l. Buch: STICKSTOFF
I. Die Dik-ta-tuur des Proletariats!!
Wer soll denn über die Menschen herrschen, wenn nicht der, der ihr Gewissen unterjocht und in dessen Händen das Brot ist?
Dostojewski.
Die Direktion des Unawerkes hatte in dem Privatkontor des Generaldirektors eine vertrauliche Besprechung. Der Chef fasste das Ergebnis der Aussprache zusammen:
„Nicht wahr, meine Herren, wir verstehen uns. Es handelt sich darum, in die Belegschaft einen Keil zu treiben, und zwar so unauffällig, dass sie die Geschichte erst merken, wenn es zu spät ist. Harmlos genug sind sie ja dazu. Die Werkswohnungen werden nur an zuverlässige Leute vermietet. Natürlich auch unauffällig. Ungeeignete Bewerber werden vertröstet, nötigenfalls unter irgendeinem Vorwand entlassen, nachdem man ihnen die Zusage auf eine Wohnung gemacht hat. Die Arbeiter aus den Großstädten und die Arbeiter aus bäuerlichen Bezirken werden getrennt. Im Bau II, VIII, XIII und XX sind die Arbeiter aus ländlichen Distrikten zu konzentrieren. Von diesen Stellen aus lässt sich das Werk beherrschen. Auch sind dorthin, soweit es der Betrieb zulässt, die am wenigsten gesundheitsschädlichen Arbeiten zu verlegen. Bei der Prämienverteilung werden diese Baue bevorzugt. Doch müssen auch hier alle in die Augen springenden Maßnahmen vermieden werden. Der
Betriebsrat muss aufgelöst werden, selbstverständlich ohne alle gewaltsamen Schritte. Die Mittel und Wege haben wir besprochen. Sind wir erst soweit, dann entlassen wir, was noch an Hetzern im Werk zurückgeblieben ist und unterstellen von da ab alle Arbeiter der strengsten Kontrolle."
„Eben diese Kontrollmaßnahmen, Herr Generaldirektor", bemerkte der zweite Direktor, „müssten vielleicht noch detailliert werden."
„Ganz recht. Also zunächst: an der Sperre körperliche Untersuchung auf Bücher, Flugschriften und Waffen."
„Eine derartige Maßnahme dürfte auf starken Widerstand stoßen, Herr Generaldirektor."
„Sobald der Betriebsrat aufgelöst ist, hat das nichts zu sagen. Ob die Kerls in ihren Zeitungen stänkern oder nicht — danach kräht kein Hahn und kein Huhn. Weiter: In die Betriebsordnung, die jeder mit dem Eintritt in das Werk anerkennt, ist die Bestimmung aufzunehmen, dass die Einführung und Verbreitung von Schriften mit sofortiger Entlassung bestraft wird. Desgleichen jedwede politische Agitation."
„Eine Bestimmung, die allerdings gegen die Reichsverfassung verstößt", sagte der anwesende Syndikus.
Der Generaldirektor lachte auf. „Wenn's weiter nichts ist, Verehrtester! Papier ist geduldig!"
„Ich möchte mir gestatten, noch darauf hinzuweisen, dass offenbar vielfach Verabredungen auf den Aborten stattfinden", warf ein technischer Subdirektor ein.
„Allerdings!" bestätigte der Chef. „Da müsste Abhilfe geschaffen werden."
„Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben darf, so möchte ich raten, Fenster neben den Aborttüren anzubringen, von denen aus sich der Abort überblicken lässt. Dann lässt sich auch das auf den Aborten benutzte Papier eher kontrollieren."
Die Herren lachten. „Wie kann man so indiskrete Einfälle haben, Neumann!"
„Die Idee ist glänzend", entschied der Generalgewaltige. „Lassen Sie sofort die Einrichtung anbringen!"
„Aber bitte nicht im Gebäude der Direktion!" Die Klubsessel federten unter dem Gelächter der schweren Männer. Ein paar halblaute Herrenzimmerwitze fielen.
„Ich meinerseits", nahm der zweite Direktor das Wort, „würde einen besseren Ausbau des Spitzelsystems für notwendig halten. Es genügt nicht, wenn man sie nur im Werk hat. Vor allem müssen die Leute in den Bahnen beobachtet werden. Dort geben sie sich unbefangen."
„Sehr richtig", bestätigte der Generaldirektor. „Finkenstein, wollen Sie das ad notam nehmen. Ich glaube auch, dass in dieser Beziehung noch viel geschehen kann. Die Kosten spielen keine Rolle."
„Ich möchte noch vorschlagen", nahm der Chef des Baubüros das Wort, „die Werksiedlung mit einem ganzen System von Unterhaltungsstätten zu versehen."
„Sie wollen natürlich wieder bauen, Müller!"
„Herr Generaldirektor wollen die Bedeutung derartiger Anlagen nicht unterschätzen. Wenn ein Kino, ein Theater, gute, komfortable Gaststätten, ein Sportplatz, ein Bad, eine Planschwiese..."
„Er wird idyllisch!"
„... am Orte sind, so wird der Arbeiter von seinen politischen Zicken ganz von selbst abgelenkt!"
„Sicherlich, Müller! Sie haben vollkommen recht! Es wird den Herren ja bekannt sein, welchen Erfolg der Faschismus in Italien mit der Organisation: ,Dopo lavoro' erzielt hat. Sie hat einen großen Vergnügungsapparat für den Arbeiter aufgezogen und zersetzt auf diesem Wege sein politisches Interesse. Also Müller: Machen Sie uns einen Entwurf mit Kostenanschlag. Dabei fällt mir noch eins ein: Wie Sie wissen, sind seit dem Kriege eine ganze Anzahl so genannter Arbeiterbildungsstätten errichtet. Das hatte uns gerade noch gefehlt! Sie wollen dafür sorgen, dass Urlaub zu Bildungszwecken grundsätzlich nie erteilt wird. Wir stehen mit dieser Maßnahme nicht allein. Eine ganze Anzahl Werke
macht es ebenso. Hat noch einer der Herren einen Vorschlag?"
Alles schwieg.
„So ist die Sache geklärt. Gehen wir in dieser Weise zielbewusst vor, meine Herren, dann beherrschen wir in einem Jahr das ganze Werk!"
Der Kreis löste sich auf. Man stand noch in kleineren Gruppen zusammen. Der Generaldirektor hatte mit dem jüngsten Herrn der Direktion einiges zu verhandeln. Es war ein ehemaliger höherer Offizier. Wie so viele seinesgleichen war er nach Auflösung der deutschen Wehrmacht im Jahre 1918 in die Industrie gegangen. Klugheit und starker Wille sprachen aus seinem Gesicht.
„Und dann noch eins, Herr Generaldirektor ..."
„Bitte sehr."
„Die Beiträge für eine gewisse politische Organisation sind wieder einmal fällig. Könnte ich Sie in der Angelegenheit vielleicht noch einmal sprechen?"
„Selbstverständlich, Herr von Blücher! Hernach, wenn die anderen Herren fort sind."
„Die politische Situation", begann der Chef, als sie allein einander gegenübersaßen, „klärt sich in erfreulicher Weise. Auf der einen Seite konsolidieren sich die Ordnungsparteien immer mehr. Es war ein Fehler, dass sie in die Regierung gingen. Hierarchie, Autorität, Disziplin — darum handelt sich's heute. Im übrigen: abwarten. Die anderen an dieser verteufelten Nachkriegssituation kaputt gehen lassen! Regieren können sie ohnehin nicht. Die wenigen von ihnen, die was von Politik verstehen, müssen mit innerer Notwendigkeit scheitern, wie Ebert gescheitert ist. So wächst in ihren Reihen die Desorganisation, indes unsere Leute sich sammeln. Dass die allgemeine Unzufriedenheit ihre Wählerstimmen vermehrt, hat nichts zu sagen. Es ist sogar günstig für uns. Denn auf diese Weise kommen sie um die Regierungsaufgabe nicht drum rum und gehen dran flöten. Ich würde
mich freuen, wenn die nächsten Wahlen ihnen eine Mehrheit brächten. Dann hätte unsre Stunde geschlagen."
„Ich teile diese Auffassung durchaus, Herr Generaldirektor. Es fragt sich aber, ob wir uns über die Mittel und Wege zur Durchsetzung unserer Politik im klaren sind."
„Tja — — —"
„Sie sprachen von ,den' Ordnungsparteien. Wie ist das zu nehmen?"
„Tja------------Es liegen natürlich hinsichtlich der rechtsradikalen Kreise sehr große Bedenken vor------------"
„Die aber überwunden werden können und überwunden werden müssen! Wenn Herr Generaldirektor die Dinge im Zusammenhang mit der sozialen Gliederung des deutschen Volkes sehen wollten — — —"
„Wie meinen Sie das?"
„Der Großgrundbesitz ist bei uns keine überlebte Feudalschicht. Er übt in unserer Wirtschaft eine sehr wichtige Funktion aus. Er versorgt zu einem großen Teil die Städte mit Brot, Fleisch, Zucker und Spiritus. Das Großbauerntum in bestimmten Distrikten steht ihm nahe. Das ist keine feudale Romantik. Das sind Tatsachen. Diese agrarischen Führerschichten haben noch immer eine große Gefolgschaft. Und die Gruppe als Ganzes ist militärisch von überdurchschnittlicher Tüchtigkeit. Denn in ihr lebt noch der alte Preußengeist, der dem Bürgertum stets fremd war und dem Kleinbürgertum, wie es in der sozialdemokratischen Partei vorwiegt, verhasst ist. Die Kommunisten zählen wegen ihrer politischen Verblödung nicht mit. Sie arbeiten mit der Inszenierung von Putschen nur zu unseren Gunsten. Dazu kommt, dass sich gerade die großagrarischen Kreise unter dem Druck des verlorenen Krieges und der verlorenen innerpolitischen Machtstellung stark reorganisiert haben. Ungeeignete Elemente sind abgestoßen. Eine Jugend hat sich entwickelt, auf die man stolz sein darf! Das Unternehmertum kann diese rechtsstehenden Kampftruppen zur Niederwerfung der Arbeiterschaft nicht entbehren."
„Sie wissen, dass sie in unsern Kreisen wenig beliebt sind."
„Ich glaube, einer starken Persönlichkeit würde die Zusammenfassung gelingen."
„Für einen zweiten Bismarck bedanken wir uns!"
„Allerdings! Diese Zeiten sind endgültig vorbei, Herr Generaldirektor! Der starke Mann, der alle nichtmarxistischen Kräfte zusammenfasst, kann nur aus dem Unternehmertum selbst kommen-----------Und er ist da!!-----------
Es handelt sich für die Industrie darum, diese Situation rechtzeitig zu erkennen und danach zu handeln."
Der andere sah lauernd zu ihm herüber.
„Ich habe den Eindruck, Herr von Blücher", sagte er dann betont, „dass Sie nicht nur in eignem Auftrag sprechen."
„Herr Generaldirektor sehen durchaus richtig. Das Unawerk wäre bei einer eventuellen Aktion ein Stützpunkt von Bedeutung. Wenn Herr Generaldirektor befehlen, so werde ich Ihnen demnächst nähere Einzelheiten mitteilen."
„Tun Sie das."
Die Sirenen verkündeten die Mittagspause. Die Arbeiter strömten in die Kantinen, die Angestellten in ihre Kasinos. „Heute ist Vollversammlung der Angestellten, Heinberg", sagte der Vorsitzende des Angestelltenrates zu seinem Kollegen, als sie in ihr Kasino gingen. „Es ist doch überall angeschlagen, dass 12 Uhr 30 die Sitzung stattfindet, nicht?" Sein Kollege lachte spöttisch. „Angeschlagen ist's. Aber ob wer kommt, ist 'ne andere Frage. Wir sollten doch die Affenkomödie einstellen."
„Sie pfeifen auf demselben Loch wie meine Frau, Heinberg. Gestern hat sie mir erst wieder 'ne Szene gemacht, weil ich das Amt nicht niederlege. Die Weihnachtsprämie hab ich wieder nicht gekriegt. Nun schon das vierte Mal. Wenn ich morgen den Betriebsratsvorsitzenden quittiere, so krieg ich die Prämie übermorgen." „Sicher, Schröder."
Ein junger Angestellter näherte sich ihnen. Er hatte offenbar ein Anliegen an Schröder. Aber er sah sich zuerst vorsichtig um. Als er bemerkte, dass einer der Subdirektoren von ferne in Sicht kam, bog er unauffällig ab.
Das Essen war vorüber. Schröder ging in den Versammlungsraum der Angestellten hinüber. Die Tagesordnung war am schwarzen Brett angeschlagen. Sie enthielt nur einen Punkt: Stellungnahme zu dem Revers der Direktion. Man hatte drei Tage zuvor allen Angestellten einen Revers zur Unterschrift vorgelegt. Er lautete:
„Ich bitte, nicht nach Tarif, sondern nach dem in dem Unawerk üblichen Verfahren der Gehaltsfestsetzung besoldet zu werden. Datum. Unterschrift."
Als Schröder den Versammlungsraum betrat, waren drei Mann erschienen. Er wartete noch eine Weile. Niemand kam.
„Schröder", sagte sein Kollege. „Nun können Sie die Sache wirklich mit gutem Gewissen aufstecken. Sie sehen doch, es hat keinen Zweck. Machen Sie Ihrer Frau eine Weihnachtsfreude."
„Fällt mir nicht ein!! Was soll werden, wenn ich auch noch abhaue!"
Feierabend! Die Sirenen heulen. Im Nu sind die breiten Straßen, die das Stickstoffwerk rechtwinklig zerschneiden, von unübersehbaren Menschenmassen erfüllt. 25 000 Mann in dichten Kolonnen, Schulter an Schulter, und doch alles so geordnet, dass in einer Viertelstunde das Werk geleert ist. Nun stauen sie sich auf dem Bahnhof. Zug um Zug rollt ein, um sie aus dem isoliert gelegenen Werk nach Haus zu bringen — in die benachbarten Großstädte, auf die Dörfer, in die entfernteren Orte, 30, 40 Kilometer und mehr im Umkreis.
Doch nicht alle haben Anschluss. Einige hundert Mann schwenken in die Wartehalle ab. Sie wohnen in einer entfernteren Großstadt und müssen eine Stunde auf ihren Zug warten. Der Zeitungsverkäufer bietet die Arbeiter-Illustrierte an. Im Nu ist sie vergriffen. Gruppen bilden sich um jeden, der ein Exemplar erwischt hat. Auf der ersten Seite, groß, eindrucksvoll, mit einem Blick erfassbar, ein russisches Arbeiterkind beim Wintersport. Es strahlt in Gesundheit und Frohsinn.
„Mensch, Meier!"
„Da habt ihr's!"
„Knorke!"
„Das ist Sache!"
„Dufte!"
„Ja! Russland!!!------------"
Bei einer Gruppe steht ein kräftiger, untersetzter Bursch. Breit ist seine Stirn, nicht hoch. Breit springt auch die Nase aus dem Gesicht.
„Is doch alles bloß Schwindel", sagt er. Ein Gejohl ist die Antwort.
„Na natürlich! Busche Emil!!", höhnt sein Nebenmann, ein Arbeiter in der zweiten Hälfte zwanzig, klein von Gestalt, mit scharfen, etwas zusammengedrückten Zügen. Er trägt eine Hornbrille. „Hör bloß uff! Du dämlicher Reformiste! Kommst wohl wieder mit dein'n SPdQuatsch, alter Käsekopp?! Hör bloß uff!!"
„Willste vielleicht bestreiten, dass in Russland 'ne halbe Million Kinder keene Bleibe haben und wie die Tiere in Rudeln rumlungern?"
„Das is alles noch vom Zarismus her. Natürlich is das Land ausgepowert. Jetzt wird das alles anders. Da! Du siehst's doch." Und er schlug auf das Blatt.
„Is alles gelogen", schrie ein Dritter. Er trug das Reichsbannerabzeichen im Knopfloch.
Der Kommunist spuckte aus. „Mit so em Reichsbannerschwein lass 'ch mich überhaupt nich ein." „Kommunistisches Aschloch du!"
Und schon waren sie im Begriff, sich in die Haare zu kriegen.
„Immer feste druff!" Die Streitenden fuhren herum. Ein großer, schlank gewachsener Mann stand hinter ihnen. Zwar
trug er dieselbe Kleidung wie die andern, und seine Hände verrieten den Schwerarbeiter. Doch seine straffe Haltung, die Prägung seines Gesichtes und seine Sprache, die einen merkwürdig fremden Akzent hatte, wollten zu dem Typus des normalen Unaarbeiters nicht passen.
„N'Abend, Konrad!" rief Emil.
„Der Herr Doktor Amthor", höhnte der Kommunist.
„Quatsch nich! Bin kein Doktor. Was gibt's denn schon wieder?"
„Sie pranzen mal wieder mit 'nem Bild in der IAZ!"
„Zeig her!" Konrad sah das Bild mit Interesse an.
„Wieder famos aufgezogen!!-------Natürlich gibt's sowas in Russland. Fragt sich bloß, ob's allgemein so ist."
„Das sag ich doch ooch! 'ne halbe Million Kinder verkommt in Russland!"
„Das bestreiten wir ja nich! Aber das sind noch die Reste vom Zarismus. Heute unter der Diktatur des Proletariats wird alles anders!"
Die meisten Arbeiter hatten sich verlaufen. Sie saßen und lagen auf den Bänken herum. Viele schliefen.
„Menschenskinder", sagte Emil, „wir brauchen uns doch hier nich die Beene in 'n Bauch zu stehen. Wir können doch im Sitzen ooch quasseln." Er sah sich in der Halle um. „Da hinten is 'ne Ecke, wo wir uns setzen können. Bis der Zug kommt, is noch viel Zeit."
Der Kommunist zögerte. Er kannte seine Gegner.
„Komm, Wilhelm", sagte ein junger, hochaufgeschossener Kerl zu ihm. „Wir geh'n mit. Se soll'n schon ihre Dresche kriegen!"
Konrad kannte den Jungen nicht. „Wie heißt du?"
„Heinrich."
„Wo bist du zu Haus?"
Ein leichter Schatten lief über das offene Gesicht; der energische Mund schloss sich fester.
„Zu Haus?"
Konrad begriff.
„Hast 'ne böse Jugend gehabt?"
Der Bursch nickte. „Immer von eener Ziehstelle zur andern."
„Nun sollen sie's entgelten, was?"
„Nein", sagte der Junge fest, „an den einzelnen rächen wir uns nicht. Als Marxisten wissen wir, dass der einzelne nichts dafür kann. Wir wollen die Diktatur des Proletariats aufrichten und dann eine neue Gesellschaftsordnung einführen, so wie sie's in Russland gemacht haben."
In der Ecke des Saales stießen die braunen Holzbänke rechtwinklig aufeinander. Man setzte sich und rückte zusammen. Ein paar Schemel schlossen den Kreis.
„Wenn ihr bloß nich so blöd wär't!" begann Emil. „Diesmal bei den Wahlen geht's ums Ganze. Wir können mit euch zusammen die Mehrheit kriegen — und dann sollten die andern mal sehen, wo sie bleiben!!"
Der ältere Kommunist lachte auf. „Meenste vielleicht, mer wärrn mit Stimmzetteln und Reichstagsbeschlüssen die Bande vertreiben??! — — — Nee, mei Guter!! Nur die Diktatur des Proletariats führt uns an's Ziel."
„Unsinn!" schrie der Reichsbannermann. „Nur die Demokratie kann uns helfen!"
„Da sind wir wieder auf dem alten Fleck", sagte Emil. „Der eene brüllt Demokratie, der andere Diktatur des Proletariats. So bleeken se sich an, un raus kommt überhaupt nischt. Konrad, was sagst du?"
„Ich sage beides — je nach Bedarf!!"
„Mensch, Meier!! Haste denn gar keene Grundsätze??"
„Is einfach Blödsinn!"
„Durchaus nich."
„Aber wie meenste 's denn, Konrad?"
„Ihr lasst mich ja noch nich drei Sätze ausreden."
„Bitte sehr, Herr Doktor", höhnte der Mann mit der Hornbrille.
„Seht mal, — was hat denn Politik überhaupt für'n Sinn?"
„Wieder gefragt wie'n Doktor!"
„Durchaus nicht. Man könnte sagen, es ist, wie wenn man ne Reise macht, um an ein Ziel zu kommen."
„------------Vielleicht------------"
„Wenn nun Politik wie 'ne Reise ist, so muss sie auch ein Ziel haben. Wohin soll die Reise gehen, Emil?"
„Nach Hongkong."
„Meinetwegen! Is jetzt aktuell! Sagen wir mal, die verschiedenen Arbeiterparteien sind wie 'n paar Schiffe, die nach Hongkong wollen. Sie haben alle ein Ziel. Aber die Schiffe sind nicht alle gleich. Das eine ist ein Segler, das andre ein Dampfer, das eine ist moderner, das andere etwas älter,------------"
„SPD", grinste der Bebrillte.
„Quatsch nich dazwischen!"
„Die Schiffe nehmen daher von vornherein nicht alle dieselbe Route. Es geht ihnen auch unterwegs verschieden. Das eine wird durch 'nen Sturm nach Norden verschlagen. Es gerät in die Treibeisregion und muss 'nen großen Bogen machen, um nicht dazwischen zu kommen. — Ein anderes kommt in eine Kriegszone und muss ebenfalls die Route wechseln. — Der Segler leidet wochenlang unter Windstille und kann mit seinen kleinen Maschinen nur ein langsames Tempo schaffen."
„SPD!!"
„Ruhe!"
„Ein viertes endlich verliert den Kurs überhaupt. Es steuert rechts, es steuert links, der Sturm dreht es um und um, und so landet es schließlich in einem Nothafen, ohne das Ziel zu erreichen. — — — Soweit das Bild. Nun die Anwendung. Es kann sich dabei natürlich nicht um die Einzelheiten handeln."
„Du baust vor", unterbrach der ältere Kommunist. Ein spöttischer Blick aus Konrads Augen traf ihn, dass er zurückwich.
„Es handelt sich um das Ziel und die Fahrt. Was ist das Ziel der Arbeiterparteien?"
„Die Diktatur des Proletariats", rief der Junge zuversichtlich.
