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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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ZWEITES BUCH

1. Kapitel

Hart lag der Winter über Siebenwasser. Es war wenig Schnee gefallen in diesem Jahr. Doch die Luft klirrte vor Frost.
Uber die kahlen Felder strich ein eisiger Wind. Er biss sich durch die Ritzen der Häuser und trieb die Wärme in die Öfen zurück.
Zu Hunderten kamen die Tiere aus den Wäldern in die Nähe der Dörfer. Viele starben, bevor sie die Futterplätze erreichten. Die Erde riss unter der Kälte. Zwischen der oberen und der unteren Brücke hatte sich das Eis gestaut. Block schob sich über Block, und die vom Nordwind gehärteten Spitzen der Schollen stießen hoch bis ans Geländer. Eisiger Staub wirbelte durch die Straßen. Die Büros und Fabriken arbeiteten verkürzt, die Schulen waren geschlossen, denn das Feuer war machtlos gegen die Kälte. Da brach in einer Nacht unter gewaltigem Getöse das Eis. In der Mittagsstunde war der Wind umgeschlagen. Ein trockener, warmer Föhn jaulte durch das Tal. Er schlug in die Kamine und trieb den ätzenden Rauch in die Stuben. Er schmiss die Ziegel
von den Dächern, und als der Abend kam, steigerte er sich zum Sturm. Das Licht erlosch fast stündlich in Siebenwasser. Telefonmasten stürzten quer über die Landstraßen. Eine breite Schneise der Vernichtung riss der Sturm durch den Wald. Der Bruch des Eises war begleitet von einem tiefen Grollen. Es begann unterhalb des Hügels, auf dem das Gut Weißenfels liegt. Unter dumpfen Schlägen setzten sich die Schollen in Bewegung. Donnernd krachten zwei Holzbrücken ein, ein gefrorener Kohlenkahn zersplitterte in Fetzen, dann schoss es hinunter in wütendem Gefäll nach der Brücke in Siebenwasser. Hier staute sich das Eis zu einer gewaltigen Barriere. Es riss das Gelände hinweg. Immer dumpfer wurde das Grollen. Darüber pfiff der Föhn in hellem Diskant.
Vier Stunden dauerte der Kampf. Da, als der Morgen in dünnem, vorsichtigem Licht über die Berge kam, erschütterte ein gewaltiger Schlag die Luft. Krachend schoss das Eis in die Höhe, dann stürzte es über die Brücke und zwischen den Pfeilern hindurch in die rasenden Fluten.
Die Menschen von Siebenwasser hatten an ein Erdbeben geglaubt. Sie waren aus den Häusern gestürzt. Erregend klangen die Signale der Feuerwehr durch den beginnenden Morgen. Doch die Brücke stand. Ein wütender Sturm schüttelte das Land.

Gerhard Träger saß in seiner kleinen Küche. Die Schindeln klapperten, als trommle der Tod auf das Dach. Drei Tage ging das schon so. Gestern war ihm der Schornstein eingestürzt. Jetzt schlug der Wind bis hinab in den Herd. Im Zimmer war es überhaupt nicht auszuhalten. Dort brach der Föhn durch den offenen Kamin und schmiss die Scheite von der Brandstätte. Seit drei Tagen lebte Gerhard Träger in der Küche. Er hatte das Feldbett hereingezogen. Den Tisch hatte er neben den Herd gestellt. Auch die Lichtleitung war futsch. Der eingestürzte Schornstein hatte die Drähte mitgerissen. Die Petroleumlampe schwitzte. Bei jedem Windstoß duckte sich das Flämmchen.
Träger hatte sich den alten Waffenrock angezogen. Der hielt wärmer als das SA.-Hemd. Im Dorf wütete die Grippe. Man musste Kognak trinken, Kognak. Das ölt das Herz.
Er goss sich ein Wasserglas voll. Der Föhn hatte das Haus gepackt. Die Türen bebten. In der Küchenlade klapperte das Geschirr. Äste flogen wider die Fenster. Im Keller rumorten die alten Kisten. Gerhard Träger schlug die Decke enger um die Beine, zog die Lampe nahe an den Schreibblock heran, goss das Glas Kognak in den fröstelnden Körper, dann begann er: „Mein lieber Hans! Ich habe mich in die Küche verkrochen, um Dir endlich auf die Briefe zu antworten, die ich Undankbarer so lange ohne Antwort ließ. Aber jetzt habe ich die richtige Stimmung, der Föhn heult ums Haus, das dröhnt und tobt und jachtert. So das richtige Wetter für einen Frontsoldaten. Bin nur froh, dass unser Herrgott auch kein Pazifist ist. — Um aber gleich auf Deine Frage zu kommen, so will ich Dir sagen, dass ich das alles gut verstehe. Das Leben ist keine Einbahnstraße, und nur die Dummköpfe kennen den Zweifel nicht.
Du brauchst Dich also gar nicht zu entschuldigen, wenn Dich plötzlich Gedanken quälen. Das ist gut so, man darf nur nicht drin steckenbleiben in den Zweifeln, sonst wird man einer von jenen Intellektuellen, die aus den Zweifeln ihrer Jugend ein Geschäft für das Mannesalter machen. Du weißt, wie der Führer über diese graugewordenen Pubertätsfratzen denkt. Taube Nüsse, die noch den Anspruch erheben, dass man sie knacken soll... Was Dich quält, ist natürlich eine echt deutsche Sache. Und Du kannst mir glauben, dass wir alle in der Bewegung nicht nur Verständnis haben für Deine Skrupel, sondern dass wir Dir helfen werden, wo wir nur können. Und Du sollst froh sein, dass die Bewegung und der Führer da sind, denn ohne sie würdest Du, Dir allein überlassen, bei Deiner Intelligenz und Wahrhaftigkeit vielleicht dort enden, wo viele prächtige deutsche Jungens der Vorkriegszeit gelandet sind: in der Anarchie, im Zynismus oder in einem frühreifen, fruchtlosen Weltschmerz. Das ist ja das Große, das Adolf Hitler geschaffen hat: diesen Auffang all der Verzweiflung, die durchs Volk geht, diesen festen Halt für eine Jugend, die nicht weiß wohin, und die es ablehnt, bürgerlich fett zu werden. Aber davon später.
Du fragst: Wie steht es mit der Gerechtigkeit? Und Du gehst dann ganz konkret auf das Ziel los, indem Du sagst: ,Bis vor wenigen Monaten glaubte ich, dass alles richtig und gut sei, was die Partei tut und sagt. Als ich aber jetzt das Wort vom Köpferollen las, ergriff mich ein Schrecken, und ich konnte es gar nicht verstehen, wie hier die Kameraden auf dem Gymnasium in Hanau sich freuen konnten über dieses Wort. Ich habe lange nachgedacht, aber ich kam zu keinem Ende. Nun traf es sich, dass ich hier in der Klasse einen Juden kennenlernte, einen unerhört stillen und feinen Menschen. Ich bin oft bei ihm auf der Bude. Er hat eine ausgesuchte Bibliothek, und ich kann Dir sagen, so zärtlich wie den habe ich noch niemand über unsere Dichter sprechen hören. Ist das nun ein schlechter Mensch? Er ist bei der sozialistischen Arbeiterjugend organisiert, die hier in Hanau sehr stark ist. Einmal hat er mich mitgenommen zu einem Nestabend. Ich muss Dir sagen, die Jungen und Mädels dort, Gerhard, die haben mir einfach gefallen. Auch sie wollen von diesem Staat nichts wissen. Aber sie wollen einen anderen Sozialismus als wir, den wissenschaftlichen, wie sie ihn nennen. Wie ist das nun? Müssen die alle zugrunde gehen, wenn wir siegen? Ich bin ganz hilflos...'" Gerhard Träger überlas die Zeilen. Da war nichts von dem dumpfen Trotz der Bauernburschen aus dem Dorf, die aus Lust am Soldatenspielen und aus Zorn über die falsche Bauernpolitik der Regierung zur SA. kamen, nichts von der verhärteten Grausamkeit jener Kleinbürger, die wie Hungrich zur Partei gestoßen waren, um sich für ihr kleines, geducktes Beamtendasein zu rächen — hier mischten sich reiner Glaube und reiner Zweifel ohne Spekulation zu einem menschlichen Anstand, für den manche Kreise in der Partei nur das Wort liberalistisch übrig hatten.
Der Offizier dachte nach. Er liebte Hans. Was sollte er ihm sagen? Der Junge schrie nach Gerechtigkeit.
Er stand vor dem Zwiespalt der Welt. Klar erkannte der Offizier, dass der Kollektivhass, den der Nationalsozialismus systematisch erzeugte, jene fürchterliche Klippe war, an der man nur mit zusammengebissenen Zähnen, geschlossenen Augen und einer völligen Niederknüppelung persönlicher Gedanken oder sonst überhaupt nicht vorüberkam. Hier war die große Wasserscheide zwischen gestern und morgen. Mit dem untrüglichen Instinkt seiner Jahre hatte sie der Junge aufgespürt. Es galt ihn zu retten.
„Mein lieber Hans, ich habe mir Deine Sätze hin und her überlegt. Der Konflikt, in dem Du stehst, ist mir nicht unbekannt. Ich war in Deinem Alter, als ich in den Krieg zog. Mein Lieber, damals dachte ich ähnlich, nur waren es nicht die Juden und die Marxisten in diesen Tagen, sondern die Franzosen und die Engländer, gegen die ich jetzt schießen sollte. Auch ich habe nach der Gerechtigkeit für den einzelnen gefragt. Mein Vater, der Professor, hatte Freunde gerade in diesen Ländern, herrliche Menschen. Aber was half das? Was gilt der einzelne Mensch, wenn es sich um die Nation handelt! Und als ich den feldgrauen Rock anhatte und um mich die großartige Kraft des Vaterlandes spürte, da gab es für mich kein Denken mehr. Da dachte ich nicht mehr an die Gerechtigkeit. Da war es vorbei, und ich war einfach Soldat. Und so ist es auch heute, lieber Hans, auch wir sind Soldaten. Der Feind steht im Land. Das ist kein Frieden. Das ist ein verlorener Krieg! Das ist kein Staat. Das ist eine lächerliche Versicherungsgesellschaft. Mag der einzelne sein, wie er will, es geht nicht um ihn, es geht um Deutschland. Das zu denken haben wir in den Schützengräben gelernt. Es geht immer noch um Deutschland wie damals. Heute mehr denn je. Einmal muss das Reich erstehen, und wir sind seine Soldaten, wir haben nichts zu denken als: Deutschland!" Der Offizier überlas die Zeilen. Sie kamen ihm ein wenig pathetisch vor. Aber es galt ja nur, die große Linie hinzumalen.
„Und was die Juden angeht, so bitte ich Dich, jeden Gedanken an eine Gerechtigkeit zu vergessen. Sie gehören nicht zu uns. Sie sind nicht von unserem Blut. Und nur das Blut bindet. Das ist die große Idee unseres Jahrhunderts, aufgestanden aus den Schützengräben. Lass die Juden aus dem Spiel. Der große Traum von Deutschland kann nur ohne sie verwirklicht werden. Mensch ist nicht gleich Mensch. Vergiss das nicht!"
Der Offizier hielt inne. Draußen heulte der Sturm. Die Lampe flackerte.
„Lieber Hans, vielleicht wirst Du sagen, all diese Worte hülfen Dir nichts. Es seien eben Worte, und Dein Gefühl sei preisgegeben der Wirklichkeit. Aber Du siehst es ja, es ist kein Kindergarten, in dem wir spielen und Blümchen pflücken. Es ist eine verdammt ernste Zeit. Lass Dein Herz kalt werden und schnalle den Sturmriemen fester. All das, was wir in uns niederknüppeln, wird einst belohnt werden. Es geht nur darum, Deutschland zu befreien, es groß und stark zu machen. Schau nicht hin, was auf der Strecke bleibt. Das Ziel ist größer als das Unrecht, das wir tun müssen!"
Gerhard Träger überlegte. Dieser Brief durfte keine Philippika werden. Er hatte es immer als falsch empfunden, die Leute sozusagen positiv abzukanzeln, wie es manche Führer so gern taten. Auch Hitler ist nicht frei davon. Das macht hektisch, und diese Farbe hatte die Bewegung in den letzten Wochen etwas zu sehr abgekriegt. Vorsichtig strich er sich über den Kopf, als wolle er die schweren Worte hinweg scheuchen und ein wenig Platz machen für die leichtere Rede.
„Aber das Beste ist, Du setzt Dich jetzt auf die Hosen und machst Dein Abitur. Du hast schon viel gegeben für unsere Sache. Es ist Zeit, dass Du von der Penne wegkommst. Lieber Junge, schicke gleich ein Telegramm, wenn Du es hinter Dir hast. Ich hole Dich dann ab mit dem Wagen. Da staunst Du? Ja, der Sturm hat jetzt einen richtigen ausgewachsenen Wagen. Ein bissel klapprig in der Karosserie, aber er fährt! Der Fabrikant Weber hat ihn uns geschenkt. Sicher hat er gedacht, gut ist gut und besser ist besser. Schlimmer als die Roten werden die nicht sein. Also rechtzeitig vorbeugen. "Wir haben ihn natürlich genommen. Aber gelacht haben wir doch. Der wird Augen machen bei unserer Revolution. Wir sind doch keine Sozialdemokraten. Apropos, hier in Erlenbach haben wir jetzt auch eine Reichsbannergruppe. Reichsjammer nennt sie Dr. K. Der ist überhaupt großartig in der Propaganda. Vorläufig tarnt er sich noch. Er gibt uns glänzende Tipps, und ein Material über die Rathausbonzen in Siebenwasser, toll! Du wirst Dich überhaupt wundern, wenn Du hierherkommst. Wir haben herrlichen Zulauf, Jungbauern hauptsächlich, aber auch viele Pennäler, und denk Dir, sechs Arbeiter. Die hat der Pg. Winkler besorgt. Du erinnerst Dich. Er hat damals den Skandal bei dem Zuckmayerstück gemacht und ist nachher zu dieser Person gezogen, wie sich die Bürger ausdrücken. Nun, diese Person hat sich als ein brauchbares Wesen entpuppt. Zweimal in der Woche hat der Jürgen seine Diskussionsabende mit Marxisten. Die Person hat ihn mit einem kommunistischen Funktionär bekannt gemacht. Die diskutieren nun so in den Kneipen herum, dass es eine Lust ist. Oft setzt's Prügel, aber vom Sturm sind immer genügend Leute da.
Hungrich hat sich ganz auf den Antisemitismus geworfen. Das Diskutieren mit den Kommunisten ist ihm zu gefährlich. Er tritt nur in bürgerlichen Versammlungen auf. Die Leute lachen ihn aus, aber es bleibt doch immer etwas hängen. Wir machen vorläufig nur kleine Versammlungen bei den Bauern und manchmal in Orten mit gemischter Bevölkerung. Der Sturm auf die Bürger wird erst losgehen, wenn in München die Richtlinien ausgearbeitet sind. Kalahne war dort. Er hat das Köpfchen für solche Sachen. Ich bin etwas skeptisch. Es geht den Leuten noch zu gut. Überhaupt geht es in Siebenwasser gut. Die Handwerker schmunzeln bis hinter die Ohren. Schrader ist Oberbürgermeister geworden, die weiche Seele. Aber er hat einen tollen Dusel entwickelt. Denk Dir, da kommt vor ein paar Monaten, gerade als Du nach Hanau gingst, ein Amerikaner in die Stadt, entpuppt sich als alter Siebenwasserianer und hat eine volle Geldkatze. Das Gut Weißenfels hat er gekauft. Der Stadt hat er eine Anleihe besorgt. Beteiligt ist er an der Schlachthausgesellschaft, an der Theater-AG., und die Handwerker, die verdienen an ihm, dass es nur so eine Art hat. Das ganze Gut hat er umgemodelt. In fünf Vereinen ist er Ehrenmitglied. Ich habe mir den Geldindianer einmal angesehen. Frau von Berg machte einen ihrer großen Abende, wo alle Richtungen vertreten waren. Die verwechseln uns immer noch mit einer Richtung! Es war sehr komisch, wie sie alle um den Amerikaner herumgeschwänzelt sind. Dabei ist der Mann gar nicht uneben. Sieht ausgezeichnet aus, denkt klar, aber alles in ihm ist durch einen furchtbaren Hass auf die Preußen bestimmt. So etwas gibt es noch! Ich kam mit ihm ins Gespräch. Alles staunte natürlich, dass er sich mit mir einließ. Die Frau von Berg war geschwollen vor Stolz, dass sich in ihrem Haus so die Gegensätze vereinten. Kalahne, machte ein eisiges Gesicht, denn der Amerikaner kann ihn nicht leiden. Nun, wir sprachen also ganz ruhig und sachlich. Und ich muss schon sagen, alle Achtung vor dieser Weitläufigkeit. Der Mann kennt sich aus in den Staaten, großartig. Aber von Deutschland hat er keine Ahnung. Er glaubt an unsere Demokratie. Er sagte wörtlich, Deutschland sei berufen, jetzt nach dem Zusammenbruch des preußischen Nationalismus seine große Weltsendung wieder aufzunehmen. Diese große geistige Mission der Deutschen beginne, wenn sie als erstes Volk den Nationalismus in sich überwänden und in edlem Wettstreit mit den Nachbarn ein Europa zu errichten trachteten, das endlich wieder die seit dem
Dreißigjährigen Krieg verlorene Einheit des Abendlandes aus der Kraft und den Tugenden eines neuen, großen und friedlichen Zeitalters entwickeln werde. Ich habe mich lange mit dem Utopisten gebissen. Ich habe ihm gesagt, gerade das, was uns im Dreißigjährigen Krieg zerschlagen worden sei, nämlich die Schaffung einer Nation, das müsse jetzt nachgeholt werden. Darauf wurde er furchtbar böse. Wieder einmal würden die Deutschen ihr Schicksal falsch verstehen. Die Welt hielte das Zwangsjackett der Nationen überhaupt nicht mehr aus, und wenn wir es auch noch versteiften, dann ersticke sie."
Gerhard Träger legte die Feder zur Seite. Der Wind pfiff elend durch den Spalt unter der Tür. Der Offizier goss sich ein neues Glas Kognak ein. In knappen Schlücken trank er es aus. Er musste lachen, wenn er an Bäuerle dachte.
„Siehst Du, lieber Hans, so ist diese internationale Bürgerwelt. Ein geistreiches Durcheinandergerede. Sie wissen nicht, was sie wollen, und deshalb wissen sie auch nicht, was sie tun. Wir sind ärmer als sie. Wir haben auch nicht so kluge Gedanken. Wir kennen auch nicht die Welt, wie sie von sich so strahlend erzählen. Aber wir kennen unser Volk. Und nicht wahr, nur auf das kommt es an. Höher wollen wir ja gar nicht hinaus. Wir sind ja so demütig. Wir wollen ja gar nicht mehr als Deutschland. Was geht uns die Welt an. Gibt es das überhaupt, die Welt? Ich zweifle daran... Und deshalb stehe ich so blindlings zum Führer, weil er dieses Phantom Welt zerschlagen hat. Weil er uns mit der Nase auf den Boden stößt und uns in die Ohren schreit: Hier gehörst du hin! Hier, nach Deutschland!" Gerhard Träger atmete tief. Die Worte, die er geschrieben hatte, erregten ihn. Er sah Hans vor sich, das knabengläubige Gesicht, er spürte den Jungen ganz nahe vor seinem Atem, er musste ihn retten. „Und deshalb sage ich Dir, nicht nur als Pg. und als Dein Sturmführer, auch als Freund und als Mann, der in seinem Leben nichts anderes getan hat, als seine Haut für das kommende Deutschland hinzuhalten, der es gern auf sich nahm, in das Gefängnis dieser Republik zu gehen, weil er einen Verräter niederlegte, der es gern auf sich nimmt, kein Geld zu haben und hier in dieser Bauernbude kleine Organisationsarbeit zu tun, der sich nicht herangedrängt hat an die Fettnäpfe dieses Staates, Hans, glaube mir, es gibt nichts als blinden Gehorsam. Wir waren Kinder, und dann wurden wir Soldaten. Das sind wir geblieben. Wir haben kein Privatleben mehr. Und auch Deine Generation zieht von der Kindheit in den Krieg. Grüble nicht, gehorche! Ein einziger Mann denkt für uns. Wir haben nur die Pflicht, aufzustehen, wenn er uns ruft."
Der Offizier schlug die Decke enger. Mit mächtigem Griff hatte der Sturm das Haus gepackt. Ruß schlug in die Küche. Vor dem Fenster ächzten die Bäume. Gerhard Träger wollte den Brief überlesen. Er war sich klar, dass das, was er geschrieben hatte, eine merkwürdige Mischung aus Wille und Gefühl war. Jetzt, da er allein war, sollte er es sich verschweigen, dass er ähnlich dachte wie Hans? Waren nicht seine Worte Narkotika, die er brauchte, um auch sich zu beruhigen? Aber was half das: das Wissen um sich selbst? Es kam darauf an, gerade zu stehen. Es kam darauf an, einen Angriff vorzubereiten, einen Sieg zu erringen, einen Gegner zu schlagen, und besonders den in der eigenen Brust. Nur nicht grübeln über sich selbst, das verwirrt das Gemeinsame. Wachs in den Ohren, den Leib an den Mastbaum geschnallt, so segeln wir durch die Zeit.

 
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