Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Georges Navel - Werktage (1945)
http://nemesis.marxists.org

AM MORGEN DER WEINLESE

Die Fensterläden sind wegen der Mücken geschlossen. Ein Lichtstreifen durchschneidet das große dunkle Zimmer. Auch durch den Kamin dringt der Tag, graublau fällt sein Licht auf die Asche.
In ein Betttuch eingerollt, auf einer Matratze ausgestreckt, die auf den Fliesen liegt, lasse ich die Nachtruhe ausklingen. Die Tagesarbeit beginnt früh und endet spät. Eine kurze Ruhepause zum Frühstück um acht Uhr und mittags ein winziges Nickerchen im warmen und hellen Schatten eines Olivenbaums auf dem Weinberg.
Schon höre ich den Schritt meines Arbeitgebers, des dicken Felix. Er wird mich rufen mit seiner ulkigen, dünnen Stimme, der Stimme eines Säuglings, der im Fett erstickt.
Es tut gut, so ausgestreckt liegenzubleiben, wenn man am Tage zuvor tüchtig gearbeitet hat, jede Minute Ruhe wird ausgekostet. Abends nach der Suppe fühlt man sich vor Müdigkeit gelähmt, wie in einen schweren Holzklotz verwandelt. Der beste Augenblick des Tages ist das Wachwerden. Neue Kraft durchströmt die Glieder; während ich mich recke, fühle ich mich wie in geschmeidiges Gummi gehüllt, jenes Gummis, aus dem man Steinschleudern macht.
Es ist Weinlese. Auf der Straße rufen die Leute einander an; herzliche, morgenfrische Stimmen, beschwingte Stimmen, von Sonne und kühlem Tau durchtränkt. Der Kaffee hat sie so munter gemacht oder der Tropfen Schnaps darin, oder es ist einfach deshalb, weil die Bauern während der Lese froh sind, wenn das Wetter klar bleibt.
Das dumpfe Trappeln der Stiefel und der Pferdehufe auf dem Kies wünscht dem Erdboden einen guten Morgen.
Das Gerüttel der Fässer auf dem vorüberfahrenden Karren ist lauter als die Hufe des Pferdes, das ihn zieht; die Räder knirschen im Kies; sie drehen sich langsam, zögernd wie Kühe, die sich dem Brunnen nähern. Der Karren knarrt. Die Holzbütten stoßen mit dem Klang aufgeschlagener Fässer gegeneinander. Der Fuhrmann schreit ein barbarisches „Hühoo", das fast ein Gewieher ist. Man muss sich stark fühlen, wenn man diese Sprache spricht. Sie zerkratzt die Kehle, es ist eine Pferdesprache. Der Karren beschleunigt seinen polternden Rhythmus. Das Pferd wird seinen Kot heute nicht unterm Fenster fallen lassen, und ich werde die Spatzen nicht wie sonst darauf herumpicken sehen.
Das ganze Land riecht nach Weinlese. Wenn ich das Fenster öffne, dringt ihr Atem auf mich ein, ein Duft nach Weinkeller, Rum, altem Fassholz. Das riecht wie nach altem afrikanischem Segelschiff. Es ist der Geruch des Morgens und der reifen Erde. Eine elektrische Lampe brennt noch, sinnlos: die Sonne ist aufgegangen.
Wenn ich durch das fast finstere Kelterhaus gehe — das Tor ist noch zu —, begrüßt mich allemal ein schöner Hund. Er jault, springt mich an, umklammert mich mit seinen Pfoten. Wie mager er ist! Vielleicht ist er deshalb so liebevoll zu den Fremden. Augustine füttert ihn schlecht. Sie hat mich kommen hören und ruft mich in die Küche. So ist es jeden Morgen. Mit singender Stimme lädt sie mich ein, Kaffee trinken zu kommen. Im gleichen Choralston antworte ich, dass ich mich zuerst ein bisschen waschen will.
Sie drückt ihre Bewegungen in Worten aus, in kleinen unregelmäßigen Verszeilen, mit großer eindringlicher Sanftheit, in einem von der Mutter auf die Tochter vererbten Tonfall:
„Hier Ihr Napf, und hier der Zucker, der Kaffee steht im Topf auf dem Feuer. Nehmen Sie sich, Georges ..."
Es ist die Stimme eines zelebrierenden Priesters, es ist die Messe des Morgenkaffees.
Das Reisigfeuer, ein wohlbemessenes Feuer, nicht mehr als nötig ist, erleuchtet die Küche. Zwei Katzen, fast wie aus Porzellan, beschnüffeln vorsichtig die Flamme. Es ist noch ein wenig kühl.
Augustines Kaffee ist Zichorie. Er ist warm; schön schimmert der junge Tag durch den Sackleinenvorhang der Haustür. Es ist doch ein guter Kaffee ...
Während Augustine den Korb mit fast andächtigen Bewegungen fertigmacht, fährt sie in ihrer morgendlichen Kantilene fort:
„Wir werden schöne Linsen essen, eine schöne Linsensuppe, Linsen mögen Sie doch? Und morgen wird es schönen Schellfisch geben mit schönem Bohnensalat, und eine Dose Thunfisch um acht Uhr, Salat dazu, Tomaten und Zwiebeln ..."
Ich weiß, dass in der schönen Abendsuppe ranziger Speck sein wird. Bevor sie das Brot in Scheiben schneidet, das sie zum Mitnehmen in den Korb legt, macht sie mit der Messerspitze rasch das Zeichen des Kreuzes darauf, hüllt es in eine saubere Serviette und reibt Gläser, Gabeln und Messer ab. Alles ist heilig, was zur Nahrung gehört.
Langsam und betriebsam zugleich pendelt sie zwischen Schrank und Tisch hin und her. Sie erschrickt: beinahe hätte sie das Salz vergessen! Mein Gott, was würde Felix sagen. Jetzt ist alles da: Öl, Essig, Senf, die Teller und die kleinen Töpfe.
Breit und stark wie ein Marseiller Fischweib, hat sie die würdige Haltung der Wirtschafterin eines vornehmen Hauses, das strenge Gesicht eines Römerweibes, die Nase der alten Bourbonenkönige Frankreichs, die weiten Augen einer Statue, die niemals lächeln, und «die Traurigkeit eines Generals, der alle seine Schlachten verloren hat. Ihre Tragödie ist die Teuerung des Knoblauchs und des Salats, denn in einer wasserarmen Gegend müssen die Winzer all ihr Gemüse kaufen. Ich gehe, bevor ich den Preis des Mieders erfahren habe, das Augustine seit sieben Jahren auf dem Leibe trägt.
Felix habe ich lieber. Er sitzt auf der steinernen Türschwelle und raucht seine erste Zigarette. Er hat schon Kaffee getrunken und wartet auf unseren Karren und seinen Knecht. Herzhaft begrüßen wir uns. Mit übertriebener, zuversichtlicher Stimme beteuere ich, dass ich gut
geschlafen habe. Es ist eine mit Pferdestimmen des frühen Morgens geschmetterte Begrüßung. Alles ist wie neu: die Hühner, das Pferd, die Schwalben; alles hat den frischen Glanz des ersten Morgens der Schöpfung. Es ist halb sechs nach der alten Zeit.
Die Karren holpern die steilen Straßen hinab. Die Weinleser stehen vor den Kelterhäusern. Es gibt nicht viele Einwohner in diesem kleinen Dorf des Departements Herault, aber alles ist auf den Beinen. Man kommt sich vor wie in einer größeren Ortschaft an einem Kirmesoder Markttag. Überall das Knarren und Quietschen der Bauernwagen und das Gebell der Jagdhunde, die hinter ihnen herlaufen. Es ist wie ein Hafen bei der Ankunft zahlreicher großer Schiffe. Und über all diesem Treiben so viele Schwalben!
Man macht sich auf für einen großen Tag. Es wird sich viel tun heute. Mit vollen, warmen Stimmen werden Zurufe ausgetauscht. Die Luft macht sich einen Spaß daraus, Lautsprecher zu spielen. Alles wirkt überlebensgroß: die Pferde, ihre Kraft, ihre Munterkeit, ihre Geschirre mit den roten Quasten und das Geklingel der Schellen. Mit Mühe sind die alten Weiber auf die Karren geklettert. Die jüngeren lachen, wenn ihre Röcke an den Bütten hängen bleiben. Die Kinder quetschen sich zwischen die Fässer.
Auch unser Karren fährt los. Die Straße führt den Hang hinunter, durchquert die Ebene und verliert sich hinter einem Hügel; sie ist staubig und riecht nach Mehl. Einzeln biegen die Karren in die Feldwege ab.
Auf unserem sind wir nur zu viert. Ich sitze hinten und lasse die Beine baumeln, die holpernde Bewegung wiegt mich ein. Im Rhythmus des Pferdeschrittes entfernt sich das Dorf, schaukelt es auf seinem Hang am Rand der Heide. Alles ist weit, auch der Himmel, ein Himmel, dessen Wolken schon an den Herbst gemahnen.
Auf den Karren hinter uns sitzen alte Weiber; ihre Gesichter sind kaum zu sehen unter den schwarzen Hüten, deren Krempen mit Kopftüchern herabgebunden sind. Jetzt hört man keinen Laut mehr, sie sind still geworden. Ich frage mich, woran sie wohl denken. Das übersprudelnde Kraftgefühl des Morgens ist vergangen; was bleibt, ist dies milde Licht um uns, eine stumme Verzauberung. Ich sehe ihre langen, verwitterten Hände. Ich sehe die alten Frauen mit ihren verklärten Gesichtern und frage mich, woran sie wohl denken.

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur