9. Kapitel
  Der Postsekretär Dern dröhnt durch das Zimmer. Mit der Reitpeitsche  schlägt er auf den Tisch, auf die Stühle, auf das Büfett, sogar auf die  Topfpalme neben dem Sofa. Jetzt bleibt er stehen. Regungslos steht er  da. Ein Gebirge aus Muskeln und Fleisch. Seine wasserblauen Augen  starren auf den Tisch. Da liegt der Brief. Aus München. Ein Freund hat  ihn geschrieben, einer, der ganz nah beim Führer ist und Bescheid weiß.  
      „Ich kann's nicht hindern. Der Träger kommt im Januar zu  Euch. Offizielle Kontrolle. Ist ein verdammter Reinlichkeitsapostel.  Habt Ihr Dreck am Stecken, dann putzt schnell blank!" Dern sieht  weg. Es wird ihm rot vor den Augen. Der schwere, massige Mann ringt  nach Atem. „Dir werd ich's", keucht er, „dir werd ich's..." Aber wieder  drängt es ihn zu dem verfluchten Papier dort auf dem Tisch. Was steht  da noch? Was?  
      „Postskriptum:  Muss Euch einer verpfiffen haben in Siebenwasser." 
    „Der Doktor", brüllt Dern, „der Hinkepoot... der Krüppel... der  bucklige Hund..." Die Reitpeitsche klatscht auf den Stuhl, sie fegt  wider die Wand, mit einem Hieb fliegt die grünliche Glasbowle von dem  Büfett und zerspringt mit lautem Knall auf dem Boden.  
    Erleichtert atmet der Postsekretär auf. Er horcht. Niemand kommt. Er  hat sie hinausgejagt aus dem Haus, Frau, Sohn, auch die Herta darf ihm  nicht unter die Augen. Nein, das macht er allein durch. Nur mit  Hungrich wird er sprechen, denn den geht's auch an, weiß Gott.  
    Und wieder stapft er durch das Zimmer. Die Scherben der Bowle knirschen  unter seinem Schritt. Kontrolle... Kontrolle... Ja, damit ihr's wisst,  zwölftausendsechshundert Mark fehlen in der Kasse,  zwölftausendsechshundert, über die ich keine Belege hab. Er hat es ganz  laut gesagt. Und schon brüllt er: „Bin ich ein Koofmich? Bin ich ein  Buchhalter? Ein Soldat bin ich! Dein Soldat!" Er steht vor dem Bild des  Führers. Er sieht die handschriftliche Widmung. Er sieht die Augen, und  plötzlich muss er lachen, fürchterlich lachen muss er. Was dieser  Doktor sich einbildet. Stänkert da in München herum. Der da ist treu,  ja, treu ist er. Dreizehn Jahre dien ich dir wie ein Hund, und jetzt  glaubt da so ein Hinkepoot, der noch nicht mal ein Weib fertigmachen  kann, du würdest mich wegen der lumpigen Kröten...  
    Dern ist  fröhlich. Ein Blick in die Augen des Führers, und alle Sorgen schwinden.  
    Er genehmigt  sich einen Kognak. Es ist das achte  
    Gläschen an  diesem Nachmittag. Aber was vorher der Zorn und die Wut verschlang, das fällt  jetzt wie Öl auf die Seele.  
    Hungrich findet den Postsekretär in einem glücklichen Rausch. Er sitzt  am Tisch, die Kognakflasche neben sich und malt auf einem Papier.  „Zwölftausendsechshundert lumpige Mark Defizit, demgegenüber stehen  allein in Siebenwasser elftausenddreihundertundsiebenundneunzig    Seelen", liest Hungrich auf dem Schreibblock. Was das bedeute? fragt  Hungrich. Lächelnd gibt ihm Dern den Brief. Aber sein Lächeln erstirbt,  als er Hungrichs Gesicht sieht. Grünlich ist es angelaufen, alles Blut  ist aus den Lippen gewichen. „Was ist dir?" schreit Dern und gießt  rasch einen Kognak ein. Hungrich lehnt ab. „Der Krüppel", zischt er,  „das hat der Krüppel getan!" Dern lacht. Vergnügt lehnt er im Sessel.  „Was der sich einbildet", lacht er, „morgen fahr ich nach München!"  „Sinnlos", antwortet Hungrich, „du wirst nicht vorgelassen."  
    Jetzt ist Dern aufgesprungen. „Ich nicht vorgelassen?" brüllt er,  „ich... bei meiner Vergangenheit?" „Nützt dir gar nichts. Die haben  jetzt andere Sorgen."  
