IX. Die Abtreibung.
Wir rechnen die „Ehrfurcht" zu den religiösen Minderwertigkeitsgefühlen.
Die Geistesfreiheit. Organ des Bundes für Geistesfreiheit. 1928. Nr. 8.
Die entfesselte Volkswut wurde noch einmal beschwichtigt. Demokraten und Zentrum traten aus der Regierung
aus. Daraufhin machte--------zur allgemeinen Überraschung
-------die Leitung der chemischen Industrie wesentliche Zugeständnisse.
„Es muss ihnen doch bange geworden sein", sagte der Kommunist zu Emil.
Der unmittelbare Anlass der Unruhen war beseitigt. In
der neuen Regierung saßen die Vertreter der beiden Arbeiterparteien zu gleichen Teilen. Das Bewusstsein, nunmehr in der deutschen Republik die Regierung in Händen zu haben, beruhigte die Arbeiterschaft. Jetzt musste abgewartet werden, was bei dieser Umgruppierung heraussprang. Die Versöhnung der feindlichen Brüder vollzog sich nur unter Schwierigkeiten. Sie blieb äußerlich. Wie die Führer, von gegenseitigem Misstrauen erfüllt, zu keinem einheitlichen Handeln kamen, so ließ sich auch im Empfinden der breiten Massen die Hetzarbeit von Jahren nicht mit einem Schlage auslöschen. Es war für die sozialdemokratische Partei eine Bundesgenossenschaft, die gefährlicher war, als gar keine.
Das Reichsbanner in seiner alten Form wurde aufgelöst. Zentrum und Demokraten bildeten mit der Deutschen Volkspartei eine neue Truppe, „die Freischar", während die Masse des Reichsbanners von den Sozialdemokraten fortgeführt wurde. Damit ergab sich für die sozialdemokratische Partei der besondere Nachteil, dass sie ihre Kampforganisationen in gefahrvoller Stunde umorganisieren und zugleich innerlich umstellen musste, während der Rote Frontkämpferbund unverändert fortbestand.
Die ersten Maßnahmen der neuen Regierung gingen glatt durch. Sie trügen den Charakter energischer Sozialreform. Das Betriebsrätesystem wurde neu aufgebaut und in seiner Wirksamkeit befestigt. Die Ententestaaten, die der Bildung der neuen Regierung stirnrunzelnd zugesehen hatten, begannen ein freundlicheres Gesicht zu zeigen.
Dann setzte man die Leistungen der Sozialversicherung herauf. Deckung war nicht beschafft. Der Reparationsagent erhob Einspruch. Die Haltung der Ententestaaten schlug um. Sie forderten in scharfen Noten unter Androhung von Repressivmaßregeln die Bilanzierung der Einnahmen und Ausgaben des Reiches. Man begann zu unterhandeln.
Für Konrad war eine Periode äußerster Aktivität angebrochen. Während der Bürostunden half er die laufenden Geschäfte der Organisation erledigen. In den Freizeiten
drillte er die Mannschaften militärisch oder gab ihnen Instruktionsstunde. Die energische Tätigkeit brachte die stockenden Säfte seines Wesens wieder in Umtrieb. So wenig ihm der Ernst der Situation einen Augenblick lang verborgen blieb, so sehr erfreute ihn die Arbeit an und mit seinen Genossen. Freilich war seine Tätigkeit keine leichte. Die militärischen Übungen zwar vollzogen sich reibungslos unter dem natürlichen Übergewicht seiner disziplinierten Kraft. Seine Instruktionsstunden dagegen stießen auf Widerstand — keinen offenen, der wäre zu packen und zu überwinden gewesen —, wohl aber auf den zähen, unangreifbaren der passiven Resistenz. Nur eine Minderheit folgte ihm wirklich. Der Grund lag nicht nur in dem Neid auf seine Stellung. Man sträubte sich vielmehr zu innerst gegen die anders orientierte politische Entscheidung, die er vertrat. Man wollte von keinem Sowohl—Alsauch etwas wissen.
Das Verhältnis zu seinem Vorgesetzten war von Vertrauen und gegenseitiger Zuneigung beseelt. Der jüngere fühlte sich dem Manne verbunden, der ihm, von freimütigem Vertrauen getragen, in gefahrvoller Stunde eine wesentliche Aufgabe überantwortet hatte. Er empfand auch die Überlegenheit des welterfahrenen Mannes gegenüber dem Neuling auf der politischen Plattform. Der Reichsbannerführer aber wandte dem jungen Genossen die väterliche Zuneigung dessen zu, der den Jüngeren, reicher Begabten in die eigne Lebensaufgabe einführen darf, um in ihm den Sohn und Nachfolger zu finden. Sein sachlicher Ernst empfand die natürliche Überlegenheit Konrads nur als Aktivposten der gemeinsamen Sache.
Für die Freunde hatte Konrad seit Monaten kein längeres Zusammensein mehr ermöglichen können. Sie besuchten ihn gelegentlich auf eine kurze Stunde. Otto, Adolf und Emil waren Mitglieder im Reichsbanner geworden. Rudolf war bei den Roten Frontkämpfern. Walter blieb passiv.
*
Zwei Monate waren also verstrichen. An einem Sonntag, kurz vor Weihnachten, kam Konrad gegen Abend von einer Reichsbannerübung heim, erschöpft durch das Übermaß körperlicher und seelischer Anstrengung. Er ließ sich angekleidet aufs Bett fallen und schlief sofort ein. Noch hatte er in diesen zwei Monaten nicht Zeit gefunden, sein Quartier zu wechseln. Es war ein Raum von äußerster Unwirtlichkeit. Tagsüber als Bügelraum einer Schneiderwerkstatt benützt, war er voll gesogen von unausrottbaren Dämpfen und Dünsten. Kein abendliches Öffnen der Fenster vermochte die Luft zu erneuern. Die buntscheckige Tapete war zerrissen und befleckt. Als Zierrat dienten Postkarten mit gemeinen Bildern. Das Bett war schmal und schmutzig. Konrad hatte des alles nicht mehr acht. Er machte sich um der freundlicheren Wendung seines persönlichen Lebens willen keinen Augenblick über die Not des Ganzen Illusionen.
Er mochte eine Stunde geschlafen haben, als es klingelte. Adolf trat bei ihm ein. Konrad fuhr in die Höhe.
„Entschuld'ge Konrad", sagte Adolf. „Ich weiß, du hast eigentlich keine Zeit. Aber ich brauch dich zu nötig! Ich muss mal 'ne Sache mit dir bereden." Er sagte das mit einem Gesichtsausdruck, den Konrad an ihm noch nicht wahrgenommen hatte.
„Setz dich doch, Adolf", erwiderte er, Anzug und Haare ordnend. „Ich habe den Abend frei und bin für dich da."
„Es handelt sich um mich und Martl", begann Adolf gepresst. „Sie kommt hinterher auch noch. Ich wollte es dir bloß erst mal alles erzählen. Weißte, damals, seit der Fahrt nach der Wahl, da haben wir zusammen verkehrt. Natürlich sollte es keine Folgen haben."
„Natürlich?"
„Och Konrad, nu mach doch keine Spähne. — Ich hab se auch aufgeklärt. Aber die Mächen sind ja so unklug. Sie wollte durchaus von solchen Mitteln nischt wissen. Und dann hat sie's noch nichmal gemerkt. S'waren auch so die Anzeichen da. — Es ging ihr nich gut — ich schickte sie zum Arzt, aber da hat sie auch nich gepiepst, und von selbst hat
er nischt gesagt. Gemerkt muss er's haben. Die Kerls sind ja ooch so. Und auf einmal da war das Kind schon unterwegens — im fünften Monat.
Er hielt inne, vor dem schwereren Teil seiner Beichte zurückbebend.
„Nun?"
„Ja, siehste, Konrad, es ging doch nich!! Martas Eltern hätten sie rausgeschmissen. Wo sollt ich mit ihr hin? Meine Eltern hätten sie noch wenigengenommen. Eine Wohnung kriegt man nich. Sie stand auf der Straße. Und wir beide in ein'n Zimmer und dann noch e Kind! Und das bisschen, was man sich gespart hat, langt auch nich weit. Und nächste Ostern wollt ich mal uff'n Jahr nach Berlin. Wir sind ja doch auch beide noch zu jung....."
„Wie alt seid ihr?"
„Ich vierundzwanzig und Marta zweiundzwanzig. Sieh mal, Konrad, wozu is denn der moderne Fortschritt da, hab ich mir gesagt. Man hat das doch heute in der Hand. Das is doch e Fortschritt. S'is doch mit'm modernen Menschen nich mehr so wie früher, dass man die Kinder einfach kommen lassen muss, ob's einem passt oder nich!"
„Wie hast du's denn eingerichtet?"
„Hier konnten wir's nich machen lassen. Sie hat in Magdeburg 'ne Kusine, die is da verheiratet. Und is 'ne aufgeklärte Frau. Da bin ich erst hingemacht und hab alles mit ihr besprochen. Und dann hat Marta zu ihren Eltern gesagt, sie ginge zu der Kusine auf Besuch, und dann hat se's in Magdeburg machen lassen. S'gibt da einen guten Arzt dafür. Es is natürlich sehr teuer, und sie hat ihre ganzen Ersparnisse reingeschustert."
„Deine nicht?"
„Nu----------------ich hab natürlich auch was zugegeben."
„Wie hat's Marta überstanden?"
„Ja siehste, das is es eben! Sie wollte es ja nich! Ich hab ihr zusetzen müssen, dass sie's tat, das dumme Ding. Im Anfang wär's ja leichter gewesen, aber nu im fünften Monat! Da war's 'ne schwere Sache. Sie is sehr krank gewesen.
Nu gehts ihr ja mit der Gesundheit besser, wenn auch nich gut. Aber sie kommt nich drüber hin und grämt sich. Ich weiß nich, was ich mit ihr anfangen soll. Drum bin ich ja zu dir gekommen."
„Warum kamst du nicht vor der Sache?"
„Och Konrad ... du hatt'st soviel zu tun.....ich wollte
nich stören."
Konrad sah ihn fest an. „Nicht wahr, Adolf, du bist dir über eins klar: Wenn unsere Unterredung irgend einen Sinn haben soll, — so dürfen wir keine Ausflüchte voreinander machen. Du kamst nicht zu mir, weil du wusstest, dass ich alles eingesetzt hätte, deine Tat zu verhindern. Nun es geschehen ist ..."
Es klingelte. „Da kommt Marta", sagte Adolf, erleichtert, dass ihr Gespräch an einer heiklen Stelle unterbrochen wurde. Er ging hinaus, Marta zu holen.
Als das Mädchen ins Zimmer trat, hatte Konrad Mühe, seine aufwallende Bewegung zu beherrschen. Mutter und Kusine hatten ihr Möglichstes getan, um sie herauszufüttern, — die Mutter in der Meinung, sie habe in Magdeburg eine schwere Influenza durchgemacht. So waren Gestalt und Gesicht aufgeschwemmt. Das Derbe, Bäuerliche ihrer Erscheinung hatte nur dieser geringen Steigerung bedurft, um in plumpe Unform überzugehen. Antlitz und Gestalt waren ihrer Reize entkleidet. Die Augen schauten klein und trüb aus dem fleischigen Gesicht. Ein Ausdruck unsagbarer Verstörtheit lag darin. Als sie Konrad erblickte, übermannte sie die Bewegung. Ein jähes Rot überflog ihr Antlitz. Sie gab ihm noch flüchtig die Hand; dann vergrub sie ihr Gesicht in beiden Händen und weinte.
Adolf führte sie — freundlich und verlegen — zu der kümmerlichen Bettstatt. Er setzte sich mit ihr nieder und versuchte, sie zu trösten. Doch er hatte damit wenig Erfolg. Nur zu gut spürte das Mädchen, wie billiges Mitleid sich mit dem Bemühen mischte, diese fatale Angelegenheit möglichst schnell zu beendigen. Sie empfand, was sie in all
diesen Wochen empfunden hatte, — dass sie allein stand. Fast hätte sie lieber an Konrads warmem, brüderlichen Herzen Zuflucht gesucht, als bei dem Manne, mit dem sie durch alle Freuden und Leiden der Liebe gegangen war.
Nach einigen Minuten raffte sie sich zusammen. „Sprecht doch", sagte sie. „Ich höre schon".
„Konrad", begann Adolf wieder, „das musste doch zugeben, — zurück können die Menschen nich mehr. Alle die modernen Erfindungen sind gemacht, und man kann se nich wieder in'n Brunnen werfen."
„Nein, das kann man nicht, Adolf. Die Menschheit muss sich irgendwie mit ihnen auseinandersetzen."
„Und es is doch auch 'n Fortschritt."
Konrad unterdrückte ein Lächeln. „So einfach liegt es wohl nicht, Adolf. Ein Eingriff wie dieser bleibt immer eine sehr gefährliche Prozedur, — wir wollen darüber nicht sprechen", fügte er mit einem Blick auf Marta hinzu.
Marta fuhr auf: „Doch! Doch! Gelogen wird genug in der Welt! Ich hab von den Frauen in der Klinik alles gehört. Ich weiß, wie oft ein Mädchen sich einen Schaden für's Leben holt. Ich weiß, wie krank ich war, und dass ich vielleicht nie wieder ein Kind haben werde, wo ich doch Kinder so lieb habe ..." Sie würgte das Schluchzen hinunter. „Wir wollen nich drumrum reden, Konrad! Deshalb komm ich nich zu dir. Das kann mir keinen Trost geben. Ich hab es all die Wochen in mich 'neingefressen. Mit keinem Menschen kann ich ein Wort darüber reden. Du bist der einzige.-------Hast du e bissel Zeit für uns?"
„Ich hab den ganzen Abend frei, Marta. — Aber erst musst du dir's bequemer machen!" Um sie aus der unerwünschten Situation zu befreien, schob er ihr den armseligen kleinen Lehnsessel heran. Sie löste sich aus Adolfs Armen und setzte sich in den Sessel, den Kopf hinten angelehnt, die Arme müde auf die Lehne stützend.
„Siehste, Konrad", begann sie mühsam, „das war mir schon so schrecklich. Als wir miteinander verkehrten, da
sollte immer verhindert werden, dass e Kind kam. Das hat mich geekelt, Konrad. Adolf hat immer gesagt: Das is altmodisch! Das is 'n überwundner Standpunkt! Konrad, ich glaub das nich!" *
„Ich auch nicht, Marta." Sie ah ihn groß an. Adolfs Gesicht verriet Unbehagen und Verlegenheit.
„Konrad", sagte er unsicher, „vielleicht weißte doch nich, wie das alles so für uns is?!"
„Was meinst du, Adolf?"
„Sieh mal, wenn ich an meine Mutter denke — sieben war'n wir, immer eins nach'm andern. Der Vater ging ins Wirtshaus, um die Misere nich alle Abend von vorne zu erleben. Eene Stube un eene Kammer hatten wir. Dreie von uns haben in een'n Bett geschlafen, zwee in der Küche aufm Boden mit 'n paar alten Kissen. Vom dritten Kind an sind wir alle rachitisch gewesen mit krumme Beine und dicke Gelenke. Wie die älteste Schwester siebzehn war, da hatte se schon das erste uneheliche Kind, hernach kamen noch zwee. Vater hat se gehaun. Mutter hat geheult. Dass der Alte soff, kann ich ihm heute kaum verdenken. Wahrscheinlich hätt ich's auch so gemacht. Aber nu lag alles auf Muttern alleine! Sie hat geschuftet von früh bis in'n späten Abend. Tagsüber ging se waschen, abends machte se den Haushalt. Sie hat sich geschunden, wie man kein Tier schindt! Das will ich für meine Frau nich haben!"
„Ja, Adolf. So ist das Proletendasein. Es war bei uns nicht anders, wenn auch unter bäuerlichen Lebensbedingungen manches anders aussieht. Wir hatten die gesunde Natur und waren im Sommer den ganzen Tag draußen. Aber dafür hatten wir in Notjahren, wenn Missernte gewesen war und die Bauern alles an sich hielten, nicht mehr die trockne Brotkruste. Mit 'nem Magen, der vor Hunger weh tat, bin ich oft zu Bett gegangen. Das ist die alte Proletenexistenz in der Stadt wie auf dem Lande! Die steht uns allen vor der Seele. Da müssen wir raus, auf jeden Fall! Die moderne Technik muss auch in dieser Beziehung in den Dienst der arbeitenden Menschheit gestellt werden. Aber Adolf, — jetzt sei ehrlich. Ist diese große Proletariernot und eure Angelegenheit wirklich dasselbe??!!"
„Nu,---------------------'s war der Anfang dazu gewesen!"
„Wie das?"
„Nu —--------Martas Eltern hätten sie rausgeschmissen,
und wir hätten auf der Straße gesessen—"
„Das is nich wahr", rief Marta dazwischen.
„Na, erlaube mal!"
„Unsinn!! 'S hätt einen großen Krach gegeben, und dann hätten sie mich behalten. Mutter is 's ja selber so gegangen. Sie is vom Lande. Da nimmt man das ja gar nich so! Ich war zwei Jahr alt, wie die Eltern geheirat't haben. Mutter hätte unsern möblierten Herrn gekündigt. Dann hätten wir zu Haus ganz gut leben können. Eng wär's gewesen und manchen Krach hätt's gegeben — aber 's wär gegangen."
„Ich danke dafür, mich mit deinen Eltern jeden Tag rumzuzerren!"
„Es war also nicht die nackte, bittere Not, die dich trieb, Adolf?" sagte Konrad. Adolf schwieg. „Dann aber frage ich dich: Was war es sonst?" Adolf antwortete nicht. „Du sprachst von dem Berliner Aufenthalt. Du sprachst von den Ersparnissen, die drauf gehen würden, von den Unbequemlichkeiten der Existenz. Ist das noch dasselbe, wie das Proletarierelend deines Elternhauses mit den rachitischen Kindern, der geschundenen Mutter und dem versoffenen Vater??!"
Adolf schwieg hartnäckig.
„Adolf, — — — mir scheint: Es war die Angst des Kleinbürgers vor dem Opfer der kleinen Freuden seines Daseins!!"
In Adolfs Antlitz begann es zu kämpfen. Seine gutherzige Seele hatte diese Wochen nicht ohne Erschütterung durchlebt. Doch er hatte die Stimme seines Herzens immer wieder zum Schweigen gebracht. Jetzt regte sie sich von neuem. Zugleich aber regte sich in ihm der Trotz gegen Konrad, der ihm in Gegenwart seines Mädchens solche Dinge sagte.
„Es hilft doch nu alles nischt mehr, Konrad." „Nein! Aber deswegen kommt ihr nicht zu mir. Es handelt sich darum, dass ihr die Not dieser Monate nicht umsonst durchlebt habt. Wir müssen uns nach einem Ausweg aus dieser Wirrsal durchtasten. Und wenn dabei kein gutes Haar an uns bleibt, — das ist nicht das Schlimmste!" Adolf sah mürrisch vor sich hin.
„Sieh Adolf, — ich erlebe es immer wieder. Die große Proletariernot führt man im Munde. Aber das kleine spießbürgerliche Dasein steht für so viele von uns dahinter!" „Konrad!! Das is allerhand!!"
„Wenn irgendwo, so macht hier die Verbürgerlichung des Arbeiters rapide Fortschritte. Wir haben hundertmal davon gesprochen, wie der Arbeiter, sobald es ihm besser geht, Stück für Stück die Lebensformen des Bürgers annimmt. Handelt es sich dabei um Kleider und Bücher, so ist es zwar schlimm genug, aber es mag noch hingehen. Handelt es sich dagegen um diese Dinge, so geht es um die Lebenssubstanz der Arbeiterklasse selbst. Da fallen alle Rücksichten. Adolf, ich meine: Was hinter deinem Handeln stand, war nicht die große Not der Arbeiterklasse, sondern die kleine Angst des Spießers, die Angst vor Unannehmlichkeiten, vor Verzichten auf kleinere und größere Freuden, auf äußeres Fortkommen und geistiges Fortkommen." „Konrad! Das verbitt'ch mir denn doch!" „Gleichviel! Ich muss es aussprechen, Adolf. Stand nicht auch die Feigheit des bürgerlich bestimmten Mannes dahinter, der sich vor den Folgen seines Handelns drückt und lieber Leben und Gesundheit der Frau riskiert?"
Da übermannte Adolf die Wut. „Ich bin nich hierher gekommen, um mich von dir wie'n Schuljunge abkanzeln zu lassen", schrie er. Konrad schwieg.
„Du hast ooch gar keen Recht dazu! Du lebst hier deinen Tag hin! Was wir durchgemacht haben, das haste nich durchgemacht!!" „Woher weißt du das?!!!------------"
„Es is leicht, den andern Spießer schimpfen und selbst sich um nischt kümmern!!"
„Adolf!!"
„Un keene Verantwortung haben! Un noch en nettes Amt
mit enem guten Gehalt dazu! Un-------die Kosten für Else
-----------trägt Franz!!-------Du hast gut reden!!"
Wie ein Donnerkeil schlug Konrads Faust auf den Tisch. Er sprang auf. Einen Augenblick standen sich beide Männer Auge in Auge gegenüber. Unwillkürlich wich Adolf einen Schritt zurück. Er senkte den Blick.
„Konrad", schrie Marta angstvoll. Da wandte sich Konrad langsam ab. Er begann mit großen Schritten im Zimmer auf und ab zu gehen.
— — — — „Du sprichst — — — — wie du's verstehst ------------"
„'S war nich so schlimm gemeint, Konrad."
Konrad schoss ihm einen Blick zu, dass er sich duckte. „Ich will dir erzählen, was ich erlebt hab! Seit zwei Jahren bin ich verheiratet. S'ist mir genau so gegangen wie dir. Wir haben auch das Kind gehabt, ehe wir soweit waren, dass wir einen Hausstand gründen konnten. Ich war Student. Mühsam hatt' ich's mir erkämpft!! Hedwig war auf dem Seminar. In der Gruppe der Jungsozialisten arbeiteten wir zusammen. Wir wollten warten — aber dann war das Kind unterwegs. Wir standen dort, wo ihr vor einigen Wochen standet. Die Abtreibung hätte ihr den Beruf gerettet. Mich hätte sie befreit von den Verpflichtungen des Vaters, gleichviel ob ehelich oder nicht. Alle äußeren Gründe sprachen für die Abtreibung. Da, Adolf, hab ich deinen Kampf gekämpft." Er blieb vor ihm stehen und sah ihn durchdringend an.
„Die Abtreibung war uns ein Ekel!!! Wir wollten sie nicht! Aber da haben wir's erfahren, was es heißt, die Folgen auf sich zu nehmen. Hedwig musste das Seminar verlassen, ich meine Studien aufgeben.
„Lass doch, Konrad", bat Adolf.
---------------------„Wie wurde es weiter mit euch?" fragte Marta.
„Ich brachte Hedwig in die Berge zu meiner Mutter, damit sie Hilfe und ein wenig Pflege fände. Aber ich konnte sie meiner Mutter nicht einfach aufhalsen. Sie hätt's natürlich gemacht. Aber es sind noch die jüngeren Geschwister da. Drum blieb mir nichts übrig, als der Berufswechsel. Ich musste verdienen. Ich nahm den Schlosserberuf wieder auf, den ich früher erlernt. Der Bub kam zur Welt, gesund und stark. Und das glaub ich: Ich werde der Arbeiterbewegung auch so dienen können!! Es hängt nicht daran, dass man studiert hat!" „Und nun?"
„Ja, das ist das Schlimme!! — — Als der Bub geboren war, blieb Hedwig noch einen Sommer lang mit ihm oben. Dann bekam sie eine Stelle als Kinderpflegerin in einem Heim. 'S war gegen meinen Willen, dass sie's annahm. Aber sie hängt an ihrem Beruf. Und unser Kind kann sie dort unter gesunden Bedingungen großziehen. Soll ich sie da herausreißen?" Er schwieg einen Augenblick.
„Sie steckt nun in dem Zwiespalt, wie ihn heute die verheiratete Frau durchmacht, auch wenn sie bei ihrem Mann ist: Zugleich Mutter und Berufstätige. Jedes fordert eine ganze Kraft. Ich selbst aber kann nicht dorthin ziehen. Es ist ein Heim in einer kleinen Gebirgsstadt. Wenn ich da wohne, kann ich in der Arbeiterbewegung nicht arbeiten. Anfangs dachten wir, die Trennung sollte auf ein paar Monate sein, nun geht es schon im zweiten Jahre. Wohin es führt, das habt ihr selbst gesehn — als Else hier war —
-------,Und die Kosten für sie trägt Franz', sagst du, Adolf!
Du weißt------------"
„Nein, nein, Konrad! Lass das!! Es war dumm von mir. Es war nich so gemeint!"
Ein düsteres Schweigen trat ein. Adolf war am schnellsten mit sich fertig:
„Sieh mal, Konrad, das kannste nu doch nich bestreiten: Es wär doch besser gewesen, wenn ihr das Kind hättet beseitigen lassen, und hätt't beide eure Berufsausbildung zu Ende geführt, und dann hätt't ihr geheiratet und hätt't e Familie auf ener ganz andern Grundlage gegründet. Besser wär's natürlich noch gewesen, ihr hätt't von vornherein verhütet, dass Hedwig in andere Umstände kam."
„Ja, Adolf. Darum geht's ja gerade, ob das besser gewesen wäre?! Ich sage dir, Adolf, wie ich hier stehe: Wenn ich das alles noch einmal von vorn durchmachen müsste, — ich würde heute genau so handeln wie damals."
Adolf erwiderte nichts mehr. Er lehnte an den erkalteten Bügelofen und sah vor sich hin.
*
Aber Marta war nicht mehr das leidende Weib.
„Konrad", sagte sie, und ihre kleinen Augen funkelten, „ich sage, es is alles eine einzge Schweinerei! All diese Mittel — das is einfach gemeene! Man sollte sie verbieten und ausrotten."
Mit einem Schlage war der Rationalist in Adolfs Seele wieder obenauf.
„Marta! Das verstehst du nich! Du bist eben vom Dorf!"
„Ob ich das verstehe!!! Ich hab's doch eben alles durchgemacht! Bist du nich auch der Ansicht, Konrad: Man sollte das alles verbieten!"
„Es is ja verboten", widersprach Adolf.
„Konrad, rede du! Sollte man das nich alles ausrotten?"
„Nein!"
Sie sah ihn verständnislos an.
„Aber ihr habt's doch nich so gemacht, Konrad!"
„Trotzdem."
„Ich versteh dich nich, Konrad."
„Ich kann die Sache nicht so einfach sehen, Marta."
„Wie meinsten das?"
„Gott, Marta!" fiel Adolf ein. „Es is doch so klar! Früher aufm Lande — da war man eben naiv. Da nahm man das als ,Segen vom lieben Gott!' Heut glaubt das 'n aufgeklärter Mensch nich mehr und damit hat sich's!"
„Lass Konrad reden! Was du denkst, das weeß'ch!" Und sie verzog die Mundwinkel spöttisch.
„Marta, kommst du noch manchmal zu deinen Großeltern auf den Bauernhof?"
„Ja, Konrad. Aber du glaubst nich, wie komisch da noch alles is. Ich kann das gar nich so sagen."
„Siehst du, Marta! Und nun nimm dagegen die Großstadt! Wo arbeitest du?"
„In der großen Nährmittelfabrik, draußen in Körwitz."
„In welcher Abteilung?"
„Wo die Waren fertig gemacht werden."
„Was machst du da?"
„Wir machen die Packungen."
„Wir?"
„Ja, es geht am Band. Du solltest das sehen, Konrad! Jeder macht was. Immer im Tempo! Dreizehn Mädels sind wir, die bloß Packungen fertig machen!"
„Jeder Griff ist ausprobiert, was?"
„Aber genau! Ich setze immer den Deckel auf die Pappdose, das heißt die Maschine macht's. Ich leite es bloß durch."
Adolf sah gelangweilt drein.
„Weißt du, Marta, wie man diese ganze Gestaltung des Arbeitsvorganges nennt?" „Das Band, Konrad." „Das meine ich nicht. Ich meinte ...." „Rationalisierung", sagte Adolf schulmeisterlich. „Das Wort hab ich auch schon gehört", bestätigte Marta. „Es is jetzt viel von die Rede."
„Man meint damit, dass jeder Arbeitsvorgang bis ins Einzelne untersucht und geordnet wird." „Ich verstehe, Konrad." „Ist das beim Bauern auch so?"
„Denkt nich dran! Es geht immer den alten Trott weiter!" „Ist die Rationalisierung der Fabrikarbeit im Großstadtleben ein vereinzelter Fall?" „Nee, Konrad! 's is hier alles so."
„Verstehst du nun, wenn ich sage: In der modernen Großstadt wird das ganze Leben rationalisiert, das heißt verstandesmäßig geregelt."
Sie nickte.-----------------„Und mit Mutter und Kind hat
man's auch so gemacht, nich wahr?"------------
Konrad schwieg einen Augenblick unter dem Eindruck
ihrer Worte. So primitiv sie waren, sie trafen ins Schwarze.
„Ja, Marta. Du hast recht! So hat man's mit Mutter und
Kind auch gemacht! — — — — — — — — — —
Wie man den Arbeitsvorgang rationalisiert hat, so ist man auch dabei, den Naturvorgang des geschlechtlichen Lebens zu rationalisieren."
Nun war Adolf obenauf. „Siehste, Marta, das hab ich dir ja immer gesagt. Es is eben einfach rückständig, wenn man meint, man sollte das alles laufen lassen, wie's läuft. Man muss den Naturvorgang rationalisieren!"
Marta warf ihm einen geringschätzigen Blick zu und sah fragend auf Konrad.
„Kannst du einen Augenblick glauben, Marta, man könnte nun auf einmal das Rad zurückdrehen und das alles ungeschehen machen?"
