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Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
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V.??Die neue Moral der Arbeiterklasse??

Die Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse selber sein.
Karl Marx.

Sechs Wochen lang weilte Franz bei den Seinen in der Heimat und schrieb glückliche Briefe an Else — sechs Wochen lang blieben Else und Konrad dem Rausch ihrer Leidenschaft hingegeben. Franz' Briefe legte Else uneröffnet fort.
Am Sonnabend vor Franz' Rückkunft kam sie zum letzten Mal.. „Ich geh fort von hier", sagte sie. „Franz hab ich alles geschrieben. Ich lege diesen Brief auf seinen Tisch; er findet ihn morgen früh. Schreib ein paar Worte dazu."
Konrad fand keine. Endlich schrieb er:
Bitte, Franz, komm morgen Abend zu mir. Konrad.
„Und du?----------------" Statt aller Antwort warf sie sich zum letzten Mal in seine Arme.

Am Abend des folgenden Tages wartete Konrad von 7 Uhr ab auf Franz. Den Freund selbst aufzusuchen, glaubte
er kein Recht mehr zu haben. Er wusste, welche Zerstörung er in Franz' Leben angerichtet hatte. Er musste warten, ob Franz zu ihm kommen wollte — oder nicht. Das Warten folterte ihn. Zum hundertsten Male versuchte er, sich Rechenschaft zu geben. Hatte er dieses süße Leben an sich gezogen: Waren sie nicht von Anfang an eins gewesen, ohne es zu wissen und zu wollen. Hatte sie ihn nicht gleich bei der ersten Begegnung im Tiefsten besser verstanden, als irgendein anderer? War sie ihm nicht während des Wahlkampfes der tapfre Kamerad gewesen, der seinen Kampf mitgekämpft hatte, ols ob es der eigne sei? Hatte er diesen Frühlingstag geschaffen mit seinen Wonnen? Er lachte laut auf. Für solche Redensarten bist du ein wenig zu alt, mein gute Junge, auch ein wenig zu erfahren. — Er begann von neuem Hatte er eine Gelegenheit gesucht? Gelegenheit macht Diebe; sie macht auch Ehebrecher.
Aber wozu eigentlich die Aufregung? Gibt es eine alltäglichere Sache? Die Bilder aus der Fabrik begannen vor seinen Augen zu tanzen: Die Gummiwarenfabrik, wo er als Arbeitsloser Beschäftigung gesucht — Männer und Frauen nebeneinander am selben Tisch mit der Fertigstellung der Apothekerwaren beschäftigt, die Worte — — die Handlungen — — das Mädel, wie es den Männersaal passieren
muss , wiederum die Worte-------die Handlungen-------der
Werkmeister, der regelmäßig mit bestimmten Frauen für eine Weile verschwindet — — —, die Baracke am Stickstoffwerk, wo die Mädchen herumgereicht wurden von
einem zum andern-------. Ist der wahllose Geschlechtsverkehr
nicht in der Fabrik die Regel? Was ist denn der Geschlechtsakt für den Fabrikarbeiter? Ein Schnaps! Nicht wert, dass man fünf Minuten lang daran denkt! Wo Burschen und Mädel in demselben Betrieb arbeiten — — — in jedem Winkel, auf jedem Haufen alter Säcke. Was war inmitten dieses Massenschicksals sein persönliches Geschick? Ein Tropfen im Weltmeer!
Wenn er selbst es anders fühlte? „Eine veraltete Ideologie
aus seiner bäuerlichen Vergangenheit", würde der Genosse mit dem Vogelprofil sagen.
Und Else? Lieber Gott!! Mädchentränen. In fünf Jahren denkt sie nicht mehr daran, schon in zweien nicht mehr; schlimmstenfalls: ein Mädchen mit 'nem Kind. Warum nicht? Das ist gerade keine Seltenheit in Arbeiterkreisen. Es verdirbt noch nicht mal die Partie.------------
Nein — nein — nein — so war es hier nicht!! Er wusste, dass er sich selbst anlog.
