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Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
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V. Die Familie.

Am nächsten Vormittag landete unser Flugzeug nach flotter Fahrt bei Straßburg, Die Glocke des Münsters schlug die elfte Stunde. Bernhard winkte ein Auto heran.
„Ich habe", sagte er, „Straßburg als Ziel gewählt — nicht um dir, wie bisher, die Dinge des großen gesellschaftlichen Kreises zu veranschaulichen, sondern um dich in eine mir befreundete Familie einzuführen."
Der Wagen hielt vor einem Einfamilienhaus. Eine schöne Frau von etwa dreißig Jahren trat auf die Freitreppe. Zwar trug auch sie jenes strenge Werkelkleid, das ich allenthalben gesehen hatte. Doch — war es der Sonnenschein, der ihre Gestalt umspielte, war es ein Glanz, der von ihrem Wesen ausging — es lag nichts Nüchtern-Zweckbestimmtes in ihrer Erscheinung. Wir traten in den Vorgarten. Schneller, als es sonst in seinem gesetzten Wesen lag, sprang Bernhard die Stufen der Freitreppe hinauf, unsere Wirtin zu begrüßen. Dann wurde auch ich freundlich bewillkommnet. Sie führte uns ins Haus und ließ uns in ein großes Wohnzimmer eintreten. Mein ganzes Wesen entspannte sich, als ich diesen herrlichen Raum betrat. Breit ausladende Fenster ließen reiches Licht einfließen. Hellgrüne Wände lösten es mildernd in warme Ruhe auf. Jegliche Zieraten waren vermieden. Nur an einer Stelle, wo durch das Zurückspringen des Mauerwerkes eine Art Nische gebildet war, standen ein paar Blumen und eine Plastik. Linker Hand von der Tür war ein Platz mit gepolsterten Sitzen. Durch zweckbedingte Gliederung des Raumes hatte er eine behagliche Geschlossenheit gewonnen. Wir ließen uns hier nieder. Unsere Wirtin begann mit Bernhard die Erlebnisse der jüngsten Vergangenheit auszutauschen, indes ich schweigend zuhörte. Nach den jagenden Eindrücken der letzten Tage überließ ich mich gern als schweigender Zuhörer der ausgleichenden Wirkung der Menschen, wie des Raumes.
Kinderstimmen wurden laut. „Sie wissen, dass du uns
besuchen wolltest und können es nicht abwarten, dich zu sehen", sagte die Frau zu Bernhard.
„So lass sie doch kommen, Eva!" Sie stand auf, öffnete die Tür und rief die Kinder. Eine Schar von vier Kindern unter sechs Jahren kam herbeigestürmt, um dann verlegen im Türrahmen stehen zu bleiben. Kaum aber hatte eins von ihnen Bernhard erkannt, als es jubelnd auf ihn zuflog. Nun fassten sich auch die andern ein Herz und folgten. Das kleinste, ein etwa anderthalbjähriger Junge, wackelte tolpatschig hinterdrein.
„Die vier großen sind wohl noch in der Schule?", fragte Bernhard. Nun wurde gefragt und erzählt. Zutraulich scharten sich die Kinder um Bernhard. Nach einer Weile begehrten sie in den Garten zurück. Wir gingen mit ihnen. Der Garten erstreckte sich hinter dem Hause etwa dreißig Meter tief. Er trug nicht den Charakter unserer Ziergärten. Ein paar Blumenbeete brachten bunte Farben hinein; das übrige war Nutzland. Eine Anzahl solcher Gärten, untereinander nicht durch Zäune getrennt, bildete eine Einheit.
Die Kinder nahmen ihr Spiel in einer Laube nahe dem Haus wieder auf, indes ein etwa achtzehnjähriges Mädchen im Garten arbeitete und von fern auf sie acht hatte. Es dauerte nicht lange, so kniete Eva mitten zwischen ihnen und spielte mit ihnen, als habe sie selber die Kinderschuhe noch nicht vertreten. Auch Bernhard wurde in ihr Treiben hineingezogen.
„Habt ihr den Ziegen schon Trinkwasser gebracht, Kinder?" fragte Eva nach einer Weile. Sie hatten es vergessen.
„Wem war es aufgetragen?" Ein etwa fünfjähriges Mädchen meldete sich verlegen.
„Dann werde ich es morgen wohl einem andern auftragen müssen?" fragte Eva ohne Schärfe. Dem Kinde traten die Tränen in die Augen.
„Möchtest du gern dein Amt behalten?"
Es nickte.
„Also bleibt es dabei. Und morgen, wenn du in deinen
Apfel beißt, dann denkst du an die Ziegen, die auch ihren Durst stillen wollen, nicht wahr?"
Das Kind nickte ernsthaft.
Wir ließen die Kinder bei ihrem Spiel und gingen ein wenig im Garten auf und ab.
„Das ältere der beiden Pflegekinder scheint ein Prachtkerl zu sein", sagte Bernhard. „Wo ist er her?"
„Es ist der Sohn meiner Freundin Anna. Du weißt, dass sie als Ärztin tätig ist. Es ist ihr einziges Kind aus der Ehe mit ihrem verstorbenen Gatten. Sie ist glücklich, es tagsüber bei mir zu wissen, während sie ihrem Beruf nachgeht."
„Und das andere?"
„Es wurde mir von der Fürsorge zugewiesen. Es hat schwere Schicksale hinter sich. Man muss mit viel Liebe und Geduld, aber auch mit konsequenter Festigkeit versuchen, es wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ein Psychiater beobachtet es regelmäßig und berät mich bei seiner Behandlung."
„Und wie geht es mit Arnold?"
Ein Schatten flog über das glückliche Antlitz der Frau. „Er ist schwieriger denn je."

*

„Ich muss jetzt an meine Arbeit gehen", sagte Eva, nachdem wir im Garten einige Früchte geschmaust hatten. „Macht's euch bequem, wo ihr wollt. Um zwei Uhr ist Tischzeit." Bernhard und ich kehrten ins Haus zurück.
„Ich bin erstaunt", begann ich, „im Reiche der Freiheit die Familie als Stätte der Kindererziehung wieder zu finden. Sie schien zu meiner Zeit in der Auflösung begriffen. Viele erwarteten ihre völlige Zersetzung. Wir als Arbeiter bekämpften sie zudem als Brutstätte des Klassenegoismus. Er feierte hier seine Triumphe."
„Das war in einer Klassengesellschaft unvermeidlich. Und zwar um so mehr, je unhaltbarer die Klassengesellschaft wurde. So lange an ihrem Bestand noch nicht gerüttelt war, da konnte noch — wenn auch in festen Grenzen — ein un-
befangener Geist walten. Nachdem aber einmal der Kampf um die Existenz der besitzenden Klasse entbrannt war, musste die Familie zur engen Klassenzelle zusammenschrumpfen."
„Das schlimmste war, dass die Oberschicht der Arbeiterschaft, die doch klassenmäßig anders bestimmt war, denselben Weg ging. Durch ihr Streben nach kleinbürgerlichem Wohlstand verfiel sie in diesen Dingen — wie in so vielen andern — dem Geist des Bürgertums. Der ausgesogene Prolet aber — er hatte ja überhaupt kein Familienleben mehr. Er zählte sozusagen nicht mit."
„Du wirst verstehen, dass mit der Aufhebung der Klassengegensätze auch die Herabwürdigung der Familie zur Brutstätte von engstirnigen Klassenmenschen aufhören musste. Je stärker die Bedeutung der Klassengegensätze war, um so stärker musste sich ihre Aufhebung auf die Familie auswirken. Auf dem andersartigen Boden der großen gesellschaftlichen Ordnung musste auch diese kleinste gesellschaftliche Zelle einen andersartigen Charakter gewinnen."
„Ich verstehe und sehe ein, dass damit einer unserer stärksten Gründe gegen die Familie hinfällig geworden ist."
„Andererseits spricht das Grundprinzip unseres heutigen gesellschaftlichen Systems für sie. Es besteht, wie du gestern sahst, überall in dem Gleichgewicht — oder, wenn du willst, in der Spannung von Zelle und Großorganisation."
„Aber dann erheben sich tausend Fragen, Bernhard!"
„So frage!"
„Wie steht es mit der Unterhaltungspflicht gegenüber den Kindern. Wem liegt sie ob? den Eltern oder dem Staat?"
„Beiden!"
„Wie das?"
„Der Arbeitslohn ist für alle Berufe so geregelt, dass die Eltern einen Teil der Erziehungslast selbst tragen können. Doch schon vom ersten Kind an gewährt der Staat Beihilfen. Vom vierten Kind an bestreitet er die Kosten der Erziehung ganz. Den Eltern steht es frei, ob sie die Kinder
bei sich behalten oder in öffentlichen Anstalten erziehen lassen wollen. Die Kosten sind in beiden Fällen für die Eltern die gleichen, wofern sie zu Haus die Kinder auf dem gleichen Lebensniveau halten, wie in den Anstalten."
„Warum habt ihr nicht einfach dem Staat die ganze Versorgungspflicht auferlegt?"
„Die Sorge für die eigene Nachkommenschaft ist einer der stärksten Motoren des menschlichen Handelns. Ihn ganz auszuschalten, heißt die Gesamtheit einer ihrer wirksamsten Triebfedern berauben. Mein Freund" — und sein Ton steigerte sich — „ich höre schon deinen Einwand! Ja! Du hast recht! Auch das ist gefährlich! Es öffnet dem Familienegoismus, wenn auch nicht dem klassenmäßigen, wieder eine Hintertür! Es besteht die Möglichkeit, dass die Kinder der Verantwortlichen einige Vorteile haben. Zwar sind diese Vorteile eng begrenzt. Sie werden durch Sitte und Moral verpönt. Trotzdem — sie sind da! Du kennst meine Antwort! Willst du sicher und gefahrlos wohnen, so musst du das Reich der Freiheit meiden!!!-------"
„Gleichwohl muss ich sofort wieder auf eine große Gefahr hinweisen. Euer System der Finanzierung birgt die Gefahr einer sinnlosen' Übervölkerung!"
„Das tut es. Und diese Gefahr dürfen wir nicht aus dem Auge verlieren! Wir gestatten nicht jedem sich fortzupflanzen, sondern nur den Gesunden. Auch ist die Zahl der Kinder, deren Unterhalt der Staat ganz bestreitet, nicht endgültig festgesetzt. Kommen die verantwortlichen Bevölkerungspolitiker zu der Einsicht, dass die Gefahr der Übervölkerung droht, so wird die Zahl der von den Eltern zu versorgenden Kinder heraufgesetzt. Kommen sie zu der entgegengesetzten Einsicht, so wird sie heruntergesetzt."

„Was aber tut ihr, um zu verhüten, dass die Familie sich trotz der Aufhebung der Klassengegensätze nicht doch wieder abkapselt und zu einer Selbstversicherungsanstalt der Einflussreichen wird?"
„Du hast am hiesigen Hause ein Beispiel dafür. Frau
Eva ist eine mütterliche Natur. Mutter sein und leben ist eins für sie. Dass sie ihre Kinder selbst erziehen würde, war ihr selbstverständlich. Dann aber verlangt der Staat von ihr, dass sie auch anderen Kindern, deren Mütter irgendwie verhindert sind, eine Mutter sei. Du sahst die beiden kleinen Pflegekinder. Sie betreut noch ein größeres — außerdem einen Sohn ihres Mannes aus einem früheren Verhältnis. Das sind mit ihren vier eigenen Kindern acht Kinder, die sie zu erziehen hat. Du wirst einsehen: Diese Familie ist kein Puppenidyll mit süßlicher Verzärtelung des „Einzigen" oder der beiden Einzigen. Ihr Rahmen ist weit gespannt! Sie ist nicht kleiner, als eine Gruppe in der öffentlichen Anstalt. Sie stellt starke Anforderungen an die Frau, körperliche und geistige! Sie ist keine Brutstätte für den engen Familienegoismus alten Stils."
„Das ist wahr! Aber die Zusammenerziehung verschiedener Kinder hat doch auch ihre Bedenken! Die Mutter wird ihre eigenen Kinder bevorzugen."
„Natürlich besteht die Gefahr! Ja, noch mehr! Die Mutter wird normaler Weise nie die fremden Kinder so tief beeinflussen wie die eigenen."
„Na also!"
„Hat denn die Fremde in der Anstalt die natürlichen Bindungen der Mutter an ihre Pfleglinge?"
„Nein."
„Und gibt es für den Erzieher unter seinen Zöglingen keine Lieblinge? — —"
„Kommen wir auf die Frage zurück", sagte ich, „wie der Vereinigung der Familie zu einer Brutstätte des engsten Gruppenegoismus vorgebeugt wird. Wie wollt ihr verhindern, dass die Mutter sich wieder ganz an ihre — wenn auch vergrößerte — Familie verliert und nicht mehr fähig ist, den Blick auf das große Ganze zu richten?"
„Unser ganzes Gesellschaftssystem beugt dem vor! Wie du weißt, beruht es auf dem Ineinander von Autonomie der Zelle und zentraler Regelung. Die Zelle ist nie isoliert! Wie das Ganze sich auf ihr aufbaut, so lebt sie selbst im
Ganzen! Es besteht ein ausgebautes System des Zusammenwirkens der Familien im öffentlichen Interesse. Schon räumlich sind sie, wie du siehst, nicht isoliert. Ein Einfamilienhaus ist keine Villa alten Stils. Die Gärten eines Häuserkomplexes gehen ineinander. Auch haben sie eine Anzahl gemeinsamer Einrichtungen, Lesezimmer, Vortragssäle und andere. Und wie die Familie räumlich nur die Zelle einer größeren Einheit ist, so auch geistig. Die Familien sind durch ein reichgegliedertes System von Elternabenden, Beratungs und Kontrollstellen zu großen Selbstverwaltungskörpern des Erziehungswesens zusammengeschlossen. Vorn Staat wird dieses System zwar grundsätzlich gefordert, aber nicht im einzelnen aufgezogen. Außerdem fordert der Staat von jeder Familienmutter ein Stück nebenberuflicher Arbeit. Meist übernimmt sie Fürsorgetätigkeit. Doch kann sie ihren Beruf frei wählen. So ordnen sich die Erziehungszellen sinnvoll zum Ganzen der sozialisierten Gesellschaft zusammen. Man lässt sie bestehen, um die starken, in ihnen wirkenden Kräfte zur Hebung zu bringen. Zugleich empfängt die Zelle vom Ganzen Richtung und Ziel."
„Aber das eine verstehe ich noch nicht. Wo nimmt die Frau Kraft und Zeit her, um die verschiedenartigen Aufgaben zu bewältigen?"
„Du denkst noch an den alten unpraktischen Haushalt aus der Vorgeschichte der Menschheit! Der moderne Haushalt ist so vereinfacht, dass die erforderliche Arbeit sich auf einen Bruchteil der früheren verringert hat."

„Wie aber ist die Anstalt organisiert?"
„Sie gleicht äußerlich häufig einem Komplex von Einfamilienhäusern. Doch wir kennen nicht nur den einen Typus. Wir haben auch Erziehungsanstalten, die als große einheitliche Bauten ihre besondere architektonische Schönheit haben."
„Welche Form magst du lieber?"
„Die erste, weil sie im Bauwerk das Grundprinzip unseres gesellschaftlichen Lebens: Das Ganze eine Einheit aus
autonomen Zellen — sichtbar verkörpert. Der große Zentralbau war dem älteren, zentralistischen System gemäß."
„Im Vergleich zur Familienerziehung ist die Anstaltserziehung zweifellos zentralistischer?"
„Natürlich. Wiewohl wir die Anstaltserziehung in kleinen Gruppen von Knaben und Mädchen organisieren."
„Damit begannen die fortschrittlichen Anstalten schon zu meiner Zeit."
„Aber mancherlei Einrichtungen, Speiseanstalten, Turnhallen und andere sind im Großen für den ganzen Kreis der Beteiligten aufgebaut."
„Nun aber die Resultate! Habt ihr irgend eine Handhabe, um die Ergebnisse der häuslichen und der Anstaltserziehung vergleichen zu können?"
„Gewiss. Wir scheuen keinen Aufwand, um alle Fragen, die das Wohl und Wehe der Menschen betreffen, mit allen Mitteln der Wissenschaft zu klären! Die wissenschaftlichen Beobachtungen haben überraschende Tatsachen festgestellt."
„Nämlich?"
„Die Anstaltserziehung verbürgt ein gutes Durchschnittsergebnis. Im Ganzen unseres gesellschaftlichen Lebens erfüllen die ehemaligen Anstaltszöglinge diejenigen Aufgaben, die ebenmäßig entwickelte Kräfte, aber keine allzustarken Kräfte, insbesondere keine allzustarken seelischen Kräfte erfordern."
„Wie erklärt man das?"
„Die Anstalt hat bestimmte Vorzüge. Sie ist normaler. Sie hat die festeren Formen. Sie hat die fortlaufende Tradition, die Routine, die stärkere Kontrolle, die stärkere Berührung mit der Öffentlichkeit. Es ist auch leichter, neue Erkenntnisse, Erfahrungen für die größeren, öffentlichen Kreise fruchtbar zu machen, als für die von halb privatem Charakter. Ferner gewährleistet die Anstalt sicherer die Einordnung ihrer Zöglinge in den großen sozialen Kreis. Der einzelne fühlt sich stärker einem großen gesellschaftlichen Ganzen verbunden."
„Das bedeutet einen großen Vorzug!"
„Freilich! Aber andererseits fehlen den Menschen der anstalt, den Erziehern wie den Kindern, die besonderen Bindungen, die sich aus der Gemeinsamkeit des Blutes ergeben."
„Vorurteil!"
„Sagte man so in eurem Zeitalter? Wir sehen diese Dinge anders. Wir wissen heute, dass der natürliche Lebensvorgang kein ,Vorurteil', sondern eine Tatsache ist. Der bürgerlich-rationalistische Geist deiner Epoche mag das verkannt haben. Das Verhältnis von Vater, Mutter und Kindern ist eben ein Besonderes — eine Einmaligkeit! Ebenso empfängt das Kind aus dem Miterleben der elterlichen Ehe Eindrücke tiefster Art. Auch lässt sich in der Anstalt nicht das natürliche Zusammenwirken beider Geschlechter als Erzieher herstellen, wie in der Familie. Zwar hat jede anstaltsgruppe einen Leiter oder eine Leiterin. Aber — ob weiblich, ob männlich — es fehlt den Leitern einer Gruppe der Gegenspieler des anderen Geschlechts. Meist wird die Anstaltsgruppe von einer Frau geleitet. Dann fehlt einer solchen Gruppe der Vater. Wir haben versucht, ihn zu ersetzen, indem wir einen beruflichen Erzieher für eine größere Anzahl von frauengeleiteten Gruppen einsetzten und umgekehrt. Es bleibt Ersatz. Denn auch der beste vollamtliche Erzieher kann für fünfzig Kinder nicht das sein, was der Familienvater für acht. Diese Dinge haben nicht den rechenhaften Charakter, den man ihnen früher zuschrieb."
„Und das Ergebnis der Familienerziehung?"
„Sie weist die größeren Schwankungen auf. Doch hat man festgestellt, dass unter den Verantwortlichen ein unverhältnismäßig großer Prozentsatz der häuslichen Erziehung entstammt.
„Worauf führt ihr das zurück?"
„Auf viele Gründe. Vor allem auf jene leib-seelische Verbundenheit von Eltern und Kindern. Sie ist kein Vorurteil — so wenig wie Geburt oder Tod. Darum erfasst durchschnittlich die Familienerziehung den Menschen stärker in Freud und Leid, in Wohl und Wehe. Auch stellt die heutige Familie eine natürliche Auslese der mütterlichen
Frauen dar, die körperlich und seelisch für die Mutteraufgabe besonders veranlagt sind. Denn eine solche Frau wird besonders stark den Drang nach eigenen Kindern haben."
„Aber solche Frauen können doch mitsamt ihren Kindern in die Anstalt gehen, um sich dort auszuwirken!"
„Und der Gatte, der Vater? —"
Der Einwand setzte mich in Verlegenheit. Ich fragte daher weiter: „Aber die Familienerziehung wird selbst im Reich der Freiheit ihre Nachteile haben!"
„Du beginnst die Dialektik der Dinge zu begreifen, die im Reich der Freiheit herrscht!! — — — Die Familienerziehung kommt öfters als die Anstaltserziehung zu schweren Fehlschlägen. Es bleibt auch uns nicht erspart, dass der hochgemut unternommene Versuch, die eigenen Kinder zu erziehen, an dem Gegensatz der Charaktere kläglich scheitert. Und da auch im Reich der Freiheit die goldene Mittelstraße für viele Menschen besondere anziehungskraft hat, so geben viele Eltern ihre Kinder lieber in die Anstalten."
„Wo ist die Mehrzahl der Kinder?"
„In der Familie!"
„Haben sie überall, in der Familie wie in der Anstalt, den gleichen gesunden Nährboden des eigenen Stückes Land?"
„Überall! Wir lassen kein Kind mehr auf der Etage und dem Asphalt aufwachsen!! Auch die Erwachsenen verdammen wir nicht zu solchem Dasein. Wir stellen grundsätzlich für je zehn Menschen etwa ein Viertel Hektar Land als Gartenland zur Verfügung. Das sind einige Prozent unserer landwirtschaftlich bebaubaren Fläche. Selbstverständlich sind die Gärten keine Ziergärten. Kinder und Erwachsene müssen darin arbeiten."
„Rentieren sich die Gärten voll?"
„Nein! Sie werden zwar nach rationellen Methoden bewirtschaftet. Die Kinder lernen gerade am Garten die Achtung vor den Notwendigkeiten der Wirtschaft. Aber wir können auf diesem Gelände nicht die hohen Erträge
erzielen, die der rationelle Gartenbau erzielt. Einige Prozent unserer bebaubaren Fläche werden mithin nicht voll ausgenutzt. Das ist ein großer Aufwand. Aber es ist ein Aufwand, der sich lohnt!"

Die Mittagstunde nahte heran. Die vier größeren Kinder kamen aus der Schule. Drei von ihnen standen im Alter von sieben bis zwölf Jahren, darunter zwei Mädchen, an der Ähnlichkeit des Gesichts und der Gestalt als Kinder unserer Wirtin kenntlich. Das dritte trug einen fremdartigen Charakter. Es war ein Waisenkind, dessen Erziehung in der Anstalt nicht hatte glücken wollen. Froh und vertrauensvoll gesellten sich die drei Kinder zu uns. Zwei von ihnen hatten den Mittagstisch auf dem Platz vor dem Hause zu richten.
Anders ein größerer Knabe, der im fünfzehnten Lebensjahre stehen mochte. Er war von auffallender Schönheit. Weitgeöffnete braune Augen standen unter einer hohen schmalen Stirn. Lebensfülle atmete der volle Mund mit den aufgeworfenen Lippen. Freilich wies das Antlitz in seinem formbaren unteren Teil Spuren beginnender Fehlbildung auf. In den Mundwinkeln lag ein asozialer Zug von Trotz und Hochmut. Auch zeigte die Rundung des Kinns jene verhängnisvolle weiche Linie, die beim Manne den Mangel an Kraft zur Beherrschung des Lebens andeutet. Arnold — so nannten ihn die andern — begrüßte uns flüchtig. An Eva sah er vorbei. Dann gesellte er sich zu den Kleinsten. Hier war er offenbar ein geschätzter Spielkamerad. Sie stürzten sich voller Freude auf ihn, um ihn in ihre Spiele zu ziehen.
Nun wurde das Kommen des Vaters von den Kindern gemeldet. Ich hatte den Gesprächen entnommen, dass er als Arbeiter in einer Maschinenfabrik der Nachbarschaft tätig war. Ich war gespannt, ihn kennen zu lernen. Denn meine bisherigen Berührungen mit dem Arbeiter in dieser so andersartigen Gesellschaft waren nur flüchtig gewesen.
Ein hoher, kräftig gebauter, magerer Mann trat ein.
Gleich auf den ersten Blick erfasste mich freudige Gewissheit: Ja! Das war der Genosse von der Werkbank, wie ich ihn kannte! Seine Züge, seine Haltung, seine stark ausgearbeiteten Hände, sein schwerer Tritt — das alles sprach zu mir in alter, vertrauter Weise. Er war kein „Herr" geworden. Kein „Feiner". Kein Nachtreter fremder Lebensformen!! Doch als er mir freundlich die Hand bot und ich ihm näher ins Antlitz schaute, da ward ich inne, dass ich doch nicht mehr den Arbeiter meiner Tage vor mir sah. Vertieft waren die Züge und vergeistigt. Reicher entfaltet erschien die ganze Persönlichkeit, ohne den Charakter des Werktätigen abgestreift zu haben. Es war, als sei der alte Kamerad jetzt erst zu vollem Menschentum erwacht. Auffällig war seine Ähnlichkeit mit dem größeren Knaben. Nur, dass statt der trotzigen Linie eine unendliche Güte auf seinem Antlitz lag, gepaart mit den Spuren schwerer seelischer Kämpfe. Bernhards Lehre von dem Sowohl—Als auch des Lebens fiel mir ein. Ob er zu denen gehörte, die diese Spannung nur unter Einsatz letzter innerer Kräfte bewältigen?
Wir setzten uns zu Tisch. Die Mahlzeit hatte nichts von dem Zwang, der zu meiner Zeit in vielen Familien der so genannten höheren Gesellschaft vorhanden war. Aber sie verlief auch nicht in jener Formlosigkeit, wie sie für die Arbeiterfamilie nach dem Zerfall der alten bäuerlichen Lebensformen zur Regel geworden war. Sie hatte Anfang und geregelten Verlauf. Gegenseitige Hilfe gab ihr das Gepräge. Behänd wussten die älteren Kinder die jüngeren Geschwister zu versorgen. Die Mutter leitete das Ganze in ruhiger Sicherheit. Doch war nicht sie der Mittelpunkt des Kreises, sondern der Vater. Jedes der Kinder hatte ihm einen Sack voll Erlebnisse zu erzählen. Mit warmem Verständnis ward er jedem gerecht. Arnold schwieg auch jetzt. Der besorgte Blick des Vaters streifte ihn mehrere Male.
Unsere Mahlzeit war beinahe beendet, als ein Zwischenfall den Frieden jählings zerstörte. Eine Frau von etwa vierzig Jahren drang mit hastigen Schritten in den Garten
vor. Ich sah, wie Eva erblasste. Karl, der Hausvater, sprang auf und eilte ihr entgegen, um sie ins Haus zu ziehen. Sie schob ihn beiseite. Dann stürzte sie sich auf Arnold und schloss ihre vollen Arme in wirrer Leidenschaft um seinen Nacken. Unbeherrschte Gluten von Liebe und Hass sprühten aus ihren stahlblauen Augen mit der darüberstehenden finstern Falte. Während sie das Kind zärtlich umschlungen hielt, überschüttete sie Eva mit einer Flut von Vorwürfen. Sie fassten sich in das eine Wort zusammen: Stiefmutter! Tränen stürzten aus Evas Augen. Sie stand auf und ging ins Haus. Jetzt griff Bernhard ein. Mit ruhiger Bestimmtheit löste er die Arme der aufgeregten Frau von dem Nacken des Knaben und führte sie zum Hause. Schweren, mühsamen Schrittes folgte ihnen Karl. Ein Ausdruck unsäglicher Qual lag auf seinen Zügen.
Nach einer Weile sah ich, wie die Fremde, auf Karl gestützt, das Haus verließ. Es dauerte lange, bis Bernhard wiederkam. Die Spuren einer heftigen Erregung lagen auf seinen sonst so ruhigen Zügen. Ich ahnte den Zusammenhang des Erlebten; aber ich wagte nicht, danach zu fragen. Seine Erregung schien jedoch der Mitteilung zu bedürfen. Er forderte mich zu einem Gang durch die Wohnstadt Straßburg auf. Ich folgte gern.

„Es ist fürchterlich", grollte er mehr zu sich, als zu mir, nachdem wir eine Weile schweigend nebeneinander gegangen waren. „Der Junge geht daran zugrunde und Eva bezahlt diese Kämpfe mit ihrem Herzblut." Mit großen Schritten stürmte er weiter durch die schönen Anlagen, ohne sie eines Blickes zu würdigen. Plötzlich blieb er stehen.
„Wie habt ihr denn den Konflikt des unehelichen Kindes und seiner Mutter zu lösen gesucht?"
„Wir?? zu lösen versucht?? Wir haben das überhaupt nicht versucht!"
„Was??? Was wurde denn aus den Kindern?"
„Man ließ sie in den Familien als mindergeachtete Glieder aufwachsen. Oder man stieß sie als Ziehkinder in irgend
einen Winkel. Mochten sie da aufwachsen, wie sie wollten. — Oder man drehte ihnen, ehe sie zur Welt kamen, im Mutterleibe den Hals ab."
„Entsetzlich!"
„Das war eine beliebte Praxis bei uns. Immerhin — in den Familien der Bauern und Arbeiter ist manch ein vaterloses Kind nicht schlecht versorgt gewesen. Im ganzen gesehen wurden alle diese Dinge in einem Wust von Verlogenheiten erstickt."
Wir traten aus den Wohnkomplexen ins Freie. Vor uns lag der Rhein.
„Laß uns noch ein Stück in die Ebene gehen", sagte Bernhard. Wir folgten dem Zuge der Straße über eine kühn geschwungene Brücke. „Die Heimlichtuerei", nahm Bernhard unser Gespräch wieder auf, „kennen wir nicht mehr. Freilich ist auch hier die doppelte Linie da. Denn die Scheu des Menschen, sein Liebesleben vor den Augen der Neugierigen zu verhüllen, ist ein tiefgründiger und schöner Zug der menschlichen Natur. Wir möchten ihn nicht missen. Aber die Sache selbst ist im Reiche der Freiheit schwerer denn irgendwo! Sieh hier diese unheilvollen Verhältnisse! Du hast Arnold kennen gelernt — und seine Mutter. Mit ihr hat Karl längere Zeit gelebt. Arnold ist ein reich veranlagter Knabe!
Sein Vater, dieser ... dieser ... sentimentale......"
„Aber Bernhard!!" Ich kannte meinen gütigen Führer nicht wieder. „Der Mann ist nicht sentimental!!"
Er kämpfte sichtlich mit sich selbst. „Du hast recht! Ich bin ungerecht gegen ihn ... Aber lassen wir das. Karl will sich von seinem Sohn nicht trennen. Er behält ihn trotz dieser wirren Verhältnisse bei sich. Es wäre ja auch alles tragbar und Eva würde dem Knaben die beste Mutter von der Welt sein, wenn Karl wenigstens Manns genug wäre, Arnolds Mutter fernzuhalten. Du hast sie kennen gelernt — eine Frau von hemmungsloser Leidenschaft. In der törichtsten Weise mischt sie sich in die Erziehung!!" „So soll sie doch das Kind nehmen!!" „Das will sie nicht. Man kann es auch für den Knaben
nun und nimmer wünschen. Aber die getroffene Regelung bleibt für alle Beteiligten eine Quelle ständiger Kämpfe und Aufregungen. Zwar ereignen sich nur selten Auftritte wie der Heutige. Es lag ein besonderer Anlass vor. Aber auf alle Fälle steht das Kind zwischen zwei, ja drei Einflüssen."
„Und wie reagiert Arnold darauf?"
„Im Grunde genommen hat Eva den stärksten Einfluss auf ihn. Es ist vorgekommen, dass er sich ihr weinend an den Hals warf. Sie sei die einzige, die ihn lieb habe und zu der er Vertrauen habe. Dem Vater gegenüber gewinnt er keine feste Linie, so lieb er ihn auch hat. Auch sein Verhältnis zur leiblichen Mutter ist zwiespältig. Ihre so ähnlichen Temperamente stoßen sich mehr ab, als dass sie sich anziehen. Gleichwohl benutzt er sie als Vorspann, wenn es daheim Konflikte gibt, wie sie in keiner Erziehung ausbleiben können."
„Aber daran muss ja dieser prachtvolle Junge Schaden nehmen!! Warum tut man ihn denn nicht in eine Anstalt?!"
„Man kann den leiblichen Eltern das Kind nicht einfach fortnehmen, wenn sie sich nicht eigentliche Verfehlungen zu Schulden kommen lassen. Und dann — was wäre gewonnen? Die heutige Szene würde vielleicht vermieden werden. Aber im übrigen würde die Mutter ihren Einfluss gegen die Anstaltserziehung genau so spielen lassen, wie gegen die Familienerziehung."
„Dann sollte man wenigstens der leiblichen Mutter den Zutritt zu Karls Hause verbieten."
„Du verstehst, dass das im Reich der Freiheit nicht so einfach ist. Karl könnte es tun. Er bringt es nicht übers Herz."
Ich vermochte nichts zu erwidern. Was waren das für unglückselige Verkettungen. „Kommen häufiger derartige Konflikte in dem Leben der unehelichen Kinder vor?" fragte ich endlich.
„Freilich! — — Solche Erfahrungen, Freund, haben unser Gewissen geschärft. Sie haben uns die Verantwortung,
die auf der Zeugung des außerehelichen Kindes liegt, doppelt fühlbar gemacht."
„Sie sind auch für mich erschütternd. Wir hofften, dass sich nach dem Fortfall der Klassenschranken das Leben der Geschlechter in goldener Freiheit von selbst regeln werde!" „In gewissem Sinne ist das richtig. Die Beseitigung veralteter Rechtssatzungen und Sitten hat vieles gesunden lassen. Es treibt keine Frau mehr ihr Kind ab aus Angst vor der gesellschaftlichen Ächtung. Es bekennt auch der Mann ohne Scheu sich zu dem Geschehenen. Und die Gesellschaft verpönt nicht die uneheliche Mutter und ihr Kind. Sie wendet vielmehr doppelte Sorgfalt auf diese Kinder, denen oft schon die rechte vorgeburtliche Erziehung fehlt. Aber gerade die Freiheitlichkeit der gesellschaftlichen Institutionen hat das Wesentliche der Dinge klarer offenbart, als es in der lieblosen und verlogenen Gesellschaftsordnung des Kapitalismus möglich war."
„Kommt ihr dann schließlich doch auf den alten Familienrummel zurück?!"
„Wie du mich missverstehst! Auch ohne die Verzerrung menschlicher Verhältnisse, wie die Klassengesellschaft sie erzeugt hatte, bleibt es eine ernste Verantwortung, ein Kind zu zeugen, ohne ihm die Stätte bereitet zu haben, in der es gedeihen kann. Ich meine nicht die äußere Stätte. Ich meine nicht das bürgerliche Familiennest. Sondern ich meine die Einheit zweier verantwortlicher Menschen, die für ein drittes Vater und Mutter sind und sein wollen. Kann dann ein Elternpaar unter dem Zwang besonderer äußerer Verhältnisse das Kind nicht persönlich aufziehen — es ist doch die unzerspaltene Einheit der elterlichen Liebe und Fürsorge da, jener Nährboden der kindlichen Seele, ja selbst der leiblichen Wohlfahrt des Kindes, für den es keinen Ersatz gibt." „Bernhard, — darin liegt die Forderung der Einehe!"
„In letzter Konsequenz — ja.------------"
„Ich hatte mir das Verhältnis der Geschlechter im Reich der Freiheit leicht und frei gedacht!!"
„Das Handeln unter eigener Verantwortung — die Freiheit — ist nie leicht — Freund!"
Wir hatten einen Bogen durch die Ebene beschrieben und näherten uns wieder dem Rhein.
„Laß uns hier ein wenig verweilen", sagte Bernhard. „Du siehst jenen Hügel mit der runden Bank. Dort wollen wir rasten. Vom Hause unserer Freunde sind wir nicht mehr fern."
Wir stiegen zur Anhöhe hinauf. So niedrig sie war, so bot sie doch inmitten des flachen Geländes einen meilenweiten Ausblick. In hehrer Unendlichkeit lag die sonnendurchglühte, fruchtbare Ebene vor uns. Lange schauten wir in die Landschaft hinaus.
„Du würdest meine Feindschaft gegen jenen Heuchelpakt, Ehe genannt, verstehen", sagte ich endlich, „wenn du durch meine Zeit gegangen wärst! Ekelhaft war es, was alles unter dem Namen der Ehe verübt wurde — geweiht und gesegnet von den Pfaffen!"
„Ich kann eure Verhältnisse nur in ihren allgemeinen soziologischen Zusammenhängen erkennen", erwiderte Bernhard. „Ihr erlebtet die Zersetzung jener alten Ehe, die das Bauerntum geprägt, die das Bürgertum übernommen hatte. Im Zeitalter des höchstgesteigerten Kapitalismus musste diese gesellschaftliche Bildung — wie alle anderen
— in Frage gestellt sein. Neue Formen für das Verhältnis der Geschlechter aber konnten noch nicht gefunden werden. So muss eure Lage unheilvoll gewesen sein."
Ich dachte an alles, was wir im Kreise der Genossen in diesen Jahren durchlebt hatten. Ich dachte an die Fabrik
— an das Kino------------
„Erzähle, was auf unsere Zeit folgte, Bernhard!" „Eure Kämpfe waren nicht umsonst. Die Dinge trieben zu einer Katastrophe. Die Lebenssubstanz der europäischen Menschheit schien der Auflösung verfallen. Das brachte die Wendung!" „Erzähle!!!"

„Weißt du, dass die Zahl der Geburten nach dem großen Kriege rapid zu sinken begann?"
„Ja. Wir sahen darin das Heil des Proletariats. Nun wurde es endlich aus dem Naturdasein erlöst, in dem es mitsamt seiner Nachkommenschaft verelendete."
„So war es! Doch wenn ihr nur diese eine Wirkung saht, so saht ihr die Sache nur halb! Die Zahl der Geburten sank schnell so tief, das alljährlich mehr Menschen starben, als geboren wurden. Der Untergang des europäischen Kulturkreises drohte wie ein unabwendbares Verhängnis. Es war die letzte Zeit des Neofeudalismus. An dem Ruin des Bevölkerungsnachwuchses wurde der Bankrott des Systems offenbar. Der Kapitalismus zerstörte in dieser Phase die stärkste und unentbehrlichste Produktivkraft, den Menschen selbst, indem er eine gesunde Ordnung seiner Fortpflanzung unmöglich machte. Gegenüber diesen Tatsachen hörte alle Verschleierung auf. Die Verzweiflung des Einzelnen, dessen Geschlechtsleben allen Sinn verloren hatte, wetteiferte mit der Verzweiflung des Ganzen, das seinen Ruin vor der Tür sah. Die Menschheit fühlte, dass dieses System alles in den Abgrund riss. In jener Situation trat eine schwere Erschütterung der europäischen Gesellschaft ein: der Einbruch asiatischer Völkermassen in Europa. Es ging ums letzte, um das nackte Leben der europäischen Kulturnationen. Da brach das überlebte kapitalistische System zusammen wie die preußisch-deutsche Monarchie im November 1918. Mitten in den Nöten eines elementaren Existenzkampfes wurde die Organisation der kapitalistischen Völker umgestellt, wie Frankreich sich nach Sedan umstellte, oder Russland 1917. Der Abwehrkampf wurde bestanden, das neue System befestigt. Zwar war es nicht der letzte Kampf gegen den Kapitalismus, wohl aber die entscheidende Wendung!! — — Neuland tat sich vor der Menschheit auf!! Neuland auch für das Leben der Geschlechter! Aus der Not des doppelten Todes durch Feindeshand und inneren Verfall kehrten sie zu den Quellen des Lebens zurück. Grausend hatten sie vor ihrer Vernichtung
gestanden. In letzter Stunde waren sie zurückgerissen. Wie soll ich dir schildern, was ihre Herzen erfasste? Triumph war es nicht. Zu schaurig war der Abgrund gewesen, in den sie geblickt hatten. Sie hielten das Leben wieder in den Händen wie eine Gnade. Sie fühlten sich ihm verbunden in allen seinen Weisen, im Tier, im Baum, in der Liebe zu Mann und Frau, im Kind, im Volk, in der Menschheit, im All. Ehrfurcht kehrte wieder im Gemüt der Menschen ein, Ehrfurcht vor dem geheimnisvollen Weben alles Lebendigen. Und alle Quellen der Liebe, scheinbar verschüttet und versiegt in dem fluchwürdigen alten System — sie brachen mit voller Kraft wieder auf!" — — — —
„Aber auf die Rationalisierung des Geschlechtslebens habt ihr nicht verzichtet, nicht wahr?"
„Keineswegs! Wir haben sie vielmehr aufs Äußerste vorwärts getrieben! Doch wir handhaben sie anders, als das kapitalistische Zeitalter. Wir haben — verstandesmäßig gesehen — die engen Grenzen erkannt, die uns für die Regulierung der Fortpflanzung gezogen sind. In diesen Grenzen bedienen wir uns eines Systems technischer Maßnahmen zur Regulierung des Naturvorganges. Unsere Grundhaltung aber ist diese: Die zeugnerische Kraft des Geschlechtsaktes ist uns heilig."
Sein Blick verlor sich in die Herrlichkeit des prangenden
Lebens vor uns.— —

*

Tiefe Einblicke hatte ich in die Seele dieses Mannes getan. Ob ich noch weiter forschen durfte? — — —
„Bernhard!------------Steht Eva dir nah?"
„Ich liebe sie sehr."
„Ich-------verstehe dich nicht ganz."
„Was ist daran zu verstehen?"
„Immerhin — ihr seid beide verheiratet!"
„Ja — und weiter?!"
Ich fand nicht die Worte, um zu sagen, was ich dachte.
In die weiten Dimensionen dieses Mannes wollten sich meine Worte und Empfindungen nicht einpassen.
„Möchtest du mir einiges über euer Verhältnis sagen?" „Wohl." Er legte die Hände zusammen und schaute zu Boden. „Es war ein junger Lehrer, ein heißblütiger Kerl, seinem Beruf mit aller Kraft seiner Seele ergeben. Er kam an eine öffentliche Erziehungsanstalt. Die Arbeit führte ihn mit einem Mädchen zusammen, das dem Erzieherberuf ebenso hingegeben war, wie er. Von dem ersten Vormittag an, da sie im Kreise der Kinder zusammen arbeiteten, wusste er, dass nur mit dieser Frau sich ihm das Glück der Ehe in seiner ganzen Fülle erschließen würde: Die unlösliche Verbundenheit von Mann zu Weib, die Gemeinschaft zweier, welche ein drittes zeugen wollen, das mehr sei denn sie. Erstaunten Auges nahm eines Tages das Mädchen seine Leidenschaft wahr. Neugierig, bereit zu Liebe und Glück, schaute es in das neue Land, das sich vor seinen Augen auftat. Warum sollte es dieses wundersame Land nicht an der Hand eines trefflichen Kameraden und treuen Freundes betreten? — Sie wurden sich einig. Ein Jahr noch wollten sie warten; es galt erst die gemeinsame Berufsarbeit zu befestigen. — Dann wollten sie eins werden--------eine neue
Zelle des Lebens,-------so hofften sie!"
„Warum vereinigten sie sich nicht, als sie ihrer Liebe gewahr wurden, ohne gleich die Last der Familie auf sich zu nehmen?" „Last??"
„Die Bindung und die Verantwortung bleibt, auch wenn das Materielle erleichtert wird."
„Aber eben in dieser Verantwortung vollendet sich der Mensch! Darum dünkt es uns das Höchste im Geschehen zwischen Mann und Weib, wenn ihre volle Vereinigung den Willen zur elterlichen Verantwortung einschließt. Dieses starke Erleben schmälern sich nur die Schwächeren unter uns, indem sie die genußbetonte Handlung der geringeren Verantwortung vorwegnehmen. Es gibt ihrer genug. Welcher Mahn hätte nicht so gehandelt? — Wir schelten das
nicht. Wir verachten es auch nicht. Niemand legt sich auf die Lauer, das Liebesleben zu beobachten, zu bekritteln. Nur der geringere Rang des Vorgangs ist uns eindeutige Entscheidung."
„Es erstaunt mich, Bernhard, was du sagst!!--------Aber
wie geht deine Geschichte weiter?"
„Ja — — — wie ging sie weiter? Die beiden jungen Menschen besuchten eines Tages eine Ausstellung von Metallarbeiten. Eine Gruppe von Arbeitern, die aus eigenen Mitteln eine kunstgewerbliche Werkstätte unterhielten, hatte sie veranstaltet. Weil der Handarbeiter beruflich mit der Formgebung betraut ist, so findet man bei ihm häufig ein großes Interesse an diesen Dingen und ein natürliches Geschick dazu. Das Mädchen hatte für diese Dinge bisher kein Verständnis gehabt. Eine neue Welt ging ihm auf. Der Leiter der Ausstellung trat zu ihnen. Er zeigte ihnen die Arbeiten. Er erklärte vieles. Mit der Sicherheit des Werktätigen in der Beherrschung von Stoff und Gestalt vereinte er den tiefen Blick des ringenden, kämpfenden Menschen. Und was der junge Lehrer erlebt hatte am ersten Tage ihrer gemeinsamen Arbeit — das erlebte das Mädchen jetzt, als dieser Arbeiter in sein Leben trat: das tiefe, umfassende, eindeutige und einmalige Liebeserlebnis, dessen nur die Starken fähig sind. Und der Mann empfand es nicht anders. Er hatte ein anderes Weib lieb gehabt, er hatte ein Kind mit ihr, aber das Gefühl einer alles umfassenden Liebe war es nicht gewesen. Denn auch der Mann kennt das hohe Glück der einmaligen Liebe und bedarf seiner, wiewohl sein Drang in die Weite geht. — — — — Hier liegt —
— — einer der heillosesten Zirkel des Lebens. — — — — Sie ward sein Weib. Ihre Ehe ist jene seltene Einmaligkeit von höchstem Rang geworden."
„Und der junge Lehrer?"
„Er schnürte sein Bündel und zog in die weite Welt. Verzweifelten Herzens ging er von Rausch zu Rausch. —
— — Endlich führte ihn die Sehnsucht nach eigenen Kindern zu einer Frau, die ihm aus ganzem Herzen ergeben
war. Sie wurden Mann und Weib. — — Freilich — sein Hoffen erfüllte sich nicht — — — die Kinder blieben
aus.------------"
Die Sonne war im Sinken. Rötliche Glut lag auf der Flur.
„Bernhard, wenn ich alles überdenke, so ist es mir, als habt ihr — wenn auch in anderen Dimensionen und mit anderer Betonung — die ganze Stufenfolge der Liebe in Freud und Leid, wie auch wir sie hatten."
„Und wie die Menschheit sie immer haben wird!"--------
„Wir hatten es anders gedacht!!! — — Wir suchten etwas grundsätzlich Neues, eine Befreiung von der Sexualität als einer uns versklavenden Macht."
„Ihr suchtet auch hier das konfliktlose Glück, nicht Emil??"
„Du hast wohl recht"--------------------
„Sieh dieses Land", sagte Bernhard. Seine Stimme war gedämpft. Sein Auge ruhte im Weiten. Es war, als hätte er die Ferne ganz aufgenommen in seinen Blick. „Ist die weite Ebene nicht so nah, so greifbar und doch so sehnsüchtig weit? Und ist es nicht gerade der Widerstreit des Nahen und des Weiten, der unser Herz in Entzücken erbeben lässt? Gerade der Widerstreit, Emil?! — — Und wenn du eine Frau in deinen Armen hälst, so nah, so lebenswarm — und doch ist eure Liebe verwoben in die Fernen der Unendlichkeit, die als Verantwortung sich euch offenbart — und die Ströme aus der Nähe und die Ströme aus der Ferne schlagen brausend gegeneinander, bis sie sich einen zu höherer Einheit------------mein Freund aus fernen Welten, ist das nicht mehr, als das spannungslose Glück des Unmündigen??"
Ich blickte auf zu ihm. Ein hoher Glanz lag auf seinem Antlitz. Er bedurfte keiner Antwort.
„Eingefügt sind uns diese und alle Erlebnisse in ein unendliches Ganze, wie das Haus dort, der Baum dort in diese Landschaft! Wo ist Anfang, wo ist Ende? Wir wissen es nicht. Die Grenzen weichen zurück, sobald wir wandern,
um sie zu erreichen. Doch die Fernen sind so wenig tot und stumm wie jene blassen Linien dort am Horizont. Wir hören ihre Weisen. Und das Leben ist uns ein ewiges Widerspiel zwischen dem Hier und Dort, dem Nahen und dem Fernen, zwischen dem Hohen und dem Tiefen, zwischen Dunkel und Licht, zwischen Recht und Unrecht. Nein! wir sind nicht ,besser' als ihr. Wir schauen vielmehr rückwärts auf eure Nöte als auf die Taten einer kämpfend vordringenden Schar. Aber das glauben wir: Befreit von einer verruchten Ordnung menschlichen Zusammenwirkens, eingefügt in einen sinnvollen Lebenszusammenhang, hinausblickend in die Fernen der Unendlichkeit, erleben wir das Leben in anderm Rhythmus nicht nur, sondern in reicheren Rhythmen. Und in dem Widerspiel von Chaos und Ordnung, wie jedes wahre Leben es ist, ist uns das Richtziel gegeben. Wir fehlen schwerer, als ihr fehlen konntet, seit jeder als freier Mensch unter eigner Verantwortung sich entscheiden muss. Aber wir erleben auch ein unaussprechlich hohes Glück, wenn es — ach nur selten — uns gelingt, die Nähe und die Ferne zu einen und in unserm Handeln die letzte verantwortliche Entscheidung mit dem Glück der nächsten Nähe zu vereinen."

Wir brachen auf. Bald erreichten wir die Wohnviertel. Menschen kamen und gingen. Der Zauber jenes Augenblicks war verrauscht. In gewohnter Ruhe und Beherrschung ging Bernhard neben mir. Wir waren wieder im Alltag. So kehrte auch unser Gespräch in die gewohnten Bahnen zurück.
„Bernhard! Noch eine Frage. Wenn denn euch die Ehe als einmaliges und lebenslängliches Erlebnis heilig ist — schützt ihr sie durch staatliche Gewalt? Die meisten von uns waren dagegen."
„Ist nicht die Ehe", gab er zurück, „mit ihrem ganzen Bestand an die Gesellschaft gekettet? Sie lebt materiell und geistig von ihr. Umgekehrt ist der Bestand der Gesellschaft an sie gekettet. So lange in Ehen Männer und Frauen ihr Leben gestalten, so lange darin Kinder geboren werden, oder nicht geboren werden, so lange hat die Gesellschaft an ihrem Bestand das größte Interesse. Nun wirkt die Gesellschaft in mancherlei Form auf die Ehe ein, durch ihre Wirtschaftsgestaltung, durch ihre Moral, durch ihre Sitte. Auch der im Staat organisierte Wille der Gesellschaft zur Aufrechterhaltung eines geordneten Zusammenlebens der Menschen nimmt, zur Ehe, irgendwie Stellung." „Er kann sie doch einfach sich selbst überlassen!" „Meinst du, das sei keine Stellungnahme?" „Nein."
„Nimm an, ich treffe auf einsamer Straße einen Räuber, der soeben einen Wanderer überfallen hat und ihn abwürgen will. Ich bin gut bewaffnet und kann durch mein Dazwischentreten dem Bedrohten das Leben retten. Ich drücke mich aber seitwärts in die Büsche. Ist das keine Stellungnahme?"
„Doch!"
„Und nun vergegenwärtige dir die oberste Machtorganisation auf einem bestimmten Gebiet. Sie ordnet das menschliche Zusammenleben in letzter Instanz. Das heißt, jedwede menschliche Handlung unterliegt ihr hinsichtlich ihrer Einordnung in den Gesamtzusammenhang des menschlichen Lebens, auch wenn sie gar nicht unmittelbar eingreift. Bleibt diese Macht gegenüber einer so wichtigen gesellschaftlichen Erscheinung wie die Ehe rein passiv, so wirkt sie auflösend, es sei denn, dass, wie im Mittelalter, eine andere Stelle — dem andersartigen Lebensgefühl der Menschen entsprechend — die ordnende Funktion ausübt. Der moderne Staat aber kann an diesen Dingen nie vorbeigehen. Entweder hilft er eine vorhandene Ordnung der Ehe schützen, oder er hilft sie zerbrechen. Unser heutiger Staat hilft sie stützen."

*

Wir saßen wieder in dem Garten unserer Freunde. Auch Marianne war gekommen. Sie war bleich und gefasst; eine wehmütige Schönheit lag auf ihrem Antlitz. Die Kinder begehrten ein paar Lieder zu singen, ehe sie schlafen gingen.
Eva holte ihre Laute. Warm und lind klang der Gesang durch die abendliche Stille. Die meisten Weisen berührten mich seltsam. Sie enthielten eine stärkere Bewegung als die unsrigen. Wir hätten sie vielleicht nicht zu tragen vermocht. Dazwischen klang — fremdartig — ein Lied aus meinen Tagen.
Wir waren allein. Eine Zeitlang saßen wir schweigend. Die Nachtfalter schwirrten ums matte Licht, und die Grillen zirpten im Grase.
„Wie man handelt — man handelt unrecht", sagte Marianne plötzlich. „Das ist das furchtbare Wort! Es zerstört unser Handeln, es zerstört uns."
Mit großer Güte beugte sich Bernhard zu ihr vor und legte seine Hand auf die ihre, die auf dem Tisch lag.
„Nein, Marianne. Es zerstört uns nicht. Es zerstört nur die Schwachen."
„Ich bin schwach, Bernhard."
„Du weißt, Marianne, dass wir eine Zuflucht haben, wenn wir den Kampf nicht bestehen!"
„Zuflucht?? — — — Nein Bernhard!" sagte Karl fest. „So ist es nicht!! Zuflucht wollen wir nicht mehr suchen, auch die Schwachen nicht. Ich ging mit Marianne den Weg der Gefahr. Kraft brauchen wir, die Gefahr zu bestehen, nicht eine Zuflucht, uns vor ihr zu bergen. Der Glaube als Trost und Hort — das war die Lästerung des kapitalistischen Zeitalters. Wie überall, so wollte es auch hier Sicherheit!!!"
Bernhard senkte den Blick. „Du hast recht, Karl — — Ich möchte unserm Gast von diesen Dingen nicht erzählen. Aber er ist heute den letzten Abend bei uns. Willst du ihm nicht sagen, was unser Glaube ist?"
„Wie soll ich das? Schweigen ist das Gebot."
„Ja, Karl", sagte Eva. „Schweigen ist das Gebot. Aber doch kannst du dem Fremdling die Geschichte des Mannes erzählen, der uns zuerst das Wort von den zwei Wegen gab und von der Kraft und das Gebot des Schweigens. Viel ist seitdem von der Menschheit im Reich der Freiheit erkämpft und errungen. Wir können ihm das nicht mitteilen. Er würde es nicht begreifen. Jene Worte waren nur der Anbruch. Aber sie waren eben der Anbruch — und unser Freund aus anderen Welten wird sie am ehesten verstehen."
„Das will ich gern tun", sagte Karl.
Eva stand auf und ging ins Haus. Sie kehrte mit einer schöngeformten Kanne voll Landwein wieder, stellte Gläser im Kreise und schenkte jedem ein. Wir rückten näher zusammen. Karl begann.

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