Sie schwieg widerstrebend.
„Meinst du, man könnte in die geistige Haut deines Großvaters zurückkriechen?"
„Nee, Konrad, allerdings nich." „Un es is e Fortschritt", beharrte Adolf. „Du immer mit deinem Fortschritt", erwiderte Marta schnippisch.
„Lassen wir mal den Fortschritt, Adolf! Das Wort hat einen so verdammt bürgerlichen Beigeschmack. Aber jedenfalls ist die Menschheit vor vollkommen neue Möglichkeiten gestellt. Ein Vorgang, dessen Rationalisierung vordem kaum möglich schien, ist heute weithin rationalisiert und wird voraussichtlich in den nächsten Jahrzehnten noch viel mehr rationalisiert werden. Wir stehen ja erst im anfang dieser Entwicklung und können ihren Verlauf noch gar nicht übersehen. Es kann eins der wirksamsten Mittel
werden, um dem Proletariat aus hoffnungsloser Versumpfung zu helfen! — Wer wollte das bestreiten!"
„Man könnte es wieder mit der Fabrik vergleichen", sagte Adolf. „Wie sie zuerst kam, da schrie alles Zeter und Wehe. Und 's war auch nich schön. Aber heute wissen wir, wir müssen durch und müssen sehen, wie wir das Beste draus machen."
„Ja, Adolf, da bin ich mit dir einig! Wir müssen das Beste daraus machen. Aber hier gerade — hakt's aus"-------
„Wie ist es denn heute?" begann Konrad wieder. „Die neuen Möglichkeiten stehen heute, wie alles übrige Leben, im Dienste des Kapitalismus."
„Wie meinsten das?" fragte Marta.
„Die Gummiwarenfabrik verdient daran, der Drogist und der Apotheker verdient daran, der Kurpfuscher und der gewissenlose Arzt verdient daran. Wer aber fragt nach den Menschen?!!--------"
„Stimmt, Konrad."
„Wie aber ist es mit uns Sozialisten? Gibt uns unser Sozialismus irgendeine Richtlinie für unser heutiges Handeln in diesen Dingen?"
Die andern schwiegen. Endlich sagte Adolf: „In der heutigen Gesellschaftsordnung is überhaupt nischt zu wollen."
,Nischt' scheint mir etwas zuviel gesagt! Aber sicher ist, dass wir auf dem Boden der heutigen Gesellschaftsordnung zu einer sinnvollen Rationalisierung des Geschlechtslebens nicht kommen. Darum gilt unser erster Kampf nicht diesem Sondergebiet des gesellschaftlichen Lebens, sondern dem großen Kampf um die Beseitigung der Klassenherrschaft."
Marta blickte erstaunt auf.
„Hast du denn das von Adolf nicht gelernt, Marta?" Sie antwortete nicht. Adolf sah sie mit einem Anflug von Geringschätzung an.
„'s is ganz klar, Marta", belehrte er sie. „Erst in der klassenlosen Gesellschaft können wir uns losmachen von all dem, was heute unser Geschlechtsleben runterzieht."
„Ächja", sagte Marta. Das herbe Lächeln der Enttäuschten spielte um ihren Mund. „Die Männer werden immer Männer bleiben."
„Du verstehst eben den Sozialismus überhaupt nich. In der klassenlosen Gesellschaft — da sind die Menschen ganz anders!"
„Lassen wir das in diesem Augenblick!" sagte Konrad. „Aber das ist das Entscheidende, Marta: Erst in einer neuen Gesellschaftsordnung kann auch dies Sondergebiet unseres gesellschaftlichen Lebens sinnvoll geordnet werden. Der große Kampf für die Bewegung enthält darum auch den Kampf für das kleine persönliche Geschick. Darum ist er auch für dich das erste."
„Und was soll bis zur neuen Gesellschaft mit dem werden, was sie unsre sexu—elle Not nennen?" Sie sprach das Wort ungelenk wie ein Abc-Schütz. „Sollen wir bis dahin handeln, wie's uns einfällt?"
„Ja, das ist die frage. Sie ist um so brennender, als es hier wie der Gesamtheit."
im besonderen Maße um das Leben geht — des einzelnen Sie schwiegen wiederum. Konrad nahm ein Buch zur Hand. „Ich will euch mal ne Stelle bei Bebel vorlesen. Sie hat mir viel Kopfzerbrechen gemacht:
,Der Mensch soll unter der Voraussetzung, dass die Befriedigung seiner Triebe keinem andern Schaden oder Nachteil zufügt, über sich selbst befinden. Die Befriedigung des Geschlechtstriebes ist ebenso jedes einzelnen persönliche Sache, wie die Befriedigung jedes anderen Naturtriebes. Niemand hat darüber einem andern Rechenschaft zu geben und kein Unberufener hat sich einzumischen. Wie ich esse, wie ich trinke, wie ich schlafe und mich kleide, ist meine persönliche Angelegenheit, ebenso mein Verkehr mit der Person eines anderen Geschlechts.'"
„Das is allerhand, Konrad", sagte Adolf. „Du weißt, wie viel ich auf Bebel halte — aber hier kann ich ihm nich recht geben. Persönliche Angelegenheit is das nich." —
„Dann sind wir uns einig, Adolf. Ich möchte gradezu im Gegensatz zu Bebel sagen: Grade dieser Bezirk meines Lebens steht im besonderen Maße unter der Verantwortung der Gesamtheit gegenüber."
„Vielleicht, wenn Bebel heute lebte, würde er das auch sagen. Aber — — viel hilft uns das nich."
Konrad lachte ein wenig. „Ich dachte, Adolf, du würdest die Richtlinien für dein Handeln aus der Gesellschaft ableiten können?"
„Wir wollen davon nich wieder anfangen, Konrad."
„Soll mir recht sein! —Weiter kommen wir vielleicht mit einem anderen Gedanken. Er ergibt sich uns Arbeitern aus unserm Arbeiterleben. Warum sind wir empört, wenn wir wie Maschinenteile behandelt werden?"
„Weil wir Menschen sind!"
„Ist es nicht so, wir verlangen Ehrfurcht vor unserm Menschentum!"
„Na, Konrad, — Ehrfurcht — 's klingt e bissel unproletarisch! Neulich sagte der Lehrer Mörner von der achten Volksschule — ich treff ihn öfters bei den Freidenkern —: ,Wir rechnen die Ehrfurcht zu den religiösen Minderwertigkeitsgefühlen.'"
„Wenn der Lehrer Mörner das sagt, so beweist er nur, dass sein Menschentum verkrüppelt ist. Solche Ansichten sind die kleinbürgerliche Reaktion auf die Misshandlung des geistigen Menschen in den alten Lehrerseminarien. Der Arbeiter antwortet anders auf die Misshandlungen, die er erfährt. Er fordert sein Recht als Mensch! Und aus dieser seiner Grundhaltung wird er auch im Erleben von Mann und Weib, von Eltern und Kindern wieder ein neues Lebensgefühl zum Durchbruch bringen. Wie wir es nennen — was tut's!"
„Aber, Konrad, — — — die Rationalisierung willste trotzdem?"
„Selbstverständlich!! Siehst du unentwegter Marxist denn
nicht, dass wir auch hier wieder auf die Dialektik des Lebens stoßen??!! — — — dass auch hier wieder zwei entgegengesetzte Haltungen zu vereinen sind? Rationalisierung? Ja! Auf der einen Seite! Und zwar viel zweckbewußter, als sie heute geschieht. Noch stecken wir in einem Wust von Heimlichkeiten, Halbheiten, Unklarheiten. Die besonderen Gesetze dieses besonderen Lebensgebietes sind kaum halb erforscht. Tausend Zusammenhänge ahnt man heute nur. In zwanzig und dreißig Jahren wird man klar sehen! — — Auf der andern Seite: Lösung auch dieses Lebensgebietes aus dem Individualismus und Rationalismus, der noch bei einem Bebel ganz krass da ist. Einordnung in den geistigen Zusammenhang der Arbeiterbewegung und Neuordnung aus dem Geist der Ehrfurcht vor dem Lebendigen. — — Freilich — das ist ein heißer Kampf! Der Kampf auf der Barrikade ist nicht immer der schwerste.
Es war still geworden in dem kleinen Raum. Jeder brütete über den eignen Gedanken. Auf einmal hob Marta den Kopf. Sie sah Konrad fest an.
„Konrad! Kann man sein Leben noch mal von vorn anfangen?"
„Martl!! Ich hab mein Leben schon mindestens sechs mal von vorn angefangen! Wenn ich fünfzig bin, fang ich's sicher zum zwanzigsten mal von vorn an — falls ich's erlebe!"
Der Kampf auf ihrem Antlitz war gewichen. Ruhig und ernst sprach sie: „Ja, Konrad! Ich fange auch noch mal von vorn an! Und manches, was du heute gesagt hast, das werd ich nich vergessen. Wahr muss man sein in allen Dingen, nichts vertuschen und verheimlichen! Und an das Ganze denken, an die Bewegung — nich so sehr an sich selbst! Ich werd von nun an ganz anders mitarbeiten in der Bewegung. Und dann — wie du's nennst: Die Ehrfurcht."
Glückstrahlend war Adolf aufgesprungen. „Ja, Martl, wir fangen noch mal von vorn an!"
Mit fremden Augen sah ihn das Mädchen an: „Wir??!
--------Gewiss, Adolf!--------Du auch! — Aber------------
nicht mehr wir beide zusammen! Ich muss meinen Weg nun allein gehen."
„Marta!!!"
„Du verstehst das alles nich, Adolf. Du hast nur deinen Fortschritt."
„Aber Martl!! Meine gute Martl!!"
„Ich bin dir nicht bös, Adolf! Das musst du nich denken. Aber wir verstehn uns nich mehr. Leb wohl!"
Sie bot ihm ruhig die Hand. Er nahm sie nicht.
„Lass mich aus dem Haus, Konrad."
Sie gingen hinunter.
Als Konrad ins Zimmer zurückkam, saß Adolf auf der Bettkante und weinte wie ein Kind. |
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