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Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
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2. Buch DAS REICH DER FREIHEIT

I. Auf der Leipziger Messe.

Die Gaswolke senkte sich auf mich — — — — — —
Grausen rund um mich —Dann verlor ich das Bewusstsein — — — — — —
Als ich die Augen wieder aufschlug, lag ich auf einem großen, gepflasterten Platze. Er deuchte mich halb bekannt, halb fremd. Wie mein Bewusstsein klarer wurde, erkannte ich mir gegenüber ein Haus, das ich schon früher gesehen hatte. Es war ein lang gestreckter, zweistöckiger Bau mit mehreren steilen Giebeln, die im rechten Winkel zum Dach heraussprangen. Im Erdgeschoß zog sich eine Kolonnade hin. Ich versuchte, mich zu besinnen! Wo war ich nur? Jetzt wurde es mir klar! Das war ja das alte Rathaus am Marktplatz zu Leipzig. Ich sah mich auf dem Platz um. Das große Kaiserdenkmal war verschwunden. Völlig verwandelt war auch die Umgebung des Platzes. An der Stelle der vierstöckigen Geschäftshäuser in der hässlichen Bauweise des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts erhoben sich riesige Hochhäuser, deren jedes ein Straßenviertel einnahm. Die großen auf den Markt mündenden Straßen waren zu breiten Verkehrswegen ausgebaut.
Inzwischen hatten sich einige Neugierige um mich versammelt. Es waren groß gewachsene, kräftige Menschen von besserem Bau, als ich sie früher gekannt hatte. Ihre Gesichter waren entschlossener und durchgearbeiteter. Sie trugen alle eine gleiche, merkwürdig knappe Kleidung.
Nur die Farbenstellungen zeigten eine Abwechslung. Ihre Mienen drückten Neugier und Besorgnis aus.
„Der Mann ist gestürzt", sagte einer. „Man muss ihm helfen."
Da trat aus dem Kreise, der sich um mich gebildet hatte, ein Mann in mittleren Jahren an mich heran. Er bot mir mit ruhiger Freundlichkeit die Hand und richtete mich in die Höhe.
„Woher kommst du, Fremdling?"
Ich wusste nichts zu antworten. Er musterte mich aufmerksam.
„Deine Kleidung deutet auf vergangene Jahrhunderte."
„Das mag wohl sein", entgegnete ich verworren.
„Sollte es möglich sein, dass Menschen sich über Raum und Zeit hinwegsetzen?" sprach er mehr zu sich als zu mir. „Willst du dir unser Leben und Treiben anschauen?" Ich stimmte zu.
„Wir geben gern jedem Auskunft, der zu uns kommt. Es hat sich viel gewendet seit den Zeiten, denen du anzugehören scheinst. Soll ich dich führen?" Ich bejahte freudig. „Wie heißt du", fragte der Mann weiter.
„Emil Busch. — Aber wo bin ich denn nur. Das ist Leipzig und doch nicht Leipzig!"
„Du bist im Reiche der Freiheit!"
„Im Reiche der Freiheit??----------------In demselben von
dem Engels sprach?"
„In demselben!"
Der Atem stockte mir fast. Aber die ruhige Sicherheit des andern hemmte unbeherrschte Gefühle. „So ist der lange schwere Kampf der Arbeiterschaft nicht umsonst gewesen?"
„Nein."
„Und ich soll es sehen dürfen, das Reich der Freiheit?"
„Komm mit", sagte der andere. „Ich heiße Bernhard. Ehe wir uns aber auf die Wanderung begeben, müssen wir die Erlaubnis zu unserem Vorhaben erwirken."
Er führte mich in eins der Hochhäuser am Markte. Wir
betraten ein Quartier, das die Aufschrift trug: „Ordnungsdienst". Er hieß mich im Vorraum warten. Nach einer kleinen Weile winkte er mich hinein. Man fragte mich nach Namen und Herkunft, auch nach Geburtsjahr und Ort. Das Geburtsjahr erregte Erstaunen.
„Drei Tage dürfen Sie bei uns als Gast verweilen", sagte dann der Beamte. „Wir stellen Ihnen für diese Zeit Nahrung, Quartier und Fahrgelegenheit zur Verfügung. Bernhard wird Sie führen." Dann händigte er meinem Begleiter ein Papier und eine Summe Geldes ein.
„Das ist allerhand!" sagte ich zu Bernhard, als wir wieder auf den Marktplatz heraustraten. „Ich hätte nicht gedacht, dass mein erstes Erlebnis im Reich der Freiheit das Polizeibüro sein würde."
„— — — Polizeibüro?? — — Ja so! — Ich entsinne mich des Ausdrucks aus älteren Schriften, die aus der Vorgeschichte der Menschheit stammen. Die Polizei spielte im Klassenstaat eine große Rolle. Wir gebrauchen das Wort nicht mehr, eben weil es den Klang der Klassengesellschaft hat und wir alles ausgemerzt haben, was an jene finsteren Zeiten erinnert. Aber einen Ordnungsdienst brauchen wir natürlich. Unsre Ordner sind unsre Helfer. Ohne sie würde unser Leben nicht geregelt ablaufen. Soeben ist Messe. Was sollte aus dem Gewimmel der etwa 100000 Besucher werden, wenn nicht ein umfassend organisierter Ordnungsdienst da wäre, dessen Anordnungen sich jeder einzelne fügt — und fügen muss."
„Stößt der Ordnungsdienst auch auf Widerstand?"
„— — — Freilich! — — — Erst gestern ist es zu einem schweren Zusammenstoß mit zwei Autoführern gekommen. Vom Sportsteufel besessen, rasten die beiden in sinnlosem Tempo die überfüllte Autostraße entlang, als ob es eine Rennbahn sei! Bei einem Haar hätten sie zwei andere Wagen umgefahren. —-------Und was das schlimmste war: Sie suchten sich dann durch Flucht ihrer Festnahme zu entziehen. Telephonisch benachrichtigte Ordner mussten sie mit geladener Pistole zum Halten bringen."

„Mit — geladener------------Pistole------------?"
Bernhard schwieg.
„Werden sie bestraft werden?"
„Es wird unvermeidlich sein.------------Ein Jahr Zwangsarbeit bei Sträflingskost ist ihnen sicher!"
„Zwangsarbeit??------------Sträflingskost??------------"
„Ja,-------das sind ernste Dinge!!------------Wir sprechen
vielleicht später davon. Ich weiß aus geschichtlichen Studien, wie viel sich frühere Zeitalter mit diesen Fragen beschäftigen. — — Zunächst aber wird es richtiger sein, dass du dir einen Überblick über das Ganze des hiesigen Lebens verschaffst. Du siehst dort, gegenüber dem alten Rathaus, das größte Hochhaus unserer Stadt. Es hat auf seinem Dach eine große Plattform, von der aus man einen weiten Rundblick genießt. Laß uns hinauffahren. Dann überschaust du aus der Vogelperspektive das Messezentrum des Bundesstaates Europa. Soeben findet die Herbstmesse statt. Viele Dinge unsres heutigen Lebens werden dir dadurch deutlich werden."

Ein Fahrstuhl brachte uns schnell nach oben. Wir betraten eine riesige Plattform. Sie war als Erfrischungsraum eingerichtet. An dem Geländer, das den Blick nicht behinderte, standen bequeme Korbstühle. Wir ließen uns nieder. Eine herrliche Rundsicht bot sich uns dar. Die warme Septembersonne schien auf eine stolze Anlage von gewaltigen Dimensionen. Enorme Hochhäuser bildeten das Zentrum. Einige Bauten aus der Vergangenheit, die man um ihres künstlerischen Wertes willen erhalten hatte, lagen dazwischen wie Stücke aus einer Spielzeugschachtel. Doch es war gelungen, durch gut bemessene Abstände ihren architektonischen Wert zu erhalten.
„Wozu dienen diese Wolkenkratzer, Bernhard?"
„Die Zentralstellen haben hier ihren Sitz. Hier wohnen
die städtischen Behörden, die Messebehörden, die Gerichte,
der Ordnungsdienst. Hier sind die Verkehrszentralen, die
Fremdenquartiere. Fünf Blöcke, deren jeder gegen 20 000
Kabinen enthält, nehmen die Messebesucher auf. Auch die Gewerbe kleiner, gebrauchsfertiger Waren, Keramik, Textilindustrie, Buchgewerbe stellen hier aus. Es war zweckmäßig, dies alles nach Möglichkeit zu konzentrieren Darum wurden die Hochhäuser geschaffen. Wie du siehst, umfassen sie nur einen engen Bezirk. Darüber hinaus geht die Anlage der Stadt ins Breite."
Ich versuchte mich im weiteren Umkreis zu orientieren. Indes, ich konnte den stärksten Orientierungspunkt des alten Leipzig, das Völkerschlachtdenkmal, nicht mehr finden. Ich erkundigte mich bei meinem Begleiter.
„Mein Freund", sagte er nachdrücklich, und seine klugen Augen blickten mit großer Wärme auf mich, „meinst du, dass im Bundesstaat Europa noch Raum für jene Denkmäler sei, die an die gegenseitige Zerfleischung der europäischen Nationen erinnerten? — — Aber du kannst die Stelle leicht wieder finden. Siehst du dort im Südosten den großen Komplex niederer, halbhoher und hoher Bauten?"
„Ja."
„Das ist das Ausstellungsgebiet der technischen Messe. Seine ersten Anlagen reichen bis ins zwanzigste Jahrhundert zurück. Seither ist es um das Vielfache der damaligen Bauten erweitert und nimmt das ganze Süd und Südostviertel des erweiterten Weichbildes ein. Im Nordostviertel siehst du das Großquartier des Buchgewerbes, im Norden die großen Verkehrsanlagen. Die übrigen Großgewerbe sind längst aus Leipzig hinaus verlegt. Denn die damalige sinnwidrige Zersplitterung der Industrie ist heute überwunden. Und nun schau westwärts."
Wir erhoben uns, durchquerten die große Plattform und nahmen an dem entgegengesetzten Rande Platz. Ein Bild von völlig andersartigem Charakter bot sich mir. Da zog sich noch immer der Wald und Wiesenstreifen an der Elster und Pleiße hin, der von jeher den Westen Leipzigs von der übrigen Stadt getrennt hatte. Jenseits aber war alles verwandelt. Die Fabriken der westlichen Vororte waren verschwunden. An ihrer Stelle dehnte sich eine große
Wohnsiedlung weit ins Land hinaus. Sie trug keinen einförmigen Charakter. Hohe Häuserblocks wechselten mit umfassenden Anlagen aus Einfamilienhäusern. Das Ganze bot einen unsäglich frohen und schönen Anblick. Weite grüne Flächen und Parks unterbrachen die Häuserkomplexe. Kein Rauch der Fabriken schwärzte die Luft. Kein Lastverkehr war wahrzunehmen. Auch der Fernverkehr der Autos mied dieses Wohnviertel in weitem Bogen. Es enthielt einige große Zufahrtsstraßen; im übrigen waren nur die notwendigen Zugänge zu den einzelnen Wohnhäusern vorhanden. Es war, als müssten die Stimmen glücklicher Kinder, die hier froh und gesund aufwuchsen, zu mir empordringen. ----------------------
Eine tiefe Bewegung übermannte mich.
Vor meinem geistigen Auge stiegen die Wohnstätten der Arbeiterschaft auf, die einst hier gehaust hatte. Ich sah ihre Elendsquartiere, ihre engen Höfe, ihre lichtlosen Wohnungen, ihre schmutzigen Straßen, erfüllt vom Staub und Lärm eines unorganisierten Verkehrs. Bernhard stand schweigend neben mir. Er verstand, was in mir vorging. Nach einer Weile raffte ich mich zusammen. Wir gingen langsam am Rande der Plattform entlang, um noch einmal das Ganze der Anlage zu überschauen.
„Eins aber fehlt mir", begann ich wieder. „Wo ist die Universität geblieben?"
Wir standen gerade am Südende des Aussichtsplatzes. „Siehst du ganz fern im Süden der Stadt einen großen Komplex inmitten der Waldungen dort? Das ist die Universität. Sie besteht heute nicht nur aus Hörsälen, Bibliotheken und wissenschaftlichen Instituten, sondern auch aus geschlossenen Wohnquartieren, wo die Studenten in Gemeinschaften zusammenleben."
„So ist sie ganz aus dem übrigen Leben der Stadt gelöst?"
„Ich glaube, dass sie fester im Leben steht als früher. Wir sprechen darüber ausführlicher, wenn du von unserm gesellschaftlichen Leben eine klare Anschauung gewonnen
hast. Hatte zu deiner Zeit die Universität eine Beziehung zur Messe?"
„Allerdings", lachte ich. „Man zog aus dem ,verfluchten Commerz' das Geld, indem man die Räume der Universität zur Messe vermietete. Am 25. Februar schloss das Semester. Dann verließen Lehrer und Studenten fluchtartig die heiligen Hallen, um sich daheim hinter ihren Büchern zu vergraben, indes die Messeverkäufer mit ihren Waren und ihrem Lärm sich in den Hörsälen etablierten. Höchstens, dass Werkstudenten die Messe benutzten, um Geld zu verdienen."
Bernhard lachte. „So ist es freilich bei uns nicht mehr. Die Messe hat ihre eigne Stätte. Aber Lehrer und Studenten sind mitten darin. Sie besichtigen die Ausstellungen. Sie nehmen an dem Getriebe des Messeverkehrs teil. Man würde den Soziologen, den Politiker, den Volkswirtschaftler, den Philosophen, den Theologen nicht ernst nehmen, der sich um dieses Leben nicht kümmerte. Siehst du dort den Kellner? Er ist ein Professor der Soziologie."