Und dann Franz — Franz — Franz! Sein Herz zog sich zusammen. Jeder andre hätte es eher sein können, als gerade Franz, der ernste Mann mit dem kindlichen Herzen. Nein, Franz würde ihm keine Vorwürfe machen. Er würde sich auch keinen Strick drehen. Er würde ihn nur ansehen mit seinen guten, offnen, großen Augen. Und das war das schlimmste, tausendmal schlimmer als eine Kugel vorn Kopf. Doch warum? Waren das nicht auch veraltete Vorurteile? Bei andrer Erziehung würde Franz darin gar nichts Verwerfliches finden. Warum nicht ein Verhältnis zu dritt, zu viert, warum nicht? Oder wenn man's anders nähme: Warum nicht eine kleine Eheirrung? Er spuckte aus. Das war das infame bürgerliche Wort, dessen Praxis er in Davos kennen gelernt hatte. Aber hatten sie nicht recht? Kann ein Mann wie ein Mönch leben? Lächerlich! Glücklich, wenn ein junges Blut sich dir an den Hals wirft. Auch Franz würde das verwinden.
Seine Frau? „Hedwig", sagte er leise vor sich hin. Nein! Sie würde ihn so wenig verurteilen wie Franz. Sie litt darunter, gewiss, aber sie verzieh — o, wie gemein, darauf im voraus zu rechnen, mit ihrer Güte Schindluder treiben. Aber doch! Hier war nicht gleitender Sumpfboden. Er wusste, ihre Liebe war unverrückbar gegründet. Hier gab es einen festen Punkt im Chaos. Er hatte es tausendmal in guten Stunden empfunden. Auch heut verließ es ihn nicht ganz. Aber das andere stieß darauf in hartem Anprall, — feindlich, unversöhnlich. Gab es auch hier wieder zwei Linien? Dieselbe grauenvolle, unerbittliche Dialektik des
Lebens wie in der Politik? Mit welchen Mitteln sollte man sie meistern?
Die drei Generationen der Kollontay stiegen vor seinem geistigen Auge auf. Die erste: ein Ehebruch, — und man trennt schnurstracks das bisherige Band, um eine neue Ehe einzugehen, die ebenso wenig bis zu Ende hält. — Er von Hedwig sich jetzt trennen — oder sie sich von ihm? Lächerlich! Die zweite Generation trennt sich nicht mehr. Die Frau lebt in inneren Qualen und Vorwürfen mit zweien — warum nicht auch mit dreien? Eine schwächliche, hilflose Sache. Und die dritte? Alles wahllos durcheinander, wie der Augenblick es gebietet, ohne Skrupel, ohne Scham, — Mutter und Tochter mit demselben Mann.------------Dies am allerwenigsten.
Er ging ruhelos mit großen Schritten im Zimmer auf und ab. Wenn nur Franz käme!
Und wiederum — Es war doch alles so sonnenklar. Die alte Moral war zersetzt, eine neue nicht gefunden. So musste man eben leben, wie es ging — von einem Tag zum andern. Pfui Konrad! Ist das der Mann, der sein Leben einer Sache gelobt hat? Der andre führt? Leben von einem Tag zum andern? Hilflos sich treiben lassen?
„„Das Neue sich aus der Gesellschaft entwickeln lassen"", würde Adolf sagen. Wer war die Gesellschaft? Er? Else? Franz? Hedwig? Die Genossen in der Fabrik? Sie alle zusammen? Das war die Klasse, nicht die Gesellschaft. Und was half ihm das jetzt in seinem persönlichen Handeln?
Er dachte an das Elternhaus, an die Mutter, die vom frühen Morgen bis spät in die Nacht hinein geschafft hatte. Wie ein unzerstörbares Kleinod hatte ihn der Gedanke an sie durch das Leben begleitet. Aber das war eine untergehende Welt, brüchig in allen ihren Grundlagen. Oder war da etwas, was über Raum und Zeit und Gesellschaftsordnung hinaus lebendig blieb? Es war immer wie ein Hort gewesen, dieses Elternhaus in seiner Armut, in seiner Treue, mit seinen sechs gesunden Kindern, die unter Not und Hunger aufgewachsen waren wie die jungen Hirsche. Ja,
eben — Hirsche — Naturdasein, unwiederbringlich dahin, Konrad! Laß die Romantik. Du bist nicht mehr auf der Alp. Du bist in der modernen Industriewelt! Da gelten die alten Maßstäbe nicht mehr. Die alten Ideale sind wie ein verwelkter Rosenkranz. Und doch — — — — sie sind
da-----------------Eine Wirklichkeit! Unzerstörbar!
Es war halb neun. Ob Franz noch kommen würde? Wenn nicht? Wenn er sich ein Leid angetan? Wenn er Else nachgereist wäre? Wenn er sich in stummem Schmerz von ihm abwenden würde wie ein verwundetes Tier? Gab es denn nirgends eine Linderung? Nirgends eine Sühne? Wie hatte Else damals gesagt: Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit. Aber wer war der, der hier sühnen sollte? Else — seine Frau — Franz? Er selbst? Seine Gedanken drehten sich im Kreise.
Erna Schulze irrlichterte wie ein Frätzchen an seinen Augen vorbei. Auch das war eine untergehende Welt. Die sterile Tugend des alternden Mädchens hatte keine Erlösungskraft. Und die Kleine war ihm gefolgt wie ein Lämmchen dem Hirten. Er fing wieder von vorn an: Else
-------Franz------seine Mutter-------seine Frau-------er
selbst — —

*

Es klingelte. Das Herz presste sich ihm krampfhaft zusammen. Er ging und öffnete. Alexa Brand trat ein.
„Guten Abend, Genosse", sagte sie geschäftsmäßig. Ein Widerwille gegen sie bäumte sich in ihm auf, so intensiv, dass er meinte, sie müsse es körperlich spüren. Aber sie trat ohne zu fragen in's Zimmer.
„Genossin,------------Sie entschuldigen-------, aber ich erwarte einen Freund, mit dem ich dringende geschäftliche Angelegenheiten zu besprechen habe. Ich bedaure wirklich, er muss jeden Moment kommen."
„Gut! Erwarten wir ihn! Solange er noch nicht da ist, muss ich Sie schon mit Beschlag belegen, denn ich habe wichtige und eilige Dinge aus der Bewegung mit Ihnen zu be-
sprechen. Ich brauche Ihre Mitwirkung für einen Agitationsabend. Morgen früh muss ich nach Berlin reisen."
Sie setzte sich auf das Bett und fing an, in kühlem, geschäftsmäßigem Ton einige politische Angelegenheiten mit ihm zu erörtern. Was blieb ihm übrig, als in gleicher Weise darauf einzugehen? Sie sprachen ruhig und sachlich. Nach einiger Zeit begann die nüchterne Behandlung sachlich wichtiger Dinge ihn von der Qual der Selbstzerfleischung zu erlösen. Seine Erregung wich. Es war, als ob die Anwesenheit der Frau eine befreiende Wirkung auf ihn ausübte. Ihre schlanken, feingeformten Hände glitten über die Papiere, die sie ausbreitete. Der leichte Duft ihres Parfüms durchzog das Zimmer. Die klugen Augen blickten freimütig zu ihm auf, und der feste energische Mund sprach verständige, wohlbedachte Worte, wie sie das Herz eines Politikers erfreuen. Mit einer tiefen Falte in der Stirn hörte Konrad ihr zu. Aber sein Widerwille schwand.
Die sachliche Aussprache war beendet. Alexa machte keine Anstalten zum Aufbruch. Konrad ließ seine Blicke auf ihrem Profil ruhen. Es war ein fein geschnittenes Gesicht, das einmal von edlerer Bildung gewesen sein musste. Heute vermochte auch die geschickteste Kunst nicht mehr, die harten Zeichen zu verwischen, die das Leben in dieses Antlitz geschrieben. Etwas wie Mitleid wuchs in Konrads Herzen auf. Er dachte nicht mehr daran, sie zum Aufbruch zu veranlassen. Franz war ohnehin nicht mehr zu erwarten. Sie wandte ihm wieder ihr volles Antlitz zu.
„Sie erlauben doch, dass ich mir eine Zigarette anzünde?" sagte sie, indem sie zugleich Konrad ihr Etui anbot. Gegen seine Gewohnheit nahm er eine an und gab ihr ein Streichholz.
„Wissen Sie auch, bester Freund, dass ich hier entsetzlich unbequem sitze? Haben Sie denn gar kein anständiges Sitzmöbel?"
Er bot ihr den eignen Stuhl an. Sie nahm sein Angebot ohne Zaudern an und lehnte sich mit überschlagenen Beinen
behaglich in den Armstuhl zurück, den Rauch der Zigarette in die Luft blasend. Konrad nahm auf einem Schemel Platz.
„Ich fahre morgen nach Berlin, um meinen Sohn zu besuchen", begann sie im leichten Plauderton. „Das heißt", fügte sie spöttisch hinzu, „wenn's mein Sohn ist."
