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Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
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VIII. Der Zusammenbruch beginnt.

Nichts konnte dem Geist der Kommune fremder sein, als das allgemeine gleiche Stimmrecht durch eine hierarchische Investitur zu ersetzen.
Karl Marx.

Einige Tage nach diesem Ereignis kam Emil atemlos zu Konrad gestürzt. „Mensch, was sagste bloß! Se haben uns de Tarife gekündigt!! Se forden de Woche drei Stunden Arbeit mehr!!! Elaste Worte!!"
„Ist denn die Bande verrückt geworden?!" „Das sag ich oochü" „Ist es in der ganzen Industrie so?"
„Überall dasselbe durch die ganze chemische Industrie! Diese Leuteschinder!! Diese Blutsauger!!! Mit 50 Stunden Arbeit haben se noch nicht genug! Nu soll 53 Stunden geschuftet werden!"
„Emil! Ich verstehe das gar nicht! Das kann doch gar nicht ihr Ernst sein!!"
„Es is aber so. Heut Abend is noch 'ne Verbandssitzung." Damit lief er fort.
Der Saal überfüllt. Man spricht, man schreit, man debattiert und gestikuliert.
Der Vorsitzende eröffnet. Mit starken Worten zieht er gegen die Unternehmer los. Aber stärker noch ist sein Appell an die Arbeiterschaft, Ruhe zu halten. „Genossen! Man will uns offenbar provozieren!! Das ist der Sinn der ganzen Aktion. Sie wollen uns auf die Straße locken!! Bleibt ruhig!! Haltet Disziplin!!!"
Wie das dumpfe Gewoge des Meeres bei nahendem Sturm — so grollt es durch den Saal. Die Ablehnung der Unternehmerforderung wird einstimmig beschlossen.
An den anderen Orten war es nicht anders gegangen. Die Zentralleitung des Verbandes lehnte daher die Forderung der Unternehmer rundweg ab. Die Arbeitgeber erklärten, die Betriebe am 1. November schließen zu wollen. Die Arbeiterschaft forderte einen Schiedsspruch.
„Nu wärn wer ja sehn, was bei eurer Koalition rausspringt", höhnte Emils kommunistischer Widerpart im Werk.
„Wart's ab!"
Am 25. Oktober fällte der Reichsarbeitsminister den Schiedsspruch. Man hatte bei der Aufteilung der höchsten Ämter dieses Ministerium einem Demokraten überlassen. Der Schiedsspruch erkannte die Forderung der verlängerten Arbeitszeit als berechtigt an.
Am liebsten hätte sich Emil am nächsten Tage während der Pause beiseite gedrückt. Doch die Kommunisten nahmen ihn in ihre Mitte.
„Siehste, Mensch!! Eure Koalition! Und diese Arbeiterverräter von Ministern bleiben immer noch in der Regierung! Allerdings — sie sitzen in der Wolle! Fahren Auto und fressen sich voll. Aber den Arbeiter lassen sie krepieren."
„Halt's Maul! Se können doch ooch nich, wie se wollen!!"
„Warum sind se dann in der Regierung?"
„Ohne sie wär's noch schlimmer!!"
„Um so besser! Dann flöge die ganze Kiste wenigstens balde in de Luft!"
Die Arbeiterschaft lehnte den Schiedsspruch ab. Am Abend kam Emil wiederum zu Konrad.
„Wenn unsre Genossen in der Regierung jetzt bloß durchgreifen, Konrad!!" Konrad zuckte die Achseln. „Du kannst dir nich vorstellen, wie gegen unsre Partei gehetzt wird. Wenn wir jetzt nachgeben, is alles verloren."
„Ich habe wenig Hoffnung."
Die Unterhandlungen gingen weiter. Nach drei Tagen erklärte der Reichsarbeitsminister den Schiedsspruch für verbindlich.
Emil kam wieder. Auch die andern fanden sich ein.

„Mensch! Was soll nu werden?!!" wütete Emil.
„Die ganze Demokratie is 'n Dreck", sagte Rudolf. „Die Kommunisten haben vollkommen recht. Wie kannste nur sagen, Konrad, die Demokratie sei die beste Staatsform!"
„Ja, Konrad", bestätigte Emil, „früher haste mal gesagt,
mir soll's alles eins sein, wenn nur die Sozialisierung kommt. Aber dann haste ooch gesagt, dass du's mit der Demokratie hältst. Wenn sie wirklich die beste Staatsform wäre, dann würde doch bei uns nich alles so schief gehen."
„Wir können ja noch mal drüber sprechen", sagte Konrad. „An dem Gang der großen Ereignisse werden unsere Überlegungen nichts ändern. Gleichwohl wollen wir die Besinnung auf das, was wir wollen, nicht aufgeben."
„Handeln wäre besser!"
„Aber gewiss, Rudolf. Nur müssen wir wissen, auf welches Ziel unser Handeln gerichtet ist."
„Ach, das ergibt sich schon von selbst. Handeln müssen wir!!"
