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Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
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II. Sti.. hille Naacht — hei.. lige Naacht.

„Martl, komm doch mit!"
„Och Adolf-------"
„Warum denn nich? Die andern Burschen bringen doch ooch ihre Mädels mit!"
„Grad am heiligen Abend! Das kann ich doch gar nich! Was soll denn meine Mutter denken!"
„Du sagst ihr, du gingst zur Weihnachtsfeier in euern Bibelkreis."
„Aber Adolf!"
„Nu mach doch keene Spähne!"
„Und wenn Mutter dahinter kommt?"
„Unsinn, Martl! Um sieben gehste weg. Ich warte auf dich an der Haltestelle von der Elektrischen. Ja, Martl??!!" Und er versuchte, sie um die Taille zu nehmen. Doch das Mädchen wich aus. „Aber du kommst, ja??"
„Na, meinetwägen."
„Endlich!!! — — — Also pünktlich sieben Uhr an der Haltestelle! Auf Wieder sehn!"
„Auf Wieder sehn!"
Pünktlich sieben Uhr war Adolf an der Haltestelle. Marta war noch nicht da. Er wartete geduldig und sah sich derweil die Schaufenster an. Auf einmal hielt ihm jemand die Augen zu.
„Martl!!"
Da stand sie, lachend im Übermut ihrer Jugend. Voller Glück schaute er sie an. Sie hatte sich schön gemacht. Freilich, die Mädels, die in der Stadt aufgewachsen waren, verstanden's besser. Mochte der Teufel wissen, woran das lag. Sie waren auch schlanker, und die Gesichter hatten ein anderes Gepräge. Aber darum hatte er sie ja grade so gern, weil sie so drall und frisch aussah, groß und kräftig, blühend die Farben, rund der Busen und rund die Hüften. Das andere würde sie schon noch lernen. Sie
musste überhaupt noch viel lernen. Aber dafür war er ja da, er, Adolf, dessen Großvater schon vom Dorf in die große Stadt gekommen war, und der Vater war bereits ein aufgeklärter Mann. — Sie sprangen auf den Wagen. Eine halbe Stunde später trafen sie bei dem Unaarbeiter Konrad Amthor ein.
Das Zimmer des Schlossers war ein einfenstriger Raum. Kaum hatten die notwendigsten Möbel Platz. Das Fenster ging auf den Hof der hochstöckigen Mietskaserne. Es sah auf die kahle Fläche der gegenüberliegenden Brandmauer. Trotz seiner Enge war das Zimmer nicht unwirtlich. Das helle Gelb der Wände floss ruhig über die Flächen hin. Braunrot hob sich der Kamin heraus. Die Fenster trugen nichts als den einen tiefgrünen Vorhang, der abends diese kleine Welt nach außen abschloss. Bilder waren nicht vorhanden. Nur in der Fensternische hing ein Frauenbildnis. Man nahm es vom Zimmer her kaum wahr; vom Tisch aus fiel der Blick darauf.
Einige Burschen und Mädels waren schon da. Die meisten trugen Wandervogelkluft. Auch Emil kam.
Um acht Uhr war der Kreis versammelt. Man drückte sich auf dem Bett zusammen, oder hockte auf Schemeln, oder saß auf dem Fußboden. Konrad nahm den Platz am Fenster ein.
„Is es nich gemein?!! So ein Regen grad auf die Feiertage!!"
„Ich wollt' meine neuen Bretter einfahren."
„Nu hat man mal drei freie Tage!!------------"
Die Wirtin brachte eine Kanne dünnen Tees. Der eine hatte sein Abendbrot daheim schon verzehrt, ein anderer zog es aus der Tasche; auch Knuspereien waren mitgebracht.
Die Mahlzeit war vorüber. Ein paar Klampfen erklangen; ein paar Lieder wurden gesungen. „Was machen wir heute Abend, Konrad?" Auf diesen Augenblick hatte Walter Stamm gewartet.
Er zog ein Buch aus der Tasche und setzte sich zurecht. Das Geplauder verstummte.
„Was willste denn lesen, Walter?"
„,Maria in Flandern' von Timmermanns."
„Na!!!!-----------"
Walter begann. Er las einige ausgewählte Stücke. Seine Darbietung war sorgfältig vorbereitet. Mit eindrucksvoller Stimme trug er vor, selbst von dem Kunstwerk sichtlich ergriffen.
Zusammengekauert hörte Emil Busch zu. Die Falte auf seiner Stirn grub sich tiefer. Spöttische Blicke schossen aus seinen Augen. Walter bemerkte es nicht. Sein schmächtiger Körper beugte sich über das Buch, das er in seiner zarten, unausgearbeiteten Rechten hielt, den Ellenbogen auf das übergeschlagene Knie stützend.
Er begann soeben ein neues Kapitel. Da brach Emil los: „Mensch!!! Hör uff!!" Er sprang auf. „Wie kannste uns denn so en Blech vorlesen?!! Sind wir dazu zusammengekommen?! Aber so seid ihr Buchdrucker! Nischt von proletarischem Empfinden!! Nischt von Klassenkampf!! Immer hibsch birgerlich!! Stehkragenproleten!! Haste nich vielleicht noch e Grammophonplatte bei dir mit ,Stille Nacht, heil'ge Nacht', oder e bisschen Engelshaar oder e Krippe mit e Jesusknaben?!"
Walter schwieg verletzt. Und ehe noch die andern zu Worte kamen, zog Emil seine Zeitung aus der Tasche und begann:
,„Seit ein sehr naiver Dichter das Weihnachtslied von der stillen, heiligen Nacht in die Welt gesetzt hat, singen jedes Jahr um die gleiche Zeit die Frommen und die Heuchler und auch die Ahnungslosen: Christ, der Retter ist da'. Da man an jedem Weihnachten auf neue Rettung v/artet, scheinen die alljährlichen Rettereien höchst unvollkommen oder gar liederlich ausgeführt zu werden. Für einen Gottessohn sollte es doch wirklich nicht allzu schwer sein, die Welt endlich in einen solchen Zustand zu versetzen, dass ein für allemal keine Retterei mehr notwendig
ist. Es scheint ihm da wie einem andern ,Retter', dem Herrn von Hindenburg, zu gehen. Von derlei Rettern wagen zuletzt nur noch die Verwandten, Nutznießer und natürlich die nicht kleine Schar derer, die nicht alle werden, zu behaupten, dass ihr Abgott wirklich und wahrhaftig errette. Also Weihnachten wird gefeiert, wenn das mit der Retterei auch nicht stimmen kann.' Siehste, Mensch, das is proletarisch! Das is das, was wir brauchen! Nich dein Geseiche von Maria und 'm Jesukind." Doch Walter hatte seine Wehrbarkeit wiedergewonnen. „Proletarisch nennste das? Gemein is das! Kulturloser Kitsch! Elender Literatenseich." „Lächerlich!"
„Ein richtiger Literatenseich!" „Was meensten damit??"
Nun mischten sich auch die anderen ein. Binnen weniger Minuten wogte ein heißer Kampf. Keiner konnte einen Satz zu Ende bringen, ohne von einem anderen unterbrochen zu werden. Die dünnen Wände der kleinen Bude zitterten von dem Gewirr der Stimmen. Konrad hörte ihrem Toben stillschweigend, aber aufmerksam zu. Endlich begann Franz mit beiden Fäusten auf den Tisch zu trommeln. Seine gro­ßen Kinderaugen leuchteten. War es der Spaß an der tollen Rauferei, oder war es jene fast schelmische Wohlgelauntheit, mit der er aller Zwietracht den giftigen Stachel zu nehmen wusste?
„Ruhe!!!" schrie er.
Die Streitenden ließen einen Augenblick ab.
„Busche-Emil soll reden!"
Es trat Ruhe ein.

„Sag mal Emil, warum bist du eigentlich gegen jede Weihnachtsfeier?"
„Mensch!! Das is doch so klar!! Wer von uns glaubt denn noch an den Zimmt? Und die andern glauben's erscht recht nich. Das tun se doch alles bloß so, und dann baun se sich Geschenke uff, dass der Tisch kracht, und fressen un saufen
sich voll, dass sie selber krachen, und der Pfaffe muss seinen Segen dreingeben, und wir armen Ludersch können zusehen un uns aufs Jenseits vertrösten. Nee!!! Ich kann nur druff rotzen! Ich versteh gar nich, was man da noch drüber reden soll."
