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Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
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X. Die rote Fahne wird runtergeholt.

Krieg den deutschen Zuständen! Allerdings! Sie stehen unter dem Niveau der Geschichte, sie sind unter aller Kritik!
Karl Marx.

Ein harter Winter lastete auf der Bevölkerung. Zur Kälte gesellte sich Nahrungsmittelnot. Die Kartoffelernte war infolge übergroßer Nässe missraten; die ohnehin geringen Vorräte faulten. Das wesentlichste Volksnahrungsmittel stieg von Woche zu Woche im Preise. Die Geduld der Massen begann sich zu erschöpfen. Wozu hatte man eine Arbeiterregierung, wenn sie nicht wenigstens dem Proleten für eine warme Stube und das bisschen Fraß sorgen konnte?
In den Betrieben hatte anfangs Waffenruhe zwischen den feindlichen Brüdern und erwartungsvolle Zuversicht auf das Handeln der Arbeiterregierung geherrscht. Nun begann es wieder unruhig zu werden. Daheim schimpfte oder jammerte die Frau; im Arbeitsverhältnis hatte sich wenig verändert — was sollte der ganze Mumpitz? Anarchisten und Syndikalisten fanden ein willigeres Ohr als sonst. Wilde Gruppen begannen sich zu bilden. Insbesondere spürte die kommunistische Partei den Abstrom breiter Massen, die von ihr die Heraufführung der Weltrevolution erwartet hatten.
„Nich mal de Kartoffelpreise können se unten halten!"
Die Regierung beschloss einzuschreiten. Billige Kartoffelpreise wurden festgesetzt. Die Kartoffeln verschwanden vom Markt. Die kleinen Bauern verfütterten sie, die großen führten sie ins Ausland. Man verbot die Ausfuhr. Der Großgrundbesitzer steigerte seine Spiritusfabrikation. Die Regierung beschloss, sie zu kontingentieren; aber die Maßnahme forderte Zeit. Die Not der Massen, die ihres wesentlichsten Nahrungsmittels beraubt waren, stieg. Der radikale Flügel gewann in der kommunistischen Partei die Oberhand. Er forderte die Enteignung der Kohlenbergwerke und des Großgrundbesitzes. Die Forderung, einmal in die Massen geworfen, wirkte wie ein fressendes Feuer. Der linke Flügel der Kommunisten hatte in wenigen Wochen die Oberhand innerhalb der eigenen Partei. Nun begann die kommunistische Partei die Forderung der Enteignung geschlossen zu vertreten und entsprechende Regierungsmaßnahmen zu fordern. Eine leidenschaftliche politische Diskussion setzte ein.
Emil saß in den Pausen abseits. Der Kommunist mit der Hornbrille beherrschte das Feld.
„Komm nur, mei Kleener!" rief er Emil zu. Emil sah weg. „Jawoll! Es passt dir nich, dass eure Bonzen wieder alles versauen!" Die andern grölten.

Am nächsten Tag warf der offiziöse Pressedienst der sozialdemokratischen Partei die Forderung: „Enteignung auf gesetzlicher Grundlage" als Losung der Partei in die Diskussion. Am Abend stürzte Emil zu Konrad, um sich Aufklärung zu holen. Er traf ihn nicht an. Aber er traf mit Otto zusammen. Sie gingen zu Walter, um gemeinsam die Frage zu erörtern.
„Mensch, wir müssen uns das zusammenknaupeln, was unsre Partei eigentlich meint."
Walter hatte mehrere Parteiblätter gekauft. „Hier is 'n Aufsatz von dem Genossen Steinthal, der uns das auseinandersetzt. Wir können auf dem Boden der bestehenden Verfassung enteignen."
„Ausgeschlossen! Die Weimarer Verfassung und Enteignung??"
„Doch, doch!"
Und Walter nahm die Verfassung von seinem Bücherbrett.
„Siehste, hier steht's ganz klar: ,Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden.' Also kann die Enteignung vorgenommen werden."
„Das hab ich nich gewusst."
„Ich auch nich."
„Wie ist's mit der Entschädigung, Walter?"
„Warte, das steht auch drin! Hier: ,Sie (das heißt die Enteignung) erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt.' Ja — — — Was heißt das nu eigentlich?"
„Man kann es so und so drehen", überlegte Otto. „Wenn man's ohne besonderes Gesetz macht, so muss Entschädigung gezahlt werden. Wenn man ein neues Reichsgesetz macht, so kann man's auch ohne Entschädigung machen."
„Dann sagt aber unsere Parteiparole nichts darüber, ob entschädigt werden soll oder nicht. Auf gesetzlichem Wege geht beides."
„Hm — dumm —. Da sind wir so schlau wie vorher."
„Na warum geben se denn so e zweideutige Parole?"
„Vielleicht wissen se selber nich, was se wollen!"
„Auf alle Fälle sollen se sich endlich dran machen!", murrte Emil.
„Wenn die andern aber meutern?" fragte Otto.
„Dann steht's beim Reichspräsidenten, einzugreifen."
„Wieso?"
„Darauf verweist Steinthal auch. Siehste hier: ,Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reich die öffentliche Sicherheit und Ordnung gestört oder gefährdet ist, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten. Zu diesem Zwecke darf er vorübergehend die ... Grundrechte ganz oder zum Teil außer Kraft setzen.'"
„Was sind'n das für Rechte?"
„Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Redefreiheit, Unverletzlichkeit der Person und so was."
„Donnerwetter! Dann kann also auf dem Boden der Verfassung der Reichspräsident eine Art Diktatur ausüben?!"
„Scheint so."
„Dann liegt's also zum großen Teil beim Reichspräsidenten. Denn wenn wir anfangen zu sozialisieren, so machen die andern Krach. Das is sicher. Wenn er will, kann der Reichspräsident gegen sie vorgehen — wenn er nich will — hm —."

In der Frühstückspause setzte sich Emil am folgenden Morgen nicht mehr abseits.
„Na, Kleener, haste uns wieder was vorzupredigen?" empfing ihn sein Gegner.
„Allerdings! Haste die Parole unserer Partei gelesen?"
„Nee! Eure Stinkblätter les ich nich."
„Wir wer'n ooch für die Enteignung eintreten. Aber auf gesetzlicher Grundlage."
Ein Geheul war die Antwort.
„Allerdings!" ereiferte sich Emil. „Die Verfassung erlaubt die Enteignung."
Sie wieherten. „Die Verfassung!! Mensch, die Verfassung!! Die saure Gurke!! Haste Worte!"
„Und wie is's mit der Entschädigung, mei Kleener —!" krallte ihn der Bebrillte von neuem an. Emil zögerte.
„Na, dir geht woll die Puste aus?"
„Quatsch! Nach der Verfassung soll entschädigt werden, aber ...."
Seine Worte gingen im Gebrüll der andern unter.
„Ooch noch ne Entschädigung!!"
„Diese Schweine!!"
„Das fehlte grade noch!"
„Saubande!"
„Das hab ich ja gar nich gesagt", schrie Emil. „Der Reichstag kann's ja ooch anders beschließen!!"
„Der Reichstag!!"
„Das alte Affentheater!"
Und sie brüllten vor lachen.
„Menschenskinder, regt euch nich uff", sagte ein älterer Arbeiter, der vorüberging. „'s bleibt doch alles im alten Dreck!"