„Auf die Straße gehen, was?"
„Gewiss! Und die Bande verjagen! Das ganze System unmöglich machen!"
„Aber, Kerl! Du musst doch wissen, was du erreichen willst und mit welchen Mitteln!"
„Nee, Konrad, wir haben schon viel zu lange drüber nachgedacht. 's hat keinen Zweck mehr! Ich geh demnächst zu den Kommunisten! Die Demokratie richtet die Arbeiterschaft zugrund."
„So geh!! Und wenn die ganze Karre im Dreck liegt, — dann werdet ihr wieder anfangen, euch zu besinnen!"
Er warf sich auf seine dürftige Bettstatt und zog die Knie hoch. Adolf und Otto hatten sich auf die Stühle gehockt. Emil ging ruhelos auf und ab. Rudolf stand trotzig mit verschränkten Armen am Fenster. ,
„Wär's denn nich doch besser, wenn wir die Demokratie abschafften, Konrad? So geht's doch nich!" fragte Emil.
Laute Rufe tönten von der Straße herauf. Extrablätter wurden ausgerufen. Emil stürzte hinunter. Es war ein kommunistischer Aufruf: „Das Proletariat übernimmt die Macht".
„Menschenskinder! Es geht los!!" schrie Rudolf.
„So wart's doch erst mal ab, Rudolf!! Es ist sicher wieder ein kommunistischer Bluff!"
„Statt zu schreien", sagte Emil, „wollen wir uns noch mal zusammensetzen! Es is vielleicht das letzte Mal. Aber wenn's denn schon um die Demokratie geht, so wollen wir wenigstens wissen, warum."
Sie setzten sich an den Tisch. Konrad überdachte die Aufgabe einge Augenblicke.

„Besinnt ihr euch noch darauf", begann er dann, „dass wir mal vom Staat sagten, er sei eine Einheit von Handlungen."
„Ja! Das war damals, als wir vom Staat sprachen." „Ich würde nun sagen: Diese Einheit wird um so stärker sein, je energischer die Menschen handeln, nicht?"
„Es wär also die Frage zu stellen: Ist eine bestimmte Staatsform ihrem inneren Wesen nach geeignet, das politische Handeln zu steigern? Einverstanden?"
„Ja."
„Vielleicht versuchen wir, uns die Sache an ein paar Beispielen aus der Geschichte klar zu machen. Kennt ihr Fälle, wo eine bestimmte Staatsform ein Volk besonders aktiv gemacht hat?"
„Russland unter dem Zaren und Russland als Räterepublik", sagte Emil. „Unter dem Zaren war Russland mit der Entente verbündet. Es hatte noch all seine Hilfsquellen, schickte Millionenheere an die Front und wurde doch geschlagen. Unter den Bolschewiki dagegen hatte es Bürgerkrieg im Innern, vom Ausland unterstützt. Vorräte und Menschen waren erschöpft — trotzdem behauptete es sich."
„Konrad, das is allerhand", sagte Adolf. „Dann wäre also die Räteregierung die beste Staatsform. Sie hat die Russen aktiver gemacht."
„Kann man aus einem Beispiel gleich allgemeine Schlussfolgerungen ziehen?"
„Nee, allerdings nich."
„Wir müssen also aus der Geschichte noch andere Beispiele beibringen."
„In der großen französischen Revolution war es genau so", sagte Adolf. „Erst saß Frankreich in der Patsche. Als man dann den Konvent machte, hat es sich behauptet-, obwohl der äußere Feind von allen Seiten anstürmte und der Bürgerkrieg in der Vendee und Bretagne tobte."
„Oder?"
„Frankreich 1870 unter Napoleon als Kaiserreich, dann als demokratische Republik. Nach Sedan meinte man, es wäre erledigt. Statt dessen hat es unter der Republik eine viel größere Energie entwickelt, als vorher."
„Aber Konrad", unterbrach Walter, „nun kommen wir ja wirklich zu einem ganz andern Ergebnis! Erst ist die Räterepublik ein Beispiel für die politische Aktivierung eines Volkes, dann der Konvent, dann wieder ist's die demokratische Republik. Und du willst doch auf die Demokratie hinaus."
„Ja, ihr seht, es ist nicht so einfach. Man kann nach den geschichtlichen Erfahrungen nicht einfach sagen: Diese oder jene Staatsform ist unter allen Umständen die beste und macht die Völker am aktivsten. Nehmt noch die Preußen unter Friedrich dem Großen hinzu, so habt ihr eine ganze Musterkollektion."
„Entschieden", sagte Walter. „Nach den Beispielen muss man sagen: Es kommt auf das Volk und den geschichtlichen Augenblick an, welche Staatsform das politische Handeln eines Volkes aufs höchste steigert."
„Das würde ich auch unbedingt sagen", bestätigte Konrad.
„Na, dann sitzt du doch auf dem Trocknen mit deiner Behauptung, dass die Demokratie die beste Staatsform sei."
„Noch lange nicht! Sondern jetzt fange ich erst richtig an. Dies waren die Vorbereitungen, damit wir nicht von vornherein die Frage zu eng und zu leicht nehmen. Man muss die praktischen Forderungen einer bestimmten Situation und die grundsätzliche Entscheidung auseinander halten."
„Na, da bin ich gespannt", sagte Emil. „Mach hin!"
„Nimm an, es kommen zu mir als Bergführer ein paar Touristen. Sie wollen die schönste Tour machen, die es in der Umgegend gibt. Ja, sage ich, der höchste Punkt mit der weitesten Aussicht ist jene Spitze dort. Können Sie diese Tour machen?"
„Was gehört denn dazu?"
„Da müssen Sie firme Bergsteiger sein mit tadelloser Ausrüstung und im Steigen seit Jahren geübt."
„Allerdings", sagen sie, „davon ist keine Rede. Wir fangen eben erst an."
„Dann können wir die Hochtour nicht machen. Nicht einmal die Besteigung der zweit- und dritthöchsten Spitze. Die alle sind nur erfahrenen Touristen zugänglich. Sie müssen sich mit der kleinen Tour nach jener Spitze dort begnügen. Das ist das Äußerste, was Sie leisten können."
Den andern Tag kommen andere. Ihre Kräfte reichen für die dritthöchste Spitze. Dann aber kommen zwei erfahrene Hochtouristen. Mit ihnen ersteige ich die höchste Spitze mit der weitesten Aussicht rundum. Verstehst du das Bild, Walter?"
„Du willst die höchste Spitze mit der Demokratie vergleichen; nur wenige sind ihr gewachsen. Die andern bedürfen je nach ihrer politischen Reife anderer Staatsformen. Nur in ihnen kommen sie zum Handeln. Darum bleibt aber doch die Demokratie die höchste Staatsform."
„So sehe ich es an. Ist euch das deutlich? — Man kann also angesichts des praktischen Lebens nicht einfach sagen: Die Demokratie ist die beste Staatsform. Sie entwickelt überall das stärkste politische Handeln. Mit unerfahrenen Neulingen kann man die höchsten Spitzen nicht ersteigen. Darum bleibt aber doch die Demokratie die höchste Spitze."
„Einverstanden, Konrad", sagte Otto. „Aber nun die Frage: Warum?"
„Eigentlich brauchen wir die Frage gar nicht erst lange zu untersuchen", unterbrach Adolf, „die Demokratie ist die menschenwürdigste Staatsform! Alle Knechtung entehrt den
Menschen. Darum muss die Demokratie unbedingt unser Ziel sein."
Konrad wurde ungeduldig.
„Auf welches Gebiet zerrst du nun wieder eine politische
Frage?"
„Auf das moralische", gab Otto prompt zurück.
„Nu —", sagte Adolf, „-----------wegen mir brauchen wir
unsern alten Zank darüber nich von vorn anfangen. Aber dann sag endlich, warum die Demokratie die beste Staatsform sein soll."
„Gut. — Wir hatten uns darauf geeinigt, dass der Staat handelnde Menschen fordert. Wann handelt der Knecht?"
„Wenn der Herr 's ihm befiehlt."
„Ist es denkbar, dass er unter dem Befehl des Herrn mit großer Energie handelt?"
„Das kann vorkommen."
„Zum Beispiel?"
„Wenn er gemeinsam mit dem Herrn sein Leben gegen Räuber verteidigt."
„Wie aber wird er oft handeln?"
„Lässig."
„Gleichgültig."
„Widerwillig."
„Stumpf."
„Dem Knecht setze ich den freien Menschen gegenüber. Was heißt hier frei?"
„Es befiehlt ihm keiner."
„Das ist richtig. Aber genügt das? Diese Bestimmung sagt doch nur, was nicht ist?"
„Allerdings —aber----------------? Wie soll man's sagen??
Ich seh's nich recht", überlegte Emil.
„Machen wir's uns mal an dem Unterschied von Wehrpflicht und proletarischen Kampforganisationen klar. Stand es vor dem Kriege im Willen des einzelnen Mannes, ob er Soldat wurde?"
„Nee. Er musste."
„So folgte er auch 1914 ohne Besinnen. Wer trug die Verantwortung für das, was geschah?"
„Die Regierung."
„Hatte er als Soldat Einfluss auf sie?"
„Nee."
„Aber als Staatsbürger", warf Otto ein.
„Gewiss. Aber das lassen wir hier mal bei Seite. Nun das Gegenbeispiel: Reichsbanner und Rotfrontkämpferbund. Zwingt euch irgend jemand, in die eine oder andere Organisation einzutreten?"
„Nee."
„Wer hat es also zu verantworten?"
„Wir selbst."
„Wie handelt ihr also?"
„Unter eigner Verantwortung."
„Genossen, das ist es!" sagte Konrad mit Nachdruck. „Das ist meiner Überzeugung nach für einen Sozialisten die Freiheit! Wir können die Freiheit nicht als schrankenlose Willkür ansehen. Wir sind gebunden! Aber gebunden, nicht an die fremde Entscheidung, sondern an die eigne Verantwortung."
„Aber Konrad — wir sind doch auch dem Ganzen verantwortlich!"
„Alle einverstanden?"
„Aber sicher! Wir sind z. B. der Partei verantwortlich,"
„In einem andern Fall: Der Belegschaft des Betriebes."
„Oder der Gewerkschaft!"
„Also sitzen wir in der Patsche!" sagte Otto. „Wir sind beiden verantwortlich: uns selbst und derjenigen Klassenorganisation, die gerade in Frage kommt."
„Und wenn sich das nicht mehr vereinigt?" fragte Konrad.
„Dann geht die Organisation vor", sagte Otto bestimmt.
„Nein! Das eigne Gewissen!" rief Rudolf.
„Konrad, was meinst du?" fragte Emil.
„Ich setze den Fall: Der Verband verlangt ein bestimmtes Handeln. Eure Einsicht sagt euch: das ist falsch. Was tut ihr?"
„Das kommt drauf an", sagte Otto nachdenklich.
„Worauf kommt's an?"
Otto hatte sich entschieden. „Wenn in solchem Falle", sagte er fest, „die Disziplin das Notwendigste ist, dann folge ich der Leitung, auch wenn sie falsch handelt. Wenn dagegen das Handeln gegen die Leitung keine bedenklichen Folgen haben kann, und es ist wichtig, dass der Irrtum geklärt wird, dann handle ich gegen die Organisation."
„Da hat Otto recht", sagte Emil.
„Das glaube ich auch", bestätigte Konrad. „Aber nun gebt acht! Wer entscheidet darüber, ob im Augenblick der Disziplinbruch schlimmer ist, als ein falsches Handeln? —"
„Ich selbst."
„Alle einverstanden?"
„Kla! —"
„Bei wem liegt dann letzten Endes die verantwortliche Entscheidung für dein Handeln, Otto?"
„Allerdings — bei mir."
„— Darum nenne ich den frei, der unter eigner Verantwortung handelt! Hab ich recht, Emil?"
„Stimmt schon, Konrad."
„Dass bei solcher Entscheidung dem Sozialisten die Klassenorganisation wichtiger ist und sein muss, als sein persönliches Interesse — das ist eine Binsenwahrheit. Doch nun das Entscheidende für unsere Frage: Wirst du im Falle des selbstverantwörtlichen Handelns immer wissen, was du zu tun hast?"
„Nein."
„In welcher Gefahr steht also der unter eigner Verantwortung handelnde Mensch?"
„Vor lauter Überlegung gar nicht zu handeln."
„Konrad, damit ist eigentlich über unsere heutige Lage das Entscheidende gesagt. Es wird nich gehandelt."
„Ja, Otto. Damit ist das Entscheidende gesagt! Damit treffen wir unser heutiges Unglück in seiner eigentlichsten Wurzel! Gelingt es aber — und das ist ebenso entscheidend für die Wertung der Demokratie — gelingt es, unter eigner
Verantwortung zu festen, klaren Entscheidungen zu kommen — wie wird dann das Handeln der Menschen sein?" „Da handelt er natürlich ganz anders, als der Knecht."
„Nämlich?"
„Wenn er den Entschluss selbst gefasst hat, und er weiß, warum, und dass es so sein muss, und nicht anders, und s'is alles seine eigne Entscheidung — das is e ander Ding, als wenn nur einer sagt: ,So machst'es.'"
„Damit sind wir am Ziel, Genossen! Aus diesem Grunde glaube ich, dass die Demokratie ihrem inneren Wesen nach als Staat der selbstverantwortlich handelnden Menschen die höchste Staatsform darstellt. — Sie ist geeignet, das stärkste Handeln des Menschen, das selbstverantwortliche Handeln, auszulösen. Freilich — fehlt den Touristen die Erfahrung, die Schulung, das Rüstzeug, der Wille — dann bedeutet der niedrigere Gipfel für sie die bessere Bergtour."

*

„Ich bin aber sicher, Marx hätte diesen ganzen Dreck auch abgelehnt", nahm Rudolf seine Opposition wieder auf.
„Ich auch", lachte Konrad bitter.
„Die Kommunisten sagen sogar, er is überhaupt nich für Demokratie und Parlamentarismus gewesen."
„Halbwahr!"
„Wieso?"
„Ist Demokratie und Parlamentarismus dasselbe?"
„Aber sicher!"
„Kannst du dir ein primitives kleines Gemeinwesen denken, Rudolf, das in Versammlungen aller Bürger seine Angelegenheiten regelt?"
„Gewiss."
„Wäre das Demokratie?"
»Ja."
„Wäre es parlamentarisch?"
„-------— Nee,--------allerdings nich--------"
„Du siehst also, man kann und muss diese Begriffe trennen."
„Aber ich will doch über die Stellung von Marx zu diesen Dingen was wissen", beharrte Rudolf.
„Gerade zu diesem Zweck müssen wir Demokratie und Parlamentarismus trennen lernen. Aber wie soll ich in Kürze Marx' Auffassung charakterisieren? — — Mit ein paar Marxzitaten kommen wir an die Sache nicht ran!"
„O ja, Konrad!", unterstützte Emil den Kameraden. „Wozu is eure vielgerühmte Wissenschaft gut, wenn ihr uns das Wesentliche nich kurz und einfach sagen könnt."
„Sehr richtig!", bekräftigte Otto.
„Gut. Machen wir einen Versuch! Nur das eine muss ich vorausschicken: Ich halte jeden für einen Schwachkopf,. . "
„Hört! Hört!" „... Der auf den Buchstaben von Marx schwört. ,Ich bin nicht Marxist' hat er selbst gesagt. Und gerade im Hinblick auf seine zeitgenössischen Kommunisten sagte er: ,Ich bin nicht dafür, dass wir eine dogmatische Fahne aufpflanzen, — im Gegenteil!' Mir scheint nichts kläglicher und würdeloser, als wenn die Enkel sich um den großen Ahnen katzbalgen. Offen gesagt, Otto, ich glaube, Marx würde den einen wie den andern — mit Fußtritten davonjagen. Bei all solchen Erörterungen hantiert man zumeist an der Außenseite herum. Man zankt um den Buchstaben, und der Geist ist längst zum Teufel. Aber eins will ich ehrlich bekennen: Wenn ich sagen soll, wer in diesem ganzen Zeitalter ihm dem Geist nach am nächsten war, — so sage ich —
Lenin. Im übrigen —--------Wie er sich räuspert und wie
er spuckt — das hat man ihm glücklich abgeguckt. Selbst die Jugend — dort, wo sie sich an der marxistischen Phrase berauscht, — da ist sie dem Schöpfer der deutschen Arbeiterbewegung unendlich fern. Seine strenge Gedankenarbeit, die mit Jahrzehnten maß, und jene billigen Räusche des Augenblicks, — sie sind wie Feuer und Feuerwerk."
„Lass das, Konrad", sagte Adolf gereizt.
„Sei's! Kommen wir zur Sache."
Er nahm zwei Schriften von Marx zur Hand. „Wie immer, wenn sich Köter um ein Löwenfell zerren, behält jeder ein Stück in den Klauen." „Konrad!" Er achtete nicht darauf.
„Die Sache liegt verhältnismäßig einfach. Kennt jemand von euch irgend ein Wort von Marx, an das wir anknüpfen könnten?"
„Er sagt irgendwo", sagte Otto, „das Proletariat müsse die Staatsmaschine, in dem Augenblick, da es sie übernimmt, zerbrechen."
„Recht. Nehmen wir die Frage zunächst von dieser Seite, von der Seite des modernen Parlamentarismus. Es ist keine vereinzelte Äußerung. Die Kritik der parlamentarischen Republik findet sich bereits in jener Schrift, die den Staatsstreich Napoleons vom Jahre 1852 behandelt: Der 18. Brumaire. Der Versuch einer Räteregierung in Paris vom Frühjahr 1871 gab dann Marx Anlass, sich eingehend über diese Dinge zu äußern. Seine Schrift: „Der Bürgerkrieg in Frankreich" ist geradezu eine Verherrlichung der Kommune im Gegensatz zur parlamentarischen Republik. Ich will nur eine Stelle lesen:
,Die Kommune sollte nicht eine parlamentarische, sondern eine arbeitende Körperschaft sein, vollziehend und gesetzgebend zu gleicher Zeit .... Statt einmal in 3 oder 6 Jahren zu entscheiden, welches Mitglied der herrschenden Klasse das Volk im Parlament ver- oder zertreten soll' — achtet bitte auf solche hingeworfenen Werturteile — ,sollte das allgemeine Stimmrecht dem in Kommunen konstituierten Volk dienen, wie das individuelle Stimmrecht jedem andern Arbeitgeber dazu dient, Arbeiter, Aufseher und Buchhalter in seinem Geschäft auszusuchen.'"
„Wie fasst ihr diese Stelle auf?"
„Ein glatte Absage an den Parlamentarismus", sagte Otto.
„Ich glaube auch, man kann das nicht bestreiten", bestätigte Konrad.
„Na, Konrad, das is allerhand!" rief Adolf erregt. „Dann is wahrhaftig unsre Weimarer Verfassung nich das, was Marx gewollt hat?!"
„Das is überhaupt Quatsch", entschied Otto.
„Warum?"
„Zu sagen: Was Marx gewollt hat!"
„Wieso?"
„So hat er's überhaupt nie gesehen. Ne Verfassung is für Marx nich ne Sache, die man einfach will."
„'s versteh 'ch nich!"
„Sieh mal, Adolf", versuchte Konrad zu erklären, „grade du betonst doch immer den Zusammenhang von Wirtschaft und Gesellschaft, nicht wahr?"
„Allerdings."
„Dann musst du doch verstehen, dass für Marx die politische Form immer nur der politische Ausdruck bestimmter wirtschaftlich-gesellschaftlicher Machtverhältnisse ist, nicht Gegenstand irgend eines Wunschbildes!"
„Gewiss, Konrad."
„Dann kann Marx eine bestimmte Verfassung nicht einfach wollen. Die parlamentarische Republik ist seinem geschichtlichen Urteil nach die politische Form einer bestimmten Gesellschaftsschichtung. Sie entspricht der Phase, in der die Bourgeoisie noch ausschlaggebend ist. Also etwa der heutigen Lage."
„Und er hielt sie nicht für geeignet, um die klassenlose Gesellschaft zu erkämpfen?"
„Er sagt das Gegenteil! Er nennt in der Schrift: „Der Bürgerkrieg in Frankreich" die Kommune die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung
der Arbeit sich vollziehen konnte....... Sie sollte als
Hebel dienen, um die ökonomischen Grundlagen umzustürzen, auf denen der Bestand der Klasse und damit der Klassenherrschaft beruht."
„Konrad, das hab ich nich gewusst", sagte Adolf beinah grollend. „Dann haben doch die Kommunisten recht, wenn
sie sich immer auf Marx berufen mit ihrem Gebleek gegen die Demokratie!"
„Nu manschst du's wieder durcheinander", sagte Otto wütend.
„Was mansch ich durcheinander?"
„Parlamentarismus und Demokratie."
„Na ja, so mein ich's ja doch! Also, vom Parlamentarismus hat Marx nischt gehalten?!"
„Nein, darin haben die Kommunisten recht!"
„Na also", schrie Rudolf, „Menschenskinder, dann is doch alles kla!! Dann muss man ja zu den Kommunisten gehen. Da wird nicht parlamentiert, da wird nich gequatscht. Da wird gehandelt!! —" Er war aufgesprungen.
„Aber wir haben doch erst die eine Seite der Sache, Rudolf!" schrie Emil dazwischen. „Hör doch zu Ende."
„Is alles Quatsch!! Wir haben's erlebt, so geht's nich weiter. Und wenn's nu losgeht und Marx selbst vom Parlamentarismus nischt gehalten hat, dann is mir die Sache klaa!!"
„Rudolf!! So höre doch!!"
„Nee!! Für mich is es klaa!" Er stürzte hinaus.
„Balde sind wir alle verrückt", sagte Emil. „Mach hin, Konrad. Noch ein Wort zu dem andern. Hat Marx auch die Demokratie abgelehnt?"

Konrad ging in starker Bewegung auf und ab. „Seht euch Russland an", begann er. „Ihr wisst, wie man dort die arbeitende Masse politisch entrechtet hat. In Russland ist das erträglich. Denn die Russen haben keinen Kapitalismus, keine Renaissance, keinen Humanismus, keine Reformation gehabt. Im Zeitalter unserer klassischen Dichtung und klassischen Philosophie kannten sie nichts, als ein grausames Zarenregiment für das Ganze des Reiches und eine ebenso grausame Leibeigenschaft für die Bauernklasse. Erst mit dem 19. Jahrhundert beginnen sich ihre gesellschaftlichen Verhältnisse ein wenig aufzulockern. Langsam folgt ihr geistiges Leben nach. Ein solches Volk weiß nichts von den
Traditionen, die in unserer Arbeiterschaft lebendig sind. Lenin hat diese politische Situation auch ganz klar formuliert. Er nennt das: ,Die Organisation des Vortrupps'. Theorie und Praxis stimmen hier in Sowjetrussland durchaus überein!"
„Aber Marx! Wir wollten doch wissen, wie Marx zur Demokratie steht."
„Gewiss. Ich wollte nur das Gegenbild zeichnen. Für Marx war die Demokratie die selbstverständliche Lebensform des modernen Europa. Du findest nirgends bei ihm den Gedanken Sowjetrusslands von der Bevormundung der breiten Massen durch eine kleine Minderheit."
„Halt mal, Konrad", unterbrach Otto. „Neulich, als ich mit einem Kommunisten darüber sprach, hat er bestritten, dass die Vortrupplehre erst von Lenin aufgebracht ist. Er zeigte mir eine Stelle im kommunistischen Manifest. Hast du's da?" Er nahm es und suchte. „Hier is es:
Die Kommunisten sind also praktisch der entschiedenste, immer weiter treibende Teil der Arbeiterparteien aller Länder; sie haben theoretisch vor der übrigen Masse des Proletariats die Einsicht in die Bedingungen, den Gang und die allgemeinen Resultate der proletarischen Bewegung voraus.
Der nächste Zweck der Kommunisten ist derselbe wie der aller übrigen proletarischen Parteien: Bildung des Proletariats zur Klasse, Sturz der Bourgeoisherrschaft, Eroberung der politischen Macht durch das Proletariat.
„Otto", entgegnete Konrad, „ist hier von einer Herrschaft des Vortrupps die Rede?"
„Nee — — Das nicht!"
„Dass Marx seine Gesinnungsgenossen als Führer des Proletariats ansieht, das ist doch wohl selbstverständlich. Man kann auch einen Denker niemals aus einer einzelnen Stelle erklären oder darauf festlegen wollen, am wenigsten, wenn sie so zweifelhaft in ihrer Deutung ist, wie diese. Und fragst du bei Marx nach dem Ganzen seiner Auffassung, so triffst du die demokratische Forderung wieder und wieder an. Gemäß seiner Grundeinstellung, die sich auf keine Staatsform festlegt, sondern die Staatsform als Ergebnis des wirtschaftlich-gesellschaftlichen Kräftespiels ansieht, hätte er das System des Vortrupps vielleicht für das heutige Russland als den gemäßen Ausdruck seiner gesellschaftlichen Lage anerkannt. Für West- und Mitteleuropa dagegen hat er stets an dem demokratischen Gedanken festgehalten. Schon im Kommunistischen Manifest sagt er:
,Die proletarische Bewegung ist die selbständige Bewegung der ungeheuren Mehrzahl im Interesse der ungeheuren Mehrzahl.' — Ihr seht, die Bewegung der ungeheuren Mehrzahl, nicht eines Vortrupps. Und an späterer Stelle: ,Deshalb ist der erste Schritt der Arbeiterrevolution die Erhebung des Proletariats zur herrschenden Klasse, die Erkämpfung der Demokratie.' So geht es durch. Und noch in jener Schrift über die Kommune 1871 spricht er immer vom allgemeinen Stimmrecht. Ja, er sagt hier ganz ausdrücklich: ,Nichts konnte dem Geist der Kommune fremder sein, als das allgemeine gleiche Stimmrecht durch eine hierarchische Investitur zu ersetzen!!'"
„Dann würde er also die Einführung eines Wahlrechts wie in Russland, wo die große Masse des arbeitenden Volkes ein minderwertiges Wahlrecht hat, für Europa ablehnen?" sagte Adolf beruhigt, „und es handelt sich bloß um das Parlament, ob er das für das Richtige hält?"
„So ist es, wenigstens meinst du's recht. Für ,das Richtige' hat er weder das eine, noch das andere gehalten. Aber er hielt die Räteverfassung der Kommune geeigneter zur Durchführung der Sozialisierung als den Parlamentarismus." Adolf war befriedigt.

„Eine Zwischenfrage hab ich noch, Konrad", nahm Otto den Faden wieder auf. „Warum hat Marx am demokratischen Gedanken immer festgehalten?! War das bei ihm Glaubenssache?" Konrad überlegte.
„Ich kenne eine Stelle im Kapital", sagte er dann, „wo
Marx auch den demokratischen Gedanken aus der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Lage ableitet."
„Wo ist das?"
„Er sagt gleich im Anfang des ersten Bandes vom ,Kapital', als er sich mit Aristoteles auseinandersetzte, dass der Begriff der menschlichen Gleichheit erst dann die Festigkeit eines Volksvorurteils erwerben konnte, — achtet auf das Wort Volksvorurteil — nachdem das Verhältnis der Menschen zueinander als Warenbesitzer das herrschende gesellschaftliche Verhältnis geworden war."
„Das soll heißen", tastete Emil sich durch, „die kapitalistische Gesellschaft macht uns alle gleich, weil wir alle kaufen und verkaufen."
„Ja, so etwa verstehe ich es."
„Trotzdem!", wandte Otto ein. „Ich bin doch noch nicht fertig. Mit dem Verstand hat Marx das offenbar alles so gesehen, wie du sagst. Ein bestimmtes Wirtschaftssystem — eine bestimmte Staatsgesinnung. Aber ob er seinem Gefühl nach nich doch Demokrat war und das empfand, was Adolf sagte: Dass es die menschenwürdigste Staatsform sei?"
„Vielleicht! Sogar wahrscheinlich!! Doch hat er selbst von solchen Betrachtungsweisen nie was wissen wollen."
„Alles in allem", sagte Otto, „kämen wir also zu dem Ergebnis, dass weder SPD noch KPD Karl Marx ganz für sich beanspruchen können."
„Wenigstens nicht, so lange sie am Buchstaben kleben. Wer sich an den Buchstaben von Marx hängt, der kommt in arge Verlegenheit, ob er sich rechts oder links entscheiden soll. Und es geschieht ihm recht. Unsere Aufgabe....."

Eine tiefe Männerstimme auf dem Korridor wurde laut. Man hörte schwere Tritte. Es klopfte. Im nächsten Moment wurde die Tür geöffnet. Der Mann vom Reichsbanner, den Konrad vom Unawerk her kannte, trat ins Zimmer. Seine schweren Stiefel waren mit Straßenkot bedeckt; sein Mantel triefte vor Nässe.
„Endlich finde ich dich, Genosse", sagte er zu Konrad. „Mein Vorgesetzter schickt mich zu dir. Es geht los!"
Alles sprang auf.