„Emil, woran glaubst du eigentlich nicht?"
„Mensch!! An die Weihnachtsgeschichte!! An die Engel!! An'n lieben Gott im Himmel!! Mit en'n Wort: An den ganzen Kram, was da in der Bibel steht."
„Warum nennst du's Kram?"
„Nu mach keene Späne! All das Zeug haben doch die modernen Naturwissenschaften längst widerlegt."
„Wenn der Franz das noch nich weeß, da wer'ch 'n mal e kleene Uffklärung geben", mischte sich jetzt Adolf ein. Auch er war Metallarbeiter, aber nicht von der derben Art Emils. Nicht umsonst war seine Familie schon in der dritten Generation städtisch. Noch hielt sein mittelgroßer, mäßig entwickelter Körper den Anstrengungen des Berufes stand. Aber die fliehende Stirn des schmalen, hochgebauten Gesichtes deutete auf verringerte geistige und seelische Kraft bei stark entfalteter Intelligenz. Er warf sich in Positur. Galt es doch, seinem Mädchen zu zeigen, was er konnte!
„Weeßte Fränzchen", begann er — er stieß mit der Zunge beim Sprechen leicht an, — „hierzulande lernt man nämlich schon 'n bisschen früher denken, als bei euch in Schwab'n."
„Nu da!", feixte Walter.
„Schon mein Vater war e Freidenker. Wenn er abends von der Arbeit kam, hat er mir all den Quatsch abgehört, den se mir in der Schule beigebracht hatten. Junge, lass dich nich verdummen', hat er gesagt. ,Willste wissen', hat er gesagt, ,wie der Weihnachtsmann aussieht? Da hast 'n Fuffziger. Das is der Weihnachtsmann'."
Die meisten lachten beifällig. Walter feixte. Franz schaute einfältig drein.
„Du musst uns das e bissel besser erklären, Adolf."
„Gut, mei Lieber! Da, schau her! Ich will dir zeigen, was
mit deinem lieben Gott im Himmel los ist. Die Menschen haben sich das früher so gedacht." Er nahm einen Bogen Papier von Konrads Tisch, einen Blaustift und begann zu zeichnen. „Siehste, Fränzchen", sagte er, eine Scheibe zeichnend, „so dachten se sich die Erde! 'ne Scheibe, die im Wasser schwimmt. Drüber steht der Himmel wie ene Käseglocke. Unten drunter is die Hölle. Sonne, Mond und Sterne klettern an der Glocke hoch und dann wieder runter. Oben in'n Himmel sitzt der liebe Gott mit 'n langen Bart und regiert von da aus die Welt."
Man lachte. Walter maß ihn mit einem Blicke grenzenlosen Spottes.
„Na, und du glaubst das alles nit mehr?", fragte Franz.
„Neee, mein Guter!!!"
Verstohlen sah er zu Marta hinüber, unsicher, ob Franz es ernst meine oder nicht. „So was glaubt man höchstens noch in Schwaben! Für enen aufgeklärten Menschen haben die modernen Naturwissenschaften das alles längst widerlegt!"
„Wieso??------------"
„Wenn' du denkst, du kannst mich veräppeln, mei Lieber, so biste schief gewickelt. Du weißt so gut wie ich, der ganze Spuk is erledigt, seit man weiß, dass die Erde ene Kugel is un sich um die Sonne dreht. Darauf kommt mir's aber gar nich an. Sondern — wo is nu der liebe Gott oben im Himmel geblieben, nachdem der Himmel erledigt is un alle die Wundergeschichten auch?"
„Ja das is nu die Frage, Adolf", gab Franz mit bedenklicher Miene zurück.
„Er hat seinen Laden zugemacht", grinste Emil.
„Und ihr glaubt wirklich, mit diesem abgeschmackten Zeug uns irgend was Neues gesagt zu haben?", brach Walter los.
„Gib Ruh, Walter", rief Franz. Er wandte sich zu Konrad: „Ich mein', Konrad, es kommt drauf an, jetzt dem Adolf zu zeigen, dass wir uns diese Dinge an den Schuhsohlen abgelaufen haben. Sieh mal, Adolf, was du uns da
auseinandergesetzt hast, das hat vielleicht in rückständigen katholischen Gegenden oder bei den Bauern auf dem Dorfe noch Bedeutung. Es mag auch in unserer Stadt noch Kleinbürger geben, die dran glauben."
„Nee!! Es gibt auch noch viele Arbeiter, die das glauben!"
„Viele?"
„Na du--------"
„Ich glaub's nit. Aber gleichviel. Wir meinen ganz was anderes. Davon will ich jetzt nit spreche. Das verstehst du doch nit."
„Danke."
„Nix für ungut! — Aber sieh es mal von der Seite des Klassenkämpfers an. Mit deinen Angriffen triffst du nit emal das Bürgertum, da wo es noch 'nen Glauben hat."
„Wieso?"
„Ja schau. Als der liebe Gott im Himmel seinen Laden zugemacht hatte, wie Emil sagt, da hat sich das Bürgertum eine andre Religion geformt. Konrad, setz' ihm das auseinander!"
Konrad überlegte. „Warst du mal im Haeckelmuseum in Jena, Adolf?"
„Aber gewiss doch!"
„In der Halle ist ein Goethescher Spruch angebracht. Besinnst du dich vielleicht drauf?"
„Wer Wissenschaft und Kunst besitzt, der hat auch Religion;
Wer Wissenschaft und Kunst nicht hat, der habe Religion", gab Adolf selbstbewusst zurück. „Aber Konrad! Das is ja gerade, was 'ch meine! Riljohn is was für die Dummen!!!"
Walter und Franz lachten laut auf; doch sie kamen nicht zu Wort.
„Quatsch!" ertönte es aus einer Ecke, wo man sich bisher schweigend verhalten hatte. Es war Otto. Seine lange, hagere Gestalt und die scharfen Züge wollten nicht in die mitteldeutsche Umgebung passen. Er war der Sohn einer
germanisierten Polenfamilie aus Ostdeutschland. Im katholischen Glauben erzogen, hatte er im Alter des Bewusstwerdens den Zusammenbruch aller Tradition erlebt. Seither war er der Arbeiterbewegung mit Leib und Seele verschrieben. Er war aufgestanden und lehnte mit verschränkten Armen, ironisch lächelnd gegen die Wand. „Du kapierst's nich ganz, Adolf."
„Das verbitt 'ch mir!"
„Aber Mensch, sieh dir doch den Spruch an!! Goethe verordnet ja gradezu die Religion denen, die Kunst und Wissenschaft nicht haben."
„Na ja, das mein' ich ja doch! Sie is was Minderwertiges!"
„Aber die andern haben doch auch Religion! Wer Wissenschaft und Kunst hat, der hat auch Religion! Deine Logik, Verehrter, reicht nicht sehr weit."
Konrad schob den persönlichen Streit zurück. „Überleg den Satz noch mal, Adolf! Liegt nicht die Meinung drin, dass der Künstler und der Gelehrte in ihrer Kunst oder in ihrer Wissenschaft Religion verwirklichen?"
„Vielleicht", gab Adolf zögernd zu.
„Und wenn das Haeckelmuseum diesen Spruch aufnimmt, so bekennt es sich wohl auch zu dieser Form einer Religion, meinst du nicht?" Adolf sah ihn ungläubig an. „Ich meine ja nicht, dass du sie teilen sollst, Adolf!"
„Nee, mei Lieber, solche Rückständigkeiten würd 'ch ooch nich mitmachen."
„Wie du willst. Aber an dem Bürgertum, das diesen Spruch vertritt, können wir als Klassenkämpfer nicht einfach vorübergehen, nicht?"
„Nee, das stimmt!" „Also! Dann müssen wir versuchen, ihn wirklich zu verstehen, ja?"
„Nu ja-------"
„Gibst du zu, dass Goethe etwa sagt: Religion liegt in Wissenschaft und Kunst beschlossen. — Daneben natürlich auch noch in vielem anderen. — Religion ist etwas. Sie ist
da. Aber sie tritt nicht ausdrücklich in einer besonderen Veranstaltung in Erscheinung."
„Wegen mir------------!"
„Was also ist nach dieser Ansicht überflüssig?", wandte er sich an den Kreis.
„Die Kirche!"
„Der liebe Gott auf dem Thron, und dass man zu ihm bet't und große Anstalten wegen ihm macht."
„Gewiss! Der Gottesglaube erfüllt sich nach diesem Wort in den höchsten geistigen Bestrebungen des Menschen. Gott lebt für das Bewusstsein dieser Menschen in ihren besten Werken. Nicht mehr: Gott außer der Welt, außer den Menschen, sondern: Gott in der Welt, im Menschen. Wenn aber Gott im Menschen lebt, kann der Mensch dann noch der ,arme Sünder' sein, wie die Kirche lehrte?"
„Nee."
„Man gewann also damals ein anderes Gefühl für alles Menschliche. Man freute sich seines Menschseins."
„Hör mal, Konrad. Stimmt das: Goethe soll auch mal eine Zeitlang so eine Art Wandervogel gewesen sein?"
Es war Rudolf, der so fragte. Frisch und gesund schaute sein junges Gesicht aus der Wandervogelkluft. Die Älteren lachten.
„Könnte man zur Not sagen! Aber nur so in Bausch und Bogen. Worauf es ankommt ist, dass ein neues Lebensgefühl aufwachte, das Gefühl, der Mensch sei gut."
„Nanu?! — — Ich denke, das haben wir zuerst gesagt mit unserm Lied: Hebt unsre Fahnen in den Wind, wo's da heißt: Der Mensch ist gut, die Welt ist schön?!"
„Nein, Rudolf. Das war der Grundton des eben erwachenden Bürgertums. So sagte man im achtzehnten Jahrhundert auch. —"
„Das ist allerhand! Wir singen doch: Und höret, was die Zukunft spricht!"
Mit beißender Ironie lachte Walter auf. „Wir sollten lieber singen: Und höret, was die Vergangenheit spricht."
„Mensch!! Is das 'ne Frechheit!"
„Ruhe!"
„Aber das müssen wir doch klarstellen, Konrad. Haben wir denn das wirklich aus dem bürgerlichen Zeitalter übernommen?"
„Dies — und vieles andere!"
„Was denn noch?"
„Den Menschheitsglauben, von dem ich sprach. Den Zukunftsglauben an ein Endreich hier auf Erden, wo Vernunft und Gerechtigkeit herrschen werden ..."
„Mensch! So was!"
„Hat denn Walter recht, wenn er so verächtlich von dem allen spricht, was wir da übernommen haben?"
„Das glaube ich nicht. Kann je eine neue Klasse, die erst in die Geschichte eintritt, von vorn anfangen?"
„Nee! Zum Beispiel die Maschinen müssen wir auch vom Bürgertum übernehmen!"
„Und den rationalisierten Großbetrieb."
„Ich glaube, Konrad", sagte Franz, „es haben auch viele Arbeiter ein Gottesbewusstsein wie das Goethesche."
„Ausgeschlossen!!"
„Diese Stadt ist nicht das Proletariat, Adolf!"
„Wir wollen das lassen, Franz. Es kommt auf was andres an. Ist das alles in unsrer Hand noch dasselbe wie im Bürgertum?"
„Nee!"
„Also worauf kommt's an?"
„Dass wir was Neues draus machen!"
„Das ist's, Genossen. Man kann jeder geistigen Bewegung nachweisen, dass sie vieles aus der Vergangenheit übernommen hat. Das Entscheidende ist, ob sie was Neues draus macht. — Wir haben auch vom Christentum sehr vieles übernommen."
„Ausgeschlossen!!"
„Lächerlich!!"
„Doch! Aber davon ein andermal. Die Frage ist, ob wir das alles wirklich zu einem neuen einheitlichen Glauben verschmolzen haben?"
Sie schwiegen. „Ja, das ist die Frage, Genossen! Aber wir werden sie hier nicht beantworten — — — Kennt noch einer ein Wort aus jenem Zeitalter, das sich gegen den Armensünderglauben richtet?"
„Alle menschlichen Gebrechen sühnet reine Menschlichkeit." Es war Else, welche diese Worte mit der Befangenheit des Neulings sprach. Sie war mit Franz gekommen und saß neben ihm auf dem Bett, leicht an ihn gelehnt. Aber ihre Augen ruhten je länger um so gebannter auf Konrad.
„Ja, Else", bestätigte Konrad, überrascht durch ihr Verständnis. Ein Blick aus der Tiefe seiner durchdringenden grauen Augen umfing das schöne Mädchen in seiner fraulichen Fülle.
„Wo hast du den Vers her?"
„Aus einem Abreißkalender", sagte sie verlegen.
„Was war's für einer?"
„Ich weiß nich mehr-------ein bürgerlicher-------"
Die Burschen lachten laut auf. Selbst Walter vergaß für einen Augenblick seinen Groll.
Auch Konrads Lippen verzogen sich; seine weißen Zähne blitzten. „Es tut nichts zur Sache, oder vielmehr, es ist sehr charakteristisch, dass der Spruch in einem bürgerlichen Kalender stand. Denn mit diesem Wort sagte das Goethesche Zeitalter das Beste, was es zu sagen vermochte. Das heutige Bürgertum zehrt daran. Aber lass es uns genauer betrachten. Heißt es in deinem Vers noch Sünde?"
„Nein", antwortete sie errötend. „Es heißt nur noch Gebrechen."
„Und ist es ein Gott, der von außen her den Menschen richtet oder ihm vergibt?"
„Nein, sondern der Mensch findet seinen Trost und seinen Frieden im Menschen selbst."
„In einem andern oder in sich?"
„Ich weiß es nicht", sagte Else nach einigem Besinnen.
„Du weißt es nicht?------------" Konrad sah einige Sekunden verloren vor sich hin, als wenn er die Umwelt vergessen hätte. „Ich weiß es auch nicht."------------Doch im nächsten
Augenblick sich wieder straffend: „Lassen wir das.------------
Aber, Adolf, nun frage ich dich: Trifft dein Kampf gegen die Pfaffen und den Herrgott im Himmel und die Wunder und den Armen-Sünder-Glauben — trifft er dieses Goethesche Lebensgefühl und den Goetheschen Menschheitsglauben und alles, was sich das Bürgertum davon bewahrt hat?" „Nee!-------Allerdings nich------------"

Sie schwiegen eine Weile.
„Und wir als Sozialisten? —-------" Walter sagte es eindringlich. „Konrad, du entwickelst allerhand interessante
historische Tatsachen-----------------Aber wir! Heute!-------
Darauf kommt es an!!!"
„Du meinst", fragte Adolf, „wo nu für uns der liebe Gott geblieben is, nachdem er vom Himmel in 'n Menschen gerutscht war?"
„Allerdings."
„Für mich is er glatt erledigt!! Für den klassenbewussten Arbeiter überhaupt!"
„Woran glaubst du denn?"
„An die klassenlose Gesellschaft!"
„Und heute?"
„An die Solidarität des klassenbewussten Proletariats! An den Klassenkampf! Alles, was dazu nötig is, entwickelt sich aus der Gesellschaft heraus."
„Bei den Polarbären kann es sich ja auch nich entwickeln", feixte Otto.
„Mensch! Was soll das nu wieder?! Ich hab das bei einem Genossen gelernt, der entschieden mehr kann als du."
„Dazu gehört nich viel!"
„Was hast du gelernt", fragte Konrad.
„Dass wir uns in die Gesellschaft mitten hineinstellen müssen, und aus ihr abzuleiten versuchen, was wir zu tun haben."
„Mach mir mal das vor!"
Adolf sah ihn unsicher an.
„Nimm irgendeine bestimmte Angelegenheit. Nimm an,
du hast ein Mädel und möchtest es ganz haben und möchtest auch ein Kind haben. Aber heiraten könnt ihr nicht." Adolf wurde rot. „Was sagt dir die Gesellschaft, wenn du dich nun mitten in sie hineinstellst?"
Adolf würgte an einer Antwort, ohne sie zu finden.
„Gibt die Gesellschaft dir recht, wenn du deinen Weg gehst?"
„Ein Teil von ihnen — ja."
„Und die andern?"
„Geben mir unrecht."
„Wo bleibt also die Antwort der Gesellschaft?" Adolf druckste.
„Nimm an: Die Gesellschaft ist in sich einig und sagt nein! Du aber willst dein Glück nicht opfern. Ist es einfach deine Pflicht, dich unterzuordnen?"
„Nee!!!"
„Vielmehr: Wenn du überzeugt bist, die Gesellschaft ist verrottet und du bist im Recht, was tust du dann?"
„Was ich will!"
„Es ergeben sich also die stärksten Konflikte, wenn wir uns in die Gesellschaft mitten hineinstellen. Woher nimmst du die Entscheidung?"
Adolf schwieg lange. „Ich weiß nich", sagte er endlich.
„Ich auch nicht", sagte Konrad. „Vielleicht weiß es ein anderer?" Sie schwiegen alle.
„Aber man könnte es sich noch auf andre Weise denken", sagte Otto.
„Nämlich?"
„Nicht, dass ich mich von ihrem Urteil abhängig mache, aber dass ich handle, wie es der Gesellschaft dienlich ist."
„Für einen Sozialisten ein ausgezeichneter Rat. Aber wie soll er verwirklicht werden? Dass die Gesellschaft selbst darüber nicht entscheiden kann, sahen wir eben. Wer würde also darüber entscheiden müssen, was der Gesellschaft dienlich ist."
„Wir selbst."
„Dazu ist es gewiss wesentlich, dass ich mich mitten in die
Gesellschaft hineinstelle, wie du sagst. Ich muss die Gesellschaft kennen, der ich dienen will. Aber ist die Entscheidung damit gefällt?"'
„Nein."
„Mir scheint, die Gesellschaft spielt bei dieser Auffassung eine klägliche Rolle: Man diktiert ihr die Funktionen des lieben Gottes zu — aber leider kann sie sie nicht wahrnehmen.
„Mensch!! Willste uns verkohlen?" rief Adolf.
„Nein! Ich will bloß darauf hinweisen, dass ihr mit neuen Worten alte Sachen sagt, aber nicht die Konsequenz draus zieht!"
„Und du, Konrad", fragte Walter wieder. Eine tiefe Leidenschaft klang durch seine Frage. Konrad antwortete nicht. „Konrad!! Du fragst und du entwickelst! Wo aber bleibt dein Bekenntnis?" Konrad schüttelte den Kopf. „Ich glaube, es ist an der Zeit abzubrechen." „Nein!" rief Emil. „So können wir nicht aufhören. Konrad. Das mit der Gesellschaft hab ich nich verstanden. Aber wir haben schon was, wo die andern ihre Riljohn haben." „'S mein ich auch", unterstützte Adolf. „Wir haben doch unsre Weltanschauung."
„Ich hab 'nen Vorschlag", sagte Emil. „Es is erst um neune. Heut Abend is 'ne Feier von verschiedenen proletarischen Organisationen. Sie soll um zehne anfangen. Wir gehn alle zusammen hin. Dann sehn wir mal, was die Feier uns sagt."
„Bravo, Emil!"
„Wird gemacht!"
„Wir gehn geschlossen hin."
„Erst noch ein paar Lieder."
Als sie aufbrachen, zog Walter für einen Augenblick den Freund auf die Seite.
Seine dunklen Augen brannten. „Ich verstehe dich nicht", sagte er heftig. „Du hast geradezu gekniffen!!"
„Nein, Walter. Was soll ich denn sagen??!-------Hast du
irgendeine Klarheit?"
„Nein!"
„Habe ich sie?? — Nein." Sein Auge verweilte einen Moment auf Eisens entschwindender Gestalt.------------
„Noch eins, Konrad. Schien dir meine Weihnachtsgeschichte auch verfehlt?"
„Ja."
„Aus psychologischen Gründen?"
„Auch sonst."

Die proletarische Feier fand in einem großen öffentlichen Saale statt. Er war bereits für das morgige Fest des deutsch-nationalen Handlungsgehilfenverbandes festlich geschmückt. Buntes Seidenpapier, schillernde Lampen, Papierblumen, Fähnchen wogten durcheinander. Dazwischen hatte man für die proletarische Feier einige rote Fahnen angebracht.
Die Feier zerfiel in einen ernsten und einen heiteren Teil. Der ernste sollte die gegenwärtige Lage des Proletariats darstellen, der andere die Zukunftshoffnung. Der erste Abschnitt bot in zwangloser Folge Elendsbilder nach Käte Kollwitz und Masereel, durch das Epidiaskop auf eine Leinwand geworfen — Sprechchöre — Lieder des Arbeitergesangvereins — eine Revolutionsszene als lebendes Bild: wütende Volksmassen mit erhobenen, drohend geballten Fäusten in roter Beleuchtung — revolutionäre Gedichte von Toller und Schönlanck, die gut angezogene, hübsche Mädchen mit klangvoller, geschulter Stimme vortrugen. Als Abschluss des ernsten Teils hielt ein von auswärts verschriebener Genosse, Mitglied des Landtages, einen volltönenden Vortrag.
Dann kam die Pause. Walter Stamm ging.
„Ich habe genug! En rot anlackiertes Missionsfest! Viel Glück, Adolf, zum weiteren Studium der sozialistischen Weltanschauung!!"
„Mensch, du bist doof."
„Auf Wiedersehen!"
Es folgte der heitere Teil. In fröhlichen Volkstänzen schwangen Mädels die Beine, wie sie es bei der Gymnastiklehrerin gelernt hatten, indes die Väter aus der Fabrik mit
etwas wunderlichen Gefühlen zusahen. Der Arbeitergesangverein ging nunmehr zu lustigen Weisen über. Auch das Tollermädchen wandelte sich ins Fröhliche und sagte das Heinesche Lied auf, darin der Vers vorkommt: „Ja, Zuckererbsen für jedermann, Sobald die Schoten platzen, Den Himmel überlassen wir Den Engeln und den Spatzen." Stürmischer Beifall! Ein Jugendlicher sang: „Hebt unsre Fahnen in den Wind." Dann führte ein ernsterer Sprechchor die Stimmung wieder auf den Grundton des ersten Teil zurück. Zum Schluss wurde die Internationale angestimmt. Alle sangen sie stehend mit. Die Älteren streiften während des Liedes die Mäntel über. Die Jungen blieben zum Ball da.
Schweigend traten die Freunde den Heimweg an.
„Genossen!", sagte Konrad endlich. „Es gibt eben nur eins: Arbeiten! Die Wahlen stehen vor der Tür. Wir kämpfen diesmal um die Mehrheit. Darum: Jede freie Minute der Partei."
„Damit tust du das, was Adolf vorhin meinte, wenn er sagte: Ich orientiere mich am Klassenkampf", entgegnete Otto. „Das ist ein Notbehelf, kein Grundsatz."
„Vielleicht! Es bleibt eben nur die Arbeit. — — — — In den nächsten Monaten, Genossen, werden wir für Zusammenkünfte kaum Zeit haben. Aber wir sehen uns gelegentlich, nicht?"
Sie gaben sich die Hand und trennten sich. Die Paare gingen für sich. Adolf brachte Marta ab. „Komm Martl! Wir gehen noch e bissei spazieren!"
„Ächja", erwiderte sie schnippisch. Hatte er keinen guten Eindruck geschunden?
„War das ein toller Abend", sagte Else, als sie mit Franz heimging. „Aber Konrad hat es immer fein gedeichselt. Wo is er eigentlich her?" „Aus der Schweiz."
„Is es wahr, dass er verheiratet is?"
„Ja; er hat's uns gesagt."
„Erzähle doch, was du von ihm weißt." Und sie hing sich an seinen Arm.
Beim Abschied unter der Haustür schloss er sie in seine Arme. Sie erwiderte seine Umarmung mit einer Leidenschaft, wie er sie bisher an ihr nicht gekannt hatte. Es war ihm plötzlich, als ob sein Herz unter ihren Küssen in dumpfem Schreck erbebte. Aber das währte nur einen Augenblick. Dann entließ er sie in ihr Haus und ging heimwärts.

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