EINSAMKEIT
Wenn ich am Abend, mein Fahrrad an der Hand, den Berg wieder hinanstieg und mich immer weiter von den Lichtern des Dorfes entfernte, fragte ich mich mehr denn je, warum ich mich so hartnäckig ans Leben klammerte.
Wäre ich nicht so erschöpft gewesen, hätte ich der Einsamkeit fröhlicher standgehalten. Dreckig und abgerissen steckte ich in meinen alten Klamotten und schlürfte mit abgelatschten Stiefeln die Asphaltstraße zwischen zwei steilen, struppigen Hügeln entlang. In ratloser Verwirrung dachte ich an verschwommene ferne Zeiten, an das Zusammentreffen vergessener Umstände, aus denen ich hervorgegangen war, um nun dieser arme Kauz von einem Erdarbeiter zu werden. Ich wusste
nicht mehr recht, wie der Zeitenlauf es mit sich gebracht hatte, dass ich nun hier war.
Je weiter ich kam, um so wilder wurde die Landschaft an der menschenleeren Straße. Das Chaos. Ein Chaos ohne Größe: Gestrüpp, Felsen und kahlgebrannter Wald in einer Gegend, in der die Pinien im Sommer wie Zündhölzer aufflammen.
Vom Dorf bis zu meinem Haus waren es sechs Kilometer, und wenn ich ankam, war es wie das Ende der Welt. Im März kam ich gerade zur Dämmerung heim. Im Haus war kein Licht, und die Läden waren geschlossen, wie am Morgen, als ich weggegangen war. In solchen Lebensumständen hat man immer einen Hund. Meiner sprang mir mit klagendem Jaulen entgegen. Ohne Gefährten, mit Ausnahme eines hie und da zufällig vorüberkommenden Hundes, hatte er kein schönes Leben, und er wusste es.
Ich zündete die Petroleumlampe an und machte im Kamin ein mächtiges Feuer, dann putzte ich das Gemüse für die Abendsuppe und für die Mahlzeit zum Mitnehmen auf die Baustelle. Nach der Suppe verließ mich meine Traurigkeit. Nicht immer. Sie wich, wenn ich einen Brief unter die Tür gesteckt fand.
Am Ende eines toten Tages schwankte ich, vor dem Feuer sitzend, zwischen der Zuflucht zum Gebet und dem Zuspruch zum Wein, zur Flasche des schweren Algeriers, die ich noch nicht ausgetrunken hatte. Ein Liter genügte, um mir den Kopf zu verdrehen, aber vor dem Trinken war ich nahe daran, ein Kreuz zu schlagen und zu sagen: „Allmächtiger Gott, ich bin Staub, der Staub braucht sich nicht zu quälen, das Leben geht vorüber." Dem Verstand gehorchend, trank ich lieber.
Ich trank den Wein aus. Mit klarem Kopf und schwankenden Beinen spürte ich in meinen Gliedern einen Feuerstrom des Glückes. Jetzt war alles schöner: das Feuer, die Gegenstände, die Lampe. Wenn ich die Tür aufstieß und in einem wirbelnden und wankenden Himmel die Sterne mit dem Glanz des ersten Schöpfungstages leuchten sah, war ich überzeugt, dass die Erde sich drehe.
Wenn ich am Tage nicht genug lebte, gelang es mir, im Schlaf zu leben. Der Wein erfüllte mich von neuem mit Träumen, mit unendlich fernen Erinnerungen, mit lebendigen Erscheinungen.
Am Morgen war ich wieder auf dem Posten.
Dann, eines Tages, wirkte der Wein nicht mehr. Vom Morgen bis zum Abend dämmerte ich in einem Zustand düsterer Teilnahmslosigkeit hin, die anhielt und mich nicht mehr verlassen wollte. Die Verzweiflung hatte mich versteinert. Jeder Schritt, jede Bewegung fiel mir schwer. Ich hatte zu nichts mehr Lust, weder meine Schuhe am Morgen zuzuschnüren, noch während des Tages die Schaufel zu führen. Ich musste mir Gewalt antun, um vorwärtszukommen. Und das hörte nicht auf, das dauerte und dauerte, wie ein Nagelgeschwür. Ich wartete auf den Augenblick, an dem ich aus diesem Eise auftauen würde. Ich konnte nichts dazu tun, es sei denn auf und davon gehen, um ein anderes Leben zu beginnen, aufhören, allein zu sein.
Ich hatte früher Erdarbeiter werden wollen, um stark zu werden und durch die Welt zu ziehen. Ich war es wirklich geworden, ein für allemal, und kam nicht vom Fleck. Aber das Handwerk, das mich immer befriedigt hatte, stumpfte mich jetzt so ab wie die Eintönigkeit der Fabrik. Ich sah vor mir eine öde Strecke von Jahren, die ich mit der gleichen Bürde beladen zurücklegen musste. Was für Anstrengungen hatte ich gemacht, Anstrengungen aller Art, um das Leben schön zu finden. Aber jetzt musste ich mich geschlagen geben. Die Erschöpfung, die mich jeden Abend niederwarf, hatte mir auf die Dauer auch die Kraft genommen, mich aufzuraffen zu dem mechanischen Tagewerk, das immer wieder begann. Vom Morgen bis zum Abend war ich traurig; es war die Traurigkeit von Sträflingen, die alle Hoffnung, zu entkommen, aufgegeben haben, ohne dass sie sich schon mit der lebenslänglichen Haft abgefunden hätten. Ich war zu traurig, das war schon anormal, und ich sagte mir: „Herrgott, was ist denn los mit dir?" Es war ein Weltschmerz von heftiger und neuartiger Bitterkeit, wie ich ihn weder früher noch später jemals verspürt habe. Es waren nicht die Nerven, es war die Seele, kein Zusammenbruch, sondern das Gefühl, dass sie unter den ständigen Püffen zusammen mit dem erschöpften Körper auf den Hund gekommen war, dass sie ins Alltägliche verstrickt und gar nicht frei, gar nicht weltoffen, gar nicht beschwingt war. Und doch waren es auch die Nerven; die Müdigkeit wirkt sich verschieden aus, je nach der Kraft und der Gesundheit, über die man verfügt. Ich brauchte eine doppelte Gesundheit, ich wollte auch nach der Arbeit leben, ein freier Mensch sein. Es war mir nicht gelungen.
Schön war das Wetter, ein langwährendes, strahlendes, herausforderndes Sonnenfest, zu dem ich nicht zugelassen war. Niemals hatte ich in Dissonanz mit dem Licht gelebt. Wenn ich nach Tagesende von der Baustelle kam und mein Fahrrad an einen Ahornbaum gestellt hatte, war ich nicht mehr imstande, die Terrasse des Cafes zu verlassen, wo ich mich niedergesetzt hatte. Mir graute davor, in meine Hütte da oben zurückzukehren. Die Tage wurden länger, der Abend senkte sich langsam herab. Der Ring der Hügel, die den Horizont versperrten, wechselte sein Kleid. Ich hätte allerlei nähen und flicken müssen, an meinem Kittel gab es Risse und abgeschabte Stellen auszubessern. Ich sah das deutlicher vor mir als das ganze übrige Bild, als diese Ansichtskarte „Frühlingsabend" mit den blauen oder malvenfarbenen Hügeln im Hintergrund und davor im Schutz der Mole an die zwanzig weiße Boote, die das Meer sanft hin und her wippte. Früher hatte ich die Landschaft in mich aufgenommen, ich fühlte mich nicht von ihr getrennt. Jetzt ließ mich die Hand, die mich an der Gurgel gepackt hatte, nicht mehr los und lenkte mich von allem ab, außer von der Angst. Das Blut gefror mir in den Adern, wie von einem Gift zersetzt.
Ich bin mein eigener Arzt geworden. Ich verordnete mir, nach Feierabend sofort heimzugehen, ohne noch beim Postamt vorbeizuschauen, das mir lange als Zauberkasten gegolten hatte, von dem ich allabendlich etwas Außergewöhnliches erwartete, obwohl es mir nur alle acht Tage einen Brief von Anna bescherte. Je erschöpfter ich war, um so krampfhafter erwartete ich etwas Ungewöhnliches, eine Überraschung, ein unvorhergesehenes Ereignis.