„Mensch, so sprich doch!" schrie Emil. „Was geht los?"
„In Wittenberg und — am Rhein! Die chemischen Arbeiter haben da heute Mittag Versammlungen abgehalten. Dann sind se uff de Straße gegangen, um zu demonstrieren. Dabei sind se mit der Polizei zusammengestoßen. Es is zu regelrechten Kämpfen gekommen und die Arbeiter haben gesiegt. In Witterberg haben se versucht, das Werk zu sprengen. Die Regierung is zurückgetreten. Mein Vorgesetzter bittet dich, sofort zu ihm zu kommen."
Emil stürzte fort. Die andern umringten den Boten und stellten aufgeregte Fragen. Konrad nahm schweigend Mütze und Windjacke, bot den Freunden ein kurzes Lebewohl und ging mit dem Boten.
Er traf den Reichsbannerführer allein. Eine Konferenz mit andern Führern war soeben beendigt.
„Ich freue mich, dass Sie kommen, Genosse", sagte der Ältere, indem er Konrad stehend die Hand gab. „Ich hatte Sie eher erwartet. Wie geht es Ihnen? Was treiben Sie jetzt?"
„Ich bin arbeitslos und benutze die unfreiwillige Arbeitspause, um meine Studien fortzusetzen."
„Um so besser. Sie haben gehört, wie die Dinge stehen. Es heißt jetzt, alle Mann an Bord. Sind Sie militärisch ausgebildet?"
„Ja. Ich habe der Miliz meiner Heimat ein Jahr angehört."
„Wären Sie bereit, hier sich im Reichsbanner zu betätigen?"
„Vorausgesetzt, dass die Verwendung des Reichsbanners meiner Überzeugung entspricht — ja —"
„Gut, so setzen Sie sich." Beide Männer nahmen an einem großen Tisch einander gegenüber Platz.
„Die Sachlage ist diese", begann der Reichsbannerführer.
„Seit Monaten haben sich die Verhältnisse dahin zugespitzt, dass die Koalition scheitern musste.
Es haben daher seit einiger Zeit in unserer Partei Besprechungen stattgefunden, was für den Fall eines Scheiterns der Koalitionsregierung zu tun sei. Die Leitung ist der ansicht, dass der Versuch einer Regierungsgemeinschaft mit den Kommunisten gemacht werden muss. Es ist die letzte Auskunft für uns. Man hält den Versuch für unvermeidlich. Das Reichsbanner muss für diesen Fall umorganisiert werden. Nach dem Ausscheiden von Zentrum und Demokraten müssen seine Truppen zu gemeinsamer Aktion mit den Kommunisten bewogen werden. Sie waren es, der damals den Gedanken vertrat, eine Gefolgschaft müsse auf eine veränderte politische Situation umgestellt werden können. Wollen Sie uns jetzt bei dieser Aufgabe helfen?"
„In welcher Weise soll sich jetzt die Verbindung mit den Roten Frontkämpfern vollziehen?"
„Beide Formationen sollen bestehen bleiben und nebeneinander kämpfen, wie im Weltkrieg etwa Österreicher und Deutsche."
„Versprechen Sie sich etwas von dieser Form der Verbrüderung?"
„Genosse, — es ist der einzige Weg. Sie erinnern sich vielleicht noch daran, was Sie damals von dem Weg der geringsten Gefahr sagten. Es machte mir Eindruck. Wollen Sie sich in dieser Stunde der Gefahr versagen?"
„Nein" — und er sah den Älteren fest an.
„Was sollte auch aus uns werden, wenn die jüngeren Männer, die noch keine Verantwortung für Weib und Kind haben, in solcher Stunde nicht einspringen wollten?"
Eine leise Bewegung ging über Konrads Gesicht, aber er sagte nichts.
Die amtlichen Angelegenheiten waren erledigt. Die beiden Männer saßen noch bei einem Glase Bier zusammen und sprachen über die Lage.
„Die ganze Schweinerei sehen und doch den Mut nicht verlieren, Amthor — darauf kommt's an", sagte der Ältere.
Konrad erwiderte nichts.
„Gewiss, ich gebe Ihnen zu, dass oben die nötige Entschlusskraft fehlt. Es gibt eben Schlappschwänze, und es gibt Männer!" Um den Mund des lebensvollen Mannes spielte ein Lächeln der Verachtung. „Aber auf der anderen Seite dürfen Sie die Schwierigkeiten der Lage nicht verkennen. Wie steht es denn? Die Zeiten, da der Arbeiter ohnmächtig dem Kapital gegenüberstand, sind vorbei. Gewerkschaften und Partei einerseits, organisiertes Unternehmertum andererseits — das sind heute zwei annähernd gleichstarke Machtfaktoren. Wie sollte da die Lage anders als zwiespältig sein?"
„Man kann und muss auch in einer zwiespältigen Lage handeln können!"
„Gewiss! Aber Sie werden zugeben, dass nur ganz ungewöhnliche Führernaturen eine solche Lage meistern können!"

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