„Nicht möglich!!!-------Das hätten die Herren zu meiner
Zeit einfach unter ihrer Würde gehalten!!"
„Unter — — ihrer — — Würde??!! das verstehe ein anderer!! Was hat die menschliche Würde mit der Art der Beschäftigung zu tun? Ob ich Bücher wälze und Studierende lehre, oder ob ich ermüdete und hungrige Menschen mit dem Nötigen versorge — das hat doch beides die gleiche Würde!"
Vor meinem geistigen Auge stand unsere Klassengesellschaft mit ihren Begriffen von standesgemäß und nichtstandesgemäß, mit ihren Verkehrsformen, die vom Reserveleutnant herkamen. — — — — „Ich glaube, du kannst
das gar nicht mehr verstehen.------------Aber ich begreife:
Wir haben nicht umsonst unser Leben dahingegeben!! Es ist eine neue Welt geworden!"
„Wir werden uns noch viel zu erzählen haben", entgegnete Bernhard. „Zunächst aber lass mich für dein leibliches
Wohl sorgen. Du siehst erschöpft aus. Wir wollen einen Imbiss nehmen."
Er winkte dem Soziologieprofessor. Bereitwillig kam er herbei. Dabei bewahrte er jenes ruhige Selbstbewusstsein, das die natürliche Haltung aller Menschen in diesem Lebenskreise zu sein schien. Er kannte meinen Begleiter offenbar persönlich, doch er vermied jede persönliche Note. Auch das Ungewöhnliche meiner Kleidung schien er nicht zu bemerken. Er hielt vielmehr streng die Haltung des Berufskellners inne, der seine Ehre dareinsetzt, die eigne Persönlichkeit hinter dem Dienst an dem Gast verschwinden zu lassen.

Das Mahl war eingenommen. Wir lehnten uns in die bequemen Korbsessel zurück. „Ich würde gern einiges von der Organisation eurer Wirtschaft hören, ehe wir in das Getriebe der Messe hinuntersteigen", begann ich. „Ist die Messe wie früher ein Warenmarkt?"
„Das ist eine Doktorfrage! Es kommt darauf an, was man unter Ware und was man unter Markt versteht. Wie du aus Karl Marx wissen---------------------"
„Also ihr kennt Karl Marx und beruft euch auf ihn?!!"
„Wie sollten wir den Mann nicht kennen, der als erster die Möglichkeit einer neuen Gesellschaft erkannt und zum Kampf dafür aufgerufen hat?! — — Seine Feuerseele lebt unter uns. Seine Lehre ist uns ein Quell der Erkenntnis und der Kraft. Wesentliche Stücke daraus freilich haben wir in hartem Kampf ausgestoßen. — Und seine Dialektik", setzte er mit dem Ausdruck dessen hinzu, der an heilige Dinge rührt, „was die Brücke, die den Lohnsklaven, hinüberführte in das neue Land, wo die Entscheidung des Mündigen von ihm gefordert wird."
„Wie das?! Das interessiert mich!" Ich dachte an Konrad und seine Fragestellungen.
Doch Berhard wich aus. „Du würdest das gleich zu Beginn deines Aufenthaltes im Reiche der Freiheit nicht verstehen."
„Aber so gib mir doch wenigstens einen Fingerzeig, dass ich sehe, um was es geht."
„Die Dialektik von Marx stellt den Menschen vor die Wahl und damit vor die verantwortliche Entscheidung. Das ist der Angelpunkt."
„Ich ahne, was du meinst. Mein Freund sprach davon. Aber er sah nur den Zwiespalt."
„Laß uns vorerst bei dem Greifbaren bleiben! Wir sprachen davon, ob man hier von Waren und Markt reden soll. Karl Marx hat uns gelehrt, dass der Inhalt der Begriffe mit den wechselnden gesellschaftlichen Verhältnissen wechselt. Darum wollen wir die Dinge nicht so theoretisch aufziehen. Stelle lieber unmittelbar anschauliche Fragen."
„Gut. Wo kommen die Verkäufer und die Käufer her, die hier zusammentreffen?"
„In erster Linie aus Deutschland. Die Messe ist die einzige in Deutschland."
„So ist Deutschland noch immer ein fest abgegrenztes Wirtschaftsgebiet?"
„Ja und nein."
„Wie meinst du das?"
„Erst einmal das Ja! Siehst du drüben das Buchdruckerviertel? Dort ist, wie ich schon sagte, das deutsche Buchgewerbe im wesentlichen konzentriert. Auch manch ausländisches Buch wird dort gedruckt. Denn Deutschland, als das Land der Federfuchser, ist nun einmal im Buchgewerbe von alters her besonders leistungsfähig. Aber wäre es sinnvoll, die Bücher der ganzen Welt hier drucken zu lassen?"
„Nein."
„Was von den Büchern gilt, das gilt auch von vielen andern Gütern der Wirtschaft."
„Wir hatten es uns anders gedacht. Die Wirtschaftskreise waren immer größer geworden. Erst das Dorf, dann die Stadt mit ihrem Bezirk. Dann das Land. Dann das Gebiet der Nation. So sollte der Zusammenschluss immer weitergehen, bis die ganze Welt sozusagen eine einzige große Dorfwirtschaft sei."
„Merkwürdig!! Ich glaube, in dieser Erwartung kam die besondere Art des spätkapitalistischen Geistes zum Ausdruck. Du entstammst dieser Zeit?" Ich nickte.
„Soweit ich sie kenne, neigte sie dazu, die Dinge mechanisch zu sehen. Sie setzte sich über die natürlichen Bedingungen des Lebens hinweg. Du musst doch anerkennen: Auch die besten Verkehrsmittel sind teurer, als gar keine. Viele Dinge sind nur bedingt transportabel, zum Beispiel das Haus, oder frische Milch. Mit dem Landmann, der meine Sprache spricht, verkehre ich leichter, als mit dem Fremden. Die Einheit der Sprache fördert die Einheit des Geschmacks, der Lebensgestaltung, der Gesetzgebung, der Presse und so fort. Wir würden heute sagen: Die Wirtschaft einer Nation ist einem dichten Gewebe zu vergleichen, die Wirtschaft eines Kulturkreises einem losen Geflecht, das die dichten Gewebe zu einer Einheit verbindet."
„Aber die Bedeutung der Messe ist nicht auf Deutschland beschränkt?"
„Keineswegs. Das ist die andere Seite der Sache. Die Messe dient zwar vor allem der deutschen Wirtschaft. Sie dient jedoch ebenfalls dem Güteraustausch innerhalb des Bundesstaates Europa. Er ist die höhere wirtschaftliche Einheit. In der langen Zeit seines Bestehens ist die Wirtschaft dieses Kreises etwa so fest zusammengeschlossen, wie früher die nationale Wirtschaft. Darüber hinaus wird die Messe von Käufern und Verkäufern aus der ganzen Welt beschickt."
