VI. Der Staat.
Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden.
Karl Marx.
Am verabredeten Tage trafen sich die Freunde bei Konrad. Es war zum ersten Male seit der Wahl. Noch waren die jüngeren hoffnungsfroh und erwarteten von der neuen Regierung „Taten". Die älteren, auch Emil, konnten der Enttäuschung nicht wehren. Die Burschen, die Mädels schwatzten durcheinander: „Wir machen also heute unseren Klub wieder auf!" „Konrad, eigentlich bist du uns etwas schuldig; 'nen Maitrank oder so was." „Pfui Alkohol!" „Wo ist Else?" „Kommt sie heut Abend?" „Hat jemand von euch Franz getroffen?" „Wie ging es ihm?" „Warum ist der Kerl heut Abend nicht da?" „Konrad, warst du bei dem Reichsbannerführer?" „Nein? Warum nicht? Mensch! Sei nich komisch!" „Adolf — ohne Martl?? Was soll das heißen?" „Wirst ja ordentlich rot, Mensch!"
„Wird's heut noch was?" fragte Otto ungeduldig. „Mit euerm Jequassel verliert ihr den ganzen Abend! Wir woll'n doch heute mit Konrad die Sache ausknobeln, die neulich im Cafe Volkshaus abgebrochen wurde."
„Was war das? Erzähle!"
„Es war die Frage, ob wir in der klassenlosen Gesellschaft noch 'nen Staat brauchen werden oder nich. Überhaupt, ob der Staat uns was angeht."
Sie setzten sich und warteten, dass Konrad die Aussprache einleitete.
Müder als sonst nahm er das Gespräch in die Hand. Er schlug Bebeis „Frau" auf und begann.
„,Der Staat stirbt ab', sagt bekanntlich Engels. Im Anschluss an diese Worte fährt Bebel fort:
,Mit dem Staat verschwinden seine Repräsentanten: Minister, Parlamente, stehendes Heer, Polizei und Gendarmen, Gerichte, Rechts und Staatsanwälte, Gefängnis
beamte, die Steuer- und Zollverwaltung, mit einem Wort: der ganze politische Apparat. Kasernen und sonstige Militärbauten, Justiz und Verwaltungspaläste, Gefängnisse usw. harren jetzt einer besseren Bestimmung, Zehntausende von Gesetzen, Erlassen und Verordnungen werden Makulatur, sie besitzen nur noch historischen Wert. Die großen und doch so kleinlichen parlamentarischen Kämpfe, bei denen die Männer der Zunge sich einbilden, durch ihre Reden die Welt zu beherrschen und zu lenken, sind verschwunden, sie haben Verwaltungskollegien und Verwaltungsdelegationen Platz gemacht, die sich mit der besten Einrichtung der Produktion, der Distribution, der Festsetzung der Höhe der notwendigen Vorräte, der Einführung und Verwendung zweckentsprechender Neuerungen in der Kunst, dem Bildungswesen, dem Verkehrswesen, dem Produktionsprozess usw. in Industrie und Landwirtschaft zu befassen haben. Das sind alles praktische, sichtbare und greifbare Dinge, denen jeder objektiv gegenübersteht, weil für ihn kein der Gesellschaft feindliches persönliches Interesse vorhanden ist. Keiner hat ein anderes Interesse als die Allgemeinheit, das darin besteht, alles aufs beste, zweckmäßigste und vorteilhafteste einzurichten und herzustellen."
„Klar", sagt Adolf. „Darüber is nich zu diskutieren." Otto lachte laut auf.
„Ich setze den Fall", erwiderte Konrad, „in der sozialisierten Gesellschaft tritt eine Kohlenknappheit ein. So was kann vorkommen. Eine Arbeiterfrau im Kohlenrevier kann nicht mehr die Wohnung für die Kinder warm kriegen. Berge beschlagnahmter Kohlen liegen da. — Was tut sie?" „Sie klaut", sagte Otto.
„Ausgeschlossen!" rief Adolf. „In der sozialistischen Gesellschaft wird nich mehr geklaut! Da gibt's kein Privateigentum. Da sind die Menschen ganz anders als heute." „Du meinst", sagte Konrad, „dass sich ihre moralische Natur von Grund auf geändert hat." „Aber sicher."
„Wir wollten doch aber vom Staat sprechen, Adolf."
„Tu ich doch!"
„Nein. Du sprichst von Moral."
„Das is mir zu fein."
„Gut. Hier müssen wir also anhaken. Wir müssen irgendwie dahinter kommen, was das Politische eigentlich ist. Erst dann können wir es vom Moralischen unterscheiden. Einverstanden?"
„Wegen mir."
„Wo kommt das Wort Politik her?"
„Aus dem Griechischen. Von Polis — Stadt oder Staat", sagte Otto.
„Wir fragen also: Was ist der Staat?"
„Donnerwetter! Da muss ich mir erst Tee holen", meinte Walter und verschwand mit der Teekanne.
„Ich möchte mir sogar 'ne Zigarette anzünden", sagte Konrad.
„Konrad!!!", rief Rudolf. „Dann bist du unser Führer nicht mehr!" Konrad lachte.
„Aber ein Pfeifchen, Rudolf?" Und er machte sich seine kurze Pfeife zurecht. Rudolf schmollte.
„Sag mal, Adolf", begann Konrad, „bist du schon je mit dem Staat in Berührung gekommen?"
„Nee, mei Lieber!! Das überlass ich unsern Bonzen aus der Regierung."
„Schafskopf!" entfuhr es Otto.
„Na erlaube mal, mei Lieber!! Du hast wohl schon mal nähere Bekanntschaft mit der grinen Minna gemacht, ja, dass du den Staat so gut kennst?"
„Nee! Aber mit dem Staat habe ich schon sehr oft zu tun gehabt! Vor allen Dingen, wenn ich wähle. Aber auch, wenn ich den Schutzmann nach dem Weg frage, oder wenn ich mich am fremden Ort auf der Polizei anmelde, oder wenn sie mir meine Lohnsteuer abknöpfen, oder wie ich mal zum Arbeitsgericht gegangen bin, als sie mir von meinem Lohn was abkneifen wollten, oder wenn ich Krankengeld beziehe, sogar schon, als ich eben geboren war und mich aufm Standesamt anmeld'te." Und er lachte, dass sein Gesicht in zahllosen Falten spielte.
„Dafür biste auch en Preuße! Da rennt schon der Säugling auf de Polizei!"
„Das alles", begann Adolf wieder, „hat doch mit dem Staat nischt zu tun."
„Ja, wenn er bei dir erst mit der grinen Minna anfängt!"
„Nee, mit den Bonzen in der Regierung!" warf Walter ein.
„Ich schlage vor: Beides", sagte Otto. „Jrine Minna und Regierungsbonzen — das is für unsern Adolf der Staat."
„Na ja", verteidigte sich Adolf, „Polizei, die uns einlocht, wenn wir was ausgefressen haben, Bonzen, die oben irgendwo regieren, — nehmt noch die Reichswehr dazu — da habt ihr ungefähr das, was für den Proleten der Staat is."
„Nee, Adolf, das stimmt auch für den Proleten nich", widersprach Rudolf. „So fühlt er's — ja, das geb ich zu. Aber so is es nich. Du kannst doch nich alles, was Otto nannte, einfach abstreiten. Das alles gehört doch mit dazu zum Staat."
„Ich finde, es geht alles durchenander", murrte Emil. „Der eene red't von der grinen Minna, der andre von 'nem Büro, dann wieder von Menschen, dann von ener Anzeige uff'n Standesamt! Konrad! Du brauchst dich nich so zu schonen! Wir müssen doch erst mal das einfachste feststellen, was der Staat eigentlich is."
„Da sind wir ja eben dabei", sagte Walter.
„Ächja! Ich meine, ob's de Menschen sind, oder de Polizeibüros, oder das Standesamt, oder de Sipo, oder de Reichswehr, oder was sonst."
„Otto hat es vorhin ganz klar gesagt", erwiderte Konrad. „Ich frage den Schutzmann, — der Schutzmann antwortet: Ich melde mich auf der Polizei, — der Schutzmann schreibt Ich zahle meine Steuern, — das Finanzamt nimmt sie ein. Ich beziehe mein Krankengeld, — die Kasse zahlt mir. Ich gehe vors Gericht, — der Richter entscheidet. Um was handelt es sich hier immer?"
„Dass was getan wird!'
„Oder um ...?"
„Taten!"
„Ein bissei viel gesagt!"
„Handlungen!"
„Endlich, das wäre das erste Ergebnis! Wollt ihr euch das erst mal in eure Köpfe schreiben."
„Wie soll'n wir schreiben, mei Guter: Der Staat ist Handlungen, oder der Staat sind Handlungen??"
„Recht so, mein Lieber! Als heller Sachse führst du uns gleich ein Stückchen weiter! Denn die Handlungen, aus denen der Staat besteht, sind nicht einzelne. Was bilden sie?"
„Eine Einheit."
„Wir werden also nicht sagen: Der Staat ist oder sind Handlungen, sondern ...?"
„Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen."
„Das versteh ich nich", sagte Emil. „Eine Einheit von Handlungen, — das sind für mich bloß Worte."
„Nimm mal das Unawerk, Emil. Was gehört alles dazu?"
„Nu — die Gebäude, die Maschinen, die Rohstoffe und auch die Menschen."
„Wenn das nun alles stocksteif dastünde, Emil, wär's dann ein Betrieb?"
„Nee! Da machten se eben keinen Betrieb."
„Sie müssen handeln, nicht?"
„Jawoll."
„Sind ihre Handlungen lauter einzelne, ohne Zusammenhang?"
„Nee! Zusammenhang muss da sein. Sonst klappt der Betrieb nich."
„Nun wäre ,Zusammenhang von Handlungen' ein etwas schwerfälliger Ausdruck. Er sagt auch noch nicht genug. Bist du einverstanden, statt Zusammenhang lieber Einheit zu sagen?"
„Meinetwegen."
„Man könnte den Betrieb also eine Einheit von Handlungen nennen, nicht?"
„Ja — du, es müssen aber die Sachen auch da sein."
„Freilich! Sind sie beim Staat nicht da?"
„Doch."
„Zum Beispiel:"
„Was die Reichswehr an Uniformen und Waffen hat."
„Die grine Minna!"
„Die Polizeibüros."
„Die Gefängnisse."
„Die Ministerien, wo die Bonzen sitzen."
„Das Reichstagsgebäude."
„Der Präsidentenstuhl drin."
„Das Geld in den Kassen."
„Die Schlagbäume."
„Der Panzerkreuzer A."
„Nehmt an, es käme ein Erdbeben, und all diese sachlichen Hilfsmittel, oder wenn ihr wollt, Betriebsmittel des Staates, wären mit einem Schlage zerstört. Wäre der Staat dann auch zerstört?"
„Nee! Sein Handeln wäre sehr erschwert, aber nich aufgehoben."
„Hier liegt ein Unterschied zum Betrieb", sagte Emil. „Die Fabrik könnte ohne Betriebsmittel nich mehr arbeiten," „Die Fabrik könnte ohne Betriebsmittel nich mehr arbeiten."
„So ist es. Ich habe gefunden, dass diese Bestimmung des Staates als einer Einheit von Handlungen einem vieles klar macht. Früher hatte der Staat für mich so was Gespenstisches. Das kam auch in euern Versuchen, ihn zu bestimmen, zum Ausdruck. Man weiß nicht: sind's die Menschen, oder sind's die Gesetze, oder sind's die Behörden, oder was ist es? Wenn man sich aber klar gemacht hat, dass es die menschlichen Handlungen sind, die den Staat bilden, dann ist der Staat nicht mehr so ein unbestimmtes Etwas. Er steht nicht hinter den Menschen oder über den Menschen, man kann auch nicht sagen, es sind die Menschen selbst, sondern es ist eine bestimmte Gruppe ihrer Handlungen. Seid ihr bis hierher alle einverstanden?"
„Ja!!"
„Zweitens. Wir ziehen noch einen Vergleich mit der Fabrik. Hat die Fabrik ihren bestimmten Bereich?"
„Ja."
„Wenn du raus bist, bist du raus, nicht, Emil? Draußen hat dir der Meister nichts zu sagen."
„Stimmt."
„Gilt das vom Staat auch?"
„Ja."
„Wenn du über die Grenze bist, bist du seinem Arm entzogen."
„Nicht immer, Konrad. Ich kann auch ausgeliefert werden."
„Wann geschieht das?"
„Bei 'nem Mord oder so."
„Ich meine: Liefert jeder Staat aus?"
„Nein, nur wenn sie's vereinbart haben."
„Dann nimmt also wiederum ein Staat dich auf seinem Gebiet auf Grund seiner Hoheitsrechte fest."
„Ja."
„Was gehört also immer zum Staat?"
„Ein bestimmtes Gebiet."
„Wir könnten also nunmehr sagen:
Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen. Er gilt auf einem bestimmten Gebiet. Einverstanden?"
„Ja."
„Wir haben nun so eine Art Gerippe herausgestellt. Jetzt kommt Fleisch und Blut. Wissen wir schon irgend etwas über Sinn oder Zweck oder Aufgabe der Einheit von Handlungen, die man Staat nennt?"
„Nee."
„Wir wollen diese Frage nicht mit Allgemeinheiten beantworten, sondern gehen zu Ottos Beispielen zurück. Warum musste er denn bereits als Säugling auf dem Standesamt vermerkt werden?'
„Weil unser Otto sonst verloren gegangen wäre!! Das wäre doch schade gewesen!"
„Für wen?"
„Ein Verlust für das Jahrhundert", warf Walter ein.
„Vielleicht auch! Aber unmittelbarer?"
„Für sein preußisches Vaterland als Rekrut", sagte Adolf.
„Gibt's heut nich mehr", entschied Emil.
„Kann's aber wieder geben", beharrte Adolf.
„Oder?"
„Als Steuerzahler", schlug Adolf vor. „Da muss sich doch der Staat beizeiten 'ne Liste anlegen, sonst gehn ihm eines Tages seine Steuerzahler verloren."
„Noch andre Gründe, warum der Staat die Geburt eines Staatsangehörigen in seine Listen einträgt."
„Es ist z. B.", sagte Rudolf, „ein Erbonkel in Amerika gestorben. Nu muss man doch feststellen können, ob er auch wirklich sein Neffe is!"
„Schon richtig, — aber leider ist der Erbonkel in Amerika ein seltner Fall. Könnt ihr näher liegende Fälle nennen, dass man die Person eines Menschen feststellen muss."
„Wenn er sich verheirat't."
„Wenn er 'nen Pass braucht."
„Wenn seine Eltern sterben, und er als Ziehkind zu andren Leuten kommt."
„Ist zu allen diesen Dingen der Geburtsschein unbedingt erforderlich?"
„Zum Heiraten sicher nich!"
„Auch nich, wenn die Eltern sterben und er als Ziehkind ausgetan wird."
„Doch! Es muss dann doch für ihn gezahlt wern."
„Also, wozu dient die Listenführung?"
„Damit die Standesbeamten doch auch was zu tun haben und leben können!"
„Quatsch!", sagte Otto. „Sie dient zur Ordnung. Damit bei all diesen Dingen keine Unordnung gemacht werden kann. Zum Beispiel wenn derselbe Mann sechs verschiedene Frauen zu gleicher Zeit heirat't."
„Was tut also der Staat?"
„Er ordnet die menschlichen Angelegenheiten."
„Alle?"
„Nee, das wär' schlimm! Immer nur, was die Allgemeinheit irgendwie angeht. Dass alles orndtlich vor sich geht."
„Ordnet er immer direkt? Mischt er sich in jeden Zank der Eheleute?"
„Nee!"
„Aber der Mann weiß, dass er die Frau nicht beliebig prügeln darf, nicht?"
„Ja."
„Versteht ihr es, wenn ich das mit den Worten ausdrücke: Er garantiert das geordnete Zusammenleben der Menschen?"
„Jawohl!"
„Einverstanden, Emil?"
„Ja."
„Nun also dritte Fassung:
Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen; er garantiert auf einem bestimmten Gebiet das geordnete Zusammenleben der Menschen."
„Das is noch nich komplett", widersprach Emil. „Ordnen! Sie mal — unsre Ordner, wenn wir einen Demonstrationszug machen, die ordnen doch auch!! Trotzdem sind sie kein Staat."
„Du hast recht, Emil", gab Konrad nachdenklich zu. „Wir haben also was vergessen. Woran liegt's? Wir müssen die Sache noch einmal überlegen. Also, die Ordner ordnen unsern Umzug. Es kommt aber ein Trupp Stahlhelmleute; die folgen unsern Ordnern nicht. Sie machen vielmehr großen Klamauk und versuchen, den ganzen Zug mitsamt den Ordnern auseinanderzujagen. Was dann?"
„Dann muss Sipo kommen."
„Scheint mir auch. Die Sipo drängt die Stahlhelmleute zurück, und der Zug kann seinen Weg weiter nehmen."
„Es liegt da eine Abstufung vor, Konrad. Unsre Ordner schaffen zunächst Ordnung. Der Staat verlässt sich sogar auf sie und lässt seine eignen Organe zunächst nicht in Funktion treten. Wenn's aber zum Äußersten kommt, dann muss er eintreten."
„Ja, so is es. Wie könnten wir das kurz ausdrücken? Ordnen tun die Ordner so gut wie der Staat. Wo liegt der Unterschied?"
„Der Staat ordnet als letzter!"
„Oder?"
„Der Staat ordnet in der letzten Instanz!" sagte Otto.
„Wenn wir unsern Otto nicht hätten!"
„Also, um unsre Bestimmung zu vervollständigen ..."
„Allmählich kann ich den Vers auch", unterbrach Adolf.
„Bitte."
„Der Staat ist eine Einheit von Handlungen. Er garantiert in letzter Instanz auf einem bestimmten Gebiet das geordnete Zusammenleben der Menschen."
„Bravo, mei Adolf", frozzelte Walter.
Aber Otto schüttelte den Kopf.
„Wir wollen doch noch mal überlegen, Konrad, ob mit dem ,Ordnung in letzter Instanz garantieren' auch alles gesagt ist."
„Meinetwegen. Wie waren deine Beispiele?" „Der Verkehrsschutzmann." „Stimmt's?" „Kla!"
„Die Anmeldung in der neuen Stadt." „Stimmt's?" „Kla!"
„Krankengeld." „Stimmt's?"
„Halt", rief Otto. „Das ist mehr als Ordnung schaffen. Da sorgt er doch für die Menschen."
„Könnte man es doch noch unter den Begriff: ,Er garantiert die, Ordnung' bringen?"
„Es ginge", meinte Emil. „Denn wenn für die Kranken und Alten nicht gesorgt wird, gibt's eines Tages Krach."
„Ist es unbedingt nötig, dass gerade der Staat diese Versorgung übernimmt?"
„Nee. Es wäre denkbar, dass es auch andre machen."
„Zum Beispiel?" Die Kirche."
„Oder?"
„Der Berufsverband."
„Oder?"
„Die Familie!"
Aber Otto geriet in wachsende Opposition. „Wir kommen aber mit dem Begriff der Ordnung doch nicht durch! Nimm z. B. mal 'ne wissenschaftliche Anstalt, die der Staat gründet."
„Das tut er doch bloß, wo sich's um seine Zwecke handelt, um untersuchen zu lassen, wie man Munition am besten herstellt, oder so was, — nich aus Interesse für die Wissenschaft", entschied Adolf.
„Aber eine Staatsoper, Adolf?"
„Na ja, — das sind so Paradepferde."
„Ich will es euch verdeutlichen", sagte Konrad. „Ich denke mir die Tätigkeit des Staates in einem Kreis dargestellt. Hier" — er hatte auf dem Tisch mit Kreide gezeichnet — „liegt das Zentrum. Wie heißt die äußere Linie?"
„Peripherie."
„Gewisse Aufgaben des Staates sind unentbehrlich. Sie liegen hier im Zentrum. Sie gehören zu seinem Wesen. andere liegen an der Peripherie. Wohin gehört die Staatsoper? —
„An die Peripherie."
„Welche andren Tätigkeiten des Staates könnte man aus seiner Wirksamkeit auslöschen, ohne sein Dasein im geringsten zu gefährden?"
„Wenn er Museen gründet."
„Wenn er Schulen baut."
„Wenn er Krankenhäuser baut."
„Auch von der Fürsorge für Alte und Kranke sagten wir, dass sie allenfalls auch von andern Stellen übernommen werden könnte. Hat er oft an diesen Dingen ein starkes eignes Interesse?"
„Aber sicher! Zum Beispiel an den Schulen, dass ,Staatsgesinnung' gepflegt wird", sagte Adolf.
„Ist es festgelegt, was er von diesen Aufgaben übernimmt oder nicht?"
„Nein."
„Es ergibt sich also, dass die Veranschaulichung mit dem Kreis noch einer Ergänzung bedarf. Auf dem Tisch da ist die Peripherie eine feste Linie; in Wirklichkeit..."
„Is sie's nicht!"
„Wisst ihr, in welchem Land er viele Aufgaben den Privaten lässt, die er bei uns übernimmt?"
„In England", antwortete Otto.
„Nun zurück zu Ottos Einwand. Gibst du zu, Otto, dass wir uns bei unsrer Aussprache — wenn wir nicht ins Uferlose kommen wollen — an die zentralen Aufgaben des Staates halten müssen?"
„Ja! Das will ich zugeben. Die Aufgaben der Pflege und Fürsorge mögen peripher sein. Trotzdem genügt der Begriff der Ordnung nicht. Nimm die Rechtsprechung. Das ist doch was andres als Ordnung."
„Was meinen die andern?"
„Es kommt drauf an, was man unter Ordnung versteht", sagte Walter. „Wenn du den Begriff im weitesten Sinne nimmst, so kannste zugeben, Otto, dass es grade die Rechtsprechung ist, die das geordnete Zusammenleben der Menschen gewährleistet."
„Es will mir nicht ein", entgegnete Otto. „Rechtsprechen ist Rechtsprechen. Dass damit auch die Ordnung gewährleistet wird, will ich nicht bestreiten. Aber es ist nicht Ordnung gewährleisten. Vor allem aber kann ich den Krieg unter keinen Umständen unter diesen Begriff bringen." Konrad wollte antworten, doch Otto sprach energisch weiter: „Ich weiß schon, Konrad, deichseln kannst du das! Aber überzeugen wirst du mich nicht!! Mit den Leuten hierzulande hat's ja überhaupt keinen Zweck, drüber zu reden. Für sie ist der Staat das rote Tuch. Sie haben ja auch nie einen gehabt."
„Na erloobe mal!!"
Ottos Gesicht verzog sich zu unbeschreiblichem Grinsen. „Alles, was hier in Mitteldeutschland rumkriecht....."
„Mensch, is das 'ne Frechheit!"
„kann in politischen Dingen nich janz davor."
Ein Entrüstungssturm brach los. Otto freute sich wie ein Schneekönig.
„Wir wollen es nicht so eindeutig auf dies Land zuspitzen", schlichtete Konrad ihren Streit. „Der Arbeiter denkt vielerorts so wie ihr hier."
„Sehr richtig", bestätigte Otto. „Es gibt noch mehr sone ... na, ich will se nich beim Namen nennen. Du z. B., Konrad, siehst das auch nur halb richtig, weil du aus den Bergen bist. Da is das Leben anders. Viel näher zur Natur."
„Also sind wir alle mehr oder weniger erledigt."
„Total erschlagen", lachte Otto.
„Ich schlage vor, unser Otto übernimmt den Vorsitz!" sagte Adolf.
„Nee, noch nicht", entgegnete Otto. „Erst soll Konrad das Kunststück fertig bringen und die äußere Politik unter den Begriff der Ordnung bringen."
„Also krempeln wir uns die Hemdärmel auf."
„Man los!"
„Ich habe nicht gesagt, die Aufgabe oder der Zweck des Staates erschöpft sich darin, für Ordnung zu sorgen. Ich habe gesagt, dass er das geordnete Zusammenleben der Menschen garantiert."
„Na ja! Siehste! Da kommt schon die berühmte Knaupelei! Ich sage dagegen:
1. garantiert is 'n weiter Begriff, und
2. Ordnung wird doch einseitig als Ziel hingestellt. Ich gebe dir ohne weiteres zu: Ohne Staat gäb's kein geordnetes Zusammenleben. Das is klar. Aber er tut eben noch viel mehr, als Ordnung garantieren, auch in der Innenpolitik! Und die äußere Politik is überhaupt ganz was anderes als Ordnung garantieren. Nimm den Kreis da! Geordnetes Zusammenleben garantieren liegt ganz nah am Zentrum, ist
meinetwegen selbst ein Teil des Zentrums, aber das Zentrum als Ganzes ist was andres."
„Nenne ein Beispiel."
Er, besann sich. „Unsre Freiheitskriege!"
„Meinst du nicht, dass gerade sie erst wieder ein geordnetes Zusammenleben innerhalb und außerhalb des preußischen Staates ermöglicht haben?"
„Ja, aber das war nicht ihr Sinn."
„Was denn?"
Otto überlegte.
„Sieh mal, Konrad, würdest du mir zugeben, dass Napoleon eine ganz andere Politik Preußen gegenüber hätte machen können. Er hätte es gut behandeln können. Die Menschen hätten unter einer Art Oberhoheit von ihm ein ganz gutes, geordnetes Zusammenleben führen können."
„Ja."
„Trotzdem hätten sie sich erhoben! Sie wollten als Volk frei und einig sein."
„Aber gewiss!! Weil nationale Freiheit erst das geordnete Zusammenleben der Völker wirklich und dauernd garantiert. Das ist ja der Grund, weshalb ich ein Recht habe, die auswärtige Politik in diesen Begriff miteinzubeziehen. Der erfolgreiche Kampf um die eigne Existenz garantiert einem Volk das geordnete Zusammenleben mit andern Völkern auf der Basis eines Vertragsverhältnisses, das ohne Staat nicht denkbar ist."
„Dass man es so sagen kann, habe ich ja schon zugegeben", sagte Otto. „Es trifft eben nich den Kern."
„Dann umschreibe ihn irgendwie."
„Staat heißt", sagte Otto — und er hatte sein Feixen vergessen —, „dass alle zusammenstehen und nach innen sich helfen und nach außen sich gemeinsam verteidigen."
„Tut das Proletariat als Klasse das nicht auch, Otto?"
„Ja-----------"
„Gleichwohl bildet die klassenbewusste Arbeiterschaft keinen Staat."
Otto zögerte.
„Das stimmt.------------Aber trotzdem! Es gehört unbedingt zum Wesen des Staates, dass----------------durch das
Zusammenstehen — nicht bloß durch geordnetes Zusammenleben, — durch das Zusammenstehen und Zusammenhalten nach innen und außen die Kraft vermehrt wird. Das allein kann es nicht machen. Du hast recht, denn auch die Klasse hat das — aber es liegt auch im Zentrum des Kreises. Irgendwo hab ich mal gelesen. Ungefähr so: Der Staat macht, dass 2 x 2 nicht 4, sondern 8 ist. Das ist mit ,Ordnung garantieren' nicht gesagt."
„Vielleicht nicht. Aber ich würde es gleichwohl hineinnehmen können. Die Wirkung des geordneten Zusammenlebens ist natürlich die vermehrte Macht. Denk an das alte Sprichwort: Friede vermehrt, Unfriede verzehrt."
„Es ist doch was anders", beharrte Otto.
„Ich glaube, du hast recht! Ich sehe es jetzt. Es ist was anders. Vielleicht liegt hier die Grenze des Beweisbaren. Du fühlst: dieses 2 x 2 = 8 ist zentral. Es gehört für dich zum Wesen des Staates. Ich fühle es als Wirkung der staatlichen Ordnung. Können wir darüber noch mit Gründen streiten?"
Ottos Gesicht zog sich zusammen.
„Du meinst, es hat also eigentlich keinen Zweck, drüber zu reden", sagte er scharf.
„In gewissem Sinne nicht. Es steht Gefühl gegen Gefühl."
„Dann halte ich aber unser Gefühl für das richtige!! Denn wir haben einen starken modernen Staat geschaffen. Die andern Deutschen nicht!!" Trotz und Zorn standen auf seinem Gesicht.
„Den Ruhm gönnen wir dir", erwiderte Adolf. Die andern bestätigten. Konrad schwieg. Noch einen Augenblick ließ Otto seine kleinen, scharfen Augen über die Runde gleiten in der Hoffnung, ein Echo zu finden. Umsonst. Da haute er ab. Die harte Kruste seines Wesens, die sich einen Augenblick gelockert hatte, schloss sich. „Dann könnt ihr ja euer Gefühl weiter verfolgen." Und er fiel in die Rolle des grinsenden Spötters zurück.
„Es wird auch Zeit, dass wir zu Worte kommen", sagte Adolf.
„Ja, Konrad", bestätigte Walter, „grade durch die Aussprache mit Otto wurde mir klar: Für uns steht auch was ganz anders im Zentrum, als du uns vorhin weißgemacht hast. Du hast das vorhin so schön aufgezogen wie'n richtiggehender Schulmeister. Damit hast du uns übertölpelt. Du weißt schon, was ich meine: Den Unterdrückungscharakter des Staates. Der Staat ist immer ein Unterdrücker gewesen."
„Ein Instrument zur Ausbeutung der besitzlosen Klasse", bestätigte Adolf.
„Gut", sagte Konrad. „Rollen wir die Frage noch mal von dieser Seite her auf. Ich bestreite keinen Augenblick den Unterdrückungscharakter des bisherigen Staates. Ja, ich gehe weiter. Stimmt ihr mir zu, wenn ich sage: In einer Klassengesellschaft haben alle gesellschaftlichen Einrichtungen einen Klassencharakter und dienen irgendwie der Herrschaft der besitzenden Klasse?"
„Ja! Das hat Marx den Proleten gelehrt."
„So ist es, Genossen. Marx hat diese Erkenntnis in den Mittelpunkt unseres Bewusstseins gerückt! Könnt ihr gesellschaftliche Einrichtungen nennen, die der Klassenherrschaft dienen?"
„Die Kirche."
„Die Schule."
„Die Universität."
„Sogar die Eisenbahn. Ihre 1. Klasse ist ein Geschenk an die Reichen auf Kosten der Steuerzahler."
„Nun müssen wir doch, Genossen, alle diese Dinge, um sie überhaupt voneinander unterscheiden zu können, uns einzeln klarmachen — jedes für sich. Instrumente der Klassenherrschaft sind sie im Klassenstaat alle. Aber jedes in seiner Weise. Wenn ich sie unterscheiden will, muss ich von jedem das Besondere erkennen und herausheben. Wozu dient die Schule?"
„Für'n Unterricht der Kinder."
„Die Eisenbahn?"
„Dem Verkehr." „Die Kirche?" „Dem Aberglauben."
„Wenn ich nun zum Zwecke dieser Unterscheidung nach dem Staat frage, so werde ich sagen: Gewiss, auch der Staat ist, wie Schule, Kirche und so fort ein Instrument zur Unterdrückung der besitzlosen Klasse. Seine besondere Eigenart aber besteht darin, dass er die Ordnung des menschlichen Zusammenlebens auf einem bestimmten Gebiet in letzter Instanz garantiert. Mit anderen Worten: Ich halte eure Generalbestimmung für durchaus richtig. Sie trifft jedoch nicht das Besondere des Staatlichen. Sie gilt für alle gesellschaftlichen Einrichtungen der Klassengesellschaft. Können wir uns darauf einigen?" Sie fanden keine Gegengründe. Aber man sah ihnen das Unbehagen an, mit dem sie Konrads Gedankenführung folgten.
„Soweit die Frage nach dem Wesen des bisherigen Staates. Ich nehme nun an, die Periode der Diktatur ist vorüber. Man hat sozialisiert. Stehen die gesellschaftlichen Einrichtungen dann noch im Dienst der besitzenden Klasse?" —
„Nein, sowas gibt's dann nich mehr."
„Gibt es gleichwohl Schulen?"
„Kla."
„Wird sich die Gesellschaft als Ganzes um die Schulen kümmern?"
„Aber sehr! Sonst könnte die Reaktion was Schönes anrichten."
„Wird es noch Eisenbahnen geben?"
„Natürlich."
„Aber den Luxus für die Bevorrechteten wird man abschaffen, nicht? Sie werden unter dem Gesichtspunkt eingerichtet sein, der arbeitenden Masse möglichst viele Bequemlichkeiten zu schaffen. Wird endlich eine Stelle da sein müssen, die für ein bestimmtes Gebiet das geordnete Zusammenleben der Menschen in letzter Instanz garantiert?"
Alles schwieg, Otto grinste.
„Muss der Verkehr geregelt werden?"
„Ja."
„Müssen Gesetze gegeben werden?"
„Ja."
„Müssen Eltern ihre Kinder und Kinder ihre Eltern feststellen können?"
„Ja."
„Muss man feststellen können, ob ein Mann sechs Frauen auf einmal hat?"
„Gewiss, Konrad! Aber das alles braucht nicht der Staat zu machen. Das kann irgend eine ordnende Stelle machen, wie Bebel sagt: Ein Verwaltungskollegium."
„Wir sahen: Nicht irgend eine, sondern eine in oberster Instanz."
„Meinetwägen — —"
„Wie du diese Stelle nennst, Adolf, das ist mir egal!! Das Entscheidende ist, ob du anerkennst, dass die ordnenden Funktionen, die der Staat heute für ein bestimmtes Gebiet in letzter Instanz ausübt, auch in einer sozialistischen Gesellschaft ausgeübt werden müssen. Freilich nicht mehr im Interesse der besitzenden Klasse, sondern im Interesse der arbeitenden Masse."
„Zugeben muss man's schon", sagte Adolf. „Aber es stimmt doch was nicht."
„Nein", sagte Otto fest. „Es stimmt auch nicht. Weil du an der Hauptsache immer vorbeiredest. Dein Staat kann allenfalls durch das Bebeische Verwaltungskollegium ersetzt werden. Dafür bist du 'n Schweizer. Meiner nich! Denn wenn morgen die Sowjetrussen über uns herfallen — reg dich nur nicht auf, Rudolf, möglich ist's doch!! — oder meinetwegen übermorgen die Chinesen, die auch mal aufwachen können — und 's is ein Dreihundertmillionenvolk —, dann erst tritt der Staat in seine stärkste Funktion. Dann ist er die organisierte Macht des Volkes zur Verteidigung seiner selbst und ist mit einem Verwaltungskollegium nicht zu verwechseln."
„Du weißt, Otto, dass ich die Aufgaben der auswärtigen Politik nicht verkenne", sagte Konrad etwas gereizt.
„Aber sie sind dir nicht so zentral, wie es nötig ist."
„Nimm aber an, Otto", unterbrach Walter, „wir hätten ein Weltreich, in dem alle Völker endgültig sich geeinigt hätten und in dauerndem Frieden nebeneinander lebten — dann brauchten wir doch keinen Staat mehr! Dann genügten Bebeis Verwaltungskollegien."
„Trotzdem!!", entgegnete Otto. „Denn wenn in diesem Weltreich auch nur ein einziger Mensch wäre, der sich der all gemeinen Ordnung nicht fügte — was dann?"
„Den täte man in ein Irrenhaus!"
„Wenn er aber nicht freiwillig geht? Wer hat das Recht über seine Person zu verfügen? Ist das ein Verwaltungskollegium, das ein Recht hat, über deine Person zu verfügen?"
„Halt!" rief Konrad. „Jetzt sehe ich es klarer! Wir stehen an einem Wendepunkt unserer Besprechung."
„Warte mal!" unterbrach Adolf. „Ehe du dich wendest, mei Lieber, fass das noch mal zusammen, was wir bisher gesprochen haben. Sonst geht uns der Faden verloren."
„Gut. Wir waren zuerst zu diesem Ergebnis gekommen: ,Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen. Er garantiert auf einem bestimmten Gebiet das geordnete Zusammenleben der Menschen in letzter Instanz'." Otto war das nicht genug. Er findet die Bestimmung nicht eigentlich zentral. Er will den Ton auf die Machtorganisation, insbesondere zur Verteidigung nach außen, gelegt sehen. Die andern protestieren aus einem andern Grunde. Sie stellen seine gegenwärtige Eigenschaft als Instrument zur Beherrschung der besitzlosen Klasse in den Mittelpunkt und erklären ihn daher für überflüssig, sobald die Klassengegensätze beseitigt sind. Die auch dann noch notwendige Instanz zur Gewährleistung des geordneten menschlichen Zusammenlebens wollen sie nicht mehr als Staat anerkennen. Ottos Einwand, dass auch dann noch die Völker Kriege führen werden, widerlegen die andern mit dem Weltstaatsgedanken. Dabei taucht die Frage auf: Kann und muss irgendeine Instanz selbst in dem Weltstaat einer sozialisierten Gesellschaft über meine
Person verfügen? Das macht uns alle stutzig. Es muss also unsre Bestimmung nicht ganz schlüssig sein. Sie hat noch irgendwo ein Loch."
*
Er besann sich. „Kommen wir doch noch einmal auf die. Kohlenkrise in der sozialisierten Wirtschaft zurück. Ich nehme an, die Not steigt. Es rotten sich aus Anlass der großen Kohlenknappheit Menschenmassen zusammen und verlangen Kohlen. Das Verwaltungskollegium kann sie ihnen nicht beschaffen. Soll es sich persönlich vor die Kohlenhaufen stellen und sie verteidigen?"
„Nu kommste wohl gar mit der Polizei in der sozialisierten Gesellschaft?"
„Wenn du das Recht hast, die leitende Stelle anders zu nennen, so nenne ich auch diese Funktionäre anders. — Ich nenne sie ,Ordner'. Die Ordner kommen. Sie greifen nicht zu Pistolen und Gummiknüppeln. Aber sie bilden eine dichte Kette und drängen die anstürmenden Menschen unter gutem Zureden, aber zugleich mit körperlicher Gewalt zurück. Einige, die ganz wild sind, schließen sie in ihren Kreis und führen sie wider Willen in ihre Wohnungen. Adolf, kannst du mir das Beispiel zugeben?"
„Meinetwägen."
„Es handelt sich also um eine Gewaltanwendung in mildester Form. Einverstanden?"
„Ja."
„Kann man sich diese Gewaltanwendung von jedem x-beliebigen gefallen lassen?"
„Nein."
„Überhaupt von mehreren Stellen?"
„Nein."
„Sie muss als letztes Mittel einer einzigen Stelle vorbehalten bleiben — diese letzte Instanz nenne ich ,Staat'."
Man schwieg und überlegte. Auch Konrad tastete sich nur unsicher vorwärts. „In unserer Bestimmung von vorhin fehlt dann eine wichtige Tatsache: Das Recht der Gewaltanwendung. Oder: Das Recht, einen Menschen körperlich zu
zwingen. Ich könnte auch sagen: Die Tatsache der Herrschaft und des Gehorsams. Was meint ihr dazu?"
Dass du mir ein gut Stück näher gekommen bist", sagte Otto.
„Aber die andern?"
„Herrschaft und Gewalt, mei Lieber??! — — —", erwiderte Adolf. „Ächjaü!------------In der klassenlosen Gesellschaft is sowas ausgeschlossen!!"
„Aber, Adolf, du musst doch anerkennen, dass die Leute den staatlichen Ordnern gehorchen müssen!! Sie müssen! Ich kann es auch so ausdrücken: Es muss ein Wille da sein, der uns im Interesse des Ganzen zum Gehorsam zwingt."
„Du wirst immer preußischer", sagte Emil.
„,Zum Gehorsam zwingen' — das riecht vollkommen nach dem Klassenstaat", bestätigte Adolf.
„Es wird mir selbst immer klarer", sagte Konrad. „Wessen Wille erzwingt denn im Klassenstaat den Gehorsam?"
„Der Wille der herrschenden Klasse!"
„Kann das auch unter demokratischen Formen geschehen?"
„Das erleben wir ja alle Tage."
„Wessen Wille erzwingt dagegen in der klassenlosen Gesellschaft den Gehorsam?"
„Das is es ja grade!! So was gibt's eben in der klassenlosen Gesellschaft alles nich!! Gehorsam!! Wille!! Erzwingen!! Das wollen wir nich!! Wenn wir das alles mit rübernehmen wollen, — dann haben wir den Staat. Wir wollen Freiheit! Wir wollen diese Zwangsorganisation nicht!!"
„Ich glaube", fuhr Konrad unbeirrt fort, „jetzt sind wir bei dem eigentlichen Streitpunkt angelangt, der sicherlich zum Zentrum gehört. Ich werde nunmehr so bestimmen: Der Staat ist eine Einheit menschlicher Handlungen. Er garantiert in letzter Instanz das geordnete Zusammenleben der Menschen auf einem bestimmten Gebiet. Er tut das, indem er durch den organisierten Willen der Gesamtheit die Herrschaft auf diesem Gebiet ausübt."
Jetzt war die Geduld der andern zu Ende.
„Nu haste uns aber glücklich wohin bugsiert, wo wir nich hinwollen!! Ich jedenfalls nich!!" rief Adolf.
„Ich ooch nich", sagte Emil.
„Nee, ich ooch nich", ergänzte Rudolf.
Selbst Walter wurde skeptisch. Auch die übrigen lehnten ab. Nur Otto war zufrieden.
„Das muss ich mir dann eben egal sein lassen!! Auf alle Fälle müssen wir uns klarer machen, was in den letzten Behauptungen eigentlich liegt." Er besann sich. „Das Strittige liegt in dem Begriff der Herrschaft."
„Allerdings!!! Wir haben lange genug Herrschaft aushalten müssen, um in der klassenlosen Gesellschaft damit wieder von vorn anzufangen."
„Ihr habt mir doch aber zugegeben, dass nötigenfalls die Ordner gegen Widerspenstige eine sanfte Gewalt ausüben müssen. Die Frauen, deren Kinder frieren, lassen sich nicht mit Worten überzeugen. Der Gehorsam gegen solche Gebote muss erzwungen werden. Ich komme um die Worte: Gewalt, Gehorsam, Wille, Herrschaft gar nicht herum." „Wir machen das aber nich mit!"
„Machen wir uns doch klar", schlug Konrad vor, „wessen Wille es eigentlich ist, dem gehorcht werden soll. Wir als Demokraten haben doch da ganz sichere Grundlagen. Welches Wahlrecht wird für die oberste regierende Körperschaft gelten?"
„Das allgemeine, gleiche, direkte."
„Wessen Willen verkörpert also die oberste Körperschaft in der sozialisierten Gesellschaft?" „Den Willen aller."
„Halt! Stimmt schon nich", sagte Walter. „Die Minderheit will anders."
„Ich nehme an", entgegnete Konrad, „auch die Minderheit will die soziale Demokratie. Das ist in einer klassenlosen Gesellschaft nicht anders denkbar."
„Ja."
„Wer soll dann ihrer Absicht nach regieren?"
„Die Mehrheit."
„Es ist also ein oberster Wille gesetzt, der den Willen aller demokratisch Gesinnten darstellt. Wenn die demokratischen Staatsangehörigen diesem Willen gehorchen — wer ist dann ihr Herr?"
„Sie selbst."
„Mit dieser Beweisführung kannste auch die gegenwärtige Kapitalistenherrschaft verteidigen."
„Nein!!! Haben wir die klassenlose Gesellschaft?"
„Nee."
„Der Gegengrund ist also hinfällig. Ich könnte es auch so sagen: Die im Staat organisierte Gesellschaft regiert die einzelnen Mitglieder der Gesellschaft. Also, Regierung ist da, Wille ist da, Herrschaft ist da, Gehorsam ist da, nur nicht als Klassenhandeln, sondern als Handeln aller sozialen Demokraten."
„Das is sehr verzwickt", sagte Emil.
„Ja, Emil. Das ist es. Aber du kannst es trotzdem verstehen. Sieh mal: Folgst du im Geschlechtsleben allen deinen Gelüsten?"
„Nee, wenigstens nich immer."
„Es herrscht also der eine Emil, der sein Geschlechtsleben zu bändigen trachtet, über den andern Emil, der es austoben lassen möchte?"
„Na, wenigstens manchmal."
„Ein anderes Beispiel: Der Mensch, der sein Geld gern verplempert, und lernt, sparsam damit umzugehen", sagte Walter.
„Ausgezeichnet. Der gute Wirt in ihm herrscht über den Verschwender in ihm. Und so wird es in der sozialisierten Gesellschaft sein. Der im Staat organisierte Gesamtwille wird über den unorganisierten Willen aller einzelnen Glieder herrschen."
Sie schwiegen — widerlegt, aber nicht innerlich überzeugt. Der Klasseninstinkt derer, deren Klasse durch Jahrhunderte im Staate nur einen fremden Willen gespürt hatten, bäumte
sich gegen alles auf, was Herrschaft, Gehorsam, Wille, Gewalt heißt.
Konrad sah ihren inneren Widerstand; er sann eine Weile. „Wenn ihr euer Ideal der Freiheit verwirklichen wollt", sagte er dann, „so müsst ihr in meine Heimat ziehen, d. h. wie sie war, ehe die Eisenbahnen auch die entlegensten Täler aufschlossen. Da lebten meine Vorfahren als freie Bauern in kleinen Gemeinden. Niemand störte ihren Frieden. Denn diese Täler waren zu arm und zu entlegen, um einen Herrscher anzulocken. Reste von allen möglichen Völkerschaften flüchteten sich hierher und lebten hier unbehelligt. Alle Stürme des politischen Lebens gingen über uns hin, ohne unsern Frieden zu stören. Zwar macht sich auch hier beim Zusammenleben der Menschen die oberste ordnende Stelle notwendig. Es ist die Schweizer Republik. In ihrem Auftrag besorgen die örtlichen Instanzen das Nötige. Aber davon spürt man wenig. Freiheit herrscht dort! Aber es ist die Freiheit des unangefochtenen Naturdaseins. Ihr aber wollt die komplizierteste gesellschaftliche Verflechtung mit den Lebensbedingungen des Alpenjägers vereinen. Freiheitsromantiker die ihr seid!"
Da fuhren sie auf. Sie ließen sich von Konrad viel gefallen — aber gerade dieses Wort — der klassenbewusste, an Marx geschulte Arbeiter — ein Romantiker — das war zuviel.
„Dann war Marx ooch e Romantiker", schrie Adolf.
„So würde ich ihn nicht nennen", erwiderte Konrad ruhig. „Er hat aber zweifellos einen starken anarchistischen Einschlag. Was wir als unterdrückte Klasse empfinden, das empfand er als Jude. Einer auf Herrschaft beruhenden Zwangsordnung setzt er seinen Willen zur Freiheit des Einzelnen gegenüber, welche die Freiheit aller sein sollte. So sagt er im kommunistischen Manifest. Aber wenn eure Entrüstung es zulässt, so ziehen wir noch ein besonderes Endergebnis aus unserm Gespräch. Wir waren von dem Unterschied des Politischen und des Moralischen ausgegangen, Otto sagte: Die Frau klaut Kohlen. Adolf entgegnete: Das
tut sie nicht. Denn ihre Natur hat sich geändert. Die Menschen sind dann ganz anders. Nun unser Ergebnis: Politik ist Herrschaft zum Zwecke des geordneten Zusammenlebens. Hat Moral mit Herrschaft irgend etwas zu tun?"
„Nee! Sie is sogar glatt unmoralisch!" entgegnete Adolf prompt.
Konrad fuhr auf! „Wenn du zum Schluss so antworten kannst, so war unsre ganze Unterredung umsonst! Ist die Herrschaft des guten Wirtes über den Verschwender in der eignen Brust ,glatt unmoralisch?' — —?" Adolf zuckte die Achseln. „Und zweitens: Wenn sie unmoralisch wäre, so hätte sie mit der Moral etwas zu tun. Sie ist aber in ihrem Charakter als Herrschaft weder moralisch, noch unmoralisch. Um was handelt sich's denn bei der Moral? Welche Tat nennen wir moralisch?"
„Die gute."
„Welche unmoralisch?"
„Die schlechte."
„Ist das Prinzip des Guten oder Schlechten dasselbe wie Ordnung oder Herrschaft?"
„Ich weeß nich."
„Könnt ihr euch denn nicht entschließen, das Politische erst politisch zu sehen und dann die Moral einzusetzen?" Sie schwiegen.
„Es gibt eine höhere Entscheidung über dem Politischen. Gewiss. Das ist auch meine Überzeugung. Aber das Fachliche muss zu seinem Recht kommen." — Sie schwiegen noch immer in verbissenem Trotz.
„Emil! Bohrst du deine Löcher mit Moral oder mit dem Bohrer?"
„Frag nich so dumm." '
„Walter! Setzt du deinen Satz mit Moral oder mit Typen?" Walter machte eine Grimasse.
„Adolf! Machst du deine Schlosserarbeit mit Moral oder mit dem Werkzeug?"
„Ich schließe mich Emil an."
„Gewiss! Ihr seid bei alledem in allem euern Handeln, auch
im beruflichen, immer zugleich moralisch handelnde Menschen! Ihr könnt die Dinge immer auf diese beiden Weisen sehen. Ihr könnt sie speziell fachlich sehen. Ihr könnt sie allgemein moralisch sehen. Ihr dürft aber nicht die fachliche Betrachtung in der Mitte abbrechen, um die moralische einzusetzen. Versteht ihr mich wenigstens, wenn ihr auch bockt?"
„Verstehen tu ich's schon", brummte Emil.
„Ihr könnt also sagen: Ich verwerfe jede Herrschaft, auch die des guten Wirtes über den schlechten. Denn jede Herrschaft ist unmoralisch. Gut. Dann hebt ihr auf Grund einer obersten moralischen Entscheidung ein ganzes Gebiet menschlichen Handelns auf. Die moderne Gesellschaft löst ihr damit in Atome auf. Wenn ihr aber sagt: Eine oberste ordnende Instanz für den großen Kreis eines sozialisierten Wirtschaftsgebietes ist nötig, wenn ihr zugeben müsst, dass sie Herrschaftscharakter haben muss, um zu funktionieren, — dann könnt ihr euch nicht einfach auf das Moralische zurückziehen. Das ist kein sauberes Denken mehr.--------Wie
ist denn die Lage?", fuhr er mit Leidenschaft fort. „Das Bürgertum geht genau den entgegengesetzten Weg. Es hat alles in Fachsysteme aufgelöst, alles spezialisiert. Darüber hat es die sittlichen Zusammenhänge des Lebens verloren. Es kann heute nichts mehr, als tüchtige Spezialisten großziehen. Ihr habt noch die unmittelbare Beziehung aller Dinge auf die sittlichen Grundtatsachen des Lebens. Aber ihr verfallt in den entgegengesetzten Fehler. Als primitive Menschen, die ihr seid, setzt ihr das Moralische ein, ohne das Fachliche zu Ende zu denken. Das ist die Art der Dilettanten. Wenn wir ernsthafte Politik treiben wollen, müssen wir das Politische politisch sehen. Wir dürfen weder die moralische Entscheidung beliebig einsetzen, noch — was auf dasselbe herauskommt — ein radikale Änderung der moralischen Natur des Menschen. Springen wir beliebig vom Politischen ins Moralische hinüber, ohne das Politische zu Ende zu denken, — nehmen wir überdies das Moralische nicht, wie es der Erfahrung nach ist, sondern wie wir's haben
möchten, — dann sind wir keine Politiker! Dann sind wir Utopisten und Wundergläubige."
• „Romantiker, Dilettanten, Utopisten, Wundergläubige", wiederholte Walter. „Hast du noch mehr solche Ehrennamen auf Lager?"
„Nein — ich bin fertig."
*
Er war an's Fenster getreten und schaute in die Nacht hinaus. Die Freunde schwiegen lange Zeit. Dann begannen sie von andern Dingen zu sprechen. Konrad kehrte in ihren Kreis zurück. Aber er sah anders aus als sonst. Sein Antlitz war bleicher, seine Augen unruhiger. Es entging seinen Genossen nicht. Es war doch nicht seine Art, sich von dem gemeinsamen Ringen um das proletarische Wollen verstimmen zu lassen. So heiß es herging, so wenig dachte je einer von ihnen daran, irgend etwas in diesen Kämpfen persönlich zu nehmen. Seine Verstimmung lastete wie eine Schwüle auf dem kleinen Kreise.
„Konrad, haste was?" fragte endlich Emil.
„Ja, Genossen."
„Du bist doch sonst nich so, Konrad. Es geht uns doch allen nur um die Sache."
„Ja — so. Daran hab ich nicht gedacht! Genossen, euch gilt es nicht, wenn ich anders bin als sonst." Er presste die Lippen zusammen, als wolle er reden und könne nicht.
„Genossen!" sagte er dann, „wir haben voreinander keine Heimlichkeiten und keine Unwahrheiten. Wir verabscheuen die Verlogenheit der bürgerlichen Gesellschaft. Darum ein offnes Wort."
Sie sahen ihn beklommen an.
„Else ist für immer fortgegangen-------um meinetwillen
— — — durch meine Schuld. Ich, der Ältere, der Verheiratete, bin verantwortlich für das, was geschah, — ich
bin der Schuldige.------------Franz ist ihr nachgegangen —
auch für immer. Er sagt euch durch mich Lebewohl."
Totenstille lastete auf dem kleinen Raume. Den Älteren kam das Geständnis nicht ganz überraschend. Ihre Blicke
hatten sich gesenkt. Rudolf dagegen sah den Freund und Führer mit großen Augen erschrocken an. „Ja, Rudolf, wir singen es:
Um die Leiber schlingt ein neuer Frieden sich; wir blicken freier Mann und Weib uns freier an" aber wir haben es erst halb erkämpft. Die andre Hälfte, die schwerere, liegt noch vor uns. |
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