Mir wurde plötzlich klar, dass mir die Langeweile überallhin, in die verschiedenartigsten Lebenslagen gefolgt war, in die Fabriken und auf die Baustellen, mit oder ohne Anna. Wohin ich auch gehen würde, es würde keinen Zweck haben, vor ihr zu fliehen; sie würde mir in der Betriebsamkeit der Arbeitstage auf den Fersen sein, wie auch in den Tagen unfreiwilliger Muße; es wurde mir klar, dass die Langeweile, der Zustand innerer Leere, mehr noch als der Hunger das wirkliche Übel ist, an dem die Menschen leiden, dass die Qual der Arbeit, außer in den harten Berufen am Feuerkessel, nicht der Schmerz der Muskeln, sondern die Langeweile ist, dass im modernen Arbeitsprozess Tausende von Menschen als Roboter der Serienfabrikation und des laufenden Bandes sich mit mehr oder weniger Geduld langweilen. Langeweile überall, es sei denn, man ist verliebt — oder ist Philosoph, Gelehrter, Künstler, Tatenmensch oder Geschäftsmann oder ein in sein Stück Land oder sein Geld vernarrter Bauer. Langeweile überall, außer da, wo Menschen von hochherzigen Bestrebungen erfüllt sind und ein gemeinsames Ziel haben. Ich dachte an Russland, an dieses große Erwachen eines Bauernvolkes. Der Mensch modelte sich um und gab sich ein neues, größeres Format. Es sollte ihn nicht am Gehen hindern. Diese Bauernsöhne verschlangen alle Bücher. Das Leben tat sich auf vor ihnen. Eines Tages fand man sie als Ärzte, Ingenieure, Erfinder und Werkleiter wieder. Ich hatte die Mauern des Klassengefängnisses, das vielleicht nicht das einzige Gefängnis des Menschen ist, lange genug abgetastet, um zu wissen, dass es keinen Ausgang gibt.
Trotz meines Grauens vor der Leere ging ich früh heim, ohne mich aufzuhalten. Ich achtete morgens darauf, mein Haus sauber und in gefälliger Ordnung zurückzulassen. Das Heimkommen wurde leichter, wenn der rote Fliesenboden auf gewaschen war und die Kaffeemühle abgestaubt. Ich brauchte mich nicht mehr an der starrenden häuslichen Unordnung zu stoßen. Um alle Müdigkeit loszuwerden und mich mit einem morgendlich frischen Körper zu wappnen, genügt es mir, mich mit der Gießkanne warm oder kalt abzubrausen. Diese Dusche, fünf Minuten Freiübungen — und meine Muskeln vergaßen die Mühsal des Tages. Ich bewegte mich auf munteren Beinen und mit klarem Kopf.
Es fiel mir nicht mehr schwer, das Essen zuzubereiten, Kartoffeln zu schälen. Im Gegenteil, ich fand darin eine Art stillen Glückes, ein Wohlbehagen der Hände. Wenn man allein lebt, belauscht man oft zu sehr sein eigenes Leben. Ich widmete meinem ganzen Tun — auch den geringsten Bewegungen — eine konzentrierte Aufmerksamkeit. Das Schweigen wuchs an, doch ich entdeckte, dass das physische Leben durchaus nicht schmerzlich ist, solange der Körper nicht von Ermüdung heimgesucht ist. Nur beim Schaffen, und sei es noch so bescheiden, spürt man, dass man lebt. Ich war glücklich, meinen Händen befehlen zu können und sie meinen Befehlen gefügig zu finden.
Abgestoßen, fast erdrückt von den Dingen, hatte ich gelebt; jetzt empfand ich die Gegenstände in meinen Händen als Freunde, sogar die Gießkanne, die ich am Brunnen füllte. Es bereitete mir keinen Schmerz, wenn ich mich bückte, um sie zu füllen und sie dann heimzutragen. Ich gab mir Mühe, gewissenhaft zu handeln, ununterbrochen ohne Ablenkung und ohne Hast bei der Sache zu sein. Ich begann zu glauben — man hatte es mich gelehrt —, dass es nur eine Form der Freiheit gibt: die, seine Gedanken bewusst zu lenken, und dass alles andere Abhängigkeit bedeutet. So strengte ich mich an, Aufwallungen der Traurigkeit zu verjagen.
Es schien mir, dass es noch ein anderes Leben gäbe als diese Überspannung und diese Unzufriedenheit, in denen ich oftmals lebte, wenn ich dabei auch häufig glücklicher war als viele Menschen. Ich versuchte, vorzudringen in jenen friedlichen Bereich der guten Hausfrauen, die von der Poesie ihres Haushaltes erfüllt sind. Ich war zärtlich mit der Lampe, ich putzte sie, wischte ihren Zylinder, damit sie wirklich Lampe sei. Ich hatte das Kupfergeschirr blank gerieben. Ich war auch zärtlich mit meinem Gesicht, ich rasierte mich täglich. Tasse, Schale, Teller, Messer waren befreundete Gegenstände. Ich dachte an die gänzliche Mittellosigkeit der Menschen der Vorzeit, um mir damit zu beweisen, dass ich mit einem Messer reich war, dass die Prüfung des Lebens mit einem Teller und guten Stiefeln unendlich leichter war als früher.
Ich hatte kein Gefühl für meine Reichtümer gehabt, ich musste es bekommen. Ich versauerte auf meinen Schätzen. Ich empfand nicht mehr stark genug das Vergnügen, unter einem guten Ziegeldach zu schlafen, ein Streichholz anzuzünden, ein gutes Feuer und Fensterscheiben zu haben. Alles war mir viel zu selbstverständlich vorgekommen, Brot und Wein auf dem Tisch, Kartoffeln und Salz, Öl, soviel ich wollte. Es fiel mir nicht schwer, mich davon zu überzeugen, dass der Mensch in der Schöpfung einen bevorzugten Platz einnimmt und dass das menschliche Abenteuer noch niemals so wenig Mut gefordert hatte. Und wenn ich mich an das Öl erinnerte, so vergaß ich dabei doch nicht das Denkvermögen, das Bewusstsein, die moralischen Kräfte, die Phantasie. Ich klagte mich an, nicht lebhaft genug diese Privilegien göttlichen Wesens empfunden zu haben, über die der Mensch in etwas reicherem Ausmaß verfügt als die übrigen Lebewesen.
Mit behutsamem Zartgefühl öffnete ich die Tür des Wandschrankes, um das Salzfass herauszunehmen; wunderbar erschien mir die Hand, die sich nun für eine Wahrnehmung nach der anderen empfindlich zeigte, für das Holz des Wandschrankes, das Eisen seines Riegels, das Glas des Salzfasses und die Prise Salz, die sie herausnahm. Ich war erstaunt, in der einfachen Haut der Finger soviel Erkenntniskraft zu entdecken. Ich bemühte mich, völlig wach zu leben, jedes Augenblickes, jedes Gegenstandes, jeder Bewegung bewusst. Nur die Kindheit lebt in ewigem Entdecken. Der Erwachsene lebt verschlafen in seinen Gewohnheiten. Es ist immer schön, das Leben zu lernen, und mit einemmal lernte ich in unmittelbarem Kontakt mit dem grünenden Baum. Nur das Leben, in dem man sich immer von neuem wundert, verlohnt sich, gelebt zu werden.
Während ich die Kristallkörner der Prise Salz in den Fingern hielt, wusste ich meine Hand der Hand aller Großmütter der Erde ähnlich, wenn sie den Kochtopf aufdecken, um die Suppe zu salzen. Ich hatte es meine Mutter tun sehen, und in traumhafter Flüchtigkeit hielt ich mit ihr Zwiesprache: „Ich salze meine Suppe, meine Hand ist deine Hand, du bist nicht tot."
Aber nicht nur meiner Mutter, aller Toten, aller vergangenen Gestalten war ich eingedenk, die mir diese Hand gegeben hatten, allen Händen ähnlich. Der Mensch lebt mit seinen Händen. Meine hatte Generationen von Leibeigenen angehört. Auf dem Stiel einer Axt in verschneiten Wäldern, an der Glut eines Pfeifenkopfes hatte sie oft nach der Arbeit ihr Alleinsein ausgefüllt. Das Leben ist, was man mit der Hand berührt; die gleichen Empfindungen rufen immer die gleichen Träume hervor. Die Holzhacker, die Winzer, die Bauern, die mir ihre Hand vermachten, hatten mir auch vermacht, was ihnen durch den Kopf gegangen war, durch ihren rothaarigen oder flachsblonden Kopf.
Ich tat Salz in meine Suppe. Das Kaminfeuer, mehr noch als die ebenfalls brennende Petroleumlampe, beleuchtete die Küche mit dem weniger bleichen, tanzenden Lichtschein der Flammen. Auch das Träumen erfüllte mich mit seinem Schimmer, doch ohne dass ich auch nur einen Augenblick versäumte, in aufgeschlossener Beziehung zu den Dingen zu bleiben. Ich achtete darauf, nicht in automatische Betriebsamkeit zu verfallen. Aus dem Anteilnehmen an diesen häuslichen Beschäftigungen schöpfte ich Träume oder Betrachtungen. Mit äußerster Aufmerksamkeit führte ich meine Handlungen aus und schaute ich meinem Leben zu. Ich hatte mich davon überzeugt, dass die Bewusstheit und die Selbstzucht der erstrebenswerte Zustand waren.
Meine Träumerei floss nicht dahin wie ein Traum. Ich sah und war deutlich zugegen, und die Phantasie wirkte noch lebhafter auf mein Empfindungsvermögen als das Feuer des Kamins auf meine Pupillen.
An einem Morgen hatte das begonnen. Eines Sonntags war ich sehr früh aufgestanden, noch vor dem Morgengrauen. Ich wollte meine Hose flicken. Zu lange schon ging ich in Fetzen umher. Das Nähen war mir zuwider; alle Frauenarbeiten waren mir zuwider. Ich hatte mir mehrere große blaue Flicken zurechtgeschmtten, und lange hatte ich die Nadel geführt. Die Lampe hatte mir geleuchtet, dann war es Tag geworden. Vor seinem Anbrach hatte ich eine unermessliche Zeit verbracht. Nun war er da, und meine Hausarbeit war schon getan. Aber es war kein gewöhnlicher Tag mehr, ich hatte sein Entstehen miterlebt. Für die ganze Dauer des Tages war ich ein Mensch des Morgens. Ich hatte die Sterne verlöschen sehen, ich wusste sie im Azur verborgen, die große Bewegung der Nacht blieb mir gegenwärtig.
An diesem Morgen hatte ich alles getan, was ich am Tage vorher geplant hatte. Es ist eine Form der Befriedigung, zu tun, was man beschlossen hat. Mehr als gewöhnlich war ich dem Licht des Tages gleichgestimmt: Vom ersten Schimmer der Morgenröte bis zum hellen Tagesschein war ich durch die Augen und in der Tiefe meiner Träume von der Farbtönung des Tages durchdrungen. Am meisten aber hatte das Führen der Nähnadel auf mich gewirkt. Die Arbeit mit der Nadel, die Lampe, das Tageslicht. Um mir Beharrlichkeit beizubringen, hatte ich meiner Hand gut zugeredet: „Du leidest nicht, du lebst" — und auch ich, mit Nahen beschäftigt, fühlte mich nicht unglücklich. Ich nähte mit großen Stichen, so gut ich konnte. Die Nadel verlangte nur eine leichte Anstrengung meiner Finger. In diese stille Beschäftigung versunken, war ich plötzlich ganz wach geworden und erlebte die Zeit, wie sie die Frauen in ihrer Innenwelt erleben, wenn sie allein sind und nähen. Ich hatte an ihre Liebe zum Schönen gedacht, an ihren tiefen, von Fragen unbeschwerten Frieden. Ich dachte an die Frauen, die Kirchen mit Blumen schmücken, ihr Heim zieren, Spitzen häkeln und ihre Kinder so hübsch wie möglich kleiden; ich dachte an ihr Zartgefühl und den Schönheitskult, den sie treiben, obwohl sie mit ihrem Leibe Kinder zeugen. Ich hatte mir die sinnlose Frage gestellt: „"Was mag sie wohl suchen, die Seele des Menschen, die Seele der Frau?" Und ich glaubte beinahe an den lieben Gott, weil ich seit vier Uhr früh meine Hose geflickt hatte.
Das Leben auf der Baustelle fiel mir jetzt leicht. Ich trank kräftig und aß tüchtig; abends las ich ein wenig. Nichts vermag einen Menschen abzustumpfen, der nicht dem Stumpfsinn verfallen will. Ich stand früh auf, um vor der Arbeit meine Stube aufzuräumen und ein wenig zu lesen. Um früh aus dem Bett zu kommen, hatte ich mein Lager durch eine Holzunterlage hart gemacht. Ein hartes Lager ist gesund. Die Unbequemlichkeit weckte mich des Nachts aus dem Schlaf. Durch das offene Fenster funkelten die Sterne in das schweigende Haus. Ich schrie nicht mehr „Anna" oder „Mutter", von Grauen gepackt vor der Leere, mitten in einem schweren Traum. Ich bejahte das Leben, ich wollte wissen — sogar mehrmals jede Nacht —, dass ich auf der Welt war.
Wenn ich zur Baustelle ging, hatte ich den Tag schon genossen. Ich wollte die Wirklichkeit lieben, ihr nicht ausweichen. Es gibt keine andere Welt. Meine Wirklichkeit war die Arbeit. Einverstanden. Für die Gesellschaft arbeiten und nicht für irgendeinen Parasiten, das hätte mir gefallen. Inzwischen wollte ich aus der Arbeit nicht eine Buße oder einen Fluch machen. Lieber wollte ich vergessen, dass ich wenig verdiente und wie schlecht die Gesellschaft eingerichtet ist. Letzten Endes war mir die Arbeit, wenn sie vernünftig bemessen war, nicht unangenehm. Der da gesagt hatte: „Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen", hatte nicht alles gesagt. Man konnte den Fehdehandschuh aufnehmen und aus der Arbeit eine Freude machen. |
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