„Die Mutterschaft pflegt doch nicht zweifelhaft zu sein", erwiderte Konrad mit einem Lächeln wider Willen.
„Das sagen Sie so, bester Genosse! Ich wurde in einer Klinik entbunden. Wie, wenn die Pflegerin die Säuglinge beim Baden vertauscht hätte? Es macht mir oft Spaß, mit diesem Gedanken zu spielen. Stellen Sie sich das ganze Theater der Mutterliebe vor, verschwendet an ein fremdes Kind, — sagen wir z. B. an den Sprössling eines Trinkers und einer syphilitischen Mutter. Man hegt es, man nährt es. Alle Tanten und Onkels entdeckten Familienähnlichkeiten. ,Der leibhaftige Großpapa!', sagt der eine. ,Nein! Die Nase hat er von der Großmama!', sagt der andere. Ist der Gedanke nicht zum Totlachen? Wir leben von Einbildungen, mein Freund! Und nach der Konfirmandenstunde zu urteilen, die Sie neulich im Walde hielten, sind Sie auch noch ein Illusionist."
Konrads Miene umdüsterte sich. Die Erwähnung jenes Sonntags hatte mit einem Schlage wieder alles geweckt, was einen Augenblick geruht hatte. Elses Gestalt stand in ihrer ganzen Lebensfülle wieder vor ihm, und das Weib zu seiner Rechten, das seine Absicht auf ihn so schamlos zur Schau trug, ward zum blassen, widerwärtigen Schemen. Alexas scharfem Blick entging die Veränderung nicht. Sie schob sie auf die Erwähnung der Vorlesung und kam darum auf ihr erstes Thema zurück.
„Ja, was können Sie dagegen sagen, dass es reinster Zufall ist, ob ich meine Mutterliebe an das richtige oder falsche Kind wende?"
„Der Gedanke erscheint mir so klug, dass ich ihn dumm finde."
Alexa lachte. „Mein Freund, du wirst grob! Also hast du Unrecht!"
„Nein, ich habe Recht, Genossin. Es ist wie bei meinem Bohrer. Spitze ich ihn zu scharf, so bricht er ab und taugt zu nichts mehr. Ihr Argument beweist mir nur eins: dass in solchen Dingen der Verstand wenig ausrichtet."
„In was für Dingen?" fragte Alexa lauernd.
„In allen Dingen der Liebe", gab Konrad ruhig zurück. Er sah nicht ihren lauernden Blick; er sah überhaupt nicht mehr das Weib. Die Sache stand wieder vor seinem geistigen Auge. Jene Not, jene große Not, in der sie standen, er,
Franz, Else, auch Alexa--------alle, alle! Was die Frau da
hingeworfen hatte in koketter Spielerei, — das hatte ihm wie ein Blitz die Lage erhellt. Er begriff, dass das Grübeln des Verstandes hier enge Grenzen fand. Die eigene Antwort — mehr instinktiv als klar bewusst gegeben — wies in die entgegengesetzte Richtung. Die Linie musste weiter verfolgt werden. Die Unterhaltung mit der Frau begann ihn zu interessieren, anders freilich, als Alexa vermeinte, die mit Befriedigung seine Teilnahme zurückkehren sah.
„Die Dinge der Liebe, Genosse", entgegnete sie gedehnt, — tja — wie sagt Dehmel? — aber die Liebe ist das Trübe."
„Hast du das erfahren, Genossin?"
„Mein Freund, du gehst aufs Ganze!"
„Ja, es interessiert mich! Erzähle mir den Roman deines Lebens." Er zündete sich eine neue Zigarette an, schob seinen Schemel zurück und nahm, den Rücken gegen die Wand lehnend, die Arme über der Brust kreuzend, die Haltung des interessierten Zuhörers an. „Wann und wie ist dir zum ersten Mal der Mann in deinem Leben begegnet?"
Alexa empfand das Unzarte seiner Frage wohl. Sie empfand, wie viel sie sich vergeben hatte, wenn er so mit ihr zu sprechen wagte. Aber was sollten diese lächerlichen Vorurteile? Es ging um einen Sieg, wie er nicht alle Tage zu haben war.
„Der Mann? — Das Männchen, meinst du."
„Meinetwegen."
„Der Unterschied ist wichtig, Genosse! Der Mann! Das
sagt schon allerhand Großartiges aus. Es klingt so wichtig! Und dabei handelt es sich bei allen diesen Dingen nur um die inneren Sekretionen, die wir mit den Tieren gemein haben. Was ist die Liebe sonst?" „Wie du willst, erzähle."

*

„Gott, ich war ein Ding von achtzehn Jahren. Mein Vater war Kaufmann in Breslau. Er interessierte sich für die Felle, mit denen er handelte, meine Mutter für ihre Küche und ihren Wäscheschrank. Ich langweilte mich zu Tode. Tagsüber musste ich der Mutter helfen — nicht allzu viel — abends las ich Romane. Eines Tages lernte ich meinen Mann kennen. Ich verliebte mich blindlings in ihn. Ich fand ihn entzückend. Denn er sagte immer ja zu allen meinen ansichten, während die andern meist nein sagten. Also schien er mir klug und bedeutend. Die Eltern wussten nichts von unsrer Bekanntschaft. Sie hätten die Sache niemals zugegeben. — Also brannte ich mit ihm durch und ließ mich später sogar regelrecht mit ihm trauen. Aus dieser Ehe stammt der holde Sohn, ein netter Junge übrigens, gleichviel ob er vertauscht ist oder nicht."
„Was sagten deine Eltern?"
„Lieber Gott, sie nahmen die Sache tragisch. Ich war ihr einziges Kind. Die bourgeoise Ideologie feierte ihre Triumphe. Wenn noch sie mit dem Mann hätten leben sollen — aber es war doch meine Angelegenheit. Der Vater soll es sich zu Herzen genommen haben." Sie zuckte die Achseln.
„Hast du sie wieder gesehen?"
„Den Vater nicht; er hat nicht mehr lange gelebt. Die Mutter sehe ich hie und da, aber selten. Denn natürlich ist die rote Emma, wie ich dort heiße, ein Stein des Anstoßes für alle Bekannten und Verwandten."
„Und dein Mann?"
„Es war ein guter Kerl! Er liebte mich wirklich. Der Junge begeisterte ihn vollends. Er trug mich auf Händen, wie es bei der CourthsMahler so schön heißen würde. Aber — du liebe Zeit — ich langweilte mich bald bei ihm genau
so, wie ich mich bei meinen Eltern gelangweilt hatte. Es erwies sich auch schnell, dass er meine Ansichten gar nicht teilte. Er entpuppte sich als ein ganz gewöhnlicher Haushahn. Ich habe ihn öfters gefragt: ,Warum hast du mir denn alles bestätigt, damals als wir uns kennen lernten?' Dann lachte er und sagte: ,Das macht man mit jungen Mädchen so, wenn man sie erobern will'."
„Verlangte er von dir häusliche Arbeit?"
„Keine Spur. Er ließ mir völlig freie Hand. Damals habe ich in Breslau mein Abitur gemacht und studiert."
„Hätte er deiner politischen Betätigung was in den Weg gelegt?"
„Nein."
„Und dann?"
„Dann habe ich ihm eines Tages erklärt, dass ich mich bei ihm zu Tode langweilen würde und ihn gebeten, mich allein zu lassen. Erst habe ich ihn aus meinem Schlafzimmer rausgeworfen und dann aus meiner Wohnung."
„Ging er?"
„Gott, er war verzweifelt! Er versprach mir alles und noch was dazu, wenn ich bei ihm bliebe. Er liebte mich wirklich. Er liebt mich noch heute. Sieh, diesen prachtvollen Schal schickte er mir erst vor einigen Tagen."
„Hattet ihr noch mehr Kinder?"
„Um Gottes willen! Diese schauderhafte Prozedur zum zweiten Male?!"
„Wie kam die Scheidung zustande?"
„Eine kleine Eheirrung war schnell konstruiert. Es stimmte zwar nicht, aber der Zweck wurde erfüllt."
„Und seither?"
„Seither------------", sagte Alexa gedehnt, die Spitze ihres
eleganten Schuhes betrachtend. „Seither....." sie hob den
Kopf und sah ihn herausfordernd an, „langweile ich mich nicht mehr."
„Wie machst du das?"
„Nun, erstens arbeite ich in der Partei. Das gibt Schwung,
das gibt Bewegung. Das langweilige Dasein des Bloß-Weibchens ist endgültig überwunden."
„Also ein angenehmer Nervenreiz?"
Alexa zögerte, es zu bestätigen.
„Oder ein Trost für ein gebrochenes Herz?" Sie verzog spöttisch den Mund. „Oder ein Kampf um ein Ideal?"
„Ich finde", gab sie zur Antwort, „du vergisst jetzt selbst, dass man den Bohrer nicht zu spitz machen darf."
Konrad lachte laut auf. „Das darfst du nicht finden, Genossin! — — Du hast also scheint's doch Hemmungen, gewisse Dinge bei ihrem einfachen Namen zu nennen. Das ist von deinem Standpunkt aus unlogisch. — Aber weiter. Genügt die Parteiarbeit? Füllt sie dich ganz aus?"
„Ich finde, du wirst gemein mit deinen Fragen!"
„Gemein? Das gibt es doch gar nicht, Genossin. Das sind ja bürgerliche Vorurteile. Wo bleibt dein Verhalten gegen Mann und Eltern, wenn du solchen bürgerlichen Ideologien noch Raum gibst."
„Gut, mein Freund. Also: ich nehme mir in der Liebe jede Freiheit, die mir passt."
„Liebe? Was verstehst du unter Liebe? Die sexuelle Befriedigung mit jedem netten Jungen?"
„Nein, es ist mehr als das!"
„Mehr als das? Mehr als die Wirkung innerer Sekretionen?" Sie antwortete nicht. Es lag ein grenzenloser Hohn in seiner Stimme und Haltung. Sie warf ihre Zigarette auf den Boden und zertrat sie.
„Gut, lassen wir auch das. Und du fühlst dich seither glücklich?"
„Ja!! Seither sage ich mit der Arbeiterjugend: Der Mensch ist gut, die Welt ist schön!"
„Mit der Arbeiterjugend??!!" Konrad schrie es fast heraus. ------------„Mit der Arbeiterjugend?!------------"
„Na ja! Gewiss! Überrascht dich das?"-----------------
Konrad antwortete nicht. — — — Mit der Arbeiterjugend?? ------------Wo waren die inneren Zusammenhänge
zwischen diesem abgelebten Geschöpf der bürgerlichen Welt
und jenen Burschen, jenen Mädels, die mit ihm durch Sonnenschein und Regen stürmten und das Lied sangen?
„Worin stimmst du mit der Arbeiterjugend überein, Genossin?"
„Wir lehnen beide die verlogene Moral des Bürgertums ab. Die bürgerliche Ehe ist ein Institut vollendeter Heuchelei. Sie ist in neunundneunzig Fällen unter hundert eine Geldbeutelangelegenheit, und sie ist für beide Teile nur ein Deckmantel, um ihr Vergnügen sonst wo zu suchen — vielleicht einen gewissen Prozentsatz Spießer ausgenommen, die noch in veralteten Ideologien stecken."
„Das ist so", sagte Konrad nachdenklich. Er hatte seine kritische Haltung aufgegeben und saß vornübergebeugt, die Hände zwischen den Knien gefaltet. „Aber mit der Ablehnung der bürgerlichen Ehe habt ihr doch nur das Negative gemeinsam."
„Nein, auch das Positive. Wir wollen beide dem Triebleben zu einer freien ungebrochenen Entfaltung verhelfen."
„Auch das ist richtig.------------Und doch ist die Kuh auf
der Weide nicht euer Ideal."
„Mein Freund, mit dem Wort Ideal verfällst du wieder in den Ton deiner Konfirmandenstunde neulich im Walde. Diese Dinge sollen sich aus der Gesellschaft nach ihren eignen Gesetzen entwickeln."
Da war das Stichwort wieder! Adolf würde es mit Begeisterung bestätigen. Aber trotz dieser Übereinstimmung — es lag zwischen dieser Frau und seinen Jugendgenossen ein Abgrund — unverrückbar und unüberbrückbar. Er sah schweigend vor sich hin. Auch die Frau schwieg. Sie konnte sich nicht länger verhehlen, dass jede erotische Spannung zwischen ihnen sich verflüchtigt hatte. Konrads Gedanken waren offenbar weit weg. Es war eigentlich ganz zwecklos, dass sie noch hier blieb. Sie wollte gehen. Warum ging sie nicht? Warum bannte sie der Mann dort, der schwer und gedankenvoll dasaß, in seine Gegenwart? Die inneren Sekretionen waren doch allzudeutlich ausgeschaltet. Hilflosigkeit überkam sie.
Konrads Gedanken liefen indes zwischen Else und dieser Frau hin und her. Ja, sie hatte recht. Eine neue Freiheit hatten sie beide, Else und er, auch gesucht. Als sie Hand in Hand auf dem Damm durch die Wiese schritten — um die Leiber legt ein neuer Frieden sich, wir blicken freier, Mann und Weib uns freier an — da schien sie goldene Wirklichkeit. Aber hatte das irgend etwas zu tun mit der Freiheit dieser Frau? Nein, nein und tausendmal nein! Gemeinsam war ihnen der Kampf gegen das Alte und das Suchen nach einer neuen Freiheit. Aber zugleich waren sie dem Wesen nach so zu innerst verschieden wie das Samenkorn und der faulende Mutterkuchen, auf dem es noch steht.
Ja!! Das war es!! Das war es! Die innere Verschiedenheit des Wesens! Dort die konfliktlose Freiheit dessen, dem die sittliche Spannkraft zerbrochen ist. Die dritte Generation aus dem Buche der Kollontay! Ein Geschlechtsakt wie ein Beafsteak zum Gabelfrühstück, oder ein Praline nach Tisch
— konfliktlos, kampflos, spannungslos. Der Lebensstil einer erschöpften Menschheit. Sie kämpft nicht mehr, sie leidet nicht mehr. Entarteter, übersteigerter Liberalismus. Was wir Proleten suchen, muss ganz, ganz anders aussehen -------von dem engbrüstigen Ideal der bürgerlichen Ehe genau so weit entfernt, wie von eurer konfliktlosen Vermischung der Geschlechter. Das werdet ihr nie verstehen! Dazu könnt ihr nichts beitragen!
Nichts?--------
Doch! Etwas hat das Bürgertum uns noch gegeben: Den Willen der Jugendbewegung zum neuen Menschen. Viel Romantik zwar, viel Unkenntnis der Wirklichkeit. Immerhin
— ein Anstoß.-----------------
Aber steht der Arbeiter nicht doch auf einer Linie mit dieser Frau? Hatte er sich nicht selbst vorhin sagen müssen, dass für ungezählte Arbeiter der Geschlechtsakt nichts anderes sei, als ein Schnaps?! Jawohl! Das ist so! — Und doch!! Wenn sie dasselbe tun wie diese Frau und viele ihresgleichen, so ist es doch himmelweit verschieden! Elementare Naturtriebe haben hier ihre Schranken durchbrochen. Es ist
die Verrohung einer primitiven Menschenmasse, die man in ein viehisches Dasein gestoßen hat. Sie wälzt sich darin. Aber zugleich brüllt sie aus ihrem Schlamm auf wie ein misshandeltes Tier.
Er aber und seine Freunde und manche andere, die kleine Schar derer, die sich herausgekämpft haben oder eben noch herauskämpfen, hier ein paar und da und dort — sie sind die Genossen jener Masse, die in ihrem eignen Unrat verkommt— nicht dieser „aufgeklärten" Frau.
Beweisen? — Nein! — Beweisen lässt sich das nicht! — Das ist es ja gerade, was ihm den Gegensatz so deutlich gemacht hat. Wenn man aus dem Lebensgefühl dieser Frau sein Kind ansieht, Mutterliebe ein rührendes Theater — dann hat man dieses Gefühl eben! Daran ist nichts zu ändern. Liebe zwischen Mann und Weib — Wirkung innerer Sekretion? — Wohl. Die innere Sekretion ist da. Sie ist das deutlich erkennbare Symptom des physischen Vorgangs. Wem sich das ganze Geschehen darin erschöpft, der kennt eben das nicht, was er und Else und Franz jetzt durchkämpfen würden. Die Frau hat ganz recht. Es ist für sie nicht da. Aber tausendmal gelogen ist, dass es überhaupt nicht da sein soll. Hier ein Lebensgefühl — dort ein Lebens"gefühl! Hier eine absinkende Schicht — dort eine aufsteigende. Die junge kann einige Waffen für den Befreiungskampf gegen veraltete Eheinstitutionen und veraltete Vorurteile von der älteren übernehmen. Die Jugendbewegung kann ihr ein Anstoß sein. Genau wie Marx es vom Politischen sagt: Sobald die Bourgeoisie revolutionär auftritt, kämpft die Arbeiterklasse gemeinsam mit ihr. Der Neubau aber muss ihr eigner sein, just wie der politische auch. Aus den Tiefen einer neuen Klasse muss eine neue Moral aufsteigen. Auch die sittliche Befreiung der Arbeiterklasse kann nur das Werk der Arbeiterklasse
selber sein----------------Die zersetzte Moral der bürgerlichen
Gesellschaft kann niemals die neue Moral der Arbeiterklasse werden!
Und Else? Jetzt wusste er, was Franz zu sagen hatte. Ein Unrecht im Sinne der Gretchentragödie? Nein, das war es
nicht. Diese Gesellschaftsordnung verdiente nicht mehr das Opfer der unehelichen Mutter. Das mochte zu Goethes Zeiten einen Sinn gehabt haben. Die heutige Gesellschaft hatte kein Recht mehr darauf. Aber dass in Franz' und Elses Leben ein namenloser Schmerz gekommen war — das war Tatsache. Und dass er mitschuldig war an diesem Schmerz
— schuldig, ja, ja, schuldig, schuldig und noch mal schuldig,
— das war so!! Diese Schuld war nicht zu beweisen. Aber sie war da!! Er wollte sie nicht zerreden, nicht wegdisputieren. Er wollte sie tragen. Wie? Das wusste er kaum. Warum? Das konnte er nicht sagen.
Sie alle müssen durch ein tiefes Wasser, er, seine Frau, Else, Franz, — es stürzt über sie — über ihre Köpfe! Lasst alles mit den Fluten gehen! — Nur kein Halten des Alten um des Haltens willen. Durch ein tiefes, stürzendes Wasser wollen sie gehen, — müssen sie gehen. Vielleicht ist es ihr Untergang. Gleichviel! Nur nicht im Seichten plätschern wie jene Frau. Sie hatte nur eins vermocht, — ihm das Lebensgefühl der eignen Klasse klarer zum Bewusstsein zu bringen----------------------------------
Konrad raffte sich gewaltsam zusammen. Bleich und zerfallen saß Alexa vor ihm. Sie sah ins Leere. Sollte er das armselige Weib demütigen? Es war genug, dass er ihr die Seele Stück für Stück entblößt hatte, bis sie die eigne, kümmerliche Nacktheit frierend gewahr wurde. Lag doch auch in ihren Zügen ein Leid. Er verstand es jetzt. Sie war nicht geartet für das Alltägliche. Sie brachte Verstand und Willen für starke Kämpfe mit. Aber sie war zerfressen von dem vergifteten Odem einer Schicht, die an Stelle des Kampfes den konfliktlosen Genuss setzte. Dafür war sie zu schade gewesen. Daher ihre Flucht in die Arbeiterbewegung. Aber diese Flucht hatte die Zersetzung nicht aufzuhalten vermocht.
Er sah nach der Uhr. „Genossin", sagte er mit Ritterlichkeit, „ich handle unverantwortlich an Ihnen. Ich halte Sie mit Gesprächen auf. Es ist nach Mitternacht und Sie wollen morgen verreisen. Darf ich Sie begleiten?"
Alexa fuhr zusammen. Noch einmal irrte ihr Auge zu ihm auf. Aber es war nicht mehr das geile Weibchen, das seinen Blick suchte, sondern der zerrüttete Mensch. Im nächsten Augenblick hatte sie die Haltung des distinguierten Parteimitgliedes wiedergewonnen.
„Wenn Sie mich bis zum nächsten Auto bringen wollen ..."
Drei Tage lang kämpfte Franz in brütender Einsamkeit und schlaflosen Nächten. Triebhafte Eifersucht des Männchens? — Nein! — Das war nicht die Natur seines Fühlens. Und doch war die Eifersucht da, unausrottbar, wie der Naturtrieb es ist. — Besitztrieb des Bürgers? — Nein! — Und doch ein Weib sein eigen nennen, wie es nur einmal im Leben sein kann----------------
Drei Tage lang hatte es ihn um und um gewühlt. Jetzt kam er, wie Konrad es vorher gewusst hatte, bleich und zerstört, aber ruhig und gültig.
„Ich komme, dir Lebewohl zu sagen, Konrad. Ich gehe zu Else." Sie saßen zusammen und sprachen lange miteinander. Als sie schieden, wussten sie, dass sie ihr Schicksal ohne Groll zusammen tragen wollten.
Dann setzte Konrad sich hin und schrieb bis tief in die Nacht an seine Frau. Er erzählte ihr alles, was er in diesen Wochen erlebt hatte.

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