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Gertrud Hermes – Rote Fahne in Not (1929)
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III. Im Bergwerk

Unser Flugzeug ging in eleganter Kurve nieder. Wir hatten während der Fahrt eine ausgiebige Mahlzeit eingenommen. In Gelsenkirchen gelandet, konnten wir uns daher sogleich auf den Weg machen. „Wir wollen zuerst in ein Bergwerk einfahren", entschied Bernhard. Nachdem die Erlaubnis bewirkt war, bestiegen wir einen Förderkorb und fuhren in die Tiefe. Ein Führer nahm uns in Empfang.
Die Anlage des Schachtes überraschte durch die Verbindung von sachlicher Zweckmäßigkeit und sorgfältiger Rücksichtnahme auf Leben, Sicherheit, Gesundheit und Arbeitsfreudigkeit der Belegschaft. Selbst als wir bis zu dem äußersten Ende eines Stollens vorgedrungen waren und die Arbeit der Häuer an Ort und Stelle beobachteten, fanden wir eine technische Gestaltung der Arbeit, die sie für einen gesunden Mann erträglich machte. Wo einst der Lohnsklave sein tiefstes Elend erlebt hatte, da handierten jetzt gesunde, frohe Männer!
„Es interessieren mich nicht nur die technischen Einrichtungen", sagte ich nach ausführlicher Besichtigung der anlagen zu unserem Führer. „Ich würde mir gern auch ein Bild von der sozialen Gestaltung der Arbeit machen." In diesem Augenblick ertönte ein Glockenzeichen. Die Arbeiter stellten ihre Arbeit ein.
„Schließen Sie sich den Arbeitern an", sagte der Führer. „Diese Schicht macht Feierabend; die zweite Schicht ist bereits eingefahren. Zwischen beiden Arbeitszeiten findet heute Betriebsversammlung statt. Gehen Sie mit. Man wird Ihnen Auskunft erteilen." Er wies uns einer Gruppe zu.
„Guten Tag, Doktor", rief Bernhard erfreut, als wir uns einem Trupp Arbeiter angeschlossen hatten.
„Halloh, Kollege, wie kommst du hierher?"
„Ich führe einen Fremden." Er machte mich mit seinem Kollegen bekannt; wir tauschten einige Worte.
„Was treibst du hier?" fragte Bernhard seinen Bekannten.
„Ich diene wieder einmal ein industrielles Jahr als Auflader ab."
„Was bedeutet das", fragte ich dazwischen.
„Da sind wir gleich mitten drin in dem, was du die soziale Gestaltung der Arbeit nanntest. Du siehst, trotz aller sanitären Einrichtungen bleibt die Arbeit unter Tage eine harte, gesundheitsgefährdende Aufgabe. Seit die privatkapitalistische Ordnung aufgehoben ist, nutzen wir keine Menschenkraft mehr vorzeitig ab."
„Ich verstehe."
„Deshalb wurde, sobald das Privateigentum an Produktionsmitteln aufgehoben war, die Verwendung der menschlichen Arbeitskraft unter völlig neue Gesichtspunkte gestellt. Wollt ihr das dem Kollegen am Beispiel eures Betriebes deutlicher machen, Genossen?" wandte er sich an die Bergarbeiter, in deren Mitte wir gingen. Sie hatten uns mit sichtlichem Interesse zugehört. „Der Fremde kennt unsere Organisation nicht."
„Meine Arbeit ist gelernte Arbeit", begann ein alter Häuer. „Die kann nicht jeder tun. Man kann also die Arbeiter nicht beliebig auswechseln. Zugleich ist sie schwer und anstrengend. Also arbeite ich nur vier Stunden unter Tage. Ich muss mich aber zur Verfügung stellen, wenn über Tage noch Arbeitskräfte gebraucht werden. Es ist nicht immer der Fall, aber oft. Immerhin ist es mit der Verkürzung der Arbeitszeit keineswegs so ganz einfach. Nur zu leicht verliert der Mensch als Konsument, was der Mensch als Produzent gewinnt."
„Wie meinst du das?"
„Wenn ich eine Stunde länger arbeitete, würde ein Viertel mehr geschafft. Und meine Kraft ist nach vier Stunden noch nicht voll verbraucht. Also verlieren die Konsumenten diese Leistung. Die Wirtschaft hat dieses Viertel Kohle weniger zur Verfügung. Es ist eine verantwortungsvolle Entscheidung für unsere Wirtschaftsleiter, uns diese kurze
Arbeitszeit einzuräumen. Und es ist für uns eine große Verantwortung gegenüber der Gesamtheit, sie zu fordern." Man sah seinem nachdenklichen Gesicht an, dass diese Worte keine Phrase waren.
„Meine Arbeit dagegen", begann der Doktor, „ist ungelernte Arbeit. Sie ist ebenfalls wegen der Luft und Temperatur im Bergwerk gesundheitsschädlich. Alle solche Arbeit, die ungelernt ist und den Menschen auf irgend eine Weise schädigt, wird zu gleichen Lasten unter alle Glieder der Gesamtwirtschaft verteilt. Jeder, der durch seine Arbeit nicht gesundheitlich gefährdet ist, muss sie tun. Wie im alten militärischen Staat die Männer ein militärisches Jahr leisten mussten, so leisten heute alle arbeitsfähigen Männer und Frauen ein industrielles Dienstjahr. Und es kommt vor, dass man mehrmals im Leben drankommt."
„Freilich, lange nicht so oft, als man anfangs glaubte", fügte ein junger Auflader hinzu. Seine derberen Züge und blühende Gesichtsfarbe ließen auf den Landarbeiter schließen, „Denn in der Vorgeschichte der Menschheit wüstete man mit der Menschenkraft, als ob sie Häcksel sei. Heute ist ihre Erhaltung ein Grundprinzip unseres Lebens. Und seit die zarten Herren da aus den Schreibstuben" — er lachte den Doktor an — „selber mithalten müssen bei diesem unangenehmen Geschäft, da tun sie, was sie können, um gesundheitsschädliche Arbeit auszumerzen. Die Erfindungen, die ihrer Aufhebung dienen, drängen sich nur so, nicht Doktor?" „Freilich!"
„Wie aber steht es mit der mechanischen und monotonen Arbeit?" fragte ich.
„Genau wie mit der gesundheitsschädlichen. Sie wird gleichmäßig auf alle Schultern verteilt. Du glaubst nicht, wie sehr sie sich verringert hat, seit alle mittun müssen!!"
„So wird sie nicht mehr auf die Frauen abgeschoben?"
„Auf die Frauen???!!!—" schrieen alle auf
einmal. Ich schwieg verdutzt.
„Wie werden wir denn unsere Mädchen und Frauen zur
Übernahme der mechanischen Arbeit verurteilen?!!! — Hat man je dergleichen gehört?"
„Doch! Im kapitalistischen System war das so", entgegnete ich.
„Ist das zu glauben??! Hat solche Barbarei wirklich bestanden?"
Ich schwieg.------------
„Unterbricht ein solches Dienstjahr nicht allzu sehr deine beruflichen Arbeiten?" fragte ich nach einer Weile den Doktor.
„Oft ist es natürlich unbequem. Immerhin — man weiß ungefähr, wann man rankommt und kann sich melden, wie es in der beruflichen Arbeit passt — genau wie seinerzeit mit dem Militärdienstjahr auch."
„Aber ist es euch nicht widerwärtig, eure Arbeit mit diesem Dasein zu vertauschen?"
„Widerwärtig?! Wie meinst du das?"
„Nun — im Büro oder Kontor ist's angenehmer!!"
„Nu hör aber auf!" rief der Doktor. Die Männer lachten.
„Und das Leben unter den Bergarbeitern — in so anderen sozialen Verhältnissen — — —"
„Das ist doch gerade das Interessante an der Sache!! Gerade darum ist ja das Dienstjahr für uns geistige Arbeiter von allergrößtem Wert! Wir lernen eine uns fremde Welt kennen! Vielleicht hat sie der Intellektuelle vergangener Jahrhunderte lächerlich unterschätzt — das weiß ich nicht."
„Ja", sagte ich bitter, „er schätzte sie nur, wenn sie Profit abwarf!" — — Ich fühlte, wie die ruhigen, gesunden Männer mich voll Verwunderung ansahen.

„Nach dem, was du mir früher von der Organisation eurer Wirtschaft erzählt hast", sagte ich zu Bernhard im Weitergehen, „ist wohl der gesamte Kohlenbergbau in solch einem öffentlich-rechtlichen Selbstverwaltungskörper organisiert, wie du es nanntest?"
„Ganz recht."
„Wie baut sich die Organisation auf?"
„Du siehst hier die Zelle: den Betrieb. Die einzelnen Betriebe sind zum Bezirkskohlenrat als zur nächsthöheren Einheit zusammengeschlossen. Darüber steht die Landesorganisation und als oberste Instanz endlich der Zentralkohlenrat in Bern."
„Wer ernennt die Betriebsleiter?"
„Der Bezirkskohlenrat, jedoch nach Anhörung der Belegschaft."
„Ihr habt es nicht für zweckmäßig gehalten, die Ernennung der Belegschaft zu übertragen?"
„Nein. Wir haben den Versuch gemacht. Aber der Betriebsleiter blieb dann allzu sehr von Gunst und Ungunst einzelner Gruppen im Betrieb abhängig. Die Belegschaft hat nur das Vorschlagsrecht, das Beschwerderecht und ähnliche Rechte. Die Ernennung des Leiters sowie seine Absetzung erfolgt vom Kohlenrat des Bezirks."
„Wie kommt der Bezirkskohlenrat zustande?"
„Er wird teils in Urabstimmungen der Zellen gewählt, teils durch Betriebsvertretungen. Außerdem ernennt der Staat einen Vertreter."
„Im ganzen gesehen ist also das Gewerbe nach demselben Prinzip organisiert, wie du es mir gestern für die Landwirtschaft geschildert hast?"
„Gewiss! Du findest eine entsprechende Organisation in unserem Schulwesen, in unserem Verkehrswesen und so fort."
„Überall hat die Zelle weitgehende Selbständigkeit?"
„Ja, das ist das Grundprinzip unserer gesamten Gesellschaftsorganisation. Der Zentralisierung in großen Ausmaßen stellen wir die Autonomie der Zelle gegenüber."
„Das ergibt dann aber ein kompliziertes System!! Einerseits Zentralisation im großen Bundesstaat. Andererseits Autonomie der Nation und Autonomie der Zelle — —"
„Freilich!! Wo wären solche Spannungen in unserem Leben nicht?? — —"
*
Wir hatten den Versammlungsort erreicht. Es war der große Platz vor den Förderkörben. Etwa achthundert Mann hatten sich eingefunden, die Mehrzahl Handarbeiter, eine Minderheit Ingenieure. Das Büro war aus zwei Handarbeitern und einem Ingenieur zusammengesetzt. Die Betriebsleitung, aus drei Personen bestehend, war ebenfalls anwesend. Sie hatte jedoch in dieser Versammlung weder Sitz noch Stimme.
Der Vorsitzende eröffnete. „Ich gebe zunächst die Tagesordnung bekannt. Sie enthält nur einen Punkt: Verlängerung der Schichten." Ein Gemurmel ging durch die Versammlung. „Sind alle einverstanden?"
„Zur Geschäftsordnung" rief ein junger Arbeiter. „Ich beantrage einen zweiten Punkt auf die Tagesordnung zu setzen: Beschwerde über den ersten Betriebsleiter!"
„Ist der Antrag hinreichend unterstützt?"
„Jawohl; er hat zwanzig Unterschriften."
„Also angenommen. Wir kommen zu dem ersten Punkt. Wie ihr wisst, Genossen, erlitt die Wirtschaft unseres Bundesstaates durch Missernte in den Körnerbaugebieten, sowie durch den Verlust von Auslandsmärkten im Vorjahr schwere Schläge. Nun hat sich unerwartet die Möglichkeit geboten, durch große Aufträge nach Brasilien und Peru diese Verluste einzuholen. Wenn diese Gelegenheit wahrgenommen werden soll, so bedarf es aber einer schnellen Steigerung der Kohlenproduktion. Unter diesen Umständen hat der oberste Wirtschaftsrat in Bern ..." — — — —
„die staatliche Instanz", sagte Bernhard leise zu mir-------
— — „beschlossen, dass wir vier Wochen lang täglich eine halbe Überstunde pro Schicht leisten sollen. Der oberste Kohlenrat hat dem zugestimmt. Ihr wisst, wir sind verpflichtet, diese Mehrarbeit sofort zu leisten. Es steht uns aber das Recht zu, eine Urabstimmung aller Arbeitenden darüber zu fordern. Wenn ein Drittel der Betriebe die Urabstimmung fordert, muss sie stattfinden. Wünscht jemand dazu das Wort?"
Ein älterer Arbeiter meldete sich. „Ich bin nicht der An-
sicht, dass wir den Beschluss des obersten Kohlenrates einfach über uns ergehen lassen sollen. Natürlich müssen wir seinen Anordnungen zunächst Folge leisten. Ich würde es aber für richtig halten, die Urabstimmung zu verlangen. Denn das vorige Mal sind wir auch als erste in die Bresche gesprungen. Die chemische Industrie dagegen weigerte sich, ebenfalls länger zu arbeiten. So blieb die Mehrleistung an uns allein hängen. Das machen wir nicht zum zweiten Mal mit!"
Ein beifälliges Gemurmel lief durch die Reihen.
„Genossen!", nahm der Vorsitzende das Wort, „der Einwand war zu erwarten. Er ist berechtigt. Auch bei dem obersten Wirtschaftsrat ist der Fall, von dem der Kollege sprach, nicht in Vergessenheit geraten. Er hat überall Empörung hervorgerufen. Der oberste Wirtschaftsrat hat daher zunächst die chemische Industrie aufgefordert, für die nächsten vier Wochen eine ganze Stunde Überarbeit pro Schicht zu leisten. Der oberste Rat der chemischen Industrie hat sich diesem Verlangen nicht entziehen können. Er hat die Überarbeit angeordnet. Proteste aus den Reihen der chemischen Arbeiter werden hoffentlich nicht kommen."
Der vorige Sprecher meldete sich wieder.
„Unter diesen Umständen ziehe ich meinen Einspruch zurück."
„Wünscht sonst noch jemand zu diesem Punkt das Wort? — Es ist nicht der Fall. Wir kommen zur Abstimmung. Wer eine Urabstimmung über die Verordnung des obersten Kohlenrates wünscht, der erhebe die Hand."
Etwa fünfunddreißig Mann meldeten sich.
„Die Angelegenheit ist damit erledigt. Wir kommen zum zweiten Punkt der Tagesordnung: Beschwerde über den ersten Betriebsleiter. Der Antragsteller hat das Wort."
Der Arbeiter erhob sich. Gespannte Erwartung lag auf den Mienen der andern. „Genossen! Ihr alle wisst, dass der größte Teil der Belegschaft mit den Leistungen unseres ersten Betriebsleiters nicht zufrieden ist. Er versteht nicht, den Betrieb zweckmäßig zu organisieren. Wir haben vor
vier Wochen die Explosion erlebt, die beinahe mehreren Kameraden das Leben gekostet hätte. Wir bleiben in unsern Leistungen hinter den andern Betrieben zurück. Da muss aufgeräumt werden. Es geht nicht an, dass unter mangelhafter Leitung die Förderung leidet. Im einzelnen mache ich folgende Beschwerdepunkte geltend." Er öffnete sein Notizbuch und führt eine Menge von Einzelfällen auf.
Eine lebhafte Debatte entspann sich. Der Betriebsleiter versuchte, sich zu verteidigen. Doch die Mehrzahl war gegen ihn. Ein Antrag wurde eingereicht. Er forderte die Absetzung des Betriebsleiters durch den Bezirkskohlenrat. Man schritt zur Abstimmung.
„Wer gegen den Antrag ist, hebe die Hand!"
Etwa ein Drittel der Anwesenden erhob die Hände. Man machte eine Auszählung und Gegenprobe. Der Leiter präzisierte das Ergebnis:
„Die Leitung der Betriebsversammlung wird durch eine Zweidrittelmehrheit beauftragte, die nachfolgend aufgeführten Beschwerden an den Bezirksrat weiterzugeben und die Abberufung des ersten Leiters zu verlangen."
„Werden sie etwas damit erreichen?" fragte ich leise den Doktor.
„Sicher! Wenn zwei Drittel einer Belegschaft sich über den ersten Leiter beschwert, so müssen ernsthafte Gründe zur Unzufriedenheit vorliegen. Wahrscheinlich wird er abberufen werden."
Die Beratungen waren zu Ende. Der Versammlungsleiter wollte gerade die Versammlung schließen, als ihm ein Telefongespräch übermittelt wurde. Man sah, wie sich Schrecken und Besorgnis auf seinem Gesicht malten.
„Einen Augenblick, Genossen", rief er. Die Bergleute sammelten sich wieder.
„Soeben bekomme ich die Nachricht, dass die Belegschaft der chemischen Werke gegen die Überarbeit protestiert. Sie haben sogar den ausdrücklichen Beschluss ihres obersten Fachrates missachtet und die Überstunden verweigert."
Wie eine Bombe schlug die Nachricht ein. Im Nu löste
sich die Versammlung in Gruppen auf. Das Für und Wider wurde hitzig debattiert. Nach einigen Minuten gelang es dem Vorsitzenden die Ruhe wieder herzustellen. „Genossen", begann er, und ein tiefer Ernst lag auf seinem Gesicht. „Wir alle werden der Ansicht sein, dass das Verhalten unserer Kollegen von der chemischen Industrie nicht zu rechtfertigen ist."
„Es ist unerhört!" schrie ein Junger.
„Sie haben die oberste Pflicht unserer Gemeinschaft verletzt: Die Verantwortung für das Ganze! Das darf uns jedoch", sprach er mit Nachdruck weiter, „nicht an unserer Pflicht irre machen!!"
„Fragt sich, worin sie besteht!!?"
„Die Überstunden, die unser Rat beschlossen hat, müssen geleistet werden. Ich habe nicht die Absicht, den vorhin gefassten Beschluss noch einmal zur Diskussion zu stellen."
„Zur Geschäftsordnung!!" schrieen sechs Stimmen zugleich. Ein junger Bursche sprach als erster.
„Genossen!! Wir werden nicht zum zweiten Mal die Narren der chemischen Arbeiter machen!! Ich beantrage, dass wir die Verhandlung über diese Angelegenheit neu eröffnen!"
Der Versammlungsleiter wehrte ab. Eine wütende Debatte über die Geschäftsordnung setzte ein. Der Leiter unterlag. Die Diskussion über die geforderten Überstunden begann von neuem. Sie war leidenschaftlich erregt, aber sie verlief anders, als das bei uns der Fall gewesen wäre. Es fehlten nicht nur die persönlichen Gehässigkeiten und Verdächtigungen, es fehlten nicht nur die demagogischen Reden, sondern es lag auch der Ton nicht so stark auf dem persönlichen Interesse der Arbeitenden an der halben Stunde Mehrarbeit. Wohl ging sie mehrfach auch in dieser Richtung. Aber man empfand diesen Gesichtspunkt offenbar als zweiten Ranges. Die Frage, um die es sich drehte, war vielmehr die, ob die Verantwortung für das Ganze die annahme oder Ablehnung der vom obersten Kohlenrat erlassenen Verordnung fordere.
Der Vorsitzende kämpfte schwer. Man sah, wie in ihm selbst zwei Entscheidungen miteinander rangen. Der Zorn der Belegschaft war nur allzu berechtigt. Man konnte kein Gemeinwesen aufrecht erhalten, wenn ein Teil sich so rücksichtslos über die Notwendigkeiten des Ganzen hinwegsetzte. Und doch wurde das Unheil durch einen Disziplinbruch nicht gebessert, sondern verschlimmert! Trotz des Versagens der chemischen Arbeiter hielt er es für richtig, dem Ganzen die notwendige Hilfe zu leisten. Die Mehrzahl der Anwesenden war geneigt, die Überstunden sofort zu verweigern.
Nach heißem Kampf gelang es dem Vorsitzenden, die Gehorsamsverweigerung gegenüber der eigenen Zentrale zu verhindern. Gleichzeitig wurde eine Resolution an die Zentrale beschlossen. Sie forderte sofortige Urabstimmung aller Betriebe. Auch ein geharnischter Protest an verschiedene andere Stellen wurde losgelassen. In großer Aufregung gingen die Bergleute auseinander.
„Das also ist das Reich der Freiheit-----------------", sagte
ich zu Bernhard.
„Ja — — das ist das —selbstverantwortliche —
— — Handeln!!" Ein Blick aus der Tiefe seiner Augen traf mich. Dann brach er ab.

„Lass uns von neuem im Flugzeug aufsteigen", sagte er, als wir wieder im Freien waren.
„Nein, Bernhard, das ist zu viel! Ich kann nicht in dieser Weise eine mir fremde Welt durchrasen. Was ich gestern und heute gesehen habe, stellt tausend Fragen an mich. Du musst sie mir klären helfen. Mittag ist vorbei. Lass uns heute hier verweilen."
„Wie du willst! Dann wollen wir meinen Bekannten, den Doktor, aufsuchen. Er lud uns ein und nannte mir seine Wohnung. Ich lehnte ab, weil ich noch heute bis Mannheim kommen wollte. Er wird sich freuen, wenn wir doch noch kommen."
Am Ausgang des Werkes erkundigte er sich nach dem Weg.
„Eilen Sie sich, dann bekommen Sie noch die Schnellbahn, die die Arbeiter hinausbringt", sagte der Pförtner. Wir erreichten noch gerade den letzten Wagen. Mit einer Geschwindigkeit, wie ich sie nie gekannt hatte, sausten wir hinaus. Nach halbstündiger Fahrt lag das schwärzliche Revier der Kohlenhalden hinter uns. Eine große Wohnsiedlung nahm uns auf. Wir fanden bald die angegebene Wohnung. Sie war in dem riesigen Häuserblock einer großen Einküchensiedlung gelegen. Dort waren die „Einjährigen" auf zweckmäßige und angenehme Weise untergebracht. Ein kleines Quartier nur stand dem Doktor zur Verfügung, für einen einzelnen Menschen eben groß genug, durch Zweckmäßigkeit erfreulich, in Proportionen und Ausstattung behaglich.
„Das ist recht, dass ihr kommt", rief der Doktor.
„Mein Gefährte", sagte Bernhard, „hat ein Stück von unserer Welt gesehen. Er möchte manches mit uns durchsprechen. Hast du Zeit?"
„Gewiss! Wir essen erst zusammen im Speisesaal. Dann können wir plaudern, solange ihr wollt."
Wir gingen hinunter. Im Vorbeigehen zeigte mir der Doktor gut ausgestattete Lese- und Gesellschaftsräume, die den Arbeitern zur Verfügung standen.

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