    „Mein Führer ist  immer für mich da!" Stolz steht Dern vor dem Tisch.  
    „In drei Wochen vielleicht... aber gerade jetzt? Du weißt doch, die  verhandeln eben!" „Verhandeln? Ein Adolf Hitler verhandelt nicht!" Der  Gauleiter wendet sich ab und schreitet ernst und feierlich durch das  Zimmer.  
    Hungrich putzt sich den Zwicker. „Du bist ein Kind", sagt er, „glaubst  nur, was da in den Parteiblättchen steht. Aber ich sag dir: sie  verhandeln. Und damit du's genau weißt, erstens, weil dieser verdammte  Schleicher uns fast zwei Millionen Stimmen abgenommen hat, zweitens,  weil kein Geld mehr da ist. Logisch, nicht wahr? Und es ist richtig,  dass sie verhandeln. Denn du weißt es ja selbst — es muss etwas  geschehen, und zwar rasch. Wir können die Leute nicht von Halbjahr zu  Halbjahr vertrösten, und wie es um einen Putsch bestellt ist, solange  der olle Hindenburg noch oben ist, das weißt du auch. Also  verhandeln... mit den Kapitalisten, mit der Reaktion, mit den Junkern,  meinetwegen, wenn es nur klappt. Denn die Sache ist verdammt eilig.  Noch so eine Schleicherwahl, und wir sind die SPD. von rechts. Aus ist  der Traum."  
    Regungslos steht der Gauleiter im Zimmer. Er starrt Hungrich an. Hinter  den Fenstern neigt sich der Tag. Schiefergrau senkt sich die Dämmerung  über die Stadt.  
    „Ja, ja, lieber Otto, jetzt denk einmal ganz scharf mit und lass den  Kognak beiseite. Also, nicht wahr, wenn sie eben verhandeln, dann  brauchen sie doch die Leute in der Partei, die Beziehungen zu den  andern haben, also, ich meine zur Reichswehr, zur Industrie, zu den  Kohlköppen dort im Osten... etcetera... etcetera... Das ist doch  logisch, nicht? Und jetzt denk mal wieder ganz scharf mit, nur einen  Moment, und dann wird dir ein Licht aufgehen. Der Träger, nicht wahr,  der gehört doch zu diesen Leuten, der hat doch höllisch viel Fäden  laufen nach der Armee, und hinter dem Träger, da steht eine ganze  Clique in der Partei, und diese Clique, Otto, die ist Leuten wie uns  nicht grün. Für die sind wir halt immer noch die Feldwebel von früher,  und es hat gar keinen Wert, dass du herumtobst, das ist einmal so." 
    Die beiden Männer sehen sich kaum. Das Zimmer liegt im Dunkel. Nur der  unruhige Schein der Straßenlaternen fleckt die Wände.  
    „Das weiß der Kalahne genau. Das Aas kalkuliert gar nicht schlecht.  Seit Wochen gehen geheime Berichte über uns nach München. Uber unsern  Lebenswandel, wie oft du besoffen bist, Otto... braus nur nicht auf...  wie hoch deine Rechnungen sind beim Schneider, im ,Blauen Bären', bei  Mutter Döring... und dass du dir einen Flügel angeschafft hast, und den  kleinen Opel, und dass die Herta Diefenbach sich hat Goldkronen  einbauen lassen, und mit dem Grab deiner Mutter, weißt du, das neue  Denkmal mit der ergreifenden Figur aus Marmor... vor nichts schreckt  der Bursche zurück, nicht einmal vor der kleinen Jagd, die ich mir  geleistet hab..." „Kleine Jagd?" tönt es da aus dem Dunkeln, „klein  nennst du die? Und die Gewehre und das Motorrad und der neue  Gasbadeofen und das Hakenkreuz aus Vergissmeinnicht im Garten und nur  noch Pilsner?" „Ich gönn dir ja auch deine Erholung." Sie schweigen.  Ihre Blicke suchen sich im Dunkel. Ohne dass es der eine vom anderen  weiß, haben beide die Arme verschränkt.  
    Es dauert lange,  bis sich der Postsekretär bewegt. „Und du meinst also, der Träger kommt  her?"  
    „Leider  ja." „Und dann?"  
    „Feierlicher Rüffel, alle Parteigelder gehen an Kalahne, dann hat er  uns in der Hand." „Du meinst also... wir... sind... dann... wieder..."  
    „Feldwebel wie  früher", lacht Hungrich. „Und wenn es losgeht?"  
    „Dann wird der  Krüppel bestimmen, ob du vielleicht nach dreizehn Jahren Kampf Postdirektor  wirst."  
    Drei Schritte durch die Dunkelheit. Hungrich fühlt sich an der Schulter  gepackt. „Du", schreit Dern, „der Träger muss weg. Schaff mir den  Träger weg." Er fällt in den Sessel zurück. „Postdirektor", murmelt er,  „ihr seid wohl wahnsinnig... Postdirektor, weiter nichts als  Postdirektor?"  
   
    Müde ist Schickedanz von der Redaktion nach Hause gekommen. Bis zum  Abend hatte er an Vater Allwohns Aufsatz „Der nordische Mensch und die  Vivisektion" herumredigiert — es war ein abscheuliches Gemisch aus  Tierliebe und Judenhass, aber Kalahne bestand darauf, dass die Arbeit  erschien. Man war in den letzten Wochen sehr zahm geworden in der  politischen Redaktion des „Alarm". Die herrlichen Attacken, die Kalahne  noch im Sommer gegen diesen Herrn von Papen ritt, waren verstummt — der  großartige Kampfruf gegen die Junker und gegen die Schwerindustrie  wurde über Nacht abgeblasen. Oh, damals war Schickedanz mit dem Herzen  dabei. Es war eine Lust zu leben, als Kalahne in jeder Nummer die  Reaktion zu Paaren trieb, und niemals hatte die Partei so revolutionäre  Tage erlebt wie in jenem Juli, als sie aufzustehen schien gegen die  alten Mächte des Besitzes und des Kapitals. Millionen waren zu ihr  gestoßen, Millionen von kleinen Bauern, Arbeitern und vor allem die  Jugend. Ja, sie stand da, bereit aufzubrechen gegen die Burgen im Land  und sie niederzulegen, wie ihre Vorfahren, die Bauern vom Bundschuh es  taten, bevor sie verraten wurden. Aber dann, im November, war der  furchtbare Abfall geschehen. Ein General war aufgestanden gegen die  Welle, und die Bürger waren in Scharen zu ihm gelaufen, aus Angst vor  der antikapitalistischen Sturmflut. Und plötzlich schwieg Kalahne,  plötzlich war nichts mehr zu lesen von der hauchdünnen Oberschicht, die  das Volk ausbeute — plötzlich war es wieder die jüdische, die  marxistische, die bolschewistische Gefahr, die man brandrot auf die  Seiten malte.  
    Schickedanz hatte geschwiegen. Er verstand nichts von Politik, und  außerdem hatte er Schulden. Schweigend gab er die Leitartikel in Satz —  diese geschickten Verbeugungen vor dem deutschen Unternehmerfleiß, vor  dem preußischen Schwertadel, vor dem Gutsbesitzer von Neudeck. Er  dachte nicht nach, er biss sich auf die Zunge, er soff, und er war  glücklich über jede fünf Mark, die ihm Kalahne über sein Gehalt hinaus  bewilligte. Ach, undurchsichtig war der Doktor, undurchsichtig wie das  neue Jahr, das langsam emporstieg, undurchsichtig wie der Nebel dort  vor dem Fenster.  
    Schickedanz nimmt das kochende Wasser vom Primuskocher, er übergießt  den Tee, ein Achtel Schinken hat er sich heute geleistet, trotz der  drei Monate Mietrückstand und der langen Latte bei Mutter Döring.  
    Er schlürft den Tee und beginnt zu essen. Mit kauendem Mund geht er zum  Sofa. Er fasst unter den orientalischen Behang und holt die Flasche mit  dem Rumverschnitt. Das wärmt. Die alte Naumann hat natürlich wieder  nicht geheizt wegen der restlichen hundertfünfundvierzig Mark. Und die  Bücher dort sind gepfändet, und der Koffer und der Fotoapparat und die  kleine Empireuhr, die noch von der Großmutter stammt, sind es auch.  Schickedanz hüllt sich in eine Decke und liest. Jeden Abend nimmt er  sich von der Redaktion einen Pack Zeitungen mit: die „Frankfurter", die  „Voß", das „Berliner Tageblatt" und den „Völkischen Beobachter". Das  Wortgeklingel tut ihm wohl. Wie die Herren da auf ihren Pferdchen  traben — die „Frankfurter" kommt immer auf dem weißen Zelter der  Vernunft. Zum Lachen, wenn die zum Beispiel die Jugend  apostrophieren... Eine Persönlichkeit werden, nach der Verantwortung  leben... Schickedanz überlegt, ob er die zweite Scheibe Schinken essen  oder für morgen aufheben soll, dann rechnet er nach. 1914 war ich zwölf  Jahre alt, da kam der Krieg. 1918 war ich sechzehn Jahre alt, dann kam  die Niederlage, Kaiser futsch, die Franzosen rücken in Rheinhessen ein.  1920 Inflation, Schieberei, Schmuggel von Kaffee und Seife ins  unbesetzte Gebiet... achtzehn Jahre. 1923 Ruhrkampf, Billionen in der  Hand, Hunger auf der Universität... einundzwanzig Jahre. 1924/25 aus  mit den Billionen, Hunger geblieben... dreiundzwanzig Jahre. 1926/27  Doktor gemacht über das Drama der Roswitha von Gandersheim, Kalahne  kennengelernt, stellungslos. 1928 nach Siebenwasser, „Fröhlicher  Weinberg", vierhundert Mark im Monat, davon zweihundert für  Schuldenabzahlung an die Winzerbank wegen des Studiumdarlehens... 1929  weg von der Zeitung, freier Schriftsteller, eije... 1930 Krise... 1931  Krrrrise... 1932 Krrrrrise... „Alarm", hundertzwanzig im Monat,  Schulden... gepfändet... dreißig Jahre alt. Schickedanz trinkt. Er  wirft die „Frankfurter Zeitung" auf den Boden. So, also eine  Persönlichkeit sollst du werden, Verantwortung sollst du haben. Meine  Herren! Wir haben ja bis heute überhaupt noch nicht gelebt! Eine  Zeitung nach der andern fliegt zu Boden. Ein fürchterlicher Hass sitzt  in dem dreißigjährigen Mann. Da lag seine Jugend, ein Hin- und  Hertaumeln zwischen unbezahlten Rechnungen, Gerichtsvollziehern,  ungeheizten Zimmern und hochtrabenden Zeitungsartikeln. Eine  Persönlichkeit? Oh, er war zu anständig gewesen, in Phrasen zu leben  und das Stroh einer abgelebten Welt zu dreschen. Er soff lieber, er log  lieber, er gehorchte Kalahne, obwohl er ihn hasste, er wollte von sich  nichts mehr wissen, er war nicht im Krieg, er war nicht im Frieden, er  stolperte durch geistiges Niemandsland. Nur einmal hatte er geglaubt.  Das war in diesem Sommer gewesen, als Kalahne gegen die Junker und die  Kapitalisten vom Leder zog. Da hatte es in seinem Blut rumort, und oft  sah er, wenn er träumte, das Land brennen und die Bauern und die  Arbeiter  
    unter der schwarzen Fahne marschieren. Aber das war vorbei. Das Schiff  trieb woanders hin. So dumm bin ich ja nicht, dass ich das nicht merke.  Fünfhunderttausend tote Juden machen noch keinen deutschen Sommer...  Und gegen die Pfaffen allein, das geht auch nicht. Er nimmt den „Alarm"  hoch, es ist die Nummer von morgen. Morgen ist Sonntag. „Die deutsche  Wandlung" steht da. Er liest, zum zehnten Mal liest er das heute: „Die  Wandlung des deutschen Menschen lässt die Jahrhunderte tanzen. Das  römisch-jüdische Christentum in Deutschland war eine Pseudomorphose des  germanischen Geistes, eine schreckliche, aber sie verbrennt wie Zunder  auf der stählernen Haut der jungen, erwachten Generation. Dies ist das  Wunder von Versailles. Die Niederlage hat uns bis zu den Wurzeln  gestoßen. Ein ganzes Volk kehrt zu seinem Urgrund zurück." „Lieber  Kalahne", brüllt da der Schickedanz, „mit Herrn von Papen zu den  Wurzeln zurück. Viel Vergnügen, du Lump!"  
    Schon aber duckt  er sich, greift nach der Flasche und trinkt.  
    Es schellt.  
    Die Wirtin, ein siebzigjähriges Geheimratstöchterlein, das sich zäh  gegen den Tod verteidigt, weil unser Herr Hitler die Juden und die  Roten noch nicht besiegt hat, öffnet. Der Pg. Hungrich sei da — und als  sie hinausgeht, flüstert sie: „So, Schinken können Sie sich leisten,  ei, wie interessant, ei, ei..." Bevor ihr Schickedanz, der nur rasch  den Rum unter das Sofa verstecken konnte, antwortet, ist Hungrich schon  im Zimmer.  
    Was ist denn nur? Der schaut sich ja um wie ein Bürger im  Absteigequartier. „Halten die dicht?" fragt er und klopft an die Wände.  Schickedanz lacht. „Die Alte draußen ist fast taub", sagt er, „die hört  erst wieder, wenn die Glocken läuten und der Adolf  
    „Du bist wohl  angenockt, he?" grinst der Hungrich. „Jawoll, ich sauf!"  
    Er holt den Rum. Jetzt trinken sie ihn pur. Nach einer halben Stunde  nickt Schickedanz. Hinter der glasigen Wand seiner Betrunkenheit sitzt  Hungrich und starrt ihn an. Ratte, verdammte. „Also, du kennst den  Jungen, ich meine, so, dass er nichts wittert?"  
    „Natürlich, er war oft bei Jürgen, netter Kerl." „Und von den Briefen  hat er erzählt?" „Ja, du Halunke!" „Danke... also du wirst?"  
    „Wie viel?"  Schickedanz springt auf, er haut auf den Tisch:  
    „Erst will ich  wissen, wie viel, du Schuft?" „Zweihundert."  
    „Nee... meine Seele ist mehr wert."  „Pathetischer Hammel... hundert sofort und hundertfünfzig beim  Abliefern."  
    „Her mit den  hundert!" Der Schein flattert auf den Tisch.  
    Fünfzig Flaschen Verschnitt, denkt Schickedanz, und viertausend Jahre  Fegfeuer. Er nimmt das Geld. „Ich bin ein Schwein", sagt er laut, „eine  Sau bin ich..." Aber dann lacht er los. Der Alkohol hat ihn am Kragen;  Hirn, Seele und Herz fliegen  
    ihm durcheinander. Ein höllischer Brei. „Der Träger, das geschieht dem  Träger recht... Haha... der verrät, du verrätst, alle verraten... um  was geht's denn überhaupt, sag, Ratte, um was?" „Um die Sauberkeit der  Moral", antwortet Hungrich, „damit du es weißt!"  
    Sie trinken und sie lachen, und Hungrich holt plötzlich eine Flasche  Kognak aus der Tasche... wie das läuft, wie das brennt... 'raus mit der  Seele aus dem armseligen Leib. Es ist spät in der Nacht, als sie nach  unten gehen. Schickedanz schwankt. „Ich hab so runde Füße", lallt er,  „kugelrund, sag ich dir, das macht glücklich, weißt du, glücklich macht  das..." Hungrich jedoch antwortet nicht. Er fasst Schickedanz am  Genick, zweimal stößt er ihm den Kopf wider die Mauer, nicht fest und  nicht leicht. „Du weißt, was dir passiert, wenn du nicht dichthältst?"  „Natürlich", antwortet Schickedanz, „ich kenne dich doch", aber  plötzlich, da wird es ihm kalt in der Brust. „Du", fragt er den  Privatgeometer, „sag, warum kommt ihr eigentlich immer zu mir, wenn ihr  einen Halunken..."  
    Er steht allein im Regen. Kalt und grau ist die Nacht. „He?" ruft der  Schickedanz noch, dann rennt er nach oben. Auf dem Tisch liegt der  Hunderter. Braun steht der Kognak in der Flasche. Er gießt sich ein  Wasserglas voll. Dann löscht er das Licht. Er zieht sich im Dunkeln  aus. Denn es ekelt ihn vor seinen Knochen.  
   
    Weit über den Hügeln des württembergischen Landes liegt der Schnee. Das  Märchen des Rauhreifs verzaubert den Wald. Die Äcker schlafen. Nur die  Spuren des Wildes unterbrechen manchmal das endlose Weiß.  
    Hans ist früh am Morgen in die Werkstatt gegangen. Er hat die Fenster  verhängt und die Tür verschlossen. Dann hat er die Farbtöpfe auf die  Drehbank gestellt, Violett und Karmin und ein zartes Orange. Das wird  der Himmel werden, denkt er, ja, ich mache den Himmel aus Violett und  Karmin. Er setzt die Farben an. Dann beginnt er das Holz  zusammenzufügen. Es waren vier Teile, zwei seitliche und eines für den  Kopf und eines für die Füße. Die seitlichen Teile waren flache Bretter.  An ihren Enden hatte er Zähne angebracht, indem er das Holz auskerbte.  Sie griffen in den Kopf- und in den Fußteil, die geschwungen waren wie  eine Lyra, aber nicht ganz so, eher wie ein Blumenkelch, der sich nach  unten verdickt. Wo er sich aber verdickt, da fassten ihn geschwungene  Kufen, so dass man das Ganze, wenn es stand, auf dem Boden hin und her  bewegen konnte, bis es von selbst zu schaukeln begann.  
    Lächelnd beugte sich Hans über die Wiege. Nackt und strähnig war das  Holz. Er nahm den Hobel und begann es zu glätten. Eine Stunde stand er  so. Die zarten Späne flogen über seine Finger. Draußen, hinter dem  Fenster, fiel der Schnee in leichtem Aufschlag vom Dach in den Hof.  
    Nachdem Hans die Wiege geglättet hatte, begann er sie zu beizen.  Dreimal musste er das Holz mit nussbraunem Firnis bestreichen. Bis zum  Abend wird es trocken sein. Dann kann er die Bilder darauf malen  
    — den Himmel aus Violett und Karmin, und später die Gottesmutter aus  zartem Orange. Er setzt die Wiege zu Boden. Er stellt sie in die Nähe  des Ofens. Dann geht er zur Werkbank, wo die Farben stehen. Ob das  Karminrot wohl reicht? Er hebt den Topf. Er wird nach dem Essen mit den  Skiern nach Siebenwasser fahren und frische Farben besorgen.  
    Nach Siebenwasser? Seit jenem furchtbaren Nachmittag hat er die Stadt  nicht mehr betreten. Er denkt nach. Er kann sich kaum noch erinnern.  Hinter einem Schleier liegt das alles, was mit ihm geschah. Er wendet  den Kopf. Er mag nicht hinsehen. Er will diese Wochen vergessen. Er  schämt sich vor ihnen.  
    Er war am Morgen, als er neben Irene erwacht war, still und ruhig zur  Arbeit gegangen. Er hatte das Futter für das Vieh gerichtet. Er hatte  in der Meierei die Zentrifuge repariert und im Keller ein viertel Stück  Wein in Flaschen gefüllt. Niemand störte ihn mit Fragen. Es wäre ihm  auch gleichgültig gewesen. Er hätte doch nicht geantwortet. In der  Nacht jedoch, als er allein war und die Lichter im Haus erloschen, da  hatte er das alte SA.-Hemd aus dem Schrank genommen, er hatte es  angezogen — vor ihm auf den Knien lag das zerknitterte Liederbuch—, und  er sang. Ja, er hatte gesungen. Alle Lieder, in deren Takt er  marschiert war, abends durch die Wälder, über die Wiesen und am Tag  durch die Stadt. Und es war ein Zucken in seine Füße gekommen, er war  aufgestanden, im Zimmer war er hin und her geschritten, die Hand hatte  er gehoben, und neben sich, vor ihm, hinter ihm lebte plötzlich der  Atem der Kameraden. Da war es über ihn gekommen. Er stürzte aufs Bett,  dort lag er und weinte. „Was hab ich getan?" rief er, „ach, ich habe  mein Leben verloren." Und es geschah, dass er die Schande vergaß, die  sie ihm angetan. Es geschah, dass er Hungrichs Hand nicht mehr sah,  nicht mehr die bleiche Kälte der Mutter — nur den Gesang hörte er, die  Fahnen im Wind und das große Rufen unter dem blauen Zelt, das  Deutschland hieß. In seiner Verstörung flüchtete er zu den Briefen des  Offiziers. Er holte die Kassette aus ihrer Verbannung im untersten Fach  des Schranks. Und plötzlich hatten ihn wieder die Worte gepackt, und er  zerbrach unter ihrer Gewalt.  
    „Mitleid ist die Religion der Schwachen", da stand es und lohte ihn an.  „Lasse Dein Herz kalt werden und schnalle den Sturmriemen fester. All  das, was wir in uns niederknüppeln, wird einst belohnt werden. Schau  nicht hin, was auf der Strecke bleibt, denn das Ziel ist größer als das  Unrecht, das wir tun müssen. Wir haben kein Privatleben mehr. Es gibt  nur blinden Gehorsam. Hans, Wachs in den Ohren, den Leib an den  Mastbaum geschnallt — so segeln wir durch die Zeit..." Wie hatte er da  aufgeschrien, als er diese Sätze wieder las. Ach, Gerhard, das ist es  ja, ich habe furchtbar geirrt... ich wollte ein einzelner Mensch  werden!  
    Und es war geschehen, dass er in seiner Verwirrung Briefe an den  Offizier schrieb, in denen er ihn anflehte, sie sollten ihn doch wieder  zurücklassen. Die niedrigste Arbeit wollte er tun. Ja, er wolle lieber  ein Verbrecher werden, als Deutschland verlieren. Und wenn dann die  Briefe im Feuer verbrannten, da wäre er am liebsten hinterher gestürzt.  Nächtelang lag er wach. Er dachte nicht an Irene. Er verbarg alles vor  ihr. Aber wenn er allein war, da öffnete er sich hemmungslos. Seine  Sicherheit, seine Bescheidung in ein bäuerliches Leben — sie waren  dahin, und nichts war geblieben als die fürchterliche Angst,  ausgestoßen zu sein und im Dunkel zu sterben. Viele Tage und Nächte  wütete er gegen sich selbst. Wie ein Hund, der die Koppel sucht,  winselte er. Er empfand keine Scham mehr, und sein Stolz war  niedergebrannt bis auf den letzten Stumpf. Dann aber war jener Morgen  gekommen, da Irene in der Halle zusammenbrach. Kreideweiß saß sie im  Stuhl, und sie krümmte sich, als stieße der Schmerz mit tausend Dolchen  auf sie ein. Sie hatten sie hinaufgetragen in ihr Zimmer. Sie hatten  sie entkleidet, und dann lag sie im Bett, bleich wie eine Tote. Bäuerle  war keuchend und fassungslos auf Hans gestürzt. Seinen Kopf hatte er  gepackt. Hin und her hatte er ihn gerissen, und geschrien hat er: „Was  hast du meinem Kind getan... was hast du meinem Kind getan?" Da hatte  sich Irene im Bett hochgerichtet — oh, der Schmerz zersägte fast ihr  Gesicht — aber sie antwortete: „Geliebt hat er mich... wie kein anderer  Mensch." Dann war sie zurückgesunken. Ruhig lag ihr Kopf im Dunkel des  Haars. Ja, sie versuchte zu lächeln, und sie streckte die Hand aus.  „Hans", sagte sie, „Hans, bleibe bei mir..." Und er war bei ihr  geblieben. Und er hatte ihre Hand gehalten. Und als sie schlief, da  wagte er nicht, sich zu bewegen. In dieser Stunde war es geschehen,  dass er wieder Mut in sich spürte. Es war nicht die frühere, drängende  Kraft seiner Jugend — es war eine stille, lautlose Erhöhung seiner  Seele. Es war die Geburt des Mannes in ihm. Als Bäuerle mit Dr. Wachtel  das Krankenzimmer betrat, wunderte er sich über die ernste Ruhe des  Jungen. Er ging zu ihm und gab ihm die Hand. Vierzehn Tage nach diesem  Anfall wurde Irene nach Heidelberg gebracht. Dr. Wachtel erklärte sie  außerhalb jeder Gefahr. Aber er riet zu einer Beobachtung in einer  Klinik. Mit Nierenattacken sei nicht zu spaßen. Es sei besser, man  beuge rechtzeitig vor. Ruhig und voller Sicherheit hatten sich Hans und  Irene getrennt. Er war bis zur ersten Brücke mitgefahren. „Hab keine  Angst um uns", hatte Irene gesagt, dann hatte sie ihn geküsst, und er  war still die verschneiten Hügel hinaufgegangen, zu seiner Arbeit auf  dem Gut.  
    Weihnachten war vorüber. Ein neues Jahr begann. Irene war immer noch in  Heidelberg. Täglich fuhr Bäuerle in die Klinik. Er dachte an nichts  mehr als an sein Kind. Er bestürmte die Ärzte, aber er konnte kaum mehr  erfahren, als dass keine akute Gefahr bestehe, nur Vorsicht müsse man  üben und Geduld. Wenn er abends mit Hans zusammensaß, sprach er nur von  Irene. Er sprach auch von Juana. Aber das war dasselbe. „Wenn ich sie  noch einmal verlieren müsste", sagte er, „das würde ich nicht  ertragen." Hans nickte. Auch er würde es nicht ertragen. Das wusste er.  So lebten die beiden Männer im Stillen Einverständnis vor der Gefahr.  Die Bedrohung Irenens war die einzige Wirklichkeit, die sie noch  kannten.  
   
    Nach dem Mittagessen hatte sich Hans auf den Weg gemacht. Er hatte die  Skier angeschnallt und fuhr den Serpentinenweg hinab. Die Sonne hatte  die Wolken durchstoßen. Ein eisiger Wind trieb über den grellen Schnee.  Hans erreichte den Fluss nach wenigen Minuten. Beim Stauwerk stellte er  die Skier ein, dann ging er zu Fuß. Nach der ersten Schleife sah er die  Stadt. Im weichen Pelz des Schnees, unter einem strahlenden Himmel  stuften sich die Dächer; und die taubengrauen Dächer von Sankt Andreas  ragten stark und ernst hinauf in das Licht. Als Hans die Drogerie  betrat, war sie leer. Er blieb vor dem Farbenkasten stehen. Das  kreisrunde Gehäuse war in viele Gefächer geteilt, in der Form von  Dreiecken, deren Spitzen sich im Mittelpunkt des Kastens trafen. Es war  drehbar, und wenn es in Bewegung geriet, verschmolzen die Farben zu  einer phantastischen Fläche. Langsam begann Hans, seine Farben  auszusuchen. Er betrachtete die Pulver wie geheimnisvolle Elixiere; auf  eine rätselhafte Art schienen sie ihm dem Menschen verbunden, wie  Beschwörungen gegen den Tod. Nach einer Viertelstunde hatte er zehn  neue Farben ausgewählt, vom tiefsten Schwarz bis zum hellsten Weiß, und  er sieht es schon, wie er unter den Himmel die Erde malen wird und auf  sie die Jahreszeiten, ja, das ganze menschliche Leben.  
    Hans hatte sich nicht umgedreht, als die Ladentür ging. Er war so in  den Anblick der Farben vertieft, dass er auch das Lachen des Verkäufers  nicht sah.  
    „Wie hoch ist  die Latte, die ich noch bei euch stehen hab?"  
    „Elf Mark  fünfundsiebzig."  
    „Also hier — das  wäre erledigt!"  
    Geld springt auf  den Tisch. Dicht vor Hans klirren die Stücke.  
    Der Verkäufer  streicht verwundert in seinem Kassenbuch herum.  
    „Ich könnte noch links auf die Seitenwand einen kleinen Garten malen  und darinnen einen Baum, an dem furchtbar viel zu essen hängt, und die  Mutter steht davor und pflückt es den Kindern ab... Ob das Grün da wohl  giftig ist? Aber ich könnte die Wiese auch ockergelb malen — das wäre  vielleicht lustig."  
    „... und jetzt also, lieber Rehbein, holen Sie einmal einen Korb.  Nein... zwei Körbe... und packen Sie mir fünfundzwanzig Flaschen  Rumverschnitt und zehn Flaschen Kognak ein. Deutschen natürlich!" Auf  der Theke landet im Gleitflug ein Hunderter. Der Verkäufer hält ihn  fest. „Geerbt?" fragt er und bleckt die Zähne. „Ja... vom ollen  Rothschild!" Jetzt lachen sie schallend. Hans dreht die Scheibe mit den  Farben. Der Rehbein klappt die Bodentür auf und steigt pustend in den  Keller. Plötzlich spürt Hans sich leicht am Arm gefasst. Er wendet sich  um. Schickedanz. In Uniform. Schickedanz streckt ihm die Hand entgegen.  „Kannst schon einschlagen. Rasch, eh der Rehbein kommt.  
    Pah! Im Übrigen, ich mach mir gar nichts draus. Erkläre das klipp und  klar überall, wenn du willst." „Danke", sagt Hans, „es ist wirklich  nicht nötig. Ich lebe auch so."  
    Er packt die Farben zusammen. Der Rehbein keucht die Treppe herauf.  Hans zahlt, und wie er die Münze in die Tasche steckt, spürt er, wie  eine Hand sich an ihn tastet und einen Zettel zwischen seinen Fingern  zurücklässt. Rasch geht er aus dem Laden. „Guten Tag", sagt er, und er  hört den Schickedanz „Servus!" rufen. Zweihundert Meter weiter zieht er  den Zettel aus der Tasche. „Erwarte Dich gleich in dringender  Angelegenheit in Petermanns Lokal." Hans bleibt stehen. Er überlegt  kurz. Dann geht er in die innere Stadt.  
   
    Schickedanz kam eine halbe Stunde später in Zivil. Auf seinem dicken,  gedunsenen Kopf trug er einen Kalabreser, unter dem Kragen eine  Turnvater-Jahn-Krawatte. „So", meint er, „hier können wir uns endlich  richtig guten Tag sagen. Die Bude ist dicht. Der olle Petermann hält  die Schnauze. Nicht wahr?" ruft er, worauf sich Petermann hinter dem  Büfett verbeugt und meint, das sei immer das Beste für einen deutschen  Mann.  
    Schickedanz sitzt neben Hans und betrachtet ihn. „Etwas blass", sagt  er, „aber du, mach dir nix draus." Was es denn gebe, fragt Hans.  Schickedