VII. Karl Marx.
Man muss diese versteinerten Verhältnisse dadurch zum Tanzen zwingen, dass man ihnen ihre eigne Melodie vorsingt.
Karl Marx, Nachlass I, 386.
Es war Anfang Oktober. Seit vier Monaten regierte die Koalition. Im Kabinett Hagenthal fand eine vertrauliche Besprechung der Führer statt.
„Wie Sie sehen, meine Herren", sagte Hagenthal, „war es das Richtige, abzuwarten. Ungeduld bringt uns nicht vorwärts. Diese letzten vier Monate haben unbedingt für uns gearbeitet. Die Zugeständnisse an die katholische Kirche, die sich auf die Dauer doch nicht verhehlen ließen, haben weite Kreise der Arbeiterschaft aufs äußerste vor den Kopf gestoßen. Die Tatenlosigkeit der Regierung auf wirtschaftspolitischem Gebiet hat allgemeine Erbitterung hervorgerufen. Diese Dinge mussten sich erst voll auswirken. Nunmehr sind wir so weit, um durch einen Machtkampf in der Stickstoffindustrie den Stein ins Rollen zu bringen. Die Leitung der Industrie geht mit uns vollkommen einig. Außerdem sitzen in der Direktion eines jeden Werkes unsere Vertrauensleute. Die Arbeiter müssen so stark provoziert werden, dass sie losgehen. Der Konflikt muss dann so gedreht werden, dass Zentrum und Demokraten aus der Regierung ausgeschifft werden, und das Bündnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten unvermeidlich wird. Sind wir erst soweit, dann wird der große Kladderadatsch nicht mehr lange auf sich warten lassen. Ich habe Sie zusammengebeten, um die Aktion in der Stickstoffindustrie mit Ihnen durchzusprechen."
Sie rückten zusammen. In fünfstündiger Sitzung wurde der Aktionsplan entworfen.
Im Unawerk war der Betriebsrat Anfang August aufgelöst worden. Konrad hatte gegen die Maßregel agitiert. Er wurde entlassen. Nach der Auflösung des Betriebsrats hatten die Maßnahmen der Direktion zur Niederwerfung der Arbeiterschaft ungestört ihren Fortgang genommen. Emil, durch Konrads Schicksal gewarnt, verhielt sich ruhig. Auch sein kommunistischer Gegner duckte sich. Der Junge flog. Er hatte in der Bahn ungeniert das Maul aufgerissen.
Nun kämpfte Konrad den Kampf der Arbeitslosen. Er musste sein Quartier aufgeben und bezog eine Schlafstelle. Den Tag verbrachte er in öffentlichen Büchereien. Schlimmer noch empfand er es, dass er fortan weder seine Frau, noch Else unterstützen konnte. Franz hatte geschrieben. Else erwartete ein Kind. Sie waren damals, als sie auseinander gingen, alle drei eins gewesen in dem Willen, ein etwa keimendes Leben nicht zu zerstören. Sie wollten auch das Kind als das zur Welt kommen lassen, was es war: das uneheliche Kind eines verheirateten Mannes. Es sollte nicht mit einer Lüge ins Leben treten.
Stand denn schon sein Privatleben unter so schwerem Druck, so wollte er wenigstens die politische Arbeit um so intensiver aufnehmen. Er ging in die nächste Ortsgruppenversammlung seiner Partei. Der Vortrag war kümmerlich. Konrad nahm in der Diskussion das Wort und versuchte, die Rede zu ergänzen und zu berichtigen. Er sprach rein sachlich und vermied unnötige Schärfen. Doch die Versammlung — fast ganz aus älteren Männern und Frauen bestehend — ließ ihn abblitzen. Der Vorsitzende, beherrscht von dem
Minderwertigkeitsgefühl des Kleinbürgers gegenüber dem, der mehr gelernt hat als er, tat ihn wie einen dummen Jungen ab. Die andern riefen Beifall. „Is einfach lächerlich", sagte Frau Körner zu Frau Reimann, „so e junger Mensch." Konrads Bereitschaft, sich an der Kleinarbeit der Gruppe zu beteiligen, wurde fortan sabotiert, sein Angebot, als Referent mitzuwirken, abgelehnt.
Er machte noch einen Versuch und meldete sich als Referent an der Zentrale des Ortes. Hier war sein Auftreten auf jener großen Versammlung nach der Wahl unvergessen. Man zuckte höflich die Achseln. „Wenn Ihre Gruppe Sie ablehnt, können wir nichts tun."
Es war, als ob ein Übermaß von Spannungen das Gefäß sprengen sollte. Im Beruf ein Spiel des Zufalls, in der Partei ein scheel angesehener Fremdling, in seinem Verhältnis zu den Frauen zwar durch seine Ehe fest gegründet und doch hin- und hergeworfen von der Vitalität eines Trieblebens, das er nicht zu bändigen vermochte, wie er wollte. Lag es an ihm? War er als „freier" Sohn der Berge nicht fähig, die Einordnung in die gesellschaftlichen Zusammenhänge zu finden, ohne die ein ertragreiches Wirken nicht möglich war? Oder lag es in den Verhältnissen? Waren sie verrotteter als zu anderen Zeiten? Oder war es ein ewiges Gesetz, dass der, der den Normen seiner Zeit trotzt, an ihnen zerschellt? Er begann zu empfinden, dass sein Leben auf dem Grat eines Felsens entlang lief — Abgründe zur Rechten, Abgründe zur Linken. Aber das war er gewohnt gewesen. Nicht um sicher zu wohnen, war er in die Ebene gegangen.
„Man wird an allem irre", sagte Adolf, als die Freunde an einem kalten regnerischen Oktoberabend wieder einmal in der guten Stube von Walters elterlicher Wohnung beisammen waren.
„Woran liegt's nur, Konrad?"
„Es fehlt uns die innere Orientierung", warf Walter ein. „Was meinst du mit innerer Orientierung, Walter?" „Einen Glauben!"
„Wohl den lieben Gott in neuer Auflage?"
„Nein, Adolf, den lieben Gott nicht! Aber zum mindesten das, was das Bürgertum hatte, als es auszog, um für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit zu kämpfen."
„Aber Walter, wir haben doch die klassenlose Gesellschaft, für die wir kämpfen!"
„Genügt das?!"
„Wir haben Karl Marx", gab Emil zurück.
„Karl Marx verdanken wir", erwiderte Konrad grübelnd, „die politische Grundhaltung: die klassenkämpferische Entscheidung und die dialektische Ausrichtung unseres politischen Handelns, auch die Erkenntnis von der grundlegenden Bedeutung der Gesellschaftsformation für unser geistiges Leben. Aber eine glaubensmäßige Grundlage hat er uns
nicht gegeben---wollte er uns nicht geben---
Er hat sie uns eher genommen!"
„Aber Konrad! Wir haben doch unser Freidenkertum, unsere Jugendweihen, — es sind auch nicht alle Feiern so schlecht wie die zu Weihnachten — das beruht doch alles auf Karl Marx."
„Das eben ist die Frage, Adolf---ob wir uns mit
diesen Dingen auf Karl Marx berufen dürfen."
„Das versteh ich nich, Konrad!"
„Ich habe einen Vorschlag. Ernst Fischer hält über das Thema: Karl Marx oder die Selbstaufhebung des Geistigen eine seiner Aussprachen. Wollen wir hingehen?"
Ernst Fischer war allen bekannt. Er interessierte jeden um seiner Persönlichkeit und seines Schicksals willen. Man wusste, dass er als Sohn einer begüterten Kaufmannsfamilie nach umfassendem akademischen Studium sich soeben an der Universität als Privatdozent niedergelassen hatte. Er stand in dem Ruf, ein bedeutender philosophischer Kopf zu sein. Allerdings wurde seine geistige Aktivität hier und da durch nervöse Abspannungszustände gemindert. Eine Zeitlang hatte er der sozialistischen Studentengruppe angehört. Von dort her kannten ihn die Freunde. Aber es litt den ungewöhnlichen Menschen in keiner Gesinnungsgemeinschaft. Von den Kommunisten kommend, hatte er den Sozialisten ebenfalls bald wieder den Rücken gekehrt, um sich einer politisch nicht abgestempelten Freischar anzuschließen. Auch in den Freimaurerlogen sollte er eine Weile gelebt haben. Man sah ihn bei allen Veranstaltungen, die sich mit Problemen der Gegenwart befassten: In dem Bund für Nacktkultur, bei der Steinergemeinde, bei Keyserling, bei den Freidenkern, bei den ernsten Bibelforschern. Durch alles ging er hindurch, ein rastloser Wanderer. Er unterzog sich stets der Mühe, in eine Zeiterscheinung gründlich und ohne Vorurteile einzudringen, um sich mit ihr auseinanderzusetzen. Dann ging er weiter. War er in ein ernsthaftes Gespräch über einen Gegenstand verwickelt, so vergaß er Ort und Zeit. Er fiel die Menschen geradezu an, um mit ihnen Probleme zu verhandeln, ihre Anschauungen zu hören. Mit Konrad hatte er Nächte hindurch diskutiert. So waren alle Freunde einverstanden, den Vortrag des tiefen, ernsten, wenn auch etwas absonderlichen Menschen anzuhören. „Wann soll es sein?"
„Am nächsten Sonntag, vormittags 10 Uhr, im alten Saal der Kaufmannsgilde."
Wie verabredet waren alle am nächsten Sonntag rechtzeitig zur Stelle. Der Saal der Kaufmannsgilde war ein auserwählter Raum. Er hatte im achtzehnten Jahrhundert als Börse gedient und gehörte zu den wenigen schönen Resten aus der Vergangenheit, welche die Stadt besaß.
Der besonderen Art seines Wesens entsprechend, hatte Fischer nur einen geschlossenen Kreis von etwa fünfzig Personen geladen. Er hatte ihn schon öfters hier versammelt. Es war ihm stets gelungen, der Aussprache den Charakter eines rückhaltlosen, aber zugleich rein sachlichen Meinungsaustausches zu geben. Der Wille zu gegenseitigem Verstehen war stets gewahrt worden. Die Teilnehmer gehörten den verschiedensten Klassen und Berufen an. Einige akademische Lehrer und eine Anzahl Studenten vertraten die Universität. Lehrer an höheren Schulen und an Volksschulen waren ebenfalls anwesend. Ferner ein Arzt, ein Rechtsanwalt, mehrere Geistliche, zwei Lehrerinnen für rhythmische Gymnastik und endlich eine beträchtliche Zahl jener geistig fortgeschrittenen, intellektualisierten Arbeiter, wie sie heute in jeder Großstadt zu finden sind.
Die Zuhörer saßen in drei konzentrischen Halbkreisen, deren Mittelpunkt der Platz des Vortragenden bildete. Ein Pult war nicht errichtet. Vielmehr nahm Ernst Fischer an einem behangenen Tische Platz, auf dem eine Anzahl Bücher aufgestapelt waren. Sein hohes ernstes Gesicht war von den scharfen braunen Augen und der zwar schmalen, aber stark hervorspringenden Nase beherrscht. Es trug die Spuren unablässiger Geistesarbeit. Heute war es blasser noch als sonst. Mit seinen hohlen Wangen, den düsteren Augen und den blutlosen Lippen sah es aus, als ob der Tod es gezeichnet habe.
„Freunde", begann er. „Ich habe Sie zu einer Aussprache eingeladen. Ich will mit Ihnen — nach Wahrheit suchen"
---es war, als ob ein sonderbares Lächeln seine Lippen
umspielte — — — „und behalte mir nur die Leitung der Aussprache vor. Ich werde Ihnen nur einige grundlegende Gedanken an Hand einiger Zitate von Marx entwickeln. Dann bitte ich, mit der Aussprache einzusetzen. Kurze Zwischenfragen bin ich auch während meiner grundlegenden Ausführungen zu beantworten bereit. Sind Sie einverstanden?" Niemand widersprach.
„Mein Vorschlag ist angenommen. Sie werden mir erlauben, ganz elementar vorzugehen, denn ich spreche hier nicht für ein gelehrtes Publikum, sondern für einen bunt zusammengesetzten Kreis, bei dem ich---den Ertrag meines
geistigen Strebens hinterlegen will."---
Es war, als ließen Ton und Art seiner Sprache im Gefühl seiner Zuhörer etwas gerinnen. „Er ist so verändert", flüsterte Walter Konrad zu. Dieser nickte und sah den Redner unverwandt mit besorgtem Blick an.
„Insbesondere ist es mir wertvoll", fuhr Fischer fort, „mich mit den anwesenden Arbeitern auseinanderzusetzen. Ihnen gilt diese Aussprache in erster Linie. Ich bitte Sie,
sich lebhaft zu beteiligen, auch wenn Sie einmal des Wortes nicht ganz mächtig sind. Das sind Äußerlichkeiten." —
Er winkte einem Studenten. „Ich lege unserer Aussprache einige Stellen aus den Werken von Marx zugrunde. Ich habe sie vervielfältigen lassen, damit die weniger Eingelesenen unter Ihnen die Worte vor Augen haben." Der Student trat herzu, nahm ihm ein Paket schreibmaschinengeschriebener Blätter ab und verteilte sie unter die Anwesenden.
„Ich beginne mit einem kurzen Satz, den auch die weniger Geschulten bewältigen können. Er enthält das Wesentlichste. Sie finden ihn im 18. Brumaire des Louis Bonaparte auf S. 34 der Dietzschen Ausgabe von 1922.
,Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen. Die ganze Klasse schafft und gestaltet sie aus ihren materiellen Grundlagen heraus und aus den entsprechenden gesellschaftlichen Verhältnissen." Fischer gönnte den Anwesenden einen Augenblick Zeit zum Überdenken des Textes.
„Sie finden hier bereits", fuhr er dann fort, „die einseitige Abhängigkeit des geistigen Lebens von den gesellschaftlichen Verhältnissen, die ihrerseits wiederum von ihren materiellen Grundlagen bedingt werden. — Etwas breiter ist dieser Gedanke in den beiden bekannten Stellen ausgedrückt, die Sie in dem Buch ,Das Elend der Philosophie' auf S. 91 der Dietzschen Ausgabe von 1921 und in der Vorrede ,Zur Kritik der politischen Ökonomie' finden. Beide Auszüge sind in ihren Händen. Ich verlese sie:
,Mit der Erwerbung neuer Produktivkräfte verändern die Menschen ihre Produktionsweise, und mit der Veränderung der Produktionsweise, der Art, ihren Lebensunterhalt zu gewinnen, verändern sie alle ihre gesellschaftlichen Verhältnisse. Die Handmühle ergibt eine Ge-
Seilschaft mit Feudalherrn, die Dampfmühle eine Gesellschaft mit industriellen Kapitalisten. Aber dieselben Menschen, welche die sozialen Verhältnisse gemäß ihrer materiellen Produktionsweise gestalten, gestalten auch die Prinzipien, die Ideen, die Kategorien gemäß ihren gesellschaftlichen Verhältnissen.
Somit sind diese Ideen, diese Kategorien, ebenso wenig ewig, als die Verhältnisse, die sie ausdrücken. Sie sind historische, vergängliche, vorübergehende Produkte.'
Das Zitat aus dem Vorwort des Werkes ,Zur Kritik der politischen Ökonomie von 1859', zitiert nach der Ausgabe von Kautsky, Berlin (Dietz) 1924, S. LV, lautet:
,In der gesellschaftlichen Produktion ihres Lebens gehen die Menschen bestimmte, notwendige, von ihrem Willen unabhängige Verhältnisse ein, Produktionsverhältnisse, die einer bestimmten Entwicklungsstufe ihrer materiellen Produktivkräfte entsprechen. Die Gesamtheit dieser Produktionsverhältnisse bildet die ökonomische Struktur der Gesellschaft, die reale Basis, worauf sich ein juristischer und politischer Überbau erhebt, und welcher bestimmte gesellschaftliche Bewusstseinsformen entsprechen. Die Produktionsweise des materiellen Lebens bedingt den sozialen, politischen und geistigen Lebensprozess überhaupt. Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt.'"
Einer der Anwesenden meldete sich. Es war ein jüngerer evangelischer Theologieprofessor, Angehöriger der sozialdemokratischen Partei. Er war — von Amthor abgesehen — der einzige Teilnehmer in der Versammlung, den Ernst Fischer zu fürchten hatte. Aus seinem stark durchgearbeiteten Gesicht, dessen Augen durch scharfe Brillengläser blickten, sprachen Geist und Verstand. Die Ruhe seines Wesens — wiewohl durch ständiges, leises, nervöses Vibrieren durchkreuzt — bewies Güte und Überlegenheit zugleich. Er diskutierte nie in den gewöhnlichen Formen der akademischen
Polemik. Seine Absicht blieb vielmehr stets auf Verstehen und Verstandenwerden gerichtet. Er galt — weit über Deutschlands Grenzen hinaus — als einer der bedeutendsten Köpfe der gelehrten Welt. In der Partei war er unbekannt.
„Verehrter Freund", begann er. „Sie schlagen mit der Häufung Marxscher Zitate ein Verfahren ein, gegen das ich von vornherein die ernstesten methodischen Bedenken anmelden möchte ..."
„Was meenen Se damit?" rief Emil nicht eben höflich dazwischen.
Der Theologe unterdrückte ein kleines Lächeln. „Ich meine", sagte er höflich zu Emil gewandt, „dass man so grundlegende Dinge bei Marx aus dem Ganzen seines Lebenswerkes beurteilen soll, nicht aus einem Bukett von Zitaten."
„Ich danke Ihnen", erwiderte Ernst Fischer, „dass Sie mir gleich zu Beginn Anlass geben, mich über diese Frage auszusprechen. Ich muss Ihnen natürlich in gewissem Sinne recht geben. Dass mein eignes Urteil nicht in dieser Weise fundiert ist, werden Sie mir ohne weiteres glauben."
Der Theologe nickte.
„Wenn ich heute diesen Weg einschlage, so bin ich insofern vor meinem eignen wissenschaftlichen Gewissen gesichert, dass ich die einzelnen Stellen auf das sorgfältigste unter dem Gesichtspunkt ausgewählt habe, inwieweit sie der Gesamthaltung von Marx entsprechen.
Überdies lässt uns Marx, indem er jede systematische Darstellung seiner eignen grundlegenden Gedanken vermeidet, für eine Aussprache wie diese, der enge Grenzen gezogen sind, kaum einen andern Weg übrig. Über den ,Geist' des ,Kapital' zu diskutieren, würde wohl uns beiden nicht zweckdienlich erscheinen."
Der Theologe bestätigte.
„Ich stelle also alle folgenden Ausführungen unter den Vorbehalt, dass eine Zusammenstellung, wie ich sie bringe, sich nur auf dem Grunde umfassender Studien des wissenschaftlichen Gesamtwerkes von Marx rechtfertigt und den Willen zu größtmöglicher Objektivität fordert."
Sein Kritiker machte eine zustimmende Geste. „Haste das kapiert?" fragte Emil den neben ihm sitzenden Otto leise.
„Natürlich! Halt's Maul!"
„Ich versuche nunmehr", nahm Fischer den Faden wieder auf, „die Beziehung der verlesenen Marxworte auf mein Thema herzustellen. Es handelt sich für uns um die Frage nach der Art des Zusammenhangs, der zwischen den Tatsachen des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lebens und denen des geistigen Lebens besteht.'
Man hat, verehrte Freunde, den strengen Sinn der angeführten Marxworte zu verwässern gesucht."
„Allerdings", bestätigte ein sozialistischer Redakteur.
„Man hat ihn darauf eingeschränkt, dass Marx die Bedeutung der ökonomischen Verhältnisse für alles gesellschaftliche Leben und damit für alles geistige Leben betont habe. Also eingeschränkt, verlieren die Aussagen von Marx jeden Eigensinn. Sie vertragen sich dann mit beinahe jeder Philosophie, mit beinahe jeder Soziologie. Denn niemand von uns wird die Bedeutung der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Verhältnisse für die Formen des geistigen Lebens bestreiten wollen. Dem Sinn der Marxschen Auffassung wird man mit solcher Auslegung nicht gerecht. Das Entscheidende ist bei Marx nicht die Abhängigkeit des Geistigen von dem, was er den materiellen Lebensprozess nennt, sondern die einseitige Abhängigkeit."
„Sehr gut!" rief ein Volksschullehrer.
„Es gibt bei Marx nicht eine gleichwertige Wechselwirkung zwischen den Erscheinungen des geistigen Lebens und dem materiellen Lebensprozess, sondern das Geistige ist einseitig an das Wirtschaftlich-Gesellschaftliche gebunden. Es ist sozusagen eine Nebenwirkung."
Ein Arbeiter meldete sich. „Herr Doktor, ich glaube doch, Marx hat nicht verkannt, dass die Ideen auf das gesellschaftliche Leben zurückwirken."
„Sie haben durchaus recht. Aber diese Rückwirkung ist eben Rückwirkung, d. h. sie ist der Rückprall eines geworfenen Balles auf seinen Ausgangspunkt, von dem aus er seinen Antrieb empfing. Sie ist nie selbständige Eigenwirkung. Auf das Wort eigen muss der Ton gelegt werden. Das Geistige hat nach Marx keine Eigenständigkeit, keine Eigengesetzlichkeit, keine Eigenwirkung. Es ist Widerschein, Reflex, Illusion. Es ist im Urteil von Marx irreal, sofern er ihm das andere als real entgegensetzt.
„Nach den Darlegungen der Grundlinie versuche ich nunmehr einzelne Punkte dieser Linie noch im besonderen zu klären. Ich frage zunächst: Welcher Art ist nach Marx der Zusammenhang zwischen der ,materiellen Existenz' und der ,geistigen Produktion?' Sie finden auf diese Frage bei Marx keine eindeutige Antwort. Aus gutem Grunde. Marx lehnte es ab, eine Philosophie zu schreiben. Er lehnte es ab, diese Frage losgelöst von bestimmten, konkreten Verhältnissen zu behandeln. Er hat sie nur gestreift. Seine Ausdrücke über die Art des Zusammenhangs von materieller Existenz und geistiger Produktion tragen unbestimmten Charakter. Er braucht entweder Bilder, so das angeführte von Ober- und Unterbau, so das ebenfalls angeführte, das in dem Worte ,entquellend' liegt. Oder er spricht von ,bedingt, bestimmt'. Er nennt die Ideen ,die Erzeugnisse der gesellschaftlichen Verhältnisse'. Oder er fasst es in die bekannte Formel im Vorwort zur zweiten Auflage des ,Kapital': ,Das Ideelle ist nichts anderes, als das im Menschenkopfe umgesetzte und übersetzte Materielle'.
Diesen mehrdeutigen Ausdrücken, deren Bedeutung nirgends wissenschaftlich präzisiert ist, kann mancherlei Sinn beigemessen werden. Doch wir kommen mit den Ausdeutungen nicht vorwärts. Marx hat gewusst, warum er den Ton nicht auf die wissenschaftliche Präzisierung dieses Sachverhaltes legte.
Er hatte dafür zunächst einen methodischen Grund. Er hielt es für unfruchtbar, diese Dinge auf die Ebene der
philosophischen Untersuchung zu bringen. Er wollte sie von der Ebene der konkreten soziologischen Untersuchung aus behandelt sehen. Er sagt darüber in den ,Theorien über den Mehrwert' I, 381, Ausgabe Dietz 1919:
,Um den Zusammenhang zwischen der geistigen Produktion und der materiellen zu betrachten, ist vor allem nötig, die letztere selbst nicht als allgemeine Kategorie (Anm.: Als allgemeinen Begriff.), sondern in bestimmter historischer Form zu fassen. Also zum Beispiel: Der kapitalistischen Produktionsweise, entspricht eine andere Art der geistigen Produktion, als der mittelalterlichen Produktionsweise. Wird die materielle Produktion selbst nicht in ihrer spezifischen Form gefasst, so ist es unmöglich, das Bestimmte an der ihr entsprechenden geistigen Produktion und der Wechselwirkung beider aufzufassen.'
Sodann verzichtete Marx auf eine ausführliche Beantwortung dieser Frage, weil sie ihm nicht wesentlich war. Es kommt ihm nicht auf das Besondere der Verknüpfung von materieller und geistiger Produktion an. Seine Grundauffassung zielt darauf nicht ab. Sie zielt nur darauf ab, das Geistige des selbständigen Daseins zu entkleiden. Es genügt für Marx die Feststellung, dass das Geistige nur der Ausdruck konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse ist, dass die Idee nur der theoretische Ausdruck von Produktionsverhältnissen ist, nur die besondere Form ist, in der ein bestimmtes Produktionsverhältnis erscheint. Die Art der Verknüpfung kümmert ihn nicht so sehr."
Ernst Fischer pausierte einen Augenblick. „Hat jemand von Ihnen zu diesen Ausführungen eine Rückfrage??" Alles schwieg.
„Eine zweite Spezialfrage, die geklärt werden muss, ist diese: Meint Marx wirklich das Geistige überhaupt, oder meint er vielleicht nur seine jeweilige historische Form, wenn er ihm die selbständige Existenz abspricht? Marx hat die
Frage im Kommunistischen Manifest selbst gestellt und beantwortet. Sie finden Sie auf ihren Blättern, Ausgabe des ,Vorwärts' von 1918, S. 43. Ich lese sie vor:
,Aber, wird man sagen, religiöse, moralische, philosophische, politische, rechtliche Ideen usw. modifizierten sich allerdings im Laufe der geschichtlichen Entwicklung. Die Religion, die Moral, die Philosophie, die Politik, das Recht erhielten sich stets in diesem Wechsel.
Es gibt zudem ewige Wahrheiten, wie Freiheit, Gerechtigkeit usw., die allen gesellschaftlichen Zuständen gemeinsam sind. Der Kommunismus aber schafft die ewigen Wahrheiten ab, er schafft die Religion ab, die Moral, statt sie neu zu gestalten, er widerspricht also allen bisherigen geschichtlichen Entwicklungen.
Worauf reduziert sich diese Anklage? Die Geschichte der ganzen bisherigen Gesellschaft bewegte sich in Klassengegensätzen, die in verschiedenen Epochen gestaltet waren.
Welche Form sie aber auch immer angenommen, die Ausbeutung des einen Teils der Gesellschaft durch den andern ist eine allen vergangenen Jahrhunderten gemeinsame Tatsache. Kein Wunder daher, dass das gesellschaftliche Bewusstsein aller Jahrhunderte, aller Mannigfaltigkeit und Verschiedenheit zum Trotz, in gewissen gemeinsamen Formen sich bewegt, in Bewusstseinsformen, die nur mit dem gänzlichen Verschwinden des Klassengegensatzes sich vollständig auflösen.'" „Bravo!" rief ein Arbeiter.
„Wenn ich die Gedanken der letzten Absätze noch einmal zusammenfassen darf, so ergibt sich dieses: Das Vorhandensein von Religion, Moral, Recht usw. in den verschiedensten Zeitaltern beweist nach Marx nicht, dass es Recht, Moral, Religion als dauernde oder gar ewige Kategorien gibt. Es erklärt sich vielmehr aus der Tatsache, dass alle diese Gesellschaftsformen ein Gemeinsames hatten: den Klassengegensatz. Daher müssen sie auch Gemeinsamkeiten des geistigen Prozesses aufweisen.
Sollte hinsichtlich des Urteils von Marx über den geistigen Lebensprozess noch irgendein Zweifel bestehen, so verweise ich auf die Haltung von Karl Marx gegenüber derjenigen Kategorie, die am ersten als ,ewige' angesprochen worden ist, gegenüber der Religion. Ich verlese einige Kernstellen":
Halblaute Worte wachsenden Interesses rieselten durch die anwesende Arbeiterschaft. Man blickte den Redner gespannt an.
„Ich bringe zunächst die bekannten Stellen aus dem Aufsatz: ,Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie' (Nachlass, I, S. 384 f.).
,Das Fundament der irreligiösen Kritik ist: Der Mensch macht die Religion, die Religion macht nicht den Menschen.'" „Sehr richtig!"
",Und zwar ist die Religion das Selbstbewusstsein und das Selbstgefühl des Menschen, der sich selbst entweder noch nicht erworben, oder schon wieder verloren hat.'" „Sehr gut!"
„,Die Aufhebung der Religion als des illusorischen Glückes des Volkes ist die Forderung seines wirklichen Glückes. Die Forderung, die Illusion über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.'" „Stimmt."
„,Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche. Die Kritik der Religion enttäuscht den Menschen, damit er denke, handle, seine Wirklichkeit gestalte, wie ein enttäuschter, zu Verstand gekommener Mensch, damit er sich um sich selbst und damit um seine wirkliche Sonne bewege. Die Religion ist nur die illusorische Sonne, die sich um den Menschen bewegt, so lange er sich nicht um sich selbst bewegt.'"
Vornübergebeugt, in gespannter Aufmerksamkeit hörten die Arbeiter zu.
„Ich erinnere ferner an die bekannten Worte aus dem Kapitel I, S. 46 und 585:
,Der religiöse Widerschein der wirklichen Welt kann überhaupt nur verschwinden, sobald die Verhältnisse des praktischen Werkeltagslebens den Menschen tagtäglich durchsichtige vernünftige Beziehungen zueinander und zur Natur darstellen.' Ich mache darauf aufmerksam, wie hier wieder indirekt die religiöse Welt als unwirklich bezeichnet wird." „Is sie ja auch!!"
„,Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eignen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eignen Hand beherrscht.'" Spontan brach der Beifall der Arbeiter durch. Sie klatschten begeistert. Ernst Fischer ignorierte es.
„Wir stellen endlich noch die Frage, die der heutigen Philosophie besonders wichtig erscheint: Legt Marx den Erscheinungen des geistigen Lebens einen Wert bei? — Mit den eindeutigen Feststellungen, die bisher gemacht wurden, scheint diese Frage bereits beantwortet. Dinge, die kein Eigenleben haben, können keinen eignen Wert besitzen. Auch den Gedanken lehnt Marx ab, dass die fortschreitende Entwicklung des materiellen Lebensprozesses etwa die Entfaltung des Geistigen auf neuer, höherer Ebene ermögliche, so dass wenigstens im Laufe der Geschichte eine Steigerung der Werte wahrzunehmen sei. Er sagt darüber:
,Da der Denkprozess selbst aus den Verhältnissen herauswächst, selbst ein Naturprozess ist, so kann das wirklich begreifende Denken immer nur dasselbe sein und nur graduell nach der Reife der Entwicklung, also auch des Organs, womit gedacht wird, sich unterscheiden.' (Neue Zeit, XX, 2, 222.)
Das bedeutet: Der geistige Lebensprozess ist auf fortgeschrittener Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung zwar differenzierter, aber nicht in seinem Wert erhöht. Dieses Wort ist um so bemerkenswerter, als Marx dem Denkprozess noch die relativ größte Bedeutung beimisst. Er kennt und betont den Unterschied von wahr und falsch. Er erkennt also, um in der Sprache der heutigen Wissenschaft zu sprechen, die Erkenntniswerte an. ja, er betont ihre Bedeutung auf das Nachdrücklichste. Das richtige und das falsche Bewusstsein ist in seiner Lehre von entscheidender Bedeutung. Gerade den Arbeitern unter ihnen wird das deutlich sein. Das Klassenbewusstsein ist es, das Marx wecken will. Das Bürgertum kann nach seiner Auffassung zu dem wahren Bewusstsein nicht mehr durchdringen. Seine gesellschaftliche Lage zwingt es in einen unaufhebbaren Zwiespalt von Handeln und Ideologie. Dem Arbeiter allein ist durch seine gesellschaftliche Lage das richtige Bewusstsein zugänglich. Dies Bewusstsein zu wecken war, wie Sie alle wissen, für Marx die Grundforderung. Er hoffte den Auflösungsprozess der kapitalistischen Gesellschaft auf diesem Wege zu beschleunigen. Ich brauche diese Behauptung wohl nicht zu belegen. Sie wird nicht auf Widerstand stoßen.
Verehrte Freunde, ich bin mit der ersten Hälfte meiner Ausführungen zu Ende. Ich stelle das Gesagte zur Diskussion. Wer von Ihnen will dazu sprechen?"
*
Ein Arbeiter meldete sich. „Ich möchte nur dem Herrn Doktor meinen Dank für seine Darlegungen aussprechen. Das musste einmal so klar und unwiderleglich gesagt werden. Es ist von höchster Wichtigkeit für die Arbeiterschaft, zu wissen, dass Marx nicht nur allen religiösen Spuk ablehnt, sondern alle Ideen nur als Erzeugnisse bestimmter Produktionsverhältnisse gelten lässt. Man liest das wohl in den Zeitungen. Aber der Arbeiter kann das nicht selbst in den Werken von Marx nachprüfen. Darum ist es sehr wertvoll für ihn, wenn es einmal so zusammengestellt wird."
Nun folgte ein Universitätsprofessor. Es war ein Mann mit eigentümlicher Physiognomie. Die gewaltige Stirn, durch eine Glatze betont, machte von ferne gesehen einen imponierenden Eindruck. Sobald man aber das Gesicht näher musterte, ergab sich eine merkwürdige Leere, auf der Ausdruckslosigkeit der Nase, den nichts sagenden Augen und der völligen Ungegliedertheit der Kopfmasse beruhend. In diesem seltsamen Widerspiel von Unbedeutendheit und Wucht kam der zwiespältige Charakter des Nachfahren zum Ausdruck. Er war der Sohn eines namhaften Gelehrten. Doch er hatte vom Vater nur die äußere Anlage zu starker Entfaltung der Gehirnmasse geerbt. Der beseelende Funke fehlte. Seine Stellung an der Universität verdankte er, wie so viele seinesgleichen, nicht seinen wissenschaftlichen Leistungen — sie erreichten nur eben einen bescheidenen Durchschnitt —, sondern der Tatsache, dass er der Sohn seines Vaters und daher von früh auf in den akademischen Kreisen eingeführt war. Er vertrat das Fach: Kulturphilosophie.
„Meine Damen und Herren!", begann er. „Die Ausführungen meines verehrten Kollegen Fischer" — er machte eine huldreiche Geste — „waren in sich so schlüssig, dass sie kaum anzufechten sein dürften. Der Marxismus erscheint danach als ein in sich geschlossenes System von völliger ......Geschlossenheit......ich wollte sagen ... Unangreifbarkeit. Ich will daher die Ausführungen unseres verehrten Herrn Referenten nicht in ihren Einzelheiten kritisieren. Das System als Ganzes aber ist ohne weiteres zu widerlegen ..." „Oho!"
„Und zwar von der Ebene der heutigen Kulturphilosophie aus, die mit zuvertreten ich die Ehre habe. Meine Damen und Herren! Die moderne Kulturphilosophie hat sich von der Vorstellung befreit, als ob ein Kultursystem (Anm.: Etwa durch Kulturgebiet zu ersetzen.), sei es Wissenschaft, sei es Staat, sei es Religion oder Wirtschaft, die Basis unsres kulturellen Lebens bilden kann. Sie sieht das kulturelle Leben vielmehr als eine Entität (Anm.: Ganzheit.), deren Komponenten in der Weise der Gestalt zusammenwirken. Sie wissen, welche wachsende Bedeutung die Gestalttheorie in — ich darf sagen — allen Wissenschaften gewinnt, von den Naturwissenschaften über die Psychologie in die Geisteswissenschaften hinein. Einer solchen Grundauffassung ist es unmöglich, die einzelnen Kultursysteme in jener Stufenleiter zu sehen, die der Herr Vortragende als charakteristisch für den Marxismus bezeichnete. Geistesgeschichtlich gesehen, bedeutet der Marxismus die Antithese zu einer idealistischen Philosophie, welche die Stufenfolge umgekehrt sah. Wir sind heute über These und Antithese hinaus und müssen von unserem Standpunkt aus jede Kulturphilosophie ablehnen, die nicht auf dem Prinzip der Gestalt aufbaut. Bei der gewiss noch großen Zahl der nachfolgenden Redner will ich es bei diesen grundsätzlichen Andeutungen bewenden lassen." Er wischte sich die Stirn und nahm mit Wucht seinen Platz ein.
Schon während seiner Ausführungen hatte sich der Redakteur eines sozialdemokratischen Blattes gemeldet, ein untersetzter, kräftiger Mann mit hoher Stirn und kleinen scharfen Augen.
„Genossen und Genossinnen!" begann er mit dem Brustton des berufsmäßigen Versammlungsredners. Ernst Fischer machte eine kleine Handbewegung.
„Verehrte Anwesende!" korrigierte er sich. „Wenn der Herr Professor meint, Marx leicht widerlegen zu können, so kann ich den Herrn Professor noch sehr viel leichter widerlegen."
„Bravo!" rief ein Arbeiter.
Einige Studenten lächelten.
„Wir lehnen die heutige bürgerliche Wissenschaft im Ganzen, damit also auch die Gestaltlehre des Herrn Professors, ab."
„Warum die heutige und nicht die ältere?" rief einer.
„Das wollte ich eben sagen. Wir wissen wohl, dass Marx vieles der Wissenschaft seiner Zeit entnommen hat. Das ficht uns nicht an. Denn damals war das Bürgertum noch eine lebendige, revolutionäre Klasse. Es hatte noch etwas zu
geben. Und wenn Marx seiner zeitgenössischen Wissenschaft etwas entnahm, so wusste er, was er tat. Das heutige Bürgertum dagegen ist derart zersetzt, dass der Klassenbewusste Proletarier ihm nichts mehr entnehmen kann." „Einstein!"
„Die Naturwissenschaften nehme ich aus." „Freud!"
„Sie wissen, dass die Psychologie zu den Naturwissenschaften gehört."
„Das glaubte man vor zwanzig Jahren!"
„Was der Herr Professor uns da aber über Kulturphilosophie aufgetischt hat, das ist ein so leeres Zeug ..."
„Sehr richtig!" bei den Arbeitern.
„dass sich ein näheres Eingehen darauf erübrigt."
Die anwesenden Arbeiter zollten demonstrativ Beifall.
„Ich bitte, in der Aussprache derartige Werturteile zu vermeiden", sagte Ernst Fischer.
Als nächster Redner sprach Walter. Er war der einzige unter den anwesenden Arbeitern, der Ernst Fischers Ausführungen ablehnte. Er focht die Darstellung von Fischer als einseitig an, indem er sich auf die späteren Erläuterungen von Engels berief.
„Ich bitte Sie, Engels aus der Diskussion auszuschalten", entgegnete Ernst Fischer. „Bei aller Verehrung, die ich für Engels empfinde, muss ich doch betonen, dass ihm die Strenge der Marxschen Gedankenführung fehlt. Die Auseinandersetzung mit ihm ist daher geeignet, jene Verwirrung in die Aussprache zu tragen, die ich vermeiden möchte."
Noch einmal nahm der Theologieprofessor das Wort: „Auch ich glaube", begann er, „dass der Marx, den unser Freund Fischer uns gezeichnet hat, von der Ebene irgendeiner heutigen wissenschaftlichen Position aus nicht zu überwinden ist."
„Sehr richtig!" bei den Arbeitern.
„Eine andre Frage ist die, ob die Lehren von Karl Marx in der Tat die Schlussfolgerungen zwingend machen, die der Redner zog. Ich muss noch einmal auf meinen vorhin gemachten Einwand zurückkommen. In ihrer Isolierung genommen sind die zitierten Stellen allerdings zwingend. Im Zusammenhang aber mit der marxistischen Dialektik gewinnen sie ein anderes Aussehen. Wie Sie wissen, gehört für Marx jederzeit These und Antithese zusammen. Nicht durch die einfache Preisgabe der These vollzieht sich der geschichtliche Fortgang, sondern durch die Überwindung in einem Dritten. Marx' eigne Lehre ist nur die Antithese zu eben jener bürgerlichen Ideologie, die er in ein Nichts glaubte zusammenschlagen zu können. Diese seine einseitige Haltung ist für ihn als Vertreter eines neuen Systems notwendig, — als Dialektiker aber braucht er beides, die These wie die Antithese. Sofern er seiner eignen Lehre irgendwelche Bedeutung zuschreibt — und dass er das tut, wird niemand bestreiten —, kann er ihr Gegenstück nicht einfach in einen Schemen verwandeln, sondern muss ihm soviel Realität zubilligen, als er für sich selbst in Anspruch nimmt.
Sodann ein zweites: Zwar lehnt Marx, der Wissenschaftler, die eigenständige Bedeutung der Idee ab. Das steht außer Zweifel. Als Vorkämpfer der Arbeiterbewegung aber hebt er diese Lehre selbst auf. Er verwirklicht jene hohe sittliche Kraft, die nur aus dem Urgrund jenseits aller Endlichkeit von Raum und Zeit zu ziehen ist, wo sich aller Relativismus selbst aufhebt. Und es liegt in der Abgründigkeit dieser seiner letzten Tiefen ..."
„Das verstehen wir nicht", rief ein Arbeiter.
„Wollen Sie damit die Religion hintenherum wieder einführen?" ein anderer.
„Ich sehe ein, dass ich auf Formulierungen hinauskomme, die hier nicht am Platze sind", erwiderte der Theologe ruhig und sachlich. „Ich glaube auch das Wesentliche von dem, was ich sagen wollte, wenigstens soweit angedeutet zu haben, dass der Redner mich verstanden haben wird und in seinem Schlusswort darauf eingehen kann."
„Ich bedaure lebhaft", nahm Ernst Fischer zur Erwiderung das Wort, „mich mit den Darlegungen des Herrn Professors im Rahmen dieser Aussprache nicht hinreichend auseinandersetzen zu können. Allerdings erledigt sich für mich die zweite Hälfte seiner Ausführungen verhältnismäßig einfach dadurch, dass meine ganzen Ausführungen nur Marx, dem Wissenschaftler, galten, nicht dem Politiker. In dieser Einschränkung aber, die ich nicht willkürlich mache, sondern für unerlässlich halte, wofern man zu Marx, dem Theoretiker, vordringen will" — der Theologe nickte — „muss ich für die dargelegten Gedanken strengste Gültigkeit beanspruchen.
Schwieriger ist die Auseinandersetzung mit dem ersten Einwand. Mit Einwilligung meines Kritikers stelle ich sie zurück, bis ich zum zweiten Teil der heutigen Aussprache gekommen bin."
„Wie Sie wünschen."
Der nächste Redner verriet den freundlichen Kleinbürger schon in der Erscheinung: Das runde Gesicht, der kleine Spitzbauch mit der Uhrkette aus Double quer darüber gespannt, die Röllchen. „Ich weiß nich, meine verehrten Herrschaften", begann er zutraulich, „ob ooch wohl mal e Gast e Wertchen sagen derfte?" Fischer machte eine zustimmende Geste. — „'s hat mich ausnähmd gefreit, was unser verehrter Herr Vorsitzender iber de Rillgon gesagt hat. Mit dem Schbug muss endlich mal uffgereimt wärrn! Für mich hat das noch ene ganz besondere Bedeitung! Ich bin nämlich der Vorsitzende des Vereins der Terrarium- und Aquariumfreunde ..."
Otto begann Emil auf die Füße zu treten.
„Meine verehrten Herrschaften! Sie ham sich vielleicht noch nich dariber Rechenschaft abgelächt, was so e Aquarium und Terrarium in der Arbeiterfamilie bedeiten gann ..."
„Ich weiß nicht, ob diese Dinge ..." unterbrach Ernst Fischer vorsichtig.
„Gleich, gleich, mein Verehrtester! Sie wärrn gleich sähn.
Ich behaupte nämlich, meine verehrten Herrschaften--
'e Aquarium oder Terrarium ist der beste nadirlichste Weech für de geschlechtliche Uffklärung, von der heide so viel de Räde is." Ernst Fischer gab Zeichen wachsender Ungeduld. „Gleich, mein verehrter Herr Fischer, gleich!!" Er setzte sich in Positur und nahm die Uhrkette zwischen Daumen und Zeigefinger der linken Hand. „Sähn Se, in so e Aquarium oder Terrarium, da kenn unsre Kinner den nadirlichen Vorgang der Befruchtung harmlos beobachten. Und dann wird der rilljöse Schbug von selber en Ende ham!! Das warsch, worauf ich Linaus wollde, Herr Vorsitzender. Darum, verehrte Anwesende, beherzigen Sie meine Mahnung: In jede Arbeiterwohnung e Aquarium! In jeden Schrewergarten e Terrarium!!"
Ein fröhliches Geriesel ging durch die Reihen. Bei den Studenten war plötzlich eine Hustenepidemie ausgebrochen. Selbst Fischers ernste Miene löste sich einen Augenblick.
Dann sprach Alexa Brand. „Ich bin dem Vortragenden überaus dankbar für seine klaren Darlegungen. Diese einfachen Sachverhalte sollten dem Arbeiter bei jeder Gelegenheit eingeprägt werden.
„Sehr richtig!"
Um die schmalen Lippen von Ernst Fischer spielte ein seltsames Lächeln.
„Ich möchte ihn bitten, diese Kernworte zusammenzustellen und für den Arbeiter herauszugeben ..." „Sehr gut!"
„Versehen vielleicht mit ein paar erläuternden Noten, die freilich", fügte sie mit ironischem Blick auf den Theologen hinzu, „nicht mit irgendwelchen Ideologien behaftet werden dürfen."
„Bravo", riefen die Arbeiter.
Es folgte ein protestantischer Pfarrer, ein Mann mit buschigen Augenbrauen und langem schwarzen Vollbart.
Mit seelsorgerischer Eindringlichkeit wandte er sich an Ernst Fischer. „Ich bin Ihren Ausführungen, verehrter Herr Doktor, mit lebhaftem Interesse gefolgt. Sie gewährten mir Einblicke völlig neuer Art. Denn die Kämpfe dieser Welt reichen selten in den stillen Frieden unserer in ihrem Erlöser verbundenen Gemeinde. Darum verstehe ich sie auch nicht ganz ..."
„So siehste aus", feixte Adolf halblaut.
„Es ist mir völlig unbegreiflich, wie Karl Marx in eine so furchtbare Entfremdung von seinem Gotte geraten konnte." Er sah mit großen Augen rundum. „Wenn ich an das Leben in unsrer Gemeinde denke — da gibt es keine sozialen Gegensätze!"
„Weil ihr alle Kleinbürger seid!"
„O nein, meine teuren Zuhörer! Glauben Sie mir! Wir sind durch die Liebe Christi wie ein Leib mit vielen Gliedern! Staunend stehe ich dieser Welt gegenüber, die das Evangelium Jesu verloren hat und in solchen Krämpfen sich windet----"
Schon erhob sich ein sozialistischer Gymnasiallehrer, ein großer, breiter, fetter Mann, auf dessem runden Gesicht mit den kleinen, munteren Äuglein stets der Glanz der Selbstzufriedenheit lag. Der Pastor setzte sich erschrocken.
„Wenn Sie wüssten, Verehrtester, wie unmittelbar Sie Karl Marx, dessen Grundgedanken uns der Vortragende so ausgezeichnet dargelegt hat, bestätigen!"
„Sehr gut!"
„Ihre Worte sind, wie Ihnen schon mit Recht gesagt wurde, nichts weiter als der Ausdruck Ihrer kleinbürgerlichen Existenz ..."
„Sehr richtig!" „Ausgezeichnet!"
„Genau so wie — um ein anderes Beispiel zu nehmen — der kategorische Imperativ Kants unmittelbar aus der Enge seiner dürftigen preußisch-professoralen Existenz zu erklären ist..." Die Arbeiter klatschten Beifall. „Ich werde Ihnen das gleich beweisen ..."
„Sie verzeihen", unterbrach Ernst Fischer. „Wir wollen die Debatte nicht auf dieses Niveau sinken lassen! Wenn wir anfangen, den einzelnen Menschen mit seinen Ansichten aus seiner Klassenzugehörigkeit erklären zu wollen, so geraten wir unter den Nullpunkt. Ein derartiges Verfahren ist plattester Vulgärmarxismus und zudem in seinen persönlichen Wirkungen eine Brunnenvergiftung." Er hatte heftiger gesprochen. Sein ganzes Wesen vibrierte.
„Na erlooben Se mal! Das verbitt'ch mer denn doch!" rief der Gymnasialprofessor entrüstet. Er zog es indessen vor, sich hinzusetzen — wenn auch mit dem ganzen Nachdruck, den seine Breite ihm verlieh.
„Sind die Anwesenden einverstanden, dass wir den ersten Teil unserer Aussprache abschließen?" fragte Ernst Fischer. Ein einstimmiges Ja war die Antwort.
„Wir sind uns darüber klar geworden", fuhr Fischer fort, „dass Karl Marx alles Geistige nur als Folgeerscheinung des materiellen Lebensprozesses ansieht, wobei die Art der Verknüpfung ungeklärt bleibt. Das Entscheidende ist, dass das Geistige kein Eigenleben, keine Eigengesetzlichkeit, keine Eigenständigkeit hat."
„Sehr richtig", bestätigte ein Arbeiter.
„Wenn ich die anwesenden Arbeiter richtig verstanden habe, so stimmen sie — mit ein oder zwei Ausnahmen — dieser Auffassung vorbehaltlos zu."
„Jawoll!" „Sehr richtig!" „Stimmt!" — tönte es von allen Seiten. Der protestantische Pfarrer schüttelte in tiefer Bekümmernis den Kopf.
„Anders gewendet: Die gesamte Ideenwelt eines Zeitalters ist nicht eine selbständig wirkende Kraft, die das gesellschaftliche Sein bestimmen könnte" — „Sehr richtig!" — „vielmehr bestimmt das gesellschaftliche Sein das Bewusstsein ..."
„Sehr richtig!" „Sehr gut!" „Stimmt!" „Wobei Marx nicht verkennt, dass Rückwirkungen von den einmal gebildeten Ideen auf den gesellschaftlichen
Lebensprozess stattfinden. Insbesondere gilt ihm das für den Erkenntnisvorgang."
„Sehr richtig!" „Wissen ist Macht!"
„Sind Sie ferner einverstanden, dass ich mich ganz und gar an Marx, den Wissenschaftler, halte! Von dem sozialen Propheten sehen wir ab, nicht wahr?"
„Selbstverständlich!" „Der Sozialismus geht immer mit der modernen Wissenschaft!" „Die alten Propheten sind tot, und die neuen taugen nischt."
„So ziehe ich denn aus diesen Thesen, die Sie" — zu den Arbeitern — „restlos anerkannt haben, die Konsequenzen."
*
Ernst Fischer war aufgestanden. Seine schmale Gestalt reckte sich hoch auf. Düster glomm das Feuer seiner Augen; sein Antlitz war kreidebleich. Er sprach langsam, ruhig, in äußerster Selbstbeherrschung, jede Silbe betonend. Die Arbeiter blickten in zuversichtlicher Erwartung zu ihm auf.
„Die erste Konsequenz dieser Lehre ist die Aufhebung von Marx selbst als einer eigenständigen, das gesellschaftliche Sein bestimmenden Größe."
Eine Bewegung ging durch die Versammlung.
„Wir sind gewohnt, ihn als eine Senkrechte im horizontalen Verlauf der Geschichte zu sehen. Diese Geschichtsauffassung widerspricht seiner eignen Grundstellung."
„Natürlich!! Ausgezeichnet, Herr Kollege!!" rief der Kulturphilosoph.
„Ruhe", gab ein Arbeiter zurück.
„Zwar hat Marx anerkannt, dass der einzelne sich über das Niveau seiner Klasse erheben kann. Nach seinen eignen Worten kann ein Bürgerlicher zum theoretischen Verständnis der Arbeiterbewegung vordringen. Niemals aber kann ein gedankliches Gebäude mehr sein als der Ausdruck der jeweiligen Produktionsverhältnisse, also auch sein eigenes nicht"
„Nanu!!----"
„Betrachten wir dieses Lehrgebäude als den Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse seiner eignen Epoche etwas näher! Dann erscheint die einseitige Wertung der Erkenntnisvorgänge als der unmittelbare Ausdruck der frühkapitalistischen Wirtschaft. Rechenhaftigkeit, enge Begrenztheit auf das Nüchterne, Verstandesmäßige, einseitige Überwertung der Wissenschaft — das ist der geistige Widerschein jener gesellschaftlichen Phase. Anders gewandt: Der Gedanke von der Bewusstmachung der Klassenlage ist die angemessene Ideologie jener Epoche, ihr geistiger Überbau, der sich mit der Wandlung des Unterbaus von selbst umwälzt. Wenn Sie Marx mit seinen eignen Maßstäben messen, können Sie zu keiner andern Auffassung kommen. Dann hat Marx für unsere geistige Haltung noch etwa soviel Bedeutung wie die ersten Morseapparate für die moderne drahtlose Telegraphie."
Es war totenstill im Saal geworden.
„Aber lassen wir einmal diese äußerste Konsequenz beiseite! Nehmen wir die innere Gedankenfolge des Systems selbst. Das stärkste, was das Denken vermag, ist nach Marx, sich des Zusammenhangs von Unterbau und Oberbau bewusst zu werden und aus dieser Erkenntnis den gesellschaftlichen Lebensprozess seinen eignen Bedingungen gemäß zu beschleunigen. Darüber hinaus wirkt das Geistige höchstens in der Form verkrusteter Ideologien, deren eine ich soeben zerschlagen muss."
Er hielt einen Augenblick inne.
„Sie können also Karl Marx nie ansprechen als den Mann, dessen Gedankengebäude den Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung durch Auslösung neuer Ideen entscheidend zu wenden vermochte oder vermag."
„Da hört's doch uff!!"
„Es können keine anderen Wirkungen von ihm ausgehen, als die der Erkenntnis und des erkenntnisbestimmten Handelns. Ideen darf man mit seinem Namen nicht in Verbindung bringen. Klassenkampf, Solidarität, klassenlose Gesellschaft sind für ihn gesellschaftliche Tatsachen, nichts sonst. Als Ideen entbehren sie allen Eigenlebens, haben sie keinerlei Realität. Und wenn er den höchsten Zorn seiner sittlichen
Entrüstung schäumen lässt und jene ungeheuren Werturteile fällt, ,Das Kapital kam zur Welt vom Kopf bis zur Zeh aus allen Poren blut- und schmutztriefend', wenn er von ,Ausbeutung', ,Niedertracht', ,infam', ,Vandalismus', ,kleinlich und gehässig' spricht, so ist das alles nichts als der geistige Widerschein jener spannungsreichen Gesellschaft des beginnenden Hochkapitalismus aus den fünfziger und sechziger Jahren. Als sittlicher Wert hat solches Ethos genau soviel Eigenständigkeit, Eigenwert, Eigengesetzlichkeit, wie die Idee der unbefleckten Empfängnis Mariä in der mittelalterlichen Feudalgesellschaft, oder die lutherische Lehre von der Sündenvergebung im Zeitalter des Übergangs vom Handwerk zur Manufaktur."
„Sehr gut, Herr Kollege", rief der Kulturphilosoph.
„Wenn Sie Marx, den Wissenschaftler, ernst nehmen, können Sie zu keinem andern Resultat kommen. Der Soziologe Marx hebt den Sozialethiker Marx restlos auf. Lassen Sie den Wissenschaftler Marx fallen, so mögen Sie mit dem Bilde des Propheten Marx Ihr Banner schmücken, mit seinen starken Worten Ihre Versammlungen beleben — aber seien Sie sich dann bewusst, dass der Wissenschaftler Marx das alles mit blutigem Hohn zurückweisen müsste."
Wieder pausierte er einen Augenblick. Die Arbeiter starrten ihn entgeistert an.
„Im Vorbeigehen möchte ich bemerken", wandte er sich an den evangelischen Theologieprofessor, „dass in diesen Ausführungen die Antwort auf Ihren Einwand liegt. Nicht beweist die Wirklichkeit der Marxschen Antithese die Wirklichkeit der bürgerlichen These. Die Irrealität beider ist vielmehr die Konsequenz der Lehre von Karl Marx."
„Das können Sie zweifellos auf Grund der Marxschen Theorie sagen", entgegnete der Theologe.
„Die Schlussfolgerungen der Marxschen Grundsätze", fuhr Fischer wieder zur Allgemeinheit gewendet fort, „gehen noch sehr viel weiter. Mit den Lehrsätzen von Karl Marx ist die Bedeutung aller älteren Ideologien für die Arbeiterbewegung aufgehoben. Sie können aus dem Befreiungskampf des Bürgertums keine Ideen für den Befreiungskampf des Proletariats übernehmen, keine! Marx hat das selbst wiederholt ausgesprochen. Er bezeichnet ,Gerechtigkeit, Freiheit und Gleichheit und fraternité (Brüderlichkeit)' als ,die Göttinnen der modernen Mythologie'. Bitte, prägen Sie sich das Wort ein, meine verehrten Zuhörer: Die Göttinnen der modernen Mythologie!! Oder Marx schreibt:
,Gerechtigkeit, Menschlichkeit, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, Unabhängigkeit... diese mehr oder weniger moralischen Kategorien, die zwar sehr schön klingen, aber in historischen und politischen Fragen nichts beweisen!!! Die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit, die Freiheit usw. mögen tausendmal dies oder jenes verlangen, ist die Sache unmöglich, so geschieht sie nicht und bleibt trotz alledem ein leeres Traumgebilde.' (Nachlass III, 249.)
Bitte, meine verehrten Freunde, nehmen Sie alle diese Urteile in Ihr Bewusstsein auf!! Und wenn Sie in Zukunft den Vers singen ,Die Internationale erkämpft das Menschen-recht' oder die Arbeiter-Marseillaise mit ihren Worten von der Freiheit, vom gleichen Recht, von grünen Hoffnungssaaten und kühnen Taten---------so
versäumen Sie nicht, immer zugleich das Gesicht von Karl Marx zu sehen, wie er Sie mit beißendem Hohn in seinen blitzenden Augen anlächelt: ,Mythologien, meine Herren, Mythologien! Mich haben Sie nicht verstanden!! Oder sofern mich einige von Ihnen verstanden haben sollten, so versagen Ihnen die Nerven. Sie vermögen mich nicht zu ertragen.'"
Die Arbeiter begannen unruhig zu werden.
„Und wenn die Jugend seine Bilder auf ihren Bannern trägt und begeistert ausschreitend die Worte der Aufklärung aus dem achtzehnten Jahrhundert singt: ,Der Mensch ist gut!! Der Mensch ist frei!! Die Welt ist schön', so möge sie wissen, — — — dass Karl Marx darüber herzlich lachen würde: ,Mythologien, ihr guten Kinder!'"
Der Widerstand bei den Arbeitern wuchs.
„Die geistigen Urheber solcher Veranstaltungen fallen unter sein Wort im Briefwechsel mit Engels, IV, 405, ,von der ganzen Bande halbreifer Studiosen und überweiser Doktoren, die dem Sozialismus eine höhere ideale Wendung geben wollen.'"
„Pfui!!!--"
„Verehrte Freunde--ich zitierte nur Karl Marx. Im
übrigen----gebe ich Ihnen die Versicherung, dass
Sie heute Abend das letzte Wort behalten werden!!---
Darum gestatten Sie mir noch einige Augenblicke."
„Was er heute nur hat", sagte Walter leise zu Konrad. Konrad antwortete nicht. Aus seinen Augen sprach wachsende Angst.
„Ich sprach soeben", nahm Ernst Fischer den Faden wieder auf, „von den Ideologien der bürgerlichen Vergangenheit, deren Übernahme durch das Proletariat Karl Marx aufs schärfste ablehnt und in Konsequenz seiner eignen Lehre ablehnen muss. Die weitere Konsequenz ist die Ablehnung aller nachfolgenden proletarischen Ideologien. Was die Arbeiterbewegung an schwungvoller Lyrik — wenn auch in Form pseudowissenschaftlicher Abhandlungen — aus den Jahrzehnten vor dem Weltkriege hinterlassen hat, das ist nichts, als der Ausdruck der gesellschaftlichen Verhältnisse jener Zeit, mit dieser Zeit auftauchend, mit ihr vergehend, ist günstigstenfalls Bewusstwerden der eigenen Lage, im übrigen geistiger Überbau, Widerschein, Illusion, Mythologie. Nehmen Sie z. B. ein Wort von Bebel in dem Buch: Die Frau und der Sozialismus, Ausgabe Dietz, 1919, S. 382 — ein Buch, das eine wahre Fundgrube für ideologische Konstruktionen aus dem letzten Drittel des vorigen Jahrhunderts ist. Bebel schreibt:
,Heute sind Befriedigung des persönlichen Egoismus und Gemeinwohl meist Gegensätze, die sich ausschließen, in der neuen Gesellschaft sind diese Gegensätze aufgehoben; Befriedigung des persönlichen Egoismus und Förderung des Gemeinwohls stehen miteinander in Harmonie,
sie decken sich'---
Mythologien aus dem achtzehnten Jahrhundert würde Marx sagen. Und nun gar die bürgerliche Ideologie jenes Zeitalters, deren Schriften der klassenbewusst sich nennende Arbeiter zum Grundstock seiner Erkenntnis macht: Haeckel, Boelsche und andere!! Hören Sie etwa Haeckel mit seinen unsterblichen Formulierungen in den Welträtseln! Ich zitiere nach Kröners Taschenausgabe, 1918, S. 209/10:
,Zur Förderung dieser hohen Ziele erscheint es höchst wichtig, dass die moderne Naturwissenschaft nicht bloß die Wahngebilde des Aberglaubens zertrümmert und deren wüsten Schutt aus dem Wege räumt, sondern dass sie auch auf dem freigewordenen Bauplatze ein neues, wohnliches Gebäude für das menschliche Gemüt herrichtet, einen Palast der Vernunft, in welchem wir mittels unserer neugewonnenen monistischen Weltanschauung die wahre Dreieinigkeit des neunzehnten Jahrhunderts andächtig verehren: Die Freiheit des Wahren, Guten und Schönen.'
Hören Sie nicht, wie Marx dazu murmelt: ,Mythologien!! Mythologien!!' Zu dem letzten dieser drei Ideale bemerkt Haeckel weiter:
,Die Göttin der Wahrheit wohnt im Tempel der Natur, im grünen Walde, auf dem blauen Meere, auf den
schneebedeckten Gebirgshöhen'---—
Mythologien, meine Herren, Mythologien.-----
„Von stärkster Bedeutung aber wird die Lehre von Karl Marx, wenn Sie sich Ihre eigne geistige Welt anschauen, jenen Überbau des spätkapitalistischen Zeitalters über seine Gesellschaftsformen! Selbstspiegelung vergangener Gesellschaftsformationen sind mit Selbstspiegelungen der gegenwärtigen Gesellschaft zu einem unauflöslichen Ganzen verklittert. Die einzige wirkliche Leistung, die Ihnen nach Karl Marx bleibt, ist die, sich der eignen Lage bewusst zu werden. Alles, was Sie darüber hinaus an geistigen Gebilden produzieren, fällt unter die Begriffe: Überbau, Widerschein, Illusion, Mythologie. Das gilt von den schwungvollen Worten Ihrer Morgenfeiern und Ihrer Abendfeiern. Das gilt von Ihren Worten und Liedern am 1. Mai. Das gilt von Ihrer Jugendweihe, die Sie mit einem ganzen Schwall ideologischer Formen gegenwärtiger und älterer Gesellschaftszustände zu übergießen pflegen. Das würde von der Tauffeier gelten, wenn Sie, was nahe liegt, darauf verfallen sollten, auch für dieses christliche Symbol einen Ersatz zu bilden. Sie könnten wiederum nur den einen Inhalt hineinlegen — den Säugling zum Bewusstsein seiner Klassenlage zu bringen."
Lachen bei den Studenten. Einige Arbeiter verließen den Saal.
„Das gilt von den Leichenfeiern, die Sie nicht entbehren können, und die nach Marx wiederum nur den einen Sinn haben können, sei es, die Überlebenden, sei es, die Toten zum Bewusstsein ihrer Klassenlage zu bringen."
„Das ist gemein!!!--"
„Auch Ihre Revolutionsfeiern schmücken Sie mit allen Resten aus der Vergangenheit, während Karl Marx es ganz klar ausgesprochen hat, dass die Revolution der Zukunft ihre eigene Poesie haben wird. Sie schmücken sie auch mit den ideologischen Gebilden des gegenwärtigen spätkapitalistischen Zeitalters, ohne einen Augenblick darüber nachzudenken, welche Bedeutung solchen Gebilden nach der Theorie von Karl Marx zukommen kann. Sie können eben Karl Marx nicht aushalten. Sie brauchen Mythologien, die der kleinbürgerlichen Gesellschaftslage der oberen Arbeiterschicht entspricht — mit allen typischen Kennzeichen kleinbürgerlichen Empfindens — große Worte, viel Rührung, wenig Richtung — mit einem Wort: im Innersten unmarxistisch! Der Phrasenwust Ihrer Zeitungen, Ihrer Versammlungen, ist Ideologie aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Die gleiche Ideologie verbrämt mit Fetzen aus der Gegenwart..."
„Kerl, bist du verrückt?!!" Emil war es, der in rasender
Wut aufgesprungen war und dem Redenden die Worte ins Gesicht schleuderte. Ernst Fischer zuckte zusammen.
„Nein, nur konsequent", sagte er mit der Ruhe dessen, der das Leben bereits hinter sich geworfen hat.
Konrad und Walter zerrten den Wütenden auf seinen Platz nieder.
„Ich sehe in Ihrer Aufwallung nur eine Bestätigung der Lehre von Karl Marx. Der geschundene und getretene Proletarier der Marxschen Gesellschaftsepoche konnte die Herbheit der Marxschen Lehre noch aushalten. Er bekam keine Nervenzufälle, wenn man ihm sein wachsendes Elend demonstrierte. Der heutige Kleinbürger kann das nicht mehr. Er schreit unablässig seinen Marxismus in die Welt, aber er baut sich eine Ideologie hinein, die der Ausdruck eben seiner gesellschaftlichen Verhältnisse ist und mit dem geistigen Widerschein jener älteren Welt nur noch wenig zu tun hat. Gestatten Sie mir, das in Bezug auf zwei Tatsachen näher auszuführen.
„Sie beginnen neuerdings mit Kindererziehung — eine Arbeit, die nach Karl Marx nur darin bestehen dürfte, dem Kind seine Klassenlage bewusst zu machen. Damit kommen Sie nicht aus. Es ist charakteristisch, wenn August Bebel auf Seite 457 seines schon zitierten Buches ,Die Frau und der Sozialismus' bei Besprechung des sozialistischen Erziehungswesens dem Bürgertum vorwirft: ,Sie haben keine Ideale mehr!' Man braucht ,Ideale' eben zur Erziehung. Sie werden schwerlich einem Kind aus seiner Klassenlage klar machen, warum es nicht lügen, oder sich nicht an sich selbst geschlechtlich vergehen soll. Sie übernehmen in dieser Verlegenheit das seichteste Schlagwort der niedergehenden bürgerlichen Gesellschaft: Die Forderung nach Gemeinschaft. Ich hoffe, Ihnen eine Empfindung dafür beigebracht zu haben, wie ungeheuer Marx darüber lachen würde.
Das zweite ist Ihr Pazifismus. Kriege sind gesellschaftliche Verwicklungen, von Marx nie anders gesehen, als im Zusammenhang der gesellschaftlichen Gesamtlage. Wenn die
Bedingungen der materiellen Produktion des Lebens den Krieg fordern, so wird er kommen. Wenn er nicht gefordert wird, so wird er nicht kommen. Ich kann auch hier nur das schon zitierte Wort von Marx noch einmal einsetzen: ,Die Gerechtigkeit, die Menschlichkeit, die Freiheit mögen tausendmal dieses oder jenes verlangen, ist die Sache unmöglich, so geschieht sie nicht'."
Er hielt einen Augenblick erschöpft inne. Seine Zuhörerschaft verharrte in feindseligem Schweigen.
„Zum Schluss", fuhr er fort, „einen Ausblick in die Zukunft. Sieht Marx für die klassenlose Gesellschaft eine andere, eine eigenständige Bedeutung des geistigen Lebensprozesses vor? Mit Nichten! Er schreibt, wie wir schon früher zitieren: ,Der Arbeiter hat keine Ideale zu verwirklichen'----------"
Er brach ab.
Die Aufregung der anwesenden Arbeiter war einem finsteren Hass gewichen. Der Redner, dem man begeistert zugestimmt hatte, war zum Todfeind geworden.
Ernst Fischer holte zu seinem letzten Schlage aus. Da brach plötzlich seine erzwungene Ruhe nieder. Die lodernde Leidenschaft schlug durch, wie die Flamme aus dem Dach eines brennenden Hauses. Eine heiße Röte flog über sein Gesicht, und in wilder Bewegung hoben sich die Arme. Amthor stand auf. Er trat aus der Reihe und lehnte sich mit verschränkten Armen an die Wand, den Redner scharf fixierend.
„Nicht wahr", rief Fischer aus, „es ist ein Teufelswerk, das ich an Ihnen getan habe?! Alles habe ich Ihnen niedergerissen! Aber es musste sein — es musste sein!! Doch solches Teufelswerk überlebt man nicht. Das fordert den Tod!!"
Unauffällig ging Konrad einige Schritte vor. Fischer sah ihn. Ihre Augen trafen sich für eine Sekunde. Da steigerte sich Fischers Leidenschaft zur Raserei:
„Es ist kein zufälliges Werk, das ich an Ihnen tue!" rief er in die Versammlung. „Ich bin kein Zufälliger, Einzelner.
Ich bringe Ihnen den Gruß des sterbenden Bürgertums, das durch meinen Mund zu Ihnen spricht. Es kann Ihnen nichts mehr geben. Aber es kann Ihnen noch den letzten Dienst erweisen, Ihnen die Binde von den Augen zu reißen. Entweder Sie lösen sich von Marx in der Frage der Eigenständigkeit des Geistigen. Dann seien Sie ehrlich genug, das einzugestehen. Oder aber Sie konservieren jene überalterte Theorie vom ,Widerschein'. Dann schicken Sie auch ihre eigene Ideologie und deren Ausdrücke: Sonnwendfeier, Jugendweihe, Abendfeierstunde, Frauenfeierstunde und wie es alles heißt, zum Teufel. Haben Sie nicht die Kraft, in diesem unerbittlichen Entweder—Oder die Wahl zu treffen, gut — so gehen Sie daran zugrunde! Dann ist es nicht schade um Sie! Dann haben Sie keine geschichtliche Aufgabe mehr zu erfüllen. Ich bin am Ende; ich habe die Mission erfüllt, die das Leben mir übertragen hatte."
Jähes Grauen hatte alle Anwesenden gepackt. Einen Augenblick noch ließ Ernst Fischer seine brennenden Augen über die Versammelten schweifen. Dann ging er mit festen Schritten aus dem Saal.
Konrad sprang vor und wollte ihm nacheilen. Aber schon hatte sich die Tür hinter Ernst Fischer geschlossen. Ein Schuss fiel. Lähmendes Entsetzen legte sich über die Versammelten. Niemand wagte, sich zu rühren. Auch Konrad zögerte einige Sekunden, dann ging er Ernst Fischer nach. Alles verharrte in banger Erwartung. Einen Augenblick später kehrte Konrad zurück.
„Er ist tot", sagte er----„Durch eigne Hand." |
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