„Beruht dieser Austausch mit anderen Kulturkreisen noch auf der imperialistischen Vormacht der kapitalistischen Völker?"
„Nein. Den Zwang haben die anderen Kulturkreise zerbrochen. Sie haben in großem Maßstabe ihr eigenes gewerbliches Leben entwickelt. Indien webt heute die Stoffe für seinen Bedarf selbst. Die Vormacht der englischen Baumwollindustrie, begründet auf dem gewaltsam erzwungenen Freihandelssystem Indiens, ist dahin. Aber an Stelle dieses Verkehrs, der auf politischer Übermacht beruht, ist ein
freiwilliger Verkehr getreten. Es erwies sich bald, dass in diesem freiwilligen Verkehr Europa starke Positionen besitzt. Man kann ein so intensives geistiges Kraftzentrum, wie das europäische, mit seiner wissenschaftlichen Tradition, seinen Bildungsanstalten, seiner disziplinierten, aktiven, an Arbeit gewöhnten Bevölkerung nicht einfach nachbilden. Solange es lebendig bleibt, hat es immer wieder besondere Leistungen in den Weltverkehr zu werfen. Solche Leistungen werden von den anderen Kulturkreisen genau so aufgegriffen, wie wir die ihren aufgreifen. Daher ein lebhafter Austausch zwischen uns und ihnen."
„Ich verstehe. Nur die falsch orientierte Politik der damaligen imperialistisch gesinnten europäischen Wirtschaftsführer ist zugrunde gegangen. Sie wollten die europäische Machtstellung durch Maschinengewehre und durch Lohndruck auf ihre eigenen Lohnsklaven retten. Solche Politik konnte keinen Bestand haben. Der freiwillige Austausch nach dem Grundsatz der internationalen Arbeitsteilung dagegen ist nicht zurück-, sondern vorwärts gegangen."

„Nun aber eine weitere Frage: Wer sind hier die, die Waren feilbieten?"
„Vielleicht vermeiden wir den Ausdruck Waren doch besser", sagte Bernhard. „Er ist zu stark mit den Vorstellungen der kapitalistischen Wirtschaft behaftet. Sprechen wir von den Gütern, ihren Eigentümern und Besitzern." —
„Eigentümer und Besitzer? Das ist mir zu fein."
„Du wirst es gleich verstehen. Wer sollte nach eurer Auffassung das Eigentum an Produktionsmitteln und damit an erzeugten Gütern in die Hand nehmen?"
„Die Gesellschaft!"
„Die Gesellschaft?------------Das ist mir nicht ganz klar.
Was verstand man unter Gesellschaft?"
Ich geriet in Verlegenheit. „Ja-----------------wie soll ich
das sagen?----------------"
War es Spott, was um Bernhards Lippen spielte? Doch schon war er wieder bei der Sache.
„Bei uns ist es so: Eigentümer aller Produktionsmittel und damit auch aller erzeugten Güter ist der Bundesstaat Europa."
„Der Bundesstaat Europa?!! — — —"
„Alle sachlichen Produktionsmittel sind ihrem Besitzer nur verliehen. Er hat die Verfügung darüber. Der Staat dagegen bleibt Eigentümer und behält als solcher jederzeit die Oberaufsicht und letzte Entscheidung über ihre Verwaltung. Er kann ihre Verleihung jederzeit rückgängig machen."
„Beinah wie eine Art Lehnssystem."
„Vielleicht. — Doch mit großen grundsätzlichen Unterschieden zum alten Feudalsystem."
„Welche Formen hat der Besitz an Produktionsmitteln?"
„Überaus mannigfaltige! Bestimmte Produktionszweige liegen in den Händen der Konsumvereine, vor allem viele Gegenstände des Haushaltbedarfs. Andere sind von Kommunen übernommen. Wieder andere werden von wirtschaftlichen Selbstverwaltungskörpern öffentlich-rechtlichen Charakters verwaltet."
„Nanu! Was ist das! Fabriken der Konsumvereine, Kommunalbetriebe — das gab es schon zu unserer Zeit.
Was aber sind-----------ich habe den langen Namen nicht
behalten?"
„Stelle dir vor: Die Gewerkschaft eines Produktionszweiges, sagen wir der chemischen Industrie, ist eine vom Staat anerkannte Körperschaft. Sie umfasst alle Arbeitenden dieser Industrie — vom Betriebsleiter bis zum letzten Handlanger. Sie hat öffentlichen Charakter. Sie ist der verfügungsberechtigte Besitzer der ganzen Industrie. Die Gewerkschaft besitzt natürlich die Industrie nicht in dem Sinne, dass die Gewerkschaftsvorstände oder Gewerkschaftsmitglieder persönliche Besitzer der chemischen Werke wären und die Einnahmen zu ihrem persönlichen Gewinn verwenden dürften."
„Ich verstehe! Etwa so, wie der Bürgermeister und der Rat einer Stadt nicht persönliche Besitzer der städtischen Grundstücke, Bahnen und so weiter sind."
„Ganz recht. Die Mitglieder der öffentlich-rechtlichen Verwaltungskörper sind vielmehr auf feste Bezüge und Prämien gestellt."
„Prämien??!"
„Allerdings, — — — — leider!-----------------Doch was
die Frage der Organisation angeht: Die Gewerkschaftsverbände verwalten die Industrie, wie vordem der Vorstand einer Aktiengesellschaft seine Gesellschaft. Sie haben eine Art Aufsichtsrat neben sich, bestehend aus den Vertretern der anderen Industrien, der privaten Verbraucher und der durch den Staat vertretenen Allgemeinheit."
„Wie kommen Vorstand und Aufsichtsrat zustande?"
„Der Vorstand wird auf dem Verbandstage gewählt, wie es in den Gewerkschaften von jeher üblich war. Der Aufsichtsrat geht teils aus direkten Wahlen der in Frage kommenden Organisationen hervor, teils werden seine Mitglieder von staatlichen Stellen ernannt."
„Sind Vorstand und Aufsichtsrat in der Verwaltung der Industrie völlig unbeschränkt und unkontrolliert?"
„Keineswegs! Sie müssen regelmäßig Bericht über ihre Tätigkeit erstatten, sowohl ihren Mitgliedern als der Öffentlichkeit und den zuständigen staatlichen Stellen. Außerdem bedürfen ihre Preisfestsetzungen, ihre Lohntarife und die Verwendung ihrer Überschüsse der Genehmigung des Staates. Eine bestimmte Quote des Überschusses ist stets an den Staat abzuführen."

„Ich glaube die Grundzüge dieser Organisation zu verstehen. Nun die andere Frage: Wer kauft hier auf der Messe?"
„Wiederum die großen Selbstverwaltungskörper, teils als Käufer für Rohstoffe, Maschinen und Halbfabrikate, teils, wie zum Beispiel die Kommunen, als Käufer für die Gegenstände des letzten Verbrauchs. Ich muss noch ergänzen, dass
auch die Konsumvereine nicht mehr den privatrechtlichen Charakter haben wie früher. Sie sind ebenfalls Selbstverwaltungskörper öffentlich-rechtlichen Charakters; desgleichen die Banken."
„Kämpfen alle diese Großorganisationen im freien Konkurrenzkampf gegeneinander an, wie in unseren Zeiten etwa die Kartelle?"
„Ja und nein! Allerdings schließen die Vertreter der Großorganisationen ihre Geschäfte im freien Handel ab. Heftige Wirtschaftskämpfe werden dabei ausgefochten. Aber zugleich sind starke ausgleichende Tendenzen vorhanden. Vor allem wirkt der Wirtschaftsplan in dieser Richtung. Es wird heute wieder — wenn auch nur in großen Zügen und anders als im Handwerk — nach Bedarf gearbeitet. Natürlich kommen Irrtümer in allen Voranschlägen vor. Da sitzt dann eine Industrie unter Umständen mit einem Zuviel an erzeugten Gütern fest. Die andern suchen sich ihre Situation zunutze zu machen. Das gibt heiße Kämpfe. Droht in solchem Falle der Kampf wilde Formen anzunehmen und eine Industrie die Notlage der andern brutal auszunutzen, so tritt der Staat dazwischen. Er hat, wie ich schon sagte, Einfluss auf die Preisgestaltung. Er schützt in solchem Falle den Schwächeren vor allzu starkem Druck durch den Stärkeren. Freilich hütet er sich, seinen Einfluss zu oft und zu stark einzusetzen. Wir sind zu der Ansicht gekommen, dass Konkurrenzkampf innerhalb gewisser Grenzen unentbehrlich ist,"
„Man würde zu meiner Zeit dagegen geltend gemacht haben: Das sei doch sehr gefährlich." Bernhard sah mich verständnislos an.
„Natürlich!! Ohne Gefahren ist doch kein Leben! Vielleicht sind sie sogar das Schönste am Leben, nicht?"
Ich schwieg. — — — —
Wie anders diese Menschen das Leben empfanden!!-------
„Es nimmt mich wunder", begann ich wieder, „dass das Reich der Freiheit auf den ersten Blick als eine sehr straffe
Organisation von äußerster Kompliziertheit erscheint! Es scheint darin fast mehr Zwang als Freiheit zu geben."
„Das letztere ist unrichtig. Bei näherem Kennen lernen wirst du sehen, wie das Prinzip der Freiheit unser ganzes Leben durchzieht. Freilich — — — Freiheit ist nur bei straffster Ordnung möglich. Sie fordert weitgehende Unterordnung des einzelnen unter die Interessen der Gesamtheit. Diese Erfahrung hat die Menschheit in langen, schweren Kämpfen machen müssen. Erst dann war sie zu einer Neuordnung aller Teile der Gesellschaft nach dem Prinzip der Freiheit fähig. Übrigens — — — was verstehst du unter Freiheit? Ich muss es schon fragen, denn sonst reden wir aneinander vorbei."
„Wir haben oft darüber nachgedacht", sagte ich. „Schließlich kamen wir dahin: Es sei das Handeln unter eigner Verantwortung."
Bernhard sah mich erfreut an. „Dann ist hier eine Stelle, wo wir uns treffen. Hier werden wir die Brücke schlagen!!"
Ich blickte ihn erwartungsvoll an — doch er spann den Faden nicht weiter. So kehrte ich zu meinen Fragen zurück. „Ein System der unmittelbaren Versorgung unter Ausschaltung des freien Handels, wie es in Russland in den ersten Jahren der Bolschewikenherrschaft versucht wurde, habt ihr also nicht?!"
Auch hier kann ich nicht einfach ja oder nein sagen. In den Konsumvereinen ist eine einheitliche Organisation von Produktion und Verteilung geschaffen. Hier ist der freie Handel überflüssig gemacht. Hier ist ein Stück jener erhofften Einheitsorganisation verwirklicht. Desgleichen in manchen städtischen Betrieben. Aber man ist doch bald an die Grenze dieser Möglichkeiten gekommen. — — Wir haben auch durchaus nicht alles Privatkapital aufgehoben. Es besteht noch in kleineren Industrien, im Kleinhandel und in größeren Handwerksunternehmungen, in kunstgewerblichen Unternehmungen und anderen. Dort fristet es sein unangefochtenes Dasein. Für das Gesamtergebnis ist das bedeutungslos. Die Beherrschung der Wirtschaft durch die
Selbstverwaltungskörper ist so unbedingt, dass man die Reste der alten Eigentumsverhältnisse bestehen lassen konnte, ohne Rückschläge in die alte Wirtschaftsweise befürchten zu müssen. — Aber ich glaube, es ist nunmehr Zeit, dass wir hinabsteigen und uns das Messegetriebe ansehen."
Wir brachen auf. Der Soziologieprofessor entließ uns mit höflichem Gruß.

Unten raste der Verkehr. Die Straßen waren so angelegt, dass Autos, Schnellbahnen und Fußgänger sich in getrennten Stockwerken bewegten. So sausten die Wagen unbehindert die Straße entlang, indes der Fußgänger, gegen alle Gefahren des Wagengetriebes geschützt, seinen Weg in Ruhe machen konnte. Das Gewühl der Messefremden bot den buntesten Anblick. Die europäisch-nordamerikanische Bevölkerung, erkennbar an ihrer einheitlichen, zweckbestimmten Kleidung, überwog. Doch sah man auch zahlreiche Vertreter der großen außereuropäischen Kulturkreise in ihren heimischen Trachten. Der Europäisierung hatten sich also diese Kulturkreise wieder entzogen.
Außer den eigentlichen Messebesuchern sah man viele Menschen, die aus allgemeinem Interesse die Messe besuchten. Schulklassen mit ihren Lehrern, studentische Gruppen mit ihren Professoren, Vereinigungen von Künstlern und andere Gruppen mehr wimmelten durcheinander.
„Ist denn diesen Zuschauern der Besuch der Messe gestattet?" fragte ich.
„Gewiss! Die Verwaltung der Messe ist bestrebt, diese Interessen auf alle Weise zu fördern. Die enormen Musterlager der Messe bieten doch den besten Anschauungsunterricht für jeden, der an der Gestaltung des wirtschaftlichen Lebens nicht nur, sondern auch an den Fragen des menschlichen Verkehrs, des internationalen geistigen Austausches, der Formgebung und vielen anderen Dingen interessiert ist."
Was mir ferner auffiel, war die Veränderung der äußeren Gestalt der Messe. Alles Reklamehafte war verschwunden. Gewaltige Kosten mussten auf diese Weise gespart
werden. Die ganze Veranstaltung erhielt dadurch das Gepräge einer vornehmen Sachlichkeit. Die notwendigen Nachweise fehlten gleichwohl nicht. Auch kam die Schaulust nicht zu kurz. Vielmehr waren in den unteren Stockwerken der Hochhäuser, die das Auge der Fußgänger und Fahrgäste noch erreichte, eine Fülle der erlesensten Waren ausgestellt. Umzüge und Schaustellungen boten den Schaulustigen bunte Bilder.
Wir besuchten zunächst die Textilmesse. Sie zerfiel in drei große Abteilungen. Die eine enthielt alles, was zu jener rein sachlichen Werkkleidung gehörte, die ich an Europäern und Amerikanern bemerkte. Alle Ausstellungsgegenstände dieser Abteilung trugen den Charakter ausgezeichneter Gebrauchsware. Die hervorragende Qualität des Materials und der Arbeit gab den Erzeugnissen ihre Würde und ihre Kleidsamkeit.
„Nach alten Bildern zu urteilen, die ich gesehen habe", sagte Bernhard, „war im Zeitalter des Kapitalismus das Gefühl für diese Würde des Werkkleides nahezu verloren gegangen."
„Allerdings."
„Manches freilich, was da gezeigt wird, muss ich wohl für Spottbilder halten. Dass die Frauen und Mädchen in Seidenstrümpfen und Stöckelschuhen zur Fabrik gingen, das ist doch nur Spaß, nicht?"
Ich schwieg betreten.
„Wie ist es nur zu verstehen, dass im Anblick der Straßen das Werkkleid fast verschwunden war?"
„Ja — das kann ich auch nicht sagen. Vielleicht weil die Arbeit verachtet war!"
„Die Arbeit verachtet?-----------------Ja, dann wäre der
Umschwung zu verstehen. Bei uns trägt jeder sein Arbeitskleid stolz und froh!"
„Unsere Mädchen wollten alle Damen sein!"
„Unbegreiflich!! Dass der Arbeiter so handeln konnte!! Er vertrat doch gerade den Adel der Arbeit!! Da trifft man wieder auf jenes Lebensgefühl, das uns so unverständlich
geworden ist. Freilich — — wenn der Arbeiter sich des eignen Wesens schämte — dann ist die tolle Stillosigkeit eurer Tage zu verstehen."
„Aber es fing an anders zu werden!"
„Das schien mir auf Grund meiner Studien auch so. Nach den Überresten aus jener Zeit und den Bildern zu urteilen, war es allerdings das Bürgertum, das den Anfang machte!!"
Es verdross mich fast, dass er meine Zeit so gut kannte, wenn auch mehr von außen. „Du hast ja recht. Aber wie sollte denn auch der Prolet ,führen'! Es war alles zu meiner Zeit noch halb und halb. Und beim Bürgertum blieb alles in den Anfängen stecken: Die Jugendbewegung, die Sachlichkeit und so fort. Die Arbeiterschaft als neue Klasse konnte allein die neuen Prinzipien durchführen!"
„Ich verstehe! Wie schwer müssen die Träger jener anfänge gekämpft haben. Viele sind sicherlich unterlegen. Aber der mutige Kampf jener Pioniere gibt eurem Zeitalter seinen besonderen Adel. — — Doch nun lass uns die nächste Abteilung besichtigen."

Ein Komplex von Gebäuden, sichtlich kostbarer ausgestattet als die eben besuchten, nahm uns auf. Wir betraten den ersten Saal. Wäre ich eine Frau gewesen, ich hätte vor Entzücken laut aufgeschrieen. Eine Fülle der erlesensten Stoffe aus allen erdenklichen Materialien und in allen erdenklichen Farbenstellungen breitete sich vor mir aus. „Das sind die Stoffe für unsere Festkleider", sagte Bernhard. „Jeder von uns hat deren einige oder wenigstens eins. In der Form ist man hier genau so frei, wie man bei Werkkleidung durch die Forderungen der Zweckmäßigkeit gebunden ist. Die Frauen ergehen sich in allen möglichen Formen und Farbstellungen. Selbst Männer verwenden auf die Wahl viel Sorgfalt."
„Eine Mode gibt es dann wohl bei euch nicht mehr?"
„Mode------------?" sagte Bernhard-------„Ja so!--------
Ich entsinne mich des Wortes. Wir brauchen es nicht mehr. Was besagt es eigentlich?"
Nun zog ich los. Ich schilderte ihm den Rummel der
Modehatz in seiner ganzen Sinnlosigkeit. Er lachte.
„Du scheinst das ja ordentlich im Magen zu haben?"
„Allerdings!! Es war eine sinnlose Verschwendung von Stoff und Arbeitskraft, und der Arbeiter war dabei wieder der Geschundene. Wochenlang hetzte er sich schier zu Tode und dann konnte er stempeln gehen!"
„Waas?"
„Ich meine------------: Er wurde arbeitslos."
„Ach so!--------Nein!!--------Das kennen wir alles nicht
mehr. Bei uns regiert die Arbeit und nicht das Kapital. Solcher Wahnsinn, dass man Menschen erst halb zu Tode hetzt und sie dann arbeitslos auf die Straße wirft — das ist bei uns undenkbar! Dagegen würde sich alles empören. Die regelmäßige Versorgung ist fest organisiert. Die Menschen wissen, dass, wenn sie sich mit ihrem Bedarf an Kleidern nicht rechtzeitig eindecken, sie Gefahr laufen, zur rechten Zeit keine zu haben."
„Und die Wut, immer was Neues haben zu wollen und sich durch Kleidung auszuzeichnen — das kennt man bei euch auch nicht! Nicht wahr?"
Bernhard wiegte den Kopf. „Hör mal", sagte er, „mitscheint, du fliegst in den Himmel!—

,Und jene himmlischen Gestalten —
Sie fragen nicht nach Mann und Weib.
Und keine Kleider, keine Falten
Umgeben den verklärten Leib?!'

Hm?"
Ich ärgerte mich. „So hab ich's natürlich nicht gemeint!" „Komm", erwiderte er begütigend. „Wir setzen uns hier in diese Nische, wo der Beschauer ein schönes Bild des Ganzen hat. Ich will dir meine ganz persönlichen Erfahrungen erzählen. Ich habe eine Frau, deren Anmut — das darf ich selbst als ihr Gatte sagen — über das Alltägliche weit hinaussgeht. Ich muss dir gestehen, ich freue mich über jedes schöne Gewand, das sie trägt. Ich möchte sie auch nicht
immer in denselben Formen sehen. Die Zeit wandelt sich, und wir wandeln uns mit ihr."
„Das verstehe ich. Das habe ich selbst erlebt. Unsre Alten, das heißt die Frauen, hatten in ihrer Jugend in Kleidern wie in Panzern gesteckt. Genau so steckten sie in allen möglichen Vorurteilen. Unsre Mädels waren frank und frei. Da gehörte sich auch eine andere Tracht hin."
„Dann sind wir uns einig. Eine Modehatz, wie du's nennst, machen wir nicht mit. Aber im Wandel der Zeiten wandelt sich auch das Kleid. — Nun aber das zweite, das Geltenwollen. Ja, ich muss ehrlich sagen — wenn meine Frau ein schönes Feierkleid hat, und wir gehen zu unsern Freunden — du meine Zeit, es ist uns beiden gerade keine furchtbar wichtige Sache — aber wir freuen uns doch, wenn man sie stillschweigend bewundert, oder auch ein Wort darüber fällt. So war's auch schon, als wir uns kennen lernten. Ihre schöne Erscheinung — und die Kleidung ist dabei keine Nebensache — hat mich immer gefreut. Also Emil, der Wunsch sich durch Kleidung auszuzeichnen, ist auch bei uns da, und die erotische Beziehung, die in diesem Wunsche mitschwingt — erst recht."
„Na ja", sagte ich. „Wir haben uns das ja auch nicht so gedacht, als ob die Menschen im Reich der Freiheit wie Mönche und Nonnen rumlaufen sollten."
„Siehst du! Und eine Uniform habt ihr auch nicht beabsichtigt, nicht wahr?"
„Nee! Natürlich nich!------------S'is eben schlimm-------"
„Was ist schlimm?"
„Dass es doch noch Unterschiede gibt — — — und die Menschen------- ja, wie soll ich sagen------------?"
„Dass sie sind, wie sie sind, nicht?"
Bernhard lehnte sich behaglich zurück. Das ärgerte mich wieder. Wenn die Menschen auch im Reiche der Freiheit waren, wie sie waren — so war das eben traurig! — aber nicht um sich behaglich zurückzulehnen und einen schönen Anblick zu genießen. Es fehlte nur noch eine Zigarette. Wir schwiegen beide eine Weile. Er sah meine Verstimmung.
„Es ist schwer für uns, ein gegenseitiges Verstehen zu finden", begann er. „Du willst alles so einfach und gradlinig geordnet sehen. Uns ist die Spannung in allen menschlichen Verhältnissen — das Wesentliche!! Nicht eine unangenehme Zugabe, sondern das Wesentliche! Der tägliche Kampf um den Ausgleich — das ist für uns — das Leben!"
„Ich versteh dich nicht."
„Sieh — an diesem Beispiel wird es dir klarer werden. Wenn meine Frau sich ein schönes Kleid kauft, so weiß sie und ich, dass manch ein Kind nur eben das Notdürftigste an Kleidung besitzt. Dieses Mindestmaß ist freilich durch unsere Wirtschaftsorganisation allen Menschen garantiert. Davon ein ander mal. In solchem Falle entsteht für uns beide die Spannung zwischen unserer berechtigten Lebensfreude und unserem sozialistischen Bewusstsein. Und dieser Kampf, du verstehst, nicht dieser einzelne — sondern als Ganzes, im Prinzip gesehen — er erst führt uns in die Tiefen und Flöhen des menschlichen Daseins. Kannst du das nachfühlen?"
„Nein."
„Du wirst noch viel von unserm Leben sehen. Dann wirst du uns besser verstehen."
Wir standen auf und schlenderten weiter durch die Abteilung. In einem Stand waren handgewebte Stoffe ausgestellt.
„Macht ihr diese Romantik auch noch mit?" knurrte ich.
Bernhard wandte sich an den Vertreter: „Warum werden diese Stoffe mit der Hand gewebt?"
„Wir können auf dem mechanischen Webstuhl diese Muster nicht weben."
„Warum nicht?"
„Sehen Sie hier diese sich wiederholenden Querstreifen von verschiedener Breite? Der mechanische Webstuhl kann nur ein regelmäßiges Muster weben. Hier aber entscheidet sich der Weber beim weben über einzelne Farbenstellungen. Auf solche Willkürlichkeiten lässt sich der mechanische Webstuhl nicht einrichten."
„Du siehst", sagte Bernhard zu mir, „das Mehr an Arbeitsaufwand ist keine sinnlose Willkür."
„Das leuchtet mir ein. Wenigstens erkenne ich hier sachliche Gründe. Ich war auch mal auf der Messe. Alles begeisterte sich damals für handgewebte Stoffe. Ich fragte die Verkäuferin, so wie du eben, nach dem Grunde — ,Das ist eben teurer', sagte sie mir. Ich ging zur nächsten. ,Die Dame, die das kauft, ist sicher, dass nur noch etwa sechs andere Damen in Europa dasselbe Muster tragen.' Ich ging zur dritten: ,Handgewebte Sachen sind modern'.
„Das ist allerdings sehr interessant", erwiderte Bernhard. „Ich begreife mehr und mehr, wie ungeheuer schwer sich unter dem kapitalistischen System der Grundsatz der Sachlichkeit durchsetzen konnte."
„So war es. Er wurde von dem System gemordet."
Die Waren der dritten Abteilung waren für den Austausch mit den europäischen Kulturkreisen bestimmt, wiewohl die ausländischen Käufer auch die anderen Abteilungen besichtigten. Sie bot ein buntes Bild der allerverschiedensten Stoffe und sonstigen Textilfabrikate.

Dann gingen wir in die keramische Abteilung. Ich nahm dort dieselben Gestaltungsprinzipien wahr, wie in der Textilmesse.
„Wir haben nur noch einige Stunden, bis es dunkelt", sagte Bernhard, nachdem wir die keramische Ausstellung verlassen hatten. „Ich rate, dass wir eine kurze Rast in dem zentralen Speisehaus machen und dann die technische Messe aufsuchen."
Das Speisehaus, dessen Zweck nicht eine allgemeine Entspannung der Gäste, sondern die möglichst schnelle Versorgung möglichst vieler Gäste mit Essen und Getränk war, überraschte durch die Zweckmäßigkeit seiner Einrichtungen. Binnen weniger Minuten waren wir versorgt. Eine Viertelstunde später befanden wir uns auf der Schnellbahn zur technischen Messe.
Hier versagt mir die Feder. Was ich als Schlosser dort
fand an Maschinen von ungeahnten Konstruktionen — das kann ich nicht schildern. Die Stunden vergingen im Fluge. Trotz intensivster Arbeit hatte ich nur einen kleinen Bruchteil der Ausstellungsgegenstände gesehen, als es zu dunkeln begann und die Räume geschlossen wurden. Es war 6 Uhr.
„Warum dieser frühe Schluss", fragte ich.
„Früh?"
„Ja! Wir fingen um diese Zeit erst richtig an zu leben."'
„Wirklich???------------Sollte diese Gewohnheit mit dem
nervösen Zusammenbruch der europäischen Menschheit um die Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts zusammenhängen? Er wurde der Anstoß zu einem völlig neuen Aufbau unserer Lebensordnung."
„Vielleicht-----------------"
„Wir beachten heute in unseren Gewohnheiten sorgfältig den natürlichen Rhythmus des Lebens. Wenn wir morgen früh 1/2 6 Uhr mit dem Flugzeug aufsteigen, wirst du unsere andere Ordnung nicht mehr schelten. Laß uns jetzt noch ein wenig in den Anlagen rasten.
Wir betraten weite parkähnliche Anlagen. Bald fanden wir eine Bank. Sie gab unsern müden Gliedern Entspannung. Aber Ruhe bot sie nicht. Der Verkehr rauschte nach wie vor an uns vorüber, denn nach Schluss der Ausstellungsräume zerstreuten sich die Messebesucher in diesen weiten Parks.
„Du scheinst übermüdet", sagte Bernhard.
„Weniger ermüdet als verwirrt! Die ungeheure Fülle der Einzeleindrücke ist schon für jeden Besucher verwirrend. Für mich aber kommt hinzu, dass ich mich in einer anderen Welt befinde. Ich spüre auf Schritt und Tritt euer so durchaus anderes Lebensgefühl. Alles hat einen anderen Grundton, als ich es gewohnt bin. Es will mir nicht gelingen, mich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen.
„Das glaube ich. Wie sollte das nach einem Tage auch möglich sein?"
Während wir so sprachen, entstand in unserer Nähe ein Lärm. Wir sahen auf. Ein widerwärtiger Anblick bot sich uns dar. Eine Gruppe betrunkener Männer und Weiber zog grölend durch den Park.
Bernhards Gesicht umdüsterte sich, aber er behielt ruhig seinen Platz inne. Die Gruppe zog unmittelbar an uns vorbei und machte uns zu Zeugen ihrer Raserei.
Ich war aufs tiefste betroffen. „Bernhard!-----------------"
„Kind" — — — — Verloren schaute er ins Weite.
„Laß uns weiter gehen", sagte er nach einer Weile. „Das Treiben hier verwirrt dich nur immer mehr."
Wir verließen bald die begangenen Wege und schlugen schmalere Pfade ein. Die Menschen begannen sich zu verlieren. Wir näherten uns einer großen, umfriedeten anlage. Sie war von einem eisernen Gitterwerk umschlossen, das hinter dichtem Gebüsch fast verschwand. Da tauchte noch einmal die widerliche Gruppe der Trunkenen vor uns auf. Sie wollten eben den umfriedeten Raum betreten, als die Türen des hohen Gitters, von unsichtbaren Wächterhänden bewegt, zusammenschlugen. Ohnmächtige Wut bemächtigte sich der Schar. Sie raste gegen die Gittertür an und versuchte, sie zu stürmen. Vergeblich. Ein Wutgeheul brach aus ihren heiseren Kehlen. Bernhard hemmte seinen Schritt. Auf seinen Wink traten wir beide zur Seite und warteten. Nach kurzem Toben ließ die Rotte von dem vergeblichen Beginnen ab. Sie wandte sich seitwärts und verschwand unter Kreischen und Lärmen im Dickicht.
Bernhard war sehr ernst geworden. Doch er schwieg. Dann führte er mich zur Pforte. Sie öffnete sich, als wir uns ihr näherten. Beim Eintreten gewahrten wir linker Hand den Wächter; er grüßte uns. Ein gerader, sanft aufsteigender Weg, zu beiden Seiten durch hohe Tannen eingeschlossen, nahm uns auf. An seinem Ende erhob sich ein Kuppelbau von gewaltigen Dimensionen. Seine kühnen Linien, seine Maße, die herbe, keusche Schönheit seiner strengen Sachlichkeit und der Adel seines Materials vereinten sich zu einer befreienden Wirkung von ungeheurer
Wucht. Bernhard hatte kein Wort mehr mit mir gewechselt. Schweigend betraten wir das Innere. Ein breiter Zugang leitete den Besucher zu dem großen Mittelraum unter der Kuppel. Hier dehnten sich in konzentrischen Kreisen Sitze für mehrere tausend Menschen. Sie erhoben sich nicht amphitheatralisch, sondern blieben in derselben Ebene, so dass die Versammelten eine unterschiedlose, große Masse darstellten. Bernhard zog mich auf eine gerundete Bank nieder. Alles verharrte in tiefstem Schweigen. Hier und dort erhoben sich einige, um den Raum zu verlassen; neue Besucher traten ein. Die Wirkung der schweigenden Menge war so feierlich, dass ich nicht wagte, neugierige Blicke umherzusenden. Vielmehr verlor ich mich in die starken Eindrücke des Tages. Ich vermochte auch jetzt nicht, klar über das Erlebte nachzudenken. Aber die tiefe und doch belebte Stille, in die ich gebannt war, legte sich — obschon ich ihren Sinn nicht verstand — lösend um alle Wirrnisse meines Herzens.------------
Ich weiß nicht, wie lange ich dort gesessen. Als Bernhard aufstand, lag eine tiefere Klarheit als vordem auf seinem Antlitz. Langsam gingen wir zum Portal. Da fiel mein Blick auf den Umgang, der den Innenraum umschloss. Ich gewahrte Nische an Nische, größere mit kleineren in regelmäßigem Wechsel. Sie legten sich wie ein Kranz um den Innenraum. Auch hier saßen Menschen, einzeln, zu zweit, zu dritt — in größeren Gruppen —, alle gleichmäßig in tiefem Schweigen verharrend.
Wir verließen die Stätte des Schweigens auf demselben, von hohen Tannen umstandenen Wege, auf dem wir gekommen waren. Dann nahm uns der Park wieder auf. Wortlos gingen wir nebeneinander. Bernhard bot mir keine Erklärung des Vorgangs. Zu fragen wagte ich nicht. Bald erreichten wir wieder die begangenen Pfade und tauchten in das Gewimmel der Menschen zurück.
„Ich habe Quartier für dich im Zentrum bestellt", sagte Bernhard endlich in kühlem, sachlichen Ton. „Hinter jener Baumgruppe erreichst du die Schnellbahn. Sie führt dich
zum Markt. Dort findest du das Speisehaus, das wir heute Mittag besuchten. In der Nähe liegt auch das Hochhaus, in dem ich für dich Quartier gemacht habe. Hier hast du die nötigen Ausweise. Du wirst in deiner Kabine eine Kleidung wie die unsere finden. Lege sie morgen an, damit du außerhalb der Messestadt nicht auffällst. Früh um 5 Uhr hält auf dem Marktplatz das Auto, das dich zum Flugplatz bringt."
Er bot mir die Hand zum Abschied, ruhig und freundlich. Ich tat, wie mir geheißen. In meinem Quartier angekommen, fiel ich in einen tiefen Schlaf.

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