„Nee!" schrie der Reichsbannermann, „das Ziel is die Demokratie!"
'n scheenes Ziel, eure Mörderzentrale, wo die Volksverräter der SPD für die Kapitalisten den Handlanger machen und die Arbeiterschaft abwürgen!"
„Wirste 's Maul halten von wegen Mörderzentrale, du Nashorn!"
„Ihr rauft euch ganz umsonst", sagte Konrad. „Es handelt sich gar nicht darum, ob die Demokratie gut oder schlecht ist, sondern ob sie überhaupt das Ziel ist. Ich hab gefragt: Was ist das Ziel der Reise? Die eine Partei sagt: die Diktatur des Proletariats, die andre: die Demokratie. Wir wollen die Worte mal nehmen, wie ihr sie jetzt meint. Bei Diktatur denkt ihr an die Räterepublik Russlands, nicht?"
„Jawohl."
„Bei Demokratie an den Parlamentarismus, wie er in den Vereinigten Staaten und in Europa vorhanden ist, einverstanden?" Sie nickten.
„Lassen wir das vorläufig gelten. Prüfen wollen wir's später. Welche Partei nimmst du denn, Emil?"
„Ja,------------ich weeß nich recht!------------Ziel is doch
eigentlich-------keens von beiden. Ziel is, dass der Kapitalismus abgeschafft wird und wir den Sozialismus kriegen."
„Na ja, Mensch", trumpfte der Bebrillte auf, „des meenen wir doch ooch. Die Diktatur is das Mittel, um die neue Gesellschaft aufzubauen."
„Hollah, Genosse", fiel Konrad schnell ein, „das Mittel sagst du! Das Mittel, um das Ziel zu erreichen!"
„Na ja, gewiss doch."
„Also nicht das Ziel selbst, wie du vorhin sagtest?" Der Brillenmann stutzte. „Überlege noch mal, Genosse", wandte sich Konrad an den Jüngeren. „Nimm an, ihr habt die Diktatur errungen. Seid ihr dann am Ziel?"
„Nee! Dann fängt die eigentliche Arbeit erst an, so wie jetzt in Russland."
„Dann wird mit aller Kraft geschafft werden müssen, zu welchem Zweck? Doch, um die klassenlose Gesellschaft aufzurichten, nicht?"
„Ja, das kann ich zugeben", sagte der Junge freimütig. „Erst müssen wir die Diktatur haben, um dann auf's eigentliche Ziel loszugehen."
„Die Diktatur ist also nur die nächste Aufgabe, sagen wir eine Kohlenstation auf der weiten Reise. Wenn sie erreicht ist, und das Schiff gut geladen hat, dann soll's mit Volldampf dem letzten Ziel entgegengehen."
„Menschenskind!! Genosse!! schrie der Mann mit der Brille. „Du hast's erfasst!! Hau ab von der dämlichen SPD!! Schlag ein!! Komm zu uns!!!"
„Ja!", sagte der Reichsbannermann und zog die Augenbrauen hoch. „Danach bist du Kommunist."
„Ihr gebt also zu", sagte Konrad zu den Kommunisten, ohne die Zwischenrufe zu beachten, „dass für alle Schiffe die sozialistische Gesellschaft das Ziel ist".
„Ausgeschlossen!!" brüllte der Brillenmann. „Die Volksverräter von der SPD denken ja gar nich dran. Die wollen ja bloß ihr Pöttchen am Feuer kochen."
„Halt's Maul von wegen Volksverräter!!'
„Rindvieh!!"
„Ruhe", gebot Konrad. „Pass auf, Genosse: Wir hatten von vornherein für alle Schiffe angenommen, dass sie ein gemeinsames letztes Ziel haben sollten. Du hast das zugegeben! Und nun frag ich meine Parteigenossen: Ist die klassenlose Gesellschaft unser Ziel?"
„Aber gewiss doch", sagte Emil.
„Selbstverständlich", bestätigte der Reichsbannermann, im Eifer des Gefechts den Widerspruch mit seiner ersten Antwort nicht bemerkend.
„Na ja, — — — was ihr unter Sozialismus versteht."
„Allerdings nicht 'nen liberalen Bauernstaat, sondern eine Wirtschaftsordnung, in welcher der Besitz an allen Produktionsmitteln an die Gesamtheit übergegangen ist. Und zwar
nicht nur dem Buchstaben nach, sondern in der Wirklichkeit. Stimmt's, dass wir alle dieses Ziel wollen?"
Der Junge war bereit, der Ältere wollte ausweichen.
„Hau hin!"
„Nein, Genosse, hier hilft kein Ausweichen. Du musst schon zugeben, dass alle Schiffe nach Hongkong wollen, dass wir alle die Sozialisierung wollen."
„Mei—net—wä—gen."
„Endlich!! Die sozialisierte Gesellschaft ist also das Ziel der beiden Parteien. Sie verstehen vielleicht nicht überall dasselbe unter Sozialisierung. Aber sie wollen letzten Endes dorthin."
Nun die Fahrt. Ich sagte, die Schiffe sind verschieden, und was ihnen unterwegs begegnet, ist verschieden. Können sie unter diesen Bedingungen alle gleichen Kurs halten?" „Nee, das is klar", bestätigte der Junge. „Für den einen war die Kohlenstation entscheidend, für den andern, z. B. für den Segler, war eine andere Route besser geeignet. Wir verglichen die Diktatur des Proletariats mit der Durchgangsstation eines Kohlenhafens. Sie hätte dem Segler wenig geholfen."
„'s war eben 'n altes Schiff."
„Das ist gar nicht gesagt. Man baut noch immer, und zwar sehr gute, moderne Segler. Aber nehmt das Schiff, das beinah in die Kriegszone gekommen wäre. Hätte ihm eine Kohlenstation dort was geholfen?"
„Nee."
„Es wäre zusammengeschossen gewesen, ehe es nur die Kohlenstation erreicht hätte. — Was sind also alle Reiseveranstaltungen, Route, Kohlen, Kompass usf.?"
„Mittel, um das Ziel zu erreichen."
„Was ist demnach alle sozialistische und kommunistische Parteipolitik?"
„Mittel, um die sozialisierte Gesellschaft zu errichten."
„Ja, Genossen! Genau das, was der Genosse selbst vorhin
gesagt hat: Mittel! Die Diktatur ist Mittel und die Demokratie ist Mittel."
Die anderen schwiegen, mehr logisch überwunden, als innerlich überzeugt.
„Weiter. — Was entscheidet über die Anwendung eines Mittels?"
„Ob 's zweckmäßig ist."
„Jawohl! Seine Zweckmäßigkeit. Also: Wenn die Sowjetrepublik für Russland der kürzeste Weg war, um in der Richtung auf die Sozialisierung loszumarschieren, was musste es dann tun?"
„Sie einführen!"
Begeistert sprang der ältere Kommunist auf.
„Genosse!" schrie er. „Dann gehörste doch zu uns!" Der Junge strahlte. Der Reichsbannermann sah sorgenvoll auf die Gruppe.
„Wenn du aber morgen", sagte Emil, „der Ansicht wärst, nur die Demokratie könnte uns helfen,..."
„So würde ich morgen für die Demokratie eintreten."
Der Kommunist setzte sich wieder, der Junge wandte sich trotzig ab, der Reichsbannermann blickte beruhigt drein.
„Was würdste aber machen", fragte der Junge pfiffig, „wenn übermorgen en deutscher Mussolini käme?"
„Will Mussolini die sozialisierte Gesellschaft?"
„Nee."
„Na also. In den Fällen, die ich anführte, handelte es sich um dasselbe Endziel..."
„Um die Diktatur des Proletariats!!" schrie der Bebrillte siegesgewiss.
Emil und Konrad brachen in ein schallendes Gelächter aus. Der Reichsbannermann nahm die damit demonstrierte Ablehnung der Kommunisten befriedigt zur Kenntnis. „Natürlich die Demokratie", sagte er. Der junge Kommunist schwankte zwischen Ärger über seinen Kameraden und Trotz gegen das Gelächter der SPdMänner.
„Was meinte ich?" fragte Konrad ihn.
„Die sozialisierte Gesellschaft", gab er widerwillig zur Antwort.
„An diesem Ziel sind alle Mittel zu messen. Was dorthin führt, ist recht. Was von dort abführt, ist vom Übel."
*
Aber Emil war noch nicht im Reinen.
„Was stimmt mir doch nich, Konrad. Du vergleichst die Diktatur mit 'ner Durchgangsstation. Gut. Das is richtig. Ooch die Kommunisten können's im Grunde nich bestreiten. Aber für uns is es mit der Demokratie doch was anders. Früher hat man gesagt, der Staat stirbt dann überhaupt ab. Unser Engels hat's geschrieben. Ob das aber so geschwinde geht, ist doch noch die Frage. Wenn wir uns also irgendwie mit 'nem Staat einrichten müssen, dann kann man doch nich sagen, die Räterepublik is 'n Mittel, un die Demokratie is ooch 'n Mittel, un es kann uns egal sein, was von beiden kommt, wenn nur die Sozialisierung kommt."
„So ähnlich wollt ich's ooch sagen", bestätigte der Reichsbannermann. „Siebzig Jahre hab'n mer um de Demokratie gekämpft. Nu hab'n mer se endlich. Nu kann man se doch nich wie 'n Rock anziehn oder ausziehn, wie's grade passt!"
„Erloobe mal", sagte der Brillenmann, „um die Diktatur hab'n mer sogar achtzig Jahre gekämpft."
„Ja, Genosse", sagte Konrad, „bloß weil's ein altes Parteiideal ist, können wir die Demokratie nicht halten."
„Nee", sagte der Kommunist.
„Und die Diktatur des Proletariats ebenso wenig." Der Kommunist knurrte.
„Sieh mal", begann der Reichsbannermann wieder, „du sagst, das eene, die Demokratie, is Mittel, und das andre, die Sozialisierung, is Ziel. Ich kann das gar nich so auseinander halten. Es is für uns doch eens. Mit der Demokratie soll die Sozialisierung kommen, un mit der Sozialisierung soll sich die Demokratie befestigen. Ich kann das nich trennen."
„Dass das in deinen SPdSchädel nich reingeht, das gloob ich", grinste der Brillenmann.
„Halt de Klappe, und lass den Doktor reden!"
„Wie kommste 'n dazu, mir das Maul zu verbieten, Baubudenrülps du??!!"
„Ruhe!" herrschte Emil sie an. „Wir verlieren ja bloß die Zeit mit euerm Gequatsche!! Konrad soll reden."
Konrad schwieg eine Weile. „Wenn ich nur wüsste, wie ich's euch deutlich machen sollte!"
„Machen mer wieder 'ne kleene Reise, Genosse!", grinste der ältere Kommunist.
„Genossen, wollt ihr das überlegen: Heute, wo die Sozialisierung das eine große Ziel ist, da ist der Staat für uns Mittel. Aber an sich betrachtet, hat er auch seine eigne Bedeutung. Er ist also nicht nur Mittel..."
Der Bebrillte brach in ein schallendes Gelächter aus. Gönnerhaft klopfte er Konrad auf die Schulter. „Genosse, mir scheint denn doch, die Sache is dir selbst nich klar!!"
Konrad blickte verzweifelt drein. Er sah, dass er seine Hörer falsch eingeschätzt hatte. Seine Ruhe verließ ihn einen Augenblick. „Wenn ihr nur eine Ahnung davon hättet", sagte er heftig, „dass man dem Leben mit dem einfachen ja oder nein nicht beikommt."
„Na, Genosse, das is 'ne billige Ausflucht!!" Die anderen außer Emil lachten.
„Gut! Lassen wir das! Wenn der Wahlkampf vorbei ist, dann finden wir vielleicht noch mal eine ruhige Stunde, um drüber zu reden. Lassen wir's für heute beim Staat als Mittel. Sieh mal Emil, ich habe nicht gesagt, dass mir Räterepublik und Demokratie ganz gleich sind. Du hattest es selbst etwa so gesagt: ,Wenn die Räterepublik das einzige Mittel ist, um zur Sozialisierung zu gelangen ...' Dem hab ich zugestimmt. Damit ist aber noch lange nicht gesagt, dass beide Mittel gleich gut sind. Emil, wenn du in einem brennenden Hause bist, und das einzige Mittel, dich zu retten, ist, dass du aus dem Fenster springst, selbst auf die Gefahr ein Bein oder einen Arm zu brechen — springst du dann raus, oder lässt du dich verbrennen?"
„Klar." —
„Aber wenn's noch möglich ist, 'ne Treppe zu erreichen, dann springst du weder aus dem Fenster, noch lässt du dich verbrennen, sondern läufst die Treppe runter, nicht?"
„Du willst also sagen, die Räterepublik is das letzte Mittel, das man nur im äußersten Notfall anwenden soll. Besser wär's, die Sozialisierung auf demokratischem Wege zu erreichen."
„Das ist meine Meinung."
„Warum?"
„Das kann ich nicht mit drei Worten sagen."
Der Zug rollte ein. „Wir reden noch drüber!"
Die Arbeiter schoben sich in den Wagen vierter Klasse zusammen wie Vieh beim Transport. Der kleine Klub blieb in einem Abteil beieinander. Die andern begannen zu dösen oder zu schlafen. Einige warfen spöttische Blicke auf die Gruppe. Einige hörten aufmerksam hin.
„Überhaupt!", begann Emil wieder. „In Russland gibt's ja gar keene Diktatur des Proletariats". Die Kommunisten schlugen ein schallendes Gelächter auf.
„Was ist denn ein Diktator?", fragte Konrad.
„Der Diktator war der oberste Gewalthaber, den die Römer in den Zeiten der größten Gefahr einsetzten. Er hatte unbedingte Machtvollkommenheit", antwortete der Bebrillte selbstbewusst.
„Und was versteht ihr unter Proletariat?"
„Die arbeitende Masse des Volkes, die nicht im Besitz der Produktionsmittel ist", sagte der Junge prompt.
„Rechnest du den Bauer dazu?" *
„Das kommt drauf an. Wenn er allein arbeitet und keinen Profit erzielt, so rechnet er dazu. Der Großbauer dagegen nicht."
„Dann stimmt aber die Sache mit den Produktionsmitteln nicht. Denn auch der Kleinbauer ist Inhaber der Produktionsmittel, genau wie der Handwerker."
„Wir können so sagen", schlug Emil vor: „Der Besitz an Produktionsmitteln ist das Entscheidende. Mit dem kleinen
Bauern und dem kleinen Handwerker machen wir ene Ausnahme. Sie besitzen zwar die Produktionsmittel. Aber weil sie zur handarbeitenden Masse gehören und niemand ausbeuten, rechnen wir sie zum Proletariat."
„Alle einverstanden?" Sie nickten.
„Es ist sehr wichtig", sagte Konrad, „dass ihr den Bauern mit zum Proletariat rechnet. Diktatur des Proletariats würde demnach bedeuten, dass die Masse des besitzlosen, arbeitenden Volkes, einschließlich der kleinen Bauern und Handwerker, die politische Macht in den Händen hat.".
„Aber gewiss doch!"
„Wie steht es denn mit den politischen Rechten des russischen Bauern?" Alle schwiegen. Der ältere Kommunist warf dem jüngeren einen Blick stillschweigenden Einvernehmens zu. Der Junge sah dumm vor sich hin.
„Ist dir das nicht bekannt?" Der Junge zögerte.
„Hat er dasselbe Wahlrecht wie der Städter?"
„Ich weeß nich."
„Hat nicht die städtische Bevölkerung Zusatzstimmen?", fragte Emil.
„Allerdings! Sie können sich in den Sowjets der großen Bezirke durchsetzen. Welchen Prozentsatz bildet die ländliche Bevölkerung von der Gesamtbevölkerung?", wandte Konrad sich wieder an den Jungen.
„Ich weeß nich."
„Etwa achtzig", sagte Emil.
„Demnach hat in Russland die gesamte arbeitende, ländliche Bevölkerung, d. h. vier Fünftel des Proletariats, geminderte politische Rechte."
„Blödsinn!", sagte der Ältere. „In Russland herrscht die Diktatur des Proletariats, und dann von einer Entrechtung der arbeitenden Masse zu reden, Genosse, — das ist ein Betrug der SPD." Konrad beachtete ihn nicht.
„Warum lässt sich der Bauer diese Minderung seines Wahlrechts gefallen? Kerensky hat ihm eine solche Entmündigung nicht zugemutet."
„Der Bauer fürchtet", sagte jetzt der Jüngere, „die alte
Regierung könnte wiederkommen und die Güter des Adels wiederherstellen. Die haben an vielen Stellen die Bauern unter sich geteilt."
„Das ist's. Kerensky wollte ihnen Rechte geben, aber kein Land. Lenin ließ ihnen das Land, doch er schmälerte ihre Rechte."
„Mensch! Wie kannste so was gegen Lenin sagen!", schrie der Ältere. „Das verbitt' 'ch mer!"
„In der heutigen Verfassung", fuhr Konrad unbeirrt fort, „ist den Bauern der Besitz sicher. Das ist ihnen wichtiger, als ein vollgültiges Wahlrecht, von dem sie doch nicht allzu viel Gebrauch machen könnten. Außerdem sieht der Bauer, dass sich die neue Regierung bemüht, ihm wirtschaftlich vorwärts zu helfen. Er hütet sich drum, die neue Ordnung zu erschüttern. — Freilich! Wem macht sie die weitgehendsten Konzessionen?"
Der Junge sah aus dem Fenster.
„Dem Großbauern", antwortete Emil.
„Ja! Er kann Gesinde halten, und sein Eigentum am Boden ist garantiert. Doch die Entrechtung der Massen geht noch weiter."
„Genosse, es ist lächerlich, in dieser Weise über das russische Proletariat zu reden."
„Es gibt", fuhr Konrad fort, „kein freies Parteileben. Das wird nicht geduldet. Sie dürfen nicht Organisationen machen wie wir. Sie dürfen nicht beliebig Versammlungen abhalten, und es gibt keine freie Presse. Man kann auch der kommunistischen Partei nicht einfach beitreten. Sie nehmen nur auf, wer sich längere Zeit bewährt hat. Und wer politisch vorwärts kommen will, muss in die Partei aufgenommen sein. Unser Beispiel vorhin war also schlecht gewählt. Die russische Sowjetregierung ist alles andere, als eine Herrschaft der breiten, arbeitenden Masse. Sie ist keine Diktatur des Proletariats."
„Komm, Heinrich, wir setzen uns weg!"
„Lass doch den Zimt", erwiderte der Jüngere. Er sprang auf und sah Konrad voll ins Gesicht. „Wenn du meenst,
du hast mir was Neues gesagt, so biste uff'm Holzwäge. Es is in Russland so, wie du sagst. Es muss ooch so sein! Denn das Volk is noch so zurück, dass sie nich auf eenmal alles machen können. Sie müssen erst lernen! Bis dahin müssen die andern sie führen."
„Heinrich", fuhr jetzt Emil los, „nu manscht du wieder alles durcheinander. Ob's zweckmäßig is, hat Konrad gar nich gefragt. Er wird's wahrscheinlich gar nich unbedingt bestreiten, nich Konrad?"
„Durchaus nicht."
„Er hat nur behauptet, dass sie mit dem Worte ,Diktatur des Proletariats' Schindluder treiben."
„Das kommt dann auf eine Wortknaupelei hinaus!"
„Nein!", rief Konrad. „Sondern es kommt darauf hinaus, ob wir denken wollen, oder ob wir uns und andere an Schlagworten besoffen machen wollen!! Du hast selbst vorhin die Bauern als Proletariat bezeichnet. Sie bilden die Masse des russischen Volkes. Sie sind politisch entrechtet, und zwar gerade die kleinen! Es handelt sich nicht um eine Wortknaupelei, sondern um die Irreführung, die heute von den russischen Machthabern mit dem Worte ,Diktatur des Proletariats' getrieben wird."
„Das bestreite ich", entgegnete der Junge zielsicher. „Man kann es eine Erziehungsdiktatur nennen. Es ist die Führung der unaufgeklärten Masse durch die kleine Schar der Aufgeklärten. Oder man kann das Wort ,Proletariat' auf die Klassenbewussten Arbeitnehmer beschränken. Eine Diktatur des Proletariats bleibt es immer!!"
„Man kann auch schwarz weiß und weiß schwarz nennen."
Der ältere Kommunist würdigte Konrad keines Blickes und keines Wortes mehr. „Lass dich nur nich verwirren, Junge, mit all dem Gequatsche!"
„Warum soll ich mich verwirren lassen?", warf der Junge unerschüttert zurück. Seine Backen glühten, und seine Augen blitzten. „Der Mann hat mir nichts Neues erzählt! Wenn die Partei mit der Parole: ,Diktatur des Proletariats' die Lage des Volkes heben kann und ihm Brot verschaffen
kann,------------dann soll se se ruhig anwenden! Da braucht
man nich zu fragen, ob's so genau stimmt!! Da braucht sich keen Mensch en Gewissen draus zu machen! Das is Politik!! Auf Wortknaupeleien kommt's dabei nich an. Die überlassen wir den Wortverdrehern und Volksbetrügern von der SPD."
„Bravo!" schrie sein Gefährte, außer sich vor Freude über die unbeirrbare Sicherheit des Jungen.
„Du meinst, das sei Politik?", rief Konrad, nunmehr auch der Leidenschaft Raum gebend. „Politik mag es sein, aber eine schlechte! Denn auch die Politik kann sich auf die Dauer nicht einfach auf Lüge gründen!"
„Mist!", schrie der Ältere. „Richtiger SPdMist!!!"
Sie waren am Ziel. Er stürzte ohne Gruß fort.
„Bei den Wahlen werden wir's ja sehen!", rief der Junge übermütig und rannte ihm nach.
Emil und Konrad gingen noch ein Stück zusammen.
„Ich verstehe, wie du's meinst, Konrad. Man muss mit beidem rechnen. Aber der Prolet kann das nicht! Er kann nur eins."
„Dann soll er drauf verzichten, politisch führen zu wollen!"
„Das is allerhand!"
Sie trennten sich. „Also Weihnachten bei schönem Wetter in Oberwiesental. Sonst bei dir, Konrad! Auf Wiedersehn!" „Auf Wiedersehn!" |
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