Am Abend saßen Konrad und sein Vorgesetzter nach getaner Arbeit noch eine Viertelstunde zusammen. Der Jüngere war längst der vertraute Freund des Älteren geworden. Schweigend sah der Reichsbannerführer vor sich hin.
„Ein Schiff auf hoher See ohne Kapitän und ohne Steuermann. Und dabei bietet die Situation reichere Chancen denn je. Eine energische Sozialisierungsaktion ohne Verletzung des Eigentumsrechtes hätte die weitaus größte Mehrheit hinter sich."
„Sie meinen, dass wir von dem Recht des Reichstags, eine entschädigungslose Enteignung zu beschließen, keinen Gebrauch machen können?"
„Auf keinen Fall. Das bedeutet das Chaos. Meinen Sie, dass die Ententemächte eine solche Aktion ruhig mit ansehen würden? Und dass Russland uns nicht helfen kann, weiß jedes Kind. Die Entente hat uns in der Hand — Russland nicht."
„Eine Enteignung mit Entschädigung ist ein Notbehelf!"
„Das ist sie! Aber es wäre ein Anfang! Die großen entscheidenden Sozialisierungsaktionen können auf diesem
Wege nicht gemacht werden. Sie werden ohne Bürgerkrieg nicht abgehen. Aber so weit sind wir heute nicht. Solange wir in der Hand der Entente sind, ist das Vorgehen unter Achtung des Eigentumsrechtes unsere einzige Möglichkeit. Denken Sie an England. Die Labour Party propagiert die Enteignung der Kohlenbergwerke. Aber sie will zugleich durch Besteuerung des arbeitlosen Einkommens die Mittel dazu aufbringen. In gleicher Weise ist auch uns der Weg gewiesen."
„Wir sollten diese Dinge einmal in dem größeren Kreise, der persönlich zu mir hält, besprechen", sagte Konrad. „Es handelt sich um eine Anzahl Genossen, die heute haltlos hin-und herschwanken."
„Kein Wunder! — Ich bin gern bereit, wofern der Dienst es zulässt."

Unter dem Druck der öffentlichen Meinung beschloss die Regierung, einen Gesetzentwurf über die Enteignung einzubringen. Die kommunistischen Regierungsmitglieder kämpften für entschädigungslose Enteignung. Die soziademokratischen traten für Entschädigung ein. Trotz ihrer Zweideutigkeit wurde seitens der sozialdemokratischen Partei die Parole; Enteignung auf gesetzlicher Grundlage" beibehalten. Der Presseapparat beider Parteien arbeitete mit Volldampf. Alles spannte auf den Ausgang des Ringens. Endlich erschien der Entwurf. Er stellte einen sorgfältigen Organisationsplan für eine sozialisierte Kohlenwirtschaft dar. Da er nach Schluss der Redaktion erschien, wurde er durch Extrablätter bekannt gegeben. Als Emil mit seinen Genossen das Werk verließ, standen die Verkäufer draußen und boten die Blätter an. Im Nu waren sie von Hunderten umringt. Man riss ihnen die Blätter aus der Hand.
„Endlich!" frohlockte Emil. Er durchflog das Blatt. „Genossen, die Regierung handelt einheitlich; — die Sozialisierung wird gemacht!!"
„Wie is's denn mit der Entschädigung?" fragte der Mann mit der Hornbrille.
„Ja so------------ich hab das übersehen.------------Warte
mal!" Er überflog das Blatt zum zweiten Mal. „Ich finde es nich!"
Sein Gegner begann zu grinsen. „Gib mal her!" Er las mit hochgezogenen Brauen.
„Da steht's ja! ,Über die Frage der Entschädigung entscheidet ein späteres Gesetz.'"
Emil sah verdattert drein.
„Aber was soll denn das? Die Entschädigungsfrage is doch die Hauptsache!!"
Der andere brüllte laut auf vor Lachen.
„Mensch!!! Die Courage is ihnen in die Hosen gerutscht. Sie haben sich nich getraut, ja oder nein zu sagen!! Se wissen selber nich, ob se entschädigen wollen oder nich!!"
Er hielt sich den Bauch vor Lachen.
„Das is doch nich möglich!" schrie Emil. „Auf die Entschädigungsfrage kommt doch alles an!!"
„Na, so lies doch selbst!!"
Emil riss ihm das Blatt aus der Hand und las noch einmal. Dann zerknüllte er den Wisch, schmiss ihn auf den Boden und spuckte aus. Die andern Arbeiter hatten zugehört.
„Genossen!" schrie der Kommunist, „es is alles en eenziger großer Misthaufen. Nischt machen se!! Es lebe die Weltrevolution!!"
Die Abendblätter beider Arbeiterparteien brachten Siegesfanfaren. Jede Partei hatte über die andere gesiegt, jede die eigene Meinung in dem Gesetzentwurf durchgedrückt. „Die Weltrevolution marschiert" schrieben die Kommunisten, „Enteignung auf gesetzlicher Grundlage unter Führung der SPD." die SPdBlätter. Dass die Kernfrage umgangen war, entging in dem Freudenrausch über die bevorstehende große Aktion neunzig Prozent aller Leser. Die bürgerlichen Blätter gossen ihren ganzen Hohn über diese Politik aus, die sich um die Kernfrage herumdrückte. Aber welcher Prolet las sie?
„Sie sehen, Amthor", sagte der Reichsbannerführer zu seinem jüngeren Kameraden, „Führer und Geführte sind einander wert. Eine Masse, die sich so nasführen lässt — kann sie einen großen Führer überhaupt vertragen?"
Emil platzte in ihr Gespräch. Er kam, wütend und verzweifelt.
„Mensch, was soll das werden?! Haste die Gemeinheit gemerkt, dass sie die Hauptsache totschwiegen?"
Konrad zuckte die Achseln.
„Es is en Skandal!! So den Arbeiter zu nasführen! Was tu ich denn mit dem ganzen Entwurf, wenn die Enteignungsfrage nich geklärt is??!!"
Der Reichsbannerführer klopfte ihm auf die Schulter. „Nicht den Kopf verlieren, Genosse. Wir kämpfen nicht umsonst — und wenn's noch so schief geht."
„Noch eins, Emil", sagte Konrad. „Wär's nicht gut, wir trommelten mal alle unsere Leute zusammen, um zu den Ereignissen Stellung zu nehmen? Ich meine nicht nur den engeren Freundeskreis, sondern alles, was sich zu uns hält?"
„Ja, Konrad! Woll'n mer machen."
„Wann geht es?"
„Sonnabend Abend!"
„Wäre es Ihnen möglich, sich den Abend frei zu machen?"
„Ich hoffe!"
„Also dann am Sonnabend 8 Uhr hier in unserm Saal."

Die Agitation beider Parteien verdoppelte sich. Die sozialdemokratische Presse nahm nunmehr die Forderung nach Enteignung unter Entschädigung auf der ganzen Linie als Parteiparole auf. Sie hatte den größeren agitatorischen Apparat. Trotzdem war der Erfolg auf Seiten der Kommunisten. Ihre von Anfang an eindeutige Haltung hatte suggestive Kraft. Ihr Schlachtruf: „Den Boden und die Bodenschätze dem Proletariat!" schlug durch. Kein Nachdenken wurde gefordert. Und die Wirksamkeit ihrer Demonstrationen übertraf die der Sozialisten bei weitem. Unaufhaltsam strömten die Massen ihnen wieder zu. Mit wachsender Besorgnis verfolgten die leitenden Instanzen der SPD. den Mitgliederverlust.
Am Sonnabend trafen etwa sechzig jüngere Arbeiter und Arbeiterinnen auf dem Büro des Reichsbanners ein. Wie sie einst herausgeströmt waren in die weite Aue, eine frohe, kampfbereite Schar, so kamen sie jetzt in der Stunde der Not wieder zusammen. Konrad empfing sie und sprach mit den einzelnen. Der Reichsbannerführer kam. Er trat aufs Podium. Der Ernst der Stunde ergriff alle. Spontan erhoben sie sich von ihren Sitzen. Die Internationale wogte durch den Raum.
Dann sprach der Führer. Er konnte ihnen die Unentschlossenheit der eigenen Partei nicht verhehlen. Zu ihrer Erklärung verwies er auf die politische Lage. Seine Ausführungen gipfelten in dem Hinweis auf die außenpolitische Situation.
„Auf eine Enteignung ohne Entschädigung hin würde sich das gesamte ausländische Kapital wie ein Mann gegen uns zusammentun. Es beherrscht alle Regierungen."
„Die Arbeiterinternationale", rief man dazwischen.
„Genossen, sie ist ein gespaltenes Häuflein — — einige Büros mit einigen Tippdamen, und das eine arbeitet gegen das andere. Das Kapital arbeitet nicht mit großen Worten. Die Barrikadenromantik, zu der man euch erzogen hat, zerschellt an seiner Machtposition wie Schaum an einem Felsen."
Ruhig, sachlich, zugleich väterlich gütig kamen seine Worte. Gleichwohl lösten sie weithin Widerstand aus.
„Russland!" rief ein Zwanzigjähriger. „Es hat sich gegen die Entente behauptet — warum nicht wir?" Er legte ihnen den Unterschied dar.
Sternbergsche Schlagworte prasselten dazwischen: „Das Minimum an Sozialisierungsreife ist erreicht!"
„Was heißt das, Genosse?"—
Langsam begann der Widerstand zu weichen ...
Da sprang Konrad auf die Rednertribüne.
„Genossen, lasst uns nicht so auseinander gehen! Es ist die
Stunde der Gefahr! Genossen, gelobt es, für die Parole der Partei einzutreten!! Mit Leib und Leben!"
Tiefe Stille folgte seinen Worten. Aber er las in ihren Augen. Er sah ihren Willen, sich für die Parteilosung einzulegen.
„Genossen", rief er in leidenschaftlicher Aufwallung, „wollt ihr es geloben: Ich verspreche, die Forderung der Partei: ,Sozialisierung unter Entschädigung' gegen alle angriffe bis zum letzten zu verfolgen?"
Ein einstimmiges Ja war die Antwort.
„Wollt ihr euch durch keine fremde Agitation, keine äußere Wendung der Politik irre machen lassen, sondern euch unentwegt für das einmal erkannte, von der Partei verfochtene Ziel einsetzen?"
„Ja!!!! -"
Und wiederum brach es unvermittelt aus ihren Herzen; „Wir sind die Schmiede! Der Zukunft Schlüssel! Mit unseren Hämmern schmieden wir! Lasst lustig kreisen die schweren Hämmer, Schwingt auf den Feind sie für und für."
Als sie auseinander gingen, kam Emil noch einmal zu Konrad heran. Er schüttelte ihm die Hand.
„Nun weiß ich wenigstens, unter welcher Parole ich kämpfe!"

Am Montag sollte im Reichstag der Gesetzentwurf verabschiedet werden. Zweite und dritte Lesung sollten hintereinander vorgenommen werden. Man wusste, dass um 2 Uhr die Sitzung beginnen würde. Um 6 Uhr erschien das erste Radiotelegramm: „Die KPD. hat den Antrag eingebracht, dem Gesetz einen § 26a einzufügen: ,Die Enteignung geschieht ohne Entschädigung.'" Otto und Walter kamen zu Emil gestürzt. Sie wussten, dass er einen Radioapparat hatte.
„Wann ist die nächste Sendung?"
„Heut Abend nach Schluss der Sitzung." Sie warteten.
„Die Kommunisten kommen auf keinen Fall mit ihrem
Antrag durch. Unsre Partei stimmt geschlossen dagegen. Damit hat sich's!"
„Selbstverständlich!"
Um 10 Uhr ein weiteres Radiotelegramm. „Die Debatten im Reichstag über die Entschädigungsfrage sind noch nicht beendet."
„Ich weeß eigentlich nich, warum se so lange quasseln", sagte Emil. „Die Stellung unserer Partei is festgelegt. Die Bürgerlichen wissen ooch, was se wollen. Was mähren se so lange?"
Es wurde 12, es wurde 1. Emil ließ den Hörer nicht mehr vom Kopf. Da 1.45 Uhr, Radiomeldung über das Ergebnis der Sitzung. Emil drückt den Hörer krampfhaft ans Ohr. Aber schon nach wenigen Sekunden fährt seine geballte Faust auf den Tisch. Sein Gesicht verzerrt sich. Noch stenographiert er das Ende der Botschaft. Dann reißt er den Hörer vom Kopf und haut ihn auf den Tisch, dass er in Stücke springt.
„Gottverdammte Schweinebande!!!"
„Mensch!!!-------------Was is los???---------------------------
„So sprich doch!!"
Mit heiserer Stimme liest er das Stenogramm: „Der Gesetzentwurf wurde mitsamt dem kommunistischen Zusatzantrag mit 178 gegen 163 Stimmen angenommen. Dafür stimmten die Kommunisten, die Nationalsozialisten und ein Teil der katholischen Volkspartei. Die sozialdemokratischen Abgeordneten verließen vor der Abstimmung zum größten Teil den Saal."
Schweigen ....
Dann lacht Emil laut und gellend. „Gekniffen haben se!!! Diese Scheißer!! Diese Mistfinken!!"
Er rennt wild im Zimmer auf und ab. Zusammengefasst wie ein Soldat steht Otto. Seine Züge sind wie versteinert. Seine Augen starren ins Leere. Die andern hocken herum, ohne etwas zu sagen.
„Aber nu weeß 'ch wenigstens, was 'ch zu tun hab!!" schreit Emil wieder. „Adjöh SPD, Adjöh Konrad, Adjöh Reichsbanner! Ich gehe zu den Kommunisten!"-------
Auch Konrad und sein Vorgesetzter hatten die Entscheidung abgewartet.
„Es ist aus, Amthor", sagte der Ältere, als er das Telegramm gehört hatte. „Zu den Kommunisten zu gehen, hat keinen Sinn."

Am nächsten Morgen klingelte Otto um 8 Uhr bei Konrad an.
„Ich gehe in meine Heimat zurück."
„Was willst du da?"
„Das weiß ich selbst nicht. Leb wohl!"
„Leb wohl!"
Emil vermied an diesem Morgen jedes Gespräch mit seinen Kameraden im Werk. Er wollte wenigstens noch die Zeitungsberichte abwarten. Vor den Fabriktoren wurden sie angeboten. „Großer parlamentarischer Erfolg!" schrieb das Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei. Und der Leitartikel machte den Lesern klar, dass es der politischen Weisheit letzter Schluss sei, das faktische Kräftespiel richtig einzuschätzen und danach zu handeln. „Die Politik ist die Kunst des Möglichen." Die Verantwortung aber für den Kladderadatsch, der aus der Annahme des Gesetzes über entschädigungslose Enteignung folgen müsse, trage allein die KPD. Die Masse der Leser war befriedigt.
Den Tag darauf ging Emil den Kommunisten nicht mehr aus dem Wege. Triumphierend stürzte sich der alte Gegner auf ihn.
„Halt's Maul", schrie ihn Emil an. „Ich trete bei euch ein."
Der Bebrillte stieß einen Freudenschrei aus.
„Ich bringe dich selbst hin, damit se aufm Büro kein Misstrauen haben."
Eine Stunde nach Schluss der Fabrik war Emil eingeschriebenes Mitglied der kommunistischen Partei.
„Es kommen sicher noch viele von uns", sagte er den neuen Genossen. „Fragt mich nur, ich gebe euch Auskunft!"
Der Sekretär, der ihn aufnahm, hatte ihn aufmerksam gemustert.
„Komm heut Abend um 8 Uhr in die Lange Straße Nr. 8, Hof eine Treppe", sagte er, als Emil ging.
Zur Mittagszeit war Adolf auf Konrads Büro gekommen.
„Adolf — durchhalten — trotz allem!"
„Neee — mei Guter!!! Jetzt is Schluss! Ich komme, um dir das zu sagen. Ich stecke alle politische Arbeit uff und arbeite nur noch bei den Freidenkern.
' Um 4 Uhr klingelte Walter an. „Ich hab gestern die halbe Nacht mit drei andern debattiert. Was wir dir versprochen haben — das geht nicht mehr! Wir haun ab. Wir gehn auf Wanderschaft. Auf Wiedersehn!"
„Auf Wiedersehn!"
Ein Mädel klingelte an. „Konrad-----------Die Änne und
die Gretl und ich------------, wir wissen nu gar nich mehr,
was wir machen sollen! — — — Das mit der Partei, das können wir nich mehr mitmachen, sagen die Burschen. Bist du uns böse?"
„Unsinn!"
„Auf Wiedersehn, Konrad!"
„Auf Wiedersehn."
Um 6 Uhr kam Marta. „All die Zeit hab ich mitgearbeitet. Aber nu kann ich nich mehr! Ich weiß nich mehr ein noch aus."
„Trotzdem müssen wir weiterarbeiten."
„Aber ich glaub doch nich mehr dran? Glaubst du denn noch dran?"
Er schwieg.
„Ich glaub, es is richt'ger, ich arbeite bei den Kinderfreunden weiter."
„Vielleicht, Martl."
Sie gab ihm die Hand und ging.
Am Abend zog ein Trupp aus Konrads Kreis, Burschen und Mädels, grölend an seinem Fenster vorbei. Sie sangen das Jungspartakuslied. Briefe trafen ein. Burschen hauten trotzig ab. Mädels nahmen gerührt Abschied. Ein Namenloser schickte ein Spottgedicht auf die Partei.
*
Emil hatte die Bestellung nach der Langen Straße Nr. 8 nicht versäumt. Er fand einen geschlossenen Kreis von etwa sechzig Arbeitern, ganz überwiegend junges Volk. In zwei Zimmern drückte man sich eng zusammen. Die Fenster waren dicht verhängt. Auch kamen die Teilnehmer einzeln, um nicht aufzufallen. An der Tür hing ein Schild: „Radioklub: Gemütlicher Abend". Einige Kopfhörer lagen auf den Tischen herum. Der örtliche Parteisekretär war anwesend. Er nahm Emil beiseite.
„Genosse, es ist ein großes Vertrauen, das wir dir beweisen, wenn wir dich so schnell nach deinem Eintritt in die Angelegenheiten hier einweihen. Aber es geht heute ums Ganze! Außerdem brauchen wir deine Dienste besonders, weil du im Unawerk arbeitest."
Man sammelte sich. Der Sekretär nahm das Wort:
„Genossen! Ihr alle wisst, dass unsere Partei sich nicht auf den parlamentarischen Weg verlässt. Sobald die kapitalistischen Blutsauger sehen, dass es ihnen wirklich an den Kragen geht, meutern sie. Natürlich müssen und werden ihre Anschläge an dem organisierten Willen des klassenbewussten Proletariats zerschellen ..."
„Bravo!"
„Daher haben wir von langer Hand her vorgebaut. Das wisst ihr. Auf Grund der gestrigen Ereignisse im Reichstag hat aber unsere Leitung ihre Pläne umgestellt. Wir haben Zeit gewonnen. Nachdem die SPdLeute im Reichstag zu Kreuze gekrochen sind wie krumme Hunde" — Bewegung unter den Versammelten —, „können wir unsere Aktion um zwei Wochen hinauschieben. Sie kann dann noch besser vorbereitet werden. Ihr Ziel bleibt dasselbe. Wir besetzen die größten Werke der Schlüsselindustrien, nehmen sie in eigene Verwaltung und gewinnen damit Hochburgen für den proletarischen Kampf."
Man demonstrierte Beifall. Emils Herz krampfte sich zusammen. Er kannte die Misserfolge, die man in Italien mit solchen Versuchen geerntet hatte. Aber er hatte die Brücken
hinter sich abgebrochen. Jetzt vorwärts auf Gedeih und Verderb. Wenigstens wurde hier gehandelt!!
„Genossen!" fuhr der Sekretär fort. „Wie ihr wisst, handelt es sich in unserm Bezirk darum, das Unawerk in die Hand zu bekommen. Wer arbeitet dort?" Etwa zehn Mann, darunter Emil, meldeten sich. „Mit euch verabrede ich hernach die Einzelheiten der speziellen Aktion. Die andern haben den Generalstreik in ihren Betrieben vorzubereiten und ihre Rotfrontabteilungen für die Aktion sturmfertig zu machen. Am 24. bricht in allen großen Werken Deutschlands, also auch im Stickstoffwerk Una, der von uns organisierte Streik aus. Am 25. wird der Generalstreik verkündet. Die Eisenbahnen stehen still. In der allgemeinen Verwirrung besetzen unsere Leute die Werke. Rotfronttruppen, die wir bereit halten, unterstützen sie. Am 26. wird Berlin genommen und der Reichstag besetzt. Dann wird die Räterepublik ausgerufen und die Diktatur des Proletariats errichtet ..." '
Noch einmal packte Emil der Widerwille------------Doch
nein!-------Nein! Nicht mehr denken und nicht mehr zweifeln! Die Stunde ist da, wo man handeln muss. —
In der Nachkonferenz bekam er seinen speziellen Aktionsplan. Der Aktion im Werk standen besondere. Schwierigkeiten im Wege, weil die Direktion ihre Pläne zur Wehrlosmachung der Arbeiterschaft restlos durchgeführt hatte. Aber die Kommunisten hatten seit Monaten vorgearbeitet.
Emil als Maschinist war für den Putsch besonders wichtig. Denn die Besetzung der Maschinenanlagen und der Verwaltungszentrale sollte der entscheidende Schlag sein. Emil kannte seine Leute.
„Zwei Mann in meinem Bau sind dagegen, drei sind unsicher."
„Also müssen die zwei unschädlich gemacht werden. Übernimmst du sie mit dem Genossen Greinow zusammen?" Es war der Kommunist mit der Hornbrille. Emil schwankte einen Augenblick.
„Wie soll ich das machen?"
„Fesseln oder totschießen — je nach der Lage."
Emil zögerte. — — —
„Hast wohl bange??!" — — —
„Nein — — Ich übernehm's."
„Abgemacht. Und im übrigen bis zum 24. mit allen Mitteln werben. Vor allem unterwegs in den Bahnen. Doch auch hier mit Vorsicht wegen der Spitzel."

Das Ausland antwortete auf das Gesetz über die Enteignung mit scharfen Repressivmaßregeln. Die amerikanischen Trustmagnaten machten von einer Vertragsklausel Gebrauch und kündigten eine Reihe von Krediten fristlos. Der Geldmarkt geriet in Aufregung. Die Mark begann rapid zu fallen. Die englische Regierung zog bedeutende Flottenkontingente in der Nordsee zusammen. Eine sofort anberaumte nächtliche Parlamentsdebatte darüber ergab, dass bei einer Enteignung unter Verletzung des Eigentumsrechtes auch die Labour Party wirtschaftliche Repressivmaßregeln, wie Abschneidung der Rohstoffe, nicht hindern werde. Frankreich, Italien, die Tschechoslowakei, Polen verstärkten ihre Truppen an den Grenzen. Es war klar, dass sie die Repressivmaßregeln Englands ergänzen würden. — — — — Die Arbeiterinternationale erließ einen Protest. — — — —
Die Maßregeln der Entente hatten in Deutschland eine weitere Erschütterung der Gesamtlage zur Folge. Der Bürger wurde nervös. Seine Papiere waren bedroht! — — —
„Ein neuer Krieg!!" — — „Inflation!!" — — „Wirtschaftlicher Zusammenbruch!!"-------so heulte es von allen
Seiten. Der Ruf nach Ordnung begann alle anderen Regungen zu übertönen. Man schrie nach dem starken Mann. Auch weite Kreise der Arbeiterschaft wurden in diese Panikstimmung hineingezogen.
Unterdessen trafen die Kommunisten im Unawerk ihre letzten Vorbereitungen. Einer der Pförtner am Werk war bestochen und bemerkte die Pistolen nicht, welche die Arbeiter in den Stiefeln einführten. Sie wurden zweckentsprechend verteilt. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln der Direktion boten Kantine, Garderobe und Abort Möglichkeiten zum Austausch. Am 20. war noch einmal Versammlung in der Langen Straße Nr. 8. Alle hatten angestrengt gearbeitet. Der Sekretär war zufrieden.
„Nu noch vier Tage, Genossen, und unsere Aktion bricht an!"
Am nächsten Morgen machte sich Emil wie gewohnt auf den Weg. Der Arbeiterzug, den er benutzte, um das Werk zu erreichen, war wie immer überfüllt. Die meisten saßen stumpf auf ihren Plätzen und dämmerten noch ein wenig. Da hielt der Zug auf freier Strecke.
„Is ihm mal wieder die Puste ausgegangen!"
Laute Männerstimmen, Geschrei, Gezänk. Man horcht auf. Ein Schuss. Was ist los? Emil springt auf. In demselben Augenblick wird die Tür des Abteils geöffnet. Ein Stahlhelmoffizier grüßt militärisch.
„Meine Herren! Der Eisenbahnverkehr ist an dieser Stelle unterbrochen. Verhalten Sie sich ruhig. Wir bringen Sie sicher nach der Stadt zurück. Aber es dauert eine Weile."
„Ihr seid wohl verrückt geworden", schreit Emil.
„Verhalten Sie sich ruhig!"
„Aas, verdammtes!! Meinst du, du kannst mir befehlen?!!"
Und er drängt sich zur Tür, um den Wagen zu verlassen. In demselben Augenblick hält ihm der Stahlhelmmahn die Pistole vor die Brust. Zugleich lässt er einen Pfiff ertönen. Zwei Mann sind sofort zur Stelle.
„Entweder Sie verhalten sich ruhig, oder ich lasse Sie abführen und erschießen."
„Ihr Hunde....!!!"
Ein Stoß vor die Brust, dass er zurücktaumelt —, und das Abteil ist verschlossen.
„Mensch, reg dir bloß nich uff", sagt ein Arbeiter. „Mer wärrn geschunden — so oder so. Uns kann alles eens sein."
Die andern brummen zustimmend.
Eine Stunde später war die Belegschaft des Zuges zur Stadt zurücktransportiert. Auf den Bahnhöfen Stahlhelmer. Die Stadt ruhig. Aller Nachrichtenverkehr unterbunden.
Emil stürzte zur Längen Straße. Etliche waren schon da, die andern kamen nach und nach. Auch der Sekretär erschien.
„Lasst euch nich bluffen, Genossen. Wir haben uns erkundigt. Se sind ganz schwach. Berlin haben se nich. Wir kloppen se raus. Allerdings werden wir mit den Schweinen vom Reichsbanner zusammengehen müssen."
Zur selben Stunde hielt die Reichsbannerführung des Ortes ihre Konferenz ab. Die telephonische Verbindung nach Berlin war unterbrochen. Aber die Nachrichten, die von andern Stellen kamen, lauteten ähnlich wie die der Kommunisten.
„Wir müssen mit Rotfront und Polizei gemeinsam arbeiten."
Das Telefon mit der Polizei und dem Rotfrontbüro ging hin und her. Boten rasten durch die Straßen. Um 11 Uhr teilte der Reichsbannerführer seinen Leuten das Ergebnis mit:
„Die Schupo wird die militärische Aktion in die Hand nehmen. Reichsbanner und Rotfrontkämpfer werden sie unterstützen. Der Plan ist dieser: Die Schupo belegt die geheime Zentrale des Stahlhelms in der Domgasse mit ein paar Bomben. Dann sind sie desorganisiert. Wir kreisen dann ihre Truppen von drei Seiten her ein, indem wir von Süden, Osten und Westen her in die Stadt eindringen. Die Schupo nimmt die zentrale Stellung im Süden. Die andern unterstützen sie."
Um die Mittagstunde war man kampfbereit. Der Oberbefehl über das Reichsbanner war Konrad übertragen. Die Aktion vollzog sich planmäßig. Kaum war die Befehlszentrale in der Domgasse mit Bomben belegt, als die wenigen überlebenden Führer herausstürzten und sich zu bergen suchten. Sie fielen den Maschinengewehren der Schupo zum
Opfer. Gleichzeitig begannen die Schupotruppen von Süden her vorzurücken.
Konrad hatte seine Position im Westen der Stadt. Er hatte Befehl zu erwarten, bis die Schupo sich dem Zentrum der Stadt näherte. Seine Leute waren ungeduldig.
„Der Kerl mit seiner verfluchten Ruhe wird alles verderben."
„Er is überhaupt en Verderber. Er hat viele verwirrt."
Ein Kamerad, der ihre "Worte hörte, sah sich vorsichtig
um. Er war einmal von Konrad wegen Disziplinbruchs
hart bestraft. Auch war sein Mädchen bis über die Ohren
in Konrad verschossen.
„Ihr habt recht. Der Kerl versaut alles. Man sollte ihn wegputzen."
„Nimm dich in acht!" „Wenn ihr mich deckt, so riskiere ich's." „Wir sagen nichts."
Die Reichsbannertruppen bekamen den Befehl zum Vorgehen. Anfangs fanden sie keinen Widerstand. Sie hatten bereits den Engpass der schmalen Straßen und Durchgänge erreicht, die zur Innenstadt führten. Plötzlich brach aus den Fenstern ein Feuer gegen sie los. Stahlhelmer griffen die überraschte Truppe von den Häusern aus an. Ein wilder Kampf entspann sich. Mann kämpfte gegen Mann. Unsicher wogten die Haufen hin und her. Schon begannen die Reichsbannertruppen von ihren ungeschützten Positionen zurückzuweichen. Da auf einmal Maschinengewehrfeuer im Rücken des Stahlhelms. Die Schupo hatte nach Westen vorgestoßen. Verzweiflung bemächtigte sich der Stahlhelmer. Wutentbrannt kämpften sie weiter, obwohl ihre Sache verloren war. In diesem Augenblick fiel ein Schuss aus einem Haus, das eben noch von dem Stahlhelm besetzt gewesen war. Ehe der Schuss fiel hatten sich der Schießende und Konrad einen Augenblick Auge in Auge gemessen. Blutüberströmt brach Konrad zusammen. Im selben Augenblick zerriss ein gellender Schrei die Luft. Ein Weib stürzte unter
die Kämpfenden. Schluchzend warf sich Alexa Brand auf den Bewusstlosen.
Das Eingreifen der Schupo hatte den Kampf entschieden. Die Roten Frontkämpfer im Osten hatten keinen namhaften Widerstand gefunden. Um 2 Uhr war die Stadt in den Händen der Schupo und ihrer Hilfsmannschaften.
Sanitätskolonnen räumten das Kampffeld am Dom auf.
„Der Reichsbannerkommandiernde soll hier liegen."
Sie fanden ihn. Alexa hatte seinen Kopf in ihrem Schoß geborgen und das quellende Blut mit ihrem Tuch gestaut.
„Er lebt noch!"
Sie luden ihn auf die Bahre. Eine Stunde später erwachte Konrad im Spital. Einen Augenblick kehrte ihm das Bewusstsein zurück. Sein Vorgesetzter beugte sich über ihn.
„Alles gut gegangen, Amthor! Die Stadt ist befreit."
Über Konrads Antlitz huschte ein Freudenschein.
„Und Sie werden bald wieder hergestellt sein. Dann nehmen Sie den Dienst wieder auf."
Der glückliche Ausdruck verschwand von seinem Gesicht.
„Der Schuss kam aus unseren eigenen Reihen", murmelte er. Dann sank er zurück. Tiefe Bewusstlosigkeit kam über ihn.
„Wir kriegen ihn durch", sagte der Arzt. „Die Frau hat ihn gerettet. Sonst wäre er wahrscheinlich verblutet."

Am Nachmittag dieses Tages war wieder Konferenz in der Langen Straße. Der Sekretär nahm das Wort:
„Genossen! Durch den Stahlhelmputsch hat sich die Situation verändert. Nun müssen wir losgehen. Und zwar müssen jetzt zunächst die Werke besetzt werden!"
Und die Aktion im Werk wurde noch einmal bis ins einzelne für den morgenden Tag verabredet.
Am Abend ließ sich die Lage mit einiger Sicherheit übersehen! Die Verbindung war wieder hergestellt. Seit langer Hand vorbereitet, war der Stahlhelmputsch in allen Zentren Deutschlands gleichzeitig in Szene gesetzt. Im
Osten war er siegreich geblieben. In Mittel, West- und Süddeutschland war er zusammengebrochen. Die Züge nach dem Stickstoffwerk verkehrten am nächsten Morgen wieder. Mit einem Blick des Einvernehmens trennte sich Emil an der Sperre von seinen Kameraden.-----------------
Die Mittagspause war vorüber. Die Belegschaft strömte in die einzelnen Baue zurück. Die Sirenen gaben das Zeichen zum Wiederbeginn der Arbeit. Aber sie tönten länger als sonst. Ihr Geheul wollte kein Ende nehmen. Greinow und Emil waren bereits in der großen Halle ihrer Maschinenabteilung angelangt. Nur wenige Menschen waren nötig, um die gewaltigen Kolosse zu bedienen. Auf das Zeichen der Sirenen ging Emil unauffällig zur Tür des Nebenraumes und riegelte sie ab. Die drei neutralen Arbeiter waren gefangen. Im nächsten Augenblick sprang Greinow mit vorgehaltener Pistole auf den einen der anwesenden Gegner los. Emil stürzte sich auf den andern: „Rotfront besetzt das Werk!! Ergebt euch!" Greinows Gegner stand vor Schrecken erstarrt. Aber der andere ließ sich nicht bluffen.
„Schweinehund!!" Er sprang zu, um Emil die Pistole zu entreißen. Emil drückte ab. Im nächsten Augenblick wälzte sich der andere in seinem Blut auf dem Boden. Greinows Gegner ergab sich, an allen Gliedern schlotternd. Nun öffneten sie die Tür nach dem Nebenraum. Mit kurzen Worten wurden die drei Arbeiter informiert. Sic unterwarfen sich ohne Widerstand dem Diktat der Kommunisten.
Noch heulten die Sirenen. Aber die Schlacht war geschlagen. Auch in den anderen Maschinenräumen waren die Kommunisten siegreich geblieben. Im Verwaltungsgebäude und in der Telefonzentrale hatten sie überhaupt keinen Widerstand gefunden. Die Direktion war nicht aufzufinden. Binnen einer halben Stunde war das Werk in den Händen der Kommunisten. Der Tote aus Emils Halle wurde beiseite geschafft. Ein Arbeiterrat konstituierte sich. Emil wurde hineingewählt. „Sonderbar", sagte der Parteisekretär, als sie im Rat die Ereignisse durchsprachen, „ob
die Kerls Lunte gerochen haben? Sie sind verschwunden wie die Ratten."
Nachrichten aus dem Reich trafen ein. Die Besetzung der anderen Stickstoffwerke war ebenfalls geglückt. Desgleichen war ein Teil der Kohlengruben und der Eisenwerke erobert. In den östlichen Provinzen dagegen waren die Aktionen der Kommunisten überall gescheitert. Hier behauptete der Stahlhelm das Feld.
Noch an demselben Tage proklamierte die kommunistische Partei den Generalstreik. Die Gewerkschaften gaben die entgegengesetzte Losung. Der größere Teil der Arbeiter trat in den Streik ein, eine Minderheit arbeitete weiter.
Das Ausland antwortete prompt. Die Entente schob ihre Streitkräfte vor. Die russische Presse begrüßte die Räte als Zellen der Weltrevolution. Auch die Arbeiterinternationale ließ ihre Schreibmaschinen arbeiten. Sie wandte sich an alle Landessektionen, um eine gleichlautende Erklärung über Kriegsächtung und Kriegsdienstverweigerung zustande zu bringen.
Mittlerweile hatte die Einsetzung der Reichswehr begonnen.
Der Posten des Reichswehrministers war von der sozialdemokratischen Partei besetzt. Man hatte ihn einem militärischen Fachmann gegeben, der gesinnungmäßiger Pazifist war. Er widersetzte sich zunächst auf alle Weise den Forderungen des Reichspräsidenten, die Reichswehr gegen beide Fronten einzusetzen. Er erhoffte von Unterhandlungen mehr, als von militärischen Maßnahmen. Als er endlich seine Unterschrift gab, waren kostbare Stunden verloren. Auch bot er seinen ganzen Einfluss auf, um ein energisches Vorgehen der Truppen zu verhindern.
Angesichts dieses Zwiespaltes klammerte sich alles, was auf Wiederkehr eines verfassungsmäßigen Zustandes hoffte, an den Reichspräsidenten. Wenn er von seinen Rechten als Oberhaupt des Reiches voll Gebrauch machte, konnte er den Verlauf der Ereignisse entscheidend beeinflussen.
„An seiner Person hängt jetzt viel", sagte der Reichsbannerführer zu Konrad. „Die reguläre Truppe wird, sobald man sie energisch einsetzt, mit diesem Freischärlertum in kürzester Zeit fertig. Es würde mich wundern, wenn keine von den beiden verfassungsbrüchigen Gruppen daraus die Konsequenz ziehen sollte---------------------"
Am späten Nachmittag dieses Tages, als es bereits dunkel war, fuhr der Reichspräsident vom Bahnhof Friedrichstraße in sein Palais nach der Wilhelmstraße. Der Wagen nahm den weniger verkehrsreichen Weg am Ufer der Spree entlang. An der Ecke der Wilhelmstraße, wo das Auto langsamer fahren musste, wurde es von einem anderen Auto überholt. Ein Schuss fiel. In wilder Jagd raste das zweite Auto davon, dem Tiergarten zu. Es entkam.
Eine Viertelstunde später empfing der Generalgewaltige und Drahtzieher des Rechtsputsches, Hagenthal, in einem Stettiner Hotel den Führer einer völkischen Freischar.
„Es ist alles geglückt, Exzellenz. Der Mann sitzt bereits in der Bahn hierher und geht heute Nacht mit falschen Pässen nach Schweden. Von dort kommt er weiter. Mit Geld ist er reichlich versehen."
„Und Sie haben alle Vorkehrungen getroffen, dass wir das Subjekt der kommunistischen Partei an die Rockschöße hängen können?"
„Zu Befehl, Exzellenz. Der Nachweis kann mittels eines gekauften Mitgliedsbuches geführt werden."
Binnen weniger Stunden verbreitete sich die Kunde von dem Mord durch ganz Deutschland. Die Aufregung der Bevölkerung steigerte sich zur Siedehitze. Die Anhängerschaft des Ermordeten heult auf vor Wut und Empörung. Aber auch seine politischen Gegner verurteilten den Mord als ein kommunistisches Bubenstück. Noch in derselben Nacht fand eine Kabinettssitzung statt., Doch man konnte sich zunächst auf keinen Entschluss einigen.
In der Frühe des nächsten Morgens aber, ehe die Hauptstadt aufgewacht war, zog eine Stahlhelmtruppe durch das Brandenburger Tor ein und besetzte die Ministerien und die Verkehrszentralen. Auch der Reichstag wurde genommen.
Die Führer der Reichswehr, welche noch handeln wollten, wurden mit gefälschten Befehlen irre geführt. Die Truppen waren ihrer Aktionsfähigkeit beraubt. Nun wagte auch die Schutzpolizei nicht einzugreifen. Ebenso war die gesamte Bürokratie desorganisiert; niemand rührte sich. Nachdem die Besetzung geglückt, traf Hagenthal im Auto von Stettin her ein. Er hatte dort den Erfolg des Putsches abgewartet, um bei Misslingen des Anschlags nach Finnland zu entfliehen. An allen Anschlagsäulen und öffentlichen Gebäuden wurde ein Aufruf angeschlagen. Draht und Radio verbreiteten ihn gleichzeitig im ganzen Reich. Er lautete:
„Deutsche Männer und Frauen! Der Reichspräsident ist einem schändlichen Attentat der Kommunisten zum Opfer gefallen. Das Reich befindet sich in Auflösung. Zur Rettung des Vaterlandes übernimmt die Partei der Ordnung unter meiner Führung die Regierung. Hagenthal, Reichsverweser."
Die parteipolitische Anhängerschaft des Ermordeten scharte sich wie ein Mann um den Diktator. Alle, die in dem Reichspräsidenten den Vertreter der Verfassung gesehen hatten, traten auf Hagenthals Seite. Alle politischen und wirtschaftlichen Gegner der Arbeiterschaft jubelten auf. Die Finanzwelt begrüßte ihn als den Mann der Ordnung. Alle Halben und Unentschlossenen, alle Ruhebedürftigen fielen Hagenthal zu. Die Reichswehr stellte sich zum größten Teil auf seine Seite.

Noch aber standen im Reich die Hochburgen der kommunistischen Aktion, die großen Werke. In dem Palais des Reichsverwesers waren einige Vertrauensmänner zur Aussprache über die politische Lage versammelt.
„Es handelt sich darum, meine Herren, wie wir am schnellsten mit den Kommunisten fertig werden."
„Ich schlage vor", sagte einer, „dass wir an einem Werk ein Exempel statuieren. Wir fordern es zur Übergabe auf. Weigert es sich, so setzen wir es unter Gas. Dann gehen die
Kanaillen kaputt. Die Gebäude nebst Maschinen bleiben unversehrt."
Nach längerer Debatte wurde der Vorschlag gut geheißen.
„Welches Werk schlagen Sie vor?" fragte Hagenthal.
„Das Unawerk. Es liegt isoliert. Die Vergasung kann auf das Werk beschränkt werden. Geißeln haben sie nicht, denn die Direktion ist seinerzeit rechtzeitig zurückgenommen worden, nachdem wir die Schlappe in Mitteldeutschland erlitten hatten."
„Gut."

Es war am Nachmittag dieses Tages. Seit Mittag hatte man im Werk Kunde von dem gelungenen Putsche des Stahlhelms. Im Verwaltungsgebäude fand eine Sitzung des Arbeiterrates statt. Der Parteisekretär war anwesend. Er war am Morgen, noch ehe man von dem Stahlhelmputsch etwas wusste, ins Werk gekommen. Auf die Nachricht von dem Staatsstreich hin versuchte er, das Werk unauffällig zu verlassen. Emil bemerkte es und hielt ihn fest. Im Arbeiterrat herrschte Bestürzung. Von den andern besetzten Werken hatte man nichts mehr gehört.
„Ich möchte doch raten", begann der Arbeitersekretär unsicher, „dass man telephonisch mit Hagenthal in Verhandlung tritt."
Die andern schwiegen betreten.
„Aber Genossen!" fuhr Emil auf. „Wir werden doch unsere Sache nicht einfach verloren geben!!"
In demselben Augenblick wurde ein telephonischer Anruf gemeldet. Der Sekretär nahm den Hörer. Er erblasste und legte den Hörer neben den Apparat.
„Genossen!!", stotterte er, „es ist alles verloren!! Hagenthal fordert Übergabe des Werkes. Sonst will er uns unter Gas setzen. Ich lege mein Amt in die Hände des Genossen Busch."
Und er drückte sich eilends aus dem Zimmer. Emil nahm
den Hörer auf. Die Verbindung war noch nicht abgestellt. Er horchte.
„Warten Sie einen Augenblick", sprach er in den Apparat und legte den Hörer hin.
„Genossen! Die Regierung Hagenthal droht wirklich, das Werk zu vergasen, wenn wir es nicht übergeben. Ich halte es für einen Bluff. Offenbar wollen sie uns einschüchtern. Ihr Putsch kann morgen zusammenbrechen. Wir müssen unter allen Umständen auf unserm Posten bleiben. Was soll aus dem Kampf des Proletariats werden, wenn wir beim ersten Rückschlag verzweifeln!"
Seine festen Worte blieben nicht ohne Wirkung. Zwar schaute ein Teil der Anwesenden ängstlich zu ihm herüber. Aber er fand Unterstützung bei andern. Sie sprachen in seinem Sinne. Er nahm den Hörer wieder auf.
„Der Arbeiterrat des Unawerkes lehnt jede Verhandlung mit Ihnen ab."
Die Entscheidung war gefallen. Alle wurden ruhiger. Emil sah sich nach dem Sekretär um.
„Wo is der Hund hin?"
„Laß ihn laufen!! Dass diese Jammerlappen uns zuerst im Stich lassen, wissen wir ohnehin."
„Auf alle Fälle müssen wir nach Unterkunftsräumen suchen, falls sie eine Vergasung des Werkes versuchen sollten", meinte Emil.
Sie begaben sich auf die Suche. Aber sie fanden keine geeigneten Räume.
„Dann müssen wir alles, was von der Belegschaft noch im Werk ist, zusammenrufen und ihnen das Verlassen des Werkes freistellen" schlug einer vor. Eine Viertelstunde später war ein großer Teil der Arbeiterschaft in der größten Halle des Werkes versammelt. Emil legte ihnen die Sachlage dar.
„Genossen! Ich bin der Ansicht, wir warten ab. So unmenschlich werden sie nicht sein. Ich bin überzeugt, sie wollen uns bluffen."
Die Arbeiter waren unschlüssig.
Da-----------------Surrende Töne in den Lüften------------
Ein Arbeiter schreit auf:
„Flieger!!!"
Wildes Entsetzen packt die Männer.
„Ruhe!"--------„Ruhe!"------------
Schon erklingt das Surren unmittelbar über ihren Häuptern — — — — — — — Eine Bombe schlägt durch das
Dach und tötet fünf Mann. — — — — — —
Auch an anderen Stellen erklingt das Platzen von Bomben — — — — — — — Süßlicher Geruch beginnt sich zu
verbreiten------------------------------

Am folgenden Tage wurde das Werk von der technischen Nothilfe besetzt. 11000 Tote mussten geborgen werden.
Das Beispiel des Unawerkes brach jeden Widerstand. Alle übrigen Werke wurden fluchtartig von den Kommunisten geräumt. Eine Woche später war Hagenthals Diktatur gesichert. Der Reichstag war aufgelöst. An den Neuwahlen durften sich nur die Mitglieder der Ordnungspartei beteiligen. Alle anderen Parteien wurden aufgehoben. Die Gewerkschaften wurden auf neuer Basis in vollkommener Abhängigkeit von der Regierung reorganisiert. Eine Anzahl kommunistischer und sozialdemokratischer Führer wurden erschossen, unter ihnen der Reichsbannerführer.
Auch Konrad wäre seinem Schicksal nicht entgangen. Doch seine Frau schaffte den Schwerverletzten mit schweizerischen Pässen und Ausweisen über die Grenze.
Der Frühling war ins Land gekommen. Im Tal grünte und blühte es. In den hochgelegenen Orten des Gebirges war noch alles vereist. Aber an warmen Tagen brütete die Sonne an der Südwand des Hauses.
Seit Wochen schrieb und arbeitete Konrad, so lange die Kraft es erlaubte. Die Frau wusste nicht, was es sei. Jetzt trat er auf die Galerie. Er erschien um zehn Jahre gealtert. Sein Haar war von grauen Fäden durchzogen. Sein Blick verlor sich ins Weite. Die Frau trat zu ihm.
„Konrad?"
Es war, als sähe er ferne Gestalten.
„Die Toten--------------------------"
Beide schwiegen. Stockend sagte er dann: „Die ganze Zeit, als ich im Fieber lag, habe ich Emil gesehen. Es war
oft, als sei er bei mir!----------------------Er saß auf meiner
Bettkante--------— Ich sah ihn wie in einer Gaswolke —
-------Er erzählte------------oft — lange-----------Es hat sich verdichtet. Ich habe es aufgeschrieben, als ob Emil es mir erzählt hätte. Aus unser beider Herzen ist es geflossen. Mein Sohn soll es eines Tages lesen. Dann wird der Lohnsklave aus der Dumpfheit in das Reich der Freiheit getreten sein.

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