Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
http://nemesis.marxists.org

IV. Die Hoffnung des Lohnsklaven

Die Mahlzeit war vorüber. „Wir gehen nicht ins Zimmer", entschied der Doktor. „In dem großen Hausgarten finden wir einen geschlossenen Platz, wo wir uns ungestört unterhalten können." Bald saßen wir in der warmen Septembersonne auf einem von Rosen umsäumten Fleck. Doch ich vermochte nicht, mich dem Behagen des Platzes hinzugeben. Zu sehr bedrängte mich ein Heer von Zweifeln, Fragen und Bedenken.
„Sprich dich aus", sagte Bernhard.
„Ich bin so verworren, wie wenn ich auf einen andern Planeten versetzt wäre! Alles hat andere Dimensionen, als ich gewöhnt bin. Und zwar nicht nur die äußeren Dinge. Nein! Mir ist, als ob auch mein Hirn und mein Herz weiter werden müssten, als ob neue, ungekannte Aufgaben und Forderungen mich bedrängten. Es scheint, dass die Dinge nicht, wie wir hofften, einfacher, durchsichtiger, leichter entscheidbar geworden sind, sondern schwerer und wuchtiger, stärker in Freud und Leid. Mir ist zumut wie einem Menschen, den man plötzlich unter einen andern Luftdruck gesetzt hat. Noch können meine Organe sich nicht anpassen."
„Wer die Kämpfe kennt, aus denen in langer, schwerer Not das Reich der Freiheit hervorgegangen ist, der versteht deine Atemnot", erwiderte Bernhard. „Aber sage uns genauer, was dich bewegt."
„Am härtesten bedrängen mich zwei Erlebnisse: Das Verhalten der chemischen Arbeiter und die Gruppe gestern Abend im Park. Wenn so etwas im Reich der Freiheit möglich ist, dann hat sich die menschliche Natur eben nicht von Grund auf geändert, wie die Arbeiter zu meiner Zeit hofften."
Bernhard sagte nichts.
„Du kannst nicht ermessen, Bernhard, was uns diese Zuversicht bedeutete. Mit ihr ist das Beste unserer Zukunftshoffnung dahin. Es ging uns nicht einfach um höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten! Es ging uns um ein neues Reich, in dem alles Gute sich entfalten und alles Böse von selbst abdorren würde."
Bernhard sann eine Weile. „Ich glaube", sagte er dann, „man muss eure Hoffnung aus der damaligen gesellschaftlichen Situation verstehen. Sie war ihr geistiger Widerschein. Sie drückte die Hoffnung des Lohnsklaven aus."
„Du wirst verletzend-----------"
„Freund!! — — Wie kannst du mich so missverstehen! Wir kennen doch beide Karl Marx!"
„Wie meinst du das?"
„Ist dir nicht bekannt, dass seiner Auffassung nach die geistige Welt jeder Epoche durch ihre gesellschaftlichen Verhältnisse bedingt ist?"
„Freilich — wenn du es so meinst...."
„Zu deiner Zeit lebte der Arbeiter in einem Verhältnis, das er selbst mit vollem Recht als Lohnsklaverei bezeichnet hat, nicht?"
„Das ist richtig."
„Wie konnte also seine geistige Welt eine andere sein, als die des Lohnsklaven?" „Freilich."
„Wenn du das zugibst, so gilt es, sich die Schlussfolgerungen daraus klar zu machen. Würdest du anerkennen, dass der Sklave — eben weil er Sklave ist — in der Sklaverei die Wurzel jeglichen Übels, also auch aller menschlichen Schwächen sehen muss?"
„Das mag sein."
„Die Sklaverei ist für den Sklaven das eine große menschliche Verbrechen. Man hebe sie auf--------und der Mensch
ist gut!"
„Er hat von seinem Standpunkt aus sogar ganz recht", bestätigte der Doktor. „Denn der primitive Mensch — und der Sklave ist primitiv — ist in gewissem Sinne gut! Darum muss ihm die gute Natur des Menschen selbstverständlich sein."
„Wie meinen Sie das?"
„Seine einfachen Verhältnisse fordern keine verantwortungsvollen Entscheidungen. In Zweifelsfällen entscheidet die Sitte. Er steht daher nicht in der Gefahr, falsch zu handeln. Darum weiß er nicht, was Gut und Böse ist. Er lebt in dem kindhaften Zustand harmloser Unzerspaltenheit. Wie viele kindhafte Güte findet man noch heute bei primitiven Völkerschaften!"
Ich sann über ihre Worte eine Weile nach. „Vielleicht habt ihr recht!-------Vielleicht war es so!-------Vielleicht
war das der Grundirrtum des Lohnsklaven.---------------------
Vielleicht war dieser Irrtum eine Quelle unserer Not! Warum vermochte denn der Arbeiter nicht zu regieren, als seine ersten Fesseln fielen? Tausendmal haben wir es uns gefragt! Es mag sein: Er stand noch im Banne seiner Sklavenmoral von der guten Natur des Menschen. Und an der neuen gesellschaftlichen Wirklichkeit musste dieser Glaube zerbrechen!"
Ergriffen schauten beide mich an.
„Ja! Ihr hättet das mit durchkämpfen sollen! In bitterer Enttäuschung erlebten es viele Arbeiter, dass sie selbst, dass ihre eignen Klassengenossen, da wo sie dem Joch der Sklaverei entronnen waren, nicht gut waren. Sie fielen oft tiefer, als sie vordem gestanden hatten. Viele unserer führenden Genossen verloren darum allen Glauben an die Arbeiterbewegung. Sie wurstelten nur noch von Tag zu Tag. Wir aber — die Jugend, die Masse — die wir nur die Ketten der Knechtschaft fühlten, nicht die beginnende Verantwortung des Freiwerdenden —, wir sangen: Der Mensch ist gut!!------------"
Ich schwieg und starrte vor mich hin. Illusionen, die ich lange gehegt, stürzten zusammen wie Götzenbilder. Aber wo sie gestanden, gähnte keine Leere. Es war als ob reicheres Leben dort aufquellen sollte.
„Wenn der Mensch gut und böse ist, so muss sein Leben ein unaufhörlicher Kampf sein", sagte ich endlich.
„So ist es. Und das ist der Reichtum des Lebens!"
„Wo aber findet ihr Kraft, wenn die Versuchung der Gewinnsucht, der Genusssucht, der Feigheit, der Gemeinheit, des Verrats und wie sie alle heißen, euch bedrängen —
„Sage uns lieber", fragte Bernhard zurück, worauf verwies man denn in eurem Zeitalter den Lohnsklaven, wenn er zum Bewusstsein von Gut und Böse gekommen war?"
„Worauf verwies man ihn eigentlich??-------Ja! Auf die
menschliche Gesellschaft als auf die Quelle, aus der alle Erkenntnis fließen müsse."
Bernhard schüttelte den Kopf. „Die merkwürdigste Ideologie, die mir vorgekommen ist. Wir kamen früher schon einmal darauf."

„Ich bin noch längst nicht fertig, Bernhard", begann ich wieder. „Die Erkenntnis von dem zweispältigen Charakter der menschlichen Natur ist keineswegs das einzige, was mich hier beunruhigt. Ich denke nicht nur an die chemischen Arbeiter, die in ernster Krise ihre Mitarbeit verweigern. Ich sehe auch immer den Leiter der Betriebsversammlung vor mir. Man merkte ihm den Kampf, in dem er stand, deutlich an. Ich hatte den Eindruck, als ob der Mann eine schwere Last trug."
„Du hast recht. Auch hier musst du den Gegensatz von Moral des Sklaven und der des freien Menschen unterscheiden lernen. Der Sklave untersteht einem fremden Willen. Man befiehlt ihm. Das enthebt ihn der eigenen Entscheidung."
„Das haben wir erfahren!!!"
„Dann wirst du verstehen, dass ihm das Reich der Freiheit als ein goldenes Zeitalter erscheinen musste, wo der Mensch leicht und froh sein Leben leben würde.
„Freilich, Bernhard. ,Erst wenn wir sie vertrieben haben, scheint die Sonn' ohn' Unterlass', so sangen wir."
„Siehst du wohl! Erst in einer Kette bitterer Erfahrungen haben die ehemaligen Lohnsklaven einsehen müssen, dass Freiheit keine leichte und keine einfache Sache ist. Denn — was ist Freiheit?? Entsinnst du dich? Wir sprachen gestern davon?!"
Ob ich mich entsann!! „Frei ist, Bernhard, wer unter eigener Verantwortung handelt!!"
„Ja! Darin waren wir einig! Und nun denke an den Kampf des Versammlungsleiters! Wie waren denn die Möglichkeiten seines Handelns?! Nimm es unter den Gesichtswinkel des Ganzen. Was forderte der wirtschaftliche Nutzen des Ganzen?"
„Dass sie arbeiteten."
„Was forderte dagegen die Gerechtigkeit, ohne die das Ganze nicht bestehen kann?"
„Dass sie nicht eher arbeiten, als die chemischen Arbeiter."
„Was forderte die Disziplin, ohne die ebenfalls das Ganze nicht bestehen kann?"
„Dass sie arbeiteten."
„Nimm es vom Standpunkt der Belegschaft. Was forderte das tiefer verstandene Wohl der Belegschaft, die nur im Ganzen bestehen kann?"
„Das blieb eben zweifelhaft."
„Was forderte das unmittelbare Interesse der Belegschaft?"
„Das sie nicht arbeiten."
„Also: Wie der Mann handelte — er handelte unrecht!"
Ich dachte an die zerfurchten Züge des Mannes. — — „Ist Freiheit--------so schwer?}}"
„Ja, Emil! Es gibt keine verantwortliche Entscheidung, die nicht irgendwie unrecht wäre!"
„Aber Bernhard!"
„Ich kann dir tausend Beispiele für eins nennen! Da sollte neulich eins technisch rückständig gewordene Industrie umgestellt werden. Die Umstellung machte zweitausend Familien brotlos. Aber sie musste geschehen. Wie der verantwortliche Wirtschaftsleiter sich entschied — er tat unrecht.
Eine dörfliche Gemeinde sollte neu organisiert werden. Alte überlieferte Rechte mussten dabei verletzt werden. Wie der verantwortliche Leiter handelte — er handelt unrecht.
Musste nicht der Ordnungsdienst die tollkühnen Autofahrer verhaften? Aber damit beraubt er zwei Menschen der Freiheit. Das Wohl des Ganzen verlangt Freiheit, aber es verlangt zu gleicher Zeit Ordnung. Wie die Ordner handelten — sie handelten Unrecht.
An unserer Schule waren drei Lehrerstellen zu besetzen. Nur zwei taugliche Bewerber waren vorhanden. Der verantwortliche Leiter musste entweder die dritte Stelle unbesetzt und damit die Kinder verwildern lassen, oder das
Amt an einen Untauglichen verleihen. Wie er handelte — er handelte unrecht."
„Wir standen im letzten Jahre vor der Notwendigkeit einer durchgreifenden Finanzreform", fiel der Doktor ein. „Da war ein ausgezeichneter Finanzmann. Aber menschlich ist er ein Lump. Er kann eine große Reform genial durchführen, aber er wird sie mit seiner Gesinnungslosigkeit belasten. Sollten wir ihm die Aufgabe übertragen? Oder einem durchschnittlich begabten Biedermann? Wie wir handelten — wir handelten unrecht."
„Eine Brücke war zu bauen", fiel Bernhard ein. „Drei gleichbefähigte Baumeister meldeten sich. Für alle drei war der Brückenbau die erste, heiß ersehnte Berufsleistung. Nur einer konnte den Auftrag bekommen. Die beiden andern gingen leer aus. Wie der verantwortliche Leiter sich entschied — er handelte unrecht."
„Unter meinen Bekannten ist ein verheirateter Mann", sagte der Doktor wieder. „Ein Mädchen liebte ihn. Wandte er sich von ihr ab, so zerbrach vieles in ihr, was nie wieder wachsen kann. Erfüllte er ihr Verlangen, so verletzte er das Verhältnis zu seiner Frau. Wie er handelte — er handelte unrecht."
„Ein ferner östlicher Kulturkreis begann unter dem Druck einer starken Bevölkerungszunahme seine kriegerischen Instinkte zu züchten. Sie begannen zu rüsten. Im Lauf eines Menschenalters waren sie zu einer schweren Bedrohung des Weltfriedens geworden. Sollten wir das mit ansehen? Sollten wir Gewalt gegen sie üben? Sollten wir selber rüsten? Wie wir handelten — wir handelten unrecht."
„Über die Zukunft eines hochbegabten Musikers", begann wieder der Doktor, „musste im Erziehungsrat entschieden werden. Die Gemeinwirtschaft ist im Augenblick mit wirtschaftlich unproduktiven Arbeitern überlastet. Sie braucht dagegen dringend Gärtner. Machten die verantwortlichen Leiter den jungen Menschen zum Gärtner, so hemmten sie vielleicht eine einzigartige Begabung. Machten sie ihn zum
Musiker, so schädigten sie die Gemeinwirtschaft. — Wie sie handelten — sie handelten unrecht."
„Ich war aufgesprungen. „Hört auf", schrie ich. „Das kann kein Mensch mehr aushalten!! Das ist entsetzlich!! Das ist empörend!!" und ich ging mit großen Schritten auf und ab.
„Wie recht du hast", erwiderte Bernhard ruhig. „Es ist empörend. Nur dass mit der Empörung alles tiefere Leben
anfängt. Das gesellschaftliche, wie das geistige!------------—
Wenn der Mensch aufhört, einfach ,gut' zu sein.—
Wenn er wählen muss.------------Wenn seine Unschuld zerbricht! ------------Dann empört er sich!!!------------Doch die
Empörung ist nicht das letzte Wort." Und die innige Güte seines Wesens trat in seine Augen. „Laß uns ruhiger reden, Freund!"
Unter dem Banne seiner Klarheit legte sich meine Aufregung. Ich nahm meinen Platz wieder ein. Eine Weile schwiegen wir. Dann sagte Bernhard:
„Weil die Freiheit wie ein fressendes Feuer ist, darum haben viele Gutmeinende sie dem Volke vorenthalten wollen. Selbst seine eignen Führer. Du wirst aus deiner eignen Zeit Beispiele kennen."
„Ich verstehe überhaupt meine eigne Zeit immer besser", erwiderte ich, wieder ruhig geworden. „Ich erlebte den Aufstieg der Arbeiterklasse zur Herrschaft im Jahre 1918. Ich erlebte die ersten Versuche zu regieren. So viele Genossen sah ich damals daran zerbrechen!! — Sie hatten es nicht geahnt, dass die Freiheit so fürchterlich ist. Sie sind an der Erfahrung gescheitert, dass sie unrecht handelten, wie sie auch handeln mochten. Die einen wurden stumpf —, die andern feig —, die dritten verhärteten sich. — Viele nahmen nichts mehr ganz ernst. Da sie unrecht handelten wie sie handelten, so verloren sie alles Gefühl für recht und unrecht. Sie kamen sich dabei besonders klug vor! — --------Aber nicht nur die Menschen werden mir verständlicher, sondern auch die sachlichen Fragen. Dass wir unrecht handelten, wie wir handelten — das war das Verhängnis der Koalition! Das war das Verhängnis des Völkerbundes! Das war das Verhängnis der Diktatur! Das war das Verhängnis der Demokratie------------------------"
„Ja!!------------Das ist der Stachel jeglichen verantwortlichen Handelns."
Ich sann eine Weile über ihre Worte nach.
„Wie klar ich alles jetzt sehe! Die Moral des Sklaven, der nur gehorcht, reichte für unsere gesellschaftliche Situation nicht mehr zu. Was darüber hinaus an sittlichem Erbgut da war, das war das Erbgut der herrschenden Klasse. Wir hatten es hinausgeworfen, wie man die alten Abhängigkeitsverhältnisse abtat. Nun hatten wir nichts-------
-----------------Aber ihr!! Wie ist es denn mit euch? Welche
Lösungen habt ihr denn gefunden?"
„Lösungen?? Wir müssen diese Kämpfe immer von neuem ausfechten!"
„Und ihr zerbrecht nicht daran?" Meine Stimme zitterte fast, als ich diese Frage stellte. Ein langes Schweigen folgte.
„Es ist mehr als einer von uns daran zerbrochen", sagte Bernhard endlich. „Aber die Grundhaltung unserer Zeit ist nicht mehr jenes schwächliche Ausweichen vor der Entscheidung, von dem du sprichst. Wir haben gelernt, sie zu tragen.
„Dann müssen euch Kraftquellen erschlossen sein, von denen wir nichts ahnten."
„Vielleicht", antwortete Bernhard.

Doch mein volles Herz wollte nicht Ruh geben. „Wenn denn schon das Leben im Reiche der Freiheit immer wieder die verantwortliche Entscheidung fordert, und diese Entscheidung so zwiespältig ist, dann müssen doch die schwersten Kämpfe zwischen den Menschen um diese Entscheidungen entbrennen!"
„Hast du das nicht soeben erlebt?"
„Aber wer gibt die Garantie, dass solche Kämpfe gut ausgehen?"
„Niemand!"
„Aber dann kann morgen das Reich der Freiheit auseinanderbrechen?"
„Ja! Das kann es."
Das sagte er!! Und mit dieser Ruhe, ja man möchte sagen, Selbstverständlichkeit!!
„Überrascht dich das?"
„Es überrascht mich nicht —, es empört mich! Im Reich der Freiheit wollten wir sicher wohnen. Dort sollte Ausgleich in allen menschlichen Konflikten, dort sollte Beständigkeit, Dauer, Ruhe zu finden sein! Und du sagst, es kann morgen auseinanderbrechen."
„Du siehst wiederum die Dinge vom Standort des Lohnsklaven! Vergegenwärtige dir seinen Zustand. Hat er irgendeine Hoffnung auf Änderung?"
„Nein!"
„Vielmehr ist seine Sklaverei von unwandelbarer Stetigkeit. Das Heute ist wie das Gestern, das Morgen wird wie das Heute sein — immer dasselbe, ein ewiges Einerlei, ohne Wandel, ohne Aufstieg, oder Abfall. Und wie er seine Sklaverei erlebte, so sah er auch das Reich der Freiheit vor sich. Es schien ihm ein stetiger, unwandelbarer Zustand. Ist es einmal errungen —, dann, wie du selber sagtest, ,scheint die Sonn' ohn' Unterlass!'"
„Ja! So haben wir das Reich der Freiheit erhofft. — — Solltest du recht haben? Sollte es eine Sklavenhoffnung sein??"
„Du lernst schnell, mein guter Junge. Die Arbeiterschaft ging von Enttäuschung zu Enttäuschung, ehe sie begriff, dass das Reich der Freiheit täglich neu erworben werden muss. Nicht nur gegen die äußeren Feinde. Auch das musste erst gelernt werden. Doch diese Lektion war verhältnismäßig leicht. Viel gefährlicher sind die inneren Spannungen, die es enthält. Es schien vor hundert Jahren im Bundesstaat Europa alles so schön geordnet. Da entfaltete sich im Südosten eine junge Nation. Durfte man sie hemmen? Unverantwortlich! Sollte man den alten Nationen überkommene Rechte schmälern? Sie wehrten sich. Der Kampf auf Leben
und Tod war da. Der Bundesstaat drohte auseinanderzubrechen.
Auch heut stehen wir wieder in einer schweren Krise. Die chemische Industrie hat im gegenwärtigen Augenblick ein starkes Übergewicht über die anderen Industrien erlangt, so dass sie unversehens in der Lage ist, die andern Wirtschaftsgruppen zu vergewaltigen. Sie droht, sich zum Herrn der Gesamtwirtschaft zu machen. Damit wäre der Gesamtkörper gesprengt."
„Und vor etwa dreißig Jahren", warf der Doktor ein, „hatte ein ehrgeiziger Führer eine große Gefolgschaft gesammelt. Über Nacht versuchte er, sich zum Diktator aufzuwerfen."
„Dreimal schon ist das Reich der Freiheit verloren gewesen! Dreimal haben wir es mit unserem Schweiß und Blut wieder zusammengeleimt. In diesen Kämpfen haben wir die Sklavenhoffnung von der Sonne, die ohn' Unterlass scheint, begraben! Und wenn ihr sangt: ,Heilig die letzte Schlacht', so wissen wir heute: Die letzte Schlacht ist immer zugleich die erste Schlacht! Mit jedem Schritt aufwärts wird der Kampf nicht aufgehoben, sondern nur auf eine höhere Ebene verlegt! Der sozialistische Bundesstaat Europa ist nicht das Ende der Geschichte!"
„Bernhard, Bernhard!"
„Du wolltest das Reich der Freiheit sehen. Nun musst du den Mut haben, den Anblick zu ertragen."
Der Doktor stand auf und ging hinaus.

„Aber das eine scheint mir völlig ausgeschlossen", begann ich abermals, „dass alle Menschen diese harte Wirklichkeit sehen und ertragen können. Das glaube ich nicht."
„Du hast recht! Es gibt auch heute noch viele Menschen, die diesen Dingen nicht ins Antlitz zu sehen vermögen."
Verwirrt starrte ich ihn an. „Dann begreife ein anderer das Reich der Freiheit!! Du erzählst mir alle möglichen Dinge aus dem Reich der Freiheit, und dann sagst du auf einmal, dass sie nur für eine Minderheit bestehen. Zerfallen
denn die Bürger in dem Reich der Freiheit wieder in zwei Sorten: die Klugen und die Dummen?"
„So lieblos reden wir allerdings von unseren Brüdern nicht."
„Ich verstand dich so ...."
„Euer Urteil stand im Banne des Kapitalismus. Damals hat man die Schwächeren wohl so gesehen. Wir sehen und fühlen diese Unterschiede anders."
„So belehre mich!"
„Es ist nicht ganz leicht, einen Menschen über ein fremdes Lebensgefühl zu belehren. Doch ich will es versuchen!"
Er blickte eine Weile zu Boden, als suche er einen anknüpfungspunkt. „Der Ausdruck ,Sorten', nicht wahr ..."
„Schon gut, Bernhard. Ich hatte mich verplaudert."
„Sodann die Zweiteilung: Das ist eine Betrachtung der Menschheit, die wir ablehnen. Die Menschheit ist ein Ganzes von unendlicher Mannigfaltigkeit. Man kann sie niemals einfach in zwei Gruppen zerlegen, sofern man sie nach dem inneren Wesen gliedern will. Nimmst du die äußersten Gegensätze, die sie enthält, dann kannst du gegenübersetzen: Die Verantwortlichen und die Gefolgschaft. Das sind, wie gesagt, nicht zwei Gruppen oder zwei Klassen, sondern das sind die Pole. Dazwischen spielt es in tausend Farben. Diese Tatsache, dass es solche Gegensätze innerhalb unserer Gesellschaft gibt, ist die Grundlage unserer sozialen Ordnung. Während der ganzen Vorgeschichte der Menschheit beruhte die soziale Ordnung auf..."
„dem Eigentum an Produktionsmitteln."
„So war es. Nun gingen die Produktionsmittel in das Eigentum der Gesamtheit über. In dieser Hinsicht sind heute alle Menschen gleich. Aber sie sind nicht gleich hinsichtlich ihrer natürlichen Möglichkeiten. Es hieße reiche Quellen des menschlichen Lebens verschütten, wollte man diese natürlichen Verschiedenheiten einfach übersehen."
„Werden sie nicht durch gemeinsame und einheitliche Erziehung aufgehoben?"
„Nein! Wie die Menschen körperlich verschieden bleiben,

so bleiben sie es auch ihrem geistig-seelischen Bau und ihren geistig-seelischen Kräften nach. Wie oft findest du in derselben Familie einige kräftige Kinder, dazwischen schwächere, die mit den Geschwistern weder körperlich, noch geistig Schritt halten können."
„Das leuchtet mir ein."
„Und so weist auch die Gesamtheit der Erwachsenen eine Abstufung auf, von jenen an, die stark genug sind, der Verantwortung ins Antlitz zu schauen und die Entscheidung auf sich zu nehmen, bis zu jenen, die man die Unschuldigen nennen könnte. — Wir nennen sie Gefolgschaft. Was sie begehren, ist eine unschuldige Freude am Dasein. Sie wollen nicht die schlaflosen Nächte der Verantwortlichen. Sie freuen sich am ersten warmen Frühlingshauch, an den bunten Blumen des Sommers, an den reichen Früchten des Herbstes, an den stillen und an den geselligen Stunden des Winters. Sie weinen wie die Kinder, wenn ein Unglück sie betrifft. Sie jauchzen, wenn das Glück ihnen lächelt. Sie reden gern ins Breite. Die Bürde der Verantwortung aber mögen sie nicht auf sich nehmen. Sie tragen weder die Verantwortung für die großen Entscheidungen des gesellschaftlichen Lebens, noch die Verantwortung für die großen Entscheidungen des geistigen Lebens. Sie wollen im gesellschaftlichen Leben dem Führer folgen. Im Geistigen übernehmen sie die festgeprägte geistige Form, ohne selbst darüber zu entscheiden."
„So war zu meiner Zeit die große Masse."
„Es ist auch heute noch die Mehrzahl. Und seit die alte Klassenscheidung nach dem Besitz an Produktionsmitteln aufgehoben ist, hat diese Scheidung in unserm gesellschaftlichen Leben eine vordem ungeahnte Bedeutung erlangt. Sie gibt das ordnende Prinzip unseres gesellschaftlichen Lebens ab."
„Erkläre das!! Wir stehen im Zentrum!! — — — —"

„Ja!! Wir stehen im Zentrum! Das ist der hohe sittliche Gewinn, den uns der Sozialismus gebracht hat: An Stelle
der äußerlichen Gliederung der Gesellschaft nach dem oft so zufälligen Eigentum an Produktionsmitteln ist diese Gliederung nach der inneren Qualität getreten."
„Aber wie wird sie durchgeführt?"
„Das Grundprinzip unseres gesellschaftlichen Lebens ist dieses: Die Verantwortlichen sollen führen! Gesellschaftlich wie geistig! Die Gesellschaft soll so geordnet sein, dass die zur verantwortlichen Entscheidung Fähigen überall die leitenden Funktionen ausüben. Der Unterschied zwischen den Verantwortlichen und der Gefolgschaft ist der einzige gesellschaftliche Unterschied, den wir anerkennen. Das ist der unüberbrückbare Gegensatz zu allen Klassenordnungen der vergangenen Zeitalter. Darum nennt man sie auch mit Recht: Die Vorgeschichte der Menschheit."
„Bernhard! Das war ja unsere Ahnung, dass der Sozialismus eine solche Gesellschaftsordnung bringen werde! Nun sage mir aber: Sind innerhalb der großen Gruppe der Verantwortlichen Unterschiede vorhanden?"
„Freilich! Der Abstufungen sind viele! Es gibt Verantwortung im kleinen gesellschaftlichen Kreise: Die Leitung einer Gastwirtschaft, eines Kinderhortes. Es gibt Verantwortung im großen gesellschaftlichen Kreise: Die Leitung eines Staates, eines industriellen Selbstverwaltungskörpers. Je nach dem Umfang der Verantwortung, die jemand trägt, steigt oder fällt sein gesellschaftliches Ansehen. Daher hat der verantwortliche Leiter eines großen Wirtschafts oder Staatskörpers eine größere gesellschaftliche Geltung, als der Leiter eines kleinen Kreises."
„Das ist eigentlich falsch! Es ist eine äußerliche Auffassungsweise. Die Leitung des kleinsten Kreises sollte genau so wichtig sein, wie die des größten."
„Damit hast du wiederum recht und unrecht! Die Aufgaben sind sich gleich und — — sie sind sich nicht gleich. Sie sind sich darin gleich, dass sie alle die gleiche Treue und Hingabe, den gleichen Ernst verlangen. Aber sie sind sich nicht gleich in dem Muss von Verantwortungsfähigkeit, das sie verlangen. Es kann jemand ein guter Kinderhortleiter sein und doch durchaus unfähig, die Entscheidungen etwa eines staatlichen Leiters auf sich zu nehmen. Weil denn unsere gesellschaftliche Ordnung an der Verantwortungsfähigkeit des Einzelnen orientiert ist, so machen wir hier unsere gesellschaftlichen Unterschiede."
„Es ist bedenklich, dass ihr überhaupt welche macht!"
„Die menschliche Gesellschaft bedarf einer sichtbaren Gliederung. Wir können nicht aus den Hunderten von Millionen, die im Bundesstaat Europa wohnen, eine unterschiedlose Masse machen. Das ist gegen die menschliche Natur. Es würde nur dahin führen, dass die großen Führernaturen zu keiner Entfaltung kämen. Sie würden auswandern oder sich auf ungesetzliche Weise die gesellschaftliche Geltung verschaffen, die ihnen die gesellschaftliche Ordnung versagte."
„Mag sein----------------"
„Wir suchen also mit unserm gesellschaftlichen System zwar der menschlichen Natur Rechnung zu tragen — nicht aber in schwächlichem Nachgeben, sondern so, dass wir immer wieder unser gesellschaftliches Handeln an dem letzten Ziele zu orientieren suchen. Hier aber tritt die Spannung ein, von der wir sprachen. Auch hier, und hier erst recht, gilt das Wort, dass wir unrecht handeln, wie wir auch handeln!! Die Bewältigung dieser Spannung gehört zu den schwersten, immer neuen Aufgaben unseres gesellschaftlichen Lebens. Wäre diese Spannung eines Tages aufgehoben und die gesellschaftliche Geltung der Verantwortlichen im großen Kreise blindlings anerkannt, so würde unser gesellschaftliches Leben verfallen."
„Du redest schwere Worte."
„Uns sind sie selbstverständlich geworden."

„Aber die gesellschaftliche Geltung spricht sich doch nicht etwa in größerem Besitz aus?" „Doch!"
„Bernhard!!!-----------------"
„Die höchsten verantwortlichen Ämter gewähren auch
die höchsten Besoldungen, die Annehmlichkeiten großer Dienstwohnungen, ausgezeichneter Verkehrsmittel und so
fort."
Jetzt war es aus!! Damit war alles zerhauen! „Die größere geistige und moralische Leistung wird mit klingender Münze bezahlt!! — — — Pfui, Bernhard, das ist ein Flecken auf dem Reiche der Freiheit!"
Er sah mich ruhig an. „Auch damit hast du recht. Wenn wir erst alle zu Engeln geworden sind, mein junger Freund, werden wir diese unanständige Ordnung der Dinge aufheben. Wir haben in langen Kämpfen die menschliche Natur kennen gelernt und verstehen ihren Zwiespalt. Der Mensch freut sich der Ehrung. Er freut sich, wenn ihm reichere Verbrauchsgüter zur Verfügung stehen. Und selbst die Gefolgschaft freut sich, wenn ihre Leiter in reicherer Entfaltung ihres persönlichen Daseins zugleich die Würde des Ganzen entfalten. Diesen tiefbegründeten Eigenschaften der menschlichen Natur haben wir Rechnung getragen, als wir unsere Ordnung schufen."
Ich schwieg, enttäuscht und verwirrt.
Wieder versuchte Bernhard, mir die Brücke zu bauen. „Ich sprach gestern zu dir von dem schönen Kleid meiner Frau, an dem wir uns beide freuen — entsinnst du dich?"
„Ja."
„Wir freuen uns an dergleichen. Zugleich aber wissen wir, dass andere Menschen diese Freude entbehren müssen. Das zwingt die Freude immer wieder zur Besinnung. Es gibt ihr oftmals einen leisen Stachel. Darin liegt — ich möchte fast sagen — der selbsttätige Regulator unserer gesellschaftlichen Verhältnisse. Denn je ernster es ein Mensch mit seinen Pflichten gegen die Gesamtheit nimmt, um so eher soll er — dem Prinzip unseres gesellschaftlichen Systems nach — äußerer Ehrungen teilhaftig werden. Je höher er aber steigt, desto unerträglicher werden gerade für ihn, als für einen verantwortungsvollen Menschen, die Spannungen zwischen dem Grundsatz der Gleichheit aller und der Notwendigkeit der gesellschaftlichen Gliederung.

Der wahre Führer, so wie wir ihn fordern, gibt sich niemals den Schönheiten seines Lebens konfliktlos hin. Er misst sie immer wieder an den Hässlichkeiten im Leben anderer! Sein Leben ist ein unablässiger Kampf zwischen der Freude seines begnadeten Daseins und dem Zweifel an seinem Recht darauf. Er trachtet daher immer wieder, die Spannungen zu mildern."
Er schwieg. Ich dachte über seine Worte nach.
„In einem wesentlichen Punkt", nahm Bernhard den Faden wieder auf, „haben wir allerdings unser System der Besoldung anders organisiert, als es früher der Fall war. Die Festbesoldung haben wir aufgehoben!"
„Wie das?"
„Es wäre für unser Gefühl nicht tragbar, dass die einen die Güter herstellen und alle Nackenschläge der Konjunktur ertragen müssen, indes die anderen die Güter verbrauchen und durch Festbesoldung vor den Rückschlägen der Konjunktur gesichert sind. Wie wir das ganze System der kapitalistischen Sicherungen durchbrochen haben, so auch diese. In Notzeiten müssen alle sich mit einem Bruchteil ihres normalen Lohnes begnügen — die Höherbesoldeten mit einem relativ kleineren Prozentsatz. In guten Zeiten geht es allen gut."
Ich schwieg eine Weile. „Bernhard", sagte ich endlich, „diese ganze Art, die menschlichen Dinge zu sehen, enttäuscht mich unbeschreiblich. Ich empfinde sie als so zwiespältig, ja, ich möchte sagen, so glaubenslos. Wir glaubten an den Menschen — ihr tut es nicht mehr! Ihr baut ein ganzes gesellschaftliches System auf, indem ihr die menschliche Schwäche als etwas Selbstverständliches, Unabänderliches einsetzt."
„Das letztere ist nicht richtig. Wir nehmen sie nicht als unabänderlich hin. Unser ganzes System zielt auf ihre Bekämpfung ab. Noch weniger sind wir glaubenslos! Nein, Freund" —, und eine Welle warmer Empfindungen wallte in seinem Wesen auf, „du missverstehst uns von Grund auf. Prüfe ehrlich: Wozu gehört mehr Glauben: Der Wirklichkeit voll ins Antlitz zu schauen, die menschliche Natur zu sehen, wie sie ist — gut und böse —, und trotz der Erkenntnis ihrer Schwäche unentwegt an ihr weiter zu bauen — oder aber sich eine Binde vor die Augen zu binden, erhobenen Hauptes dahinzuschreiten und zu singen: Der Mensch ist gut — die Welt ist schön!"
„Das alles trifft mich zu tief, um mit viel Worten darüber streiten zu können", sagte ich endlich.------------„Nur
das eine, das musst du doch zugeben! Wie leicht kann ein solches System auf den Hund kommen. Es besteht doch die große Gefahr, dass der innere Gehalt sich verflüchtigt und nur die leere Form übrig bleibt!"
„Gefahr?--------Aber gewiss. Darum ist ja das Leben so
schön!! Wir sind keine Lohnsklaven mehr, die ein gefahrloses Dasein bei ewigem Sonnenschein ersehnen."
Ich wagte nicht mehr, den Faden in der gleichen Richtung
weiterzuspinnen.

*

„Wie aber trefft ihr die Auslese der Verantwortlichen vor denen, die diese Kraft nicht haben?"
„Unser ganzes Erziehungssystem zielt darauf ab, diese Auslese vorzubereiten. Es entfaltet bereits die Selbstverantwortung des Kindes. In diesem Alter lassen sich häufig schon die Schwächeren erkennen. Man würde sie erdrücken, wollte man sie mit schwereren Lasten belasten. Es sind oft sehr intelligente Kinder dabei. Aber sie sind irgendwie in ihrer Gesamtkonstitution geschwächt. Die Tragfähigen werden durch Belastung gestärkt und geschult, aber auch geprüft. Viele springen unter diesen Proben ab. Sie mögen gar nicht die schwere Last tragen, obwohl sie es könnten. So wird die Auslese mit fortschreitendem Alter immer enger. Zuletzt ist oft der Kreis so klein, dass man um die notwendigen Kräfte in Verlegenheit ist. Auch wünschen viele Eltern wegen der Strenge des Systems gar nicht, dass ihre Kinder dieser herben Schulung ausgesetzt werden. Sie reihen sie lieber von vornherein in die Gefolgschaft ein."
„Steht den Eltern allein darüber die Entscheidung zu?"
„Den Eltern allein? Das wäre schlimm! Dann würden wir ja wieder dem Familienegoismus der Klassengesellschaft Raum geben! Nein! Wir haben ein ausgebautes System, um diese Auswahl richtig zu treffen. Lehrer, Ärzte und Psychologen wirken darin mit den Eltern zusammen. Morgen wirst du von diesem System eine Anschauung gewinnen."
„Gelingt mit Hilfe dieses Systems die Auswahl stets?"
„Das können wir leider nicht sagen. Es kommen schwere Missgriffe vor. Ehrgeizige Vielgeschäftigkeit wird mit Energie und Verantwortungsbereitschaft verwechselt, bedächtiges, abwägendes Wesen mit Gleichgültigkeit oder Unfähigkeit. Und selbst Fehlurteile gegen bessere Einsicht kommen vor! Oft sind sie nicht mehr gut zu machen. Wenn überall die Verantwortlichen regierten, so hätten die chemischen Arbeiter die Überstunden nicht verweigert."
„Aber Bernhard, was habt ihr dann gewonnen? Auf die Ausübung der verantwortlichen Leitung unter Ausschaltung allen äußeren Vorteils für den Träger des Amtes habt ihr verzichtet. Bei einer Auswahl seid ihr nicht sicher, den Würdigen herauszufinden. Was bleibt dann noch an Vorteilen gegenüber unserm System übrig?"
„Viel!! — — Wenn du nur den Begriff des Vorteils ausschalten möchtest! Das klingt so kapitalistisch. Das Entscheidende ist dieses: Der Zugang zu den leitenden Tätigkeiten nicht mehr wie früher von dem Geldbeutel des Vaters abhängig. Jedem Menschen mit den besonderen Fähigkeiten des Verantwortlichen steht der Zugang zu einem verantwortungsvollen Wirken frei. Das ist die entscheidende Errungenschaft. Der Klassencharakter der Gesellschaft ist damit endgültig aufgehoben. Dass Missgriffe auch in einer sozialistischen Gesellschaft vorkommen — das kann nur den Utopisten überraschen."
Ich erwiderte nicht mehr.
„Sieh", spann Bernhard den Faden weiter, „wenn die Ordnung des gesellschaftlichen Lebens so einfach wäre, dass keine Fehlgriffe vorkämen und immer die Würdigsten auch
zu den höchsten Ehren aufstiegen — damit zu den höchsten Einnahmen und Vorteilen —, dann fehlte dem Ganzen unseres gesellschaftlichen Lebens jener Stachel, jener Gewissenswurm möchte ich sagen, der aus den Fehlgriffen erwächst. Es wäre alles ,in Butter'. Es ist aber nicht alles ,in Butter'. Wir müssen immer wieder erkennen, dass unsere Einsicht versagt, unser Wille nicht lauter genug ist. Witschen nicht selten den Würdigsten unterliegen, ihm selbst zum tragischen Verhängnis, dem Ganzen zum unwiderbringlichen Verlust. Lieber Freund, dann werden wir hinausgewiesen über uns selbst!—"

Noch einmal nahm ich das Gespräch auf: „Wie gestaltet sich das Verhältnis zwischen Verantwortlichen und Gefolgschaft?"
„Du hast recht! Das ist noch eine Kernfrage! Ich möchte so sagen: Die Verantwortlichen sind um der Gefolgschaft willen da, nicht die Gefolgschaft um der Verantwortlichen willen. Alles Tun und Lassen der Verantwortlichen dient ihren schwächeren Brüdern. Es dient deren Wohlfahrt, deren Glück, deren Frieden und Freude — aber vor allem deren Hebung aus dem Dasein der Gefolgschaft in das Dasein der Mündigen. Die Verantwortlichen arbeiten daran, ihre eigene Gefolgschaft aufzuheben. Das ist ihre ernsteste, ich darf hier sagen, ihre heilige Pflicht: Aus Unmündigen Mündige zu machen. Ich glaube, darin liegt der tiefste Gegensatz zu eurem Zeitalter. Du wirst es klarer sehen, als ich das kann. Lag nicht in dem Besitz mit innerer Notwendigkeit das Streben, die Besitzlosen in Unmündigkeit zu erhalten?"
„Gewiss! Das Streben war mit dem Besitz unauflöslich verbunden. Es war die moralische Rechtfertigung des Besitzes vor sich selbst! Immer wieder hörte man sie sagen: ,Sie brauchen uns ja, diese armen Kinder! Sie könnten nicht bestehen ohne unsere Führung.' Der Besitz musste ängstlich darüber wachen, dass ihm diese Rechtfertigung seiner selbst nicht verloren ging. Mit diesen Gründen begann schon zu meiner Zeit das Kapital seine Herrschaftsgelüste zu rechtfertigen. Sie boten zum Schein dem werktätigen Volke eine gewisse geistige Aufklärung: harmlose Bücher, ein paar nette Lieder, ein paar unschädliche Volkstänze, ein paar ungefährliche Volksspiele aus den Tagen von Hans Sachs, die keinen Menschen wissend machten. Aber sie hüteten sich, seine geistigen Kräfte wirklich zu wecken!!"
Er hatte mit tiefem Ernst meinen Worten zugehört. Jetzt blickte er mich fest an: „Noch eine Frage, Emil. War es nur die besitzende Klasse, die den Proletarier in Unmündigkeit zu halten suchte?"
Ich senkte die Augen. „Eine böse Frage, Bernhard." „Ja, aber wir wollen den Dingen ehrlich ins Gesicht sehen!" „Bernhard — dann muss ich sagen: Die eigenen Führer verdummten das Proletariat oft mehr, als die besitzende Klasse! Gegenüber der besitzenden Klasse hatte der Arbeiter seit Karl Marx die Waffe des Klassenbewusstseins. Dem Bestreben der eigenen Genossen, ihn in Unmündigkeit zu halten, verfiel er wehrlos. Man brauchte ihm nur mit radikalen Phrasen zu kommen! In der Presse, in den Versammlungen — wie oft ward er behandelt nach dem Grundsatz: ,Die Kinder, sie hören es gerne!' Das ist vielleicht das traurigste Kapitel der Arbeiterbewegung!"
„Ich verstehe deinen Kummer. Aber du wirst nun vielleicht auch unsere Ordnung nicht mehr gar so sehr schelten, wenn ich sage, die Unmündigen zu Mündigen zu machen, dass sie aus eigener Kraft sich frei und verantwortlich entscheiden können — das ist die Grundforderung unseres gesamten Lebens — das steht wie ein Leitspruch über allem unseren Tun!"
„Woher aber nehmt ihr die Richtlinien für solches Tun, woher das klargeschaute Ziel? Woher die Kraft, es zu verfolgen?" Wieder blieb er mir die Antwort schuldig. Der Doktor kam zurück. „Ich habe für Sie in unserem Block Quartier gemacht. Doch zuvor essen wir gemeinsam zur Nacht."

 

Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur