren  zurückkamen, waren es prächtige Stücke. Nickel und Kupfer blitzten und  fühlten sich so glatt an wie ein Feuerzeug. 
    Die Arbeit an den Kurbelzapfen war angenehmer. Jeder Zapfen kam in zwei  Teilen an. Das war klare, mess- und kontrollierbare Präzisionsarbeit.  Ein kleines Messinstrument orientierte uns bei der Arbeit. 
    Um schnell und gut zu schaffen, kämpften wir mit der Zeit wie Läufer,  die einen Rekord um ein paar Sekunden überflügeln wollen. Man gab uns  sehr wenig Zeit für jedes Stück. Es war eine Notwendigkeit, sich zu  beeilen, es war aber auch ein Spiel. Auf der Platte eines kleinen,  gusseisernen Tisches stand ein kleines Messinstrument. Zu ihm kehrte  man rasch zurück, sobald die Feile ein paar Hundertstel  heruntergeschliffen hatte. Noch einmal spannte man das Stück sachte und  flink in den Schraubstock, strich ein paar Mal behutsam mit der Feile  darüber und kam so an das vorgeschriebene Maß heran. Hin und her  zwischen Schraubstock und Messapparat, in jedem Handgriff Präzision und  Gewandtheit. Man prüfte mit äußerster Sorgfalt. Der letzte Schliff  wurde auf einem über die Tischplatte gespannten Schmirgelpapier  gegeben; dabei war die Aufmerksamkeit auf das Spiel der Finger  gerichtet, um den Reibedruck gleichmäßig über das ganze Stück zu  verteilen. Es war eine rhythmische; unmittelbar von der Intelligenz  gelenkte Arbeit. Ich hätte sie jedem beliebigen Spiel vorgezogen. Was  nicht hinderte, dass ich mich nach Feierabend, wenn die Anspannung  vorüber war, erschöpfter fühlte als sonst. 
    Beim Aufheulen der Sirene um halb drei Uhr verließ die Gruppe der  Schlosser wie ein Spatzenschwarm die Werkbänke. Jeder hatte es eilig,  dem Lärm zu entkommen, die Straße wieder zu sehen. Die Ablösung stand  schon an unseren Schraubstöcken. Die Pariser Arbeiter haben oft mehr  als eine Stunde Fahrt, um von ihrer Wohnung zur Arbeit zu gelangen. Ich  war vor fünf Uhr auf den Beinen, um die erste Untergrundbahn in der  Frühe zu bekommen. Ich schritt durch stille Straßen. Das Wasser  plätscherte in den Abflussrinnen wie Quellen, die hervorbrechen  möchten. Es war ein großes, ruhiges Murmeln, das Gehen tat gut. An der  Haltestelle der Untergrundbahn wartete ich, bis das Gitter geöffnet  wurde. Der Angestellte, der mir meine Fahrkarte aushändigte, gab mir  das Kleingeld zurück mit einem Lächeln, das einen Morgengruß unter  Frühaufstehern bedeutete, zu einer Stunde, da sie noch nicht zahlreich  sind. 
    Eine halbe Stunde Fahrt, dann ein anderer Zug, der sich zwischen  Abstellgleisen und Häuserreihen hindurchschlängelte, die Seine  überquerte, an einem Friedhof vorüber, durch eine Fabriklandschaft und  neue Stadtteile rollte. Ein paar Minuten zu Fuß in der frischen Luft,  bevor man eingesperrt wird. Und manchmal ein Wunder, ein Windstoß, ein  weither kommender Duft, ein Vogelruf, der aus vergangenen Zeiten zu mir  drang, aus der Zeit unter freiem Himmel. 
    Wenn ich um halb drei nach achtstündiger Schicht die Fabrik verließ,  landete ich dreiviertel Stunden später im Gewühl des Bahnhofs  Saint-Lazare und war ebenso müde, als hätte ich eine Nacht im Zuge von  Marseille nach Paris verbracht. Im Autobus, der mich vom rechten aufs  linke Seine-Ufer beförderte, schlief ich ein. 
    Acht Stunden Fabrik genügen, um die Energie eines Menschen zu  erschöpfen. Was er der Arbeit gibt, ist nicht nur seine Zeit, sondern  sein Leben, die ganze Frische seiner Kraft. Auch wenn er bei der Arbeit  selbst nicht unglücklich war, nicht unter der Eintönigkeit, unter  Überanstrengung gelitten hat, kommt er verbraucht, geschwächt und  abgestumpft aus der Fabrik, seine Phantasie ist tot. Nur das Kino kann  ihm noch aus seiner Müdigkeit den Auftrieb geben, den ihm das  Innenleben versagt. Ich war nicht mehr das glückliche Lebewesen, das  ich im Süden unter freiem Himmel zu sein vermochte. 
    In Paris verdiente ich meinen Lebensunterhalt besser als anderswo. Und  Verdienen ist wichtig. Die Vierzigstundenwoche, die dank der  Gewerkschaftseinheit erkämpft worden war, hatte das Dasein des  Arbeiters erträglicher gemacht. Trotz der drohenden Kriegsgefahr und  der wiederholten Mobilmachungsängste brachte Paris seit 1936 mehr  Kinder zur Welt. Die Arbeiter hatten Vertrauen in die Zukunft. Die Welt  würde nicht immer sinnlos bleiben. Die Jugend in den Fabriken war  schöner, intelligenter, lebendiger als früher, sie erholte sich dank  der Vierzigstundenwoche durch Freiluftspiele und in Zeltlagern von der  körperlichen Zerrüttung durch die Arbeit in geschlossenen Räumen. Trotz  der Erschöpfung bei Arbeitsschluss schien mir die Fabrik schon einer  neuen, einer fröhlicheren Welt anzugehören. Eines Tages würde die  Fabrik uns gehören. Wir würden nicht mehr für den Krieg arbeiten. Ich  fühlte mich mit den Menschen um mich her durch gemeinsames Hoffen  verbunden. Sie waren aus ihrer Gleichgültigkeit, ihrer Passivität  herausgetreten. Wie niemals vorher fühlte ich mich endlich unter  meinesgleichen, unter Arbeitern, die bewusst geworden waren. Es gibt  eine spezifische Traurigkeit des Arbeiterdaseins, von der man nur durch  die Teilnahme an der Politik geheilt werden kann. Im Herzen war ich mit  meiner Klasse im Einklang.  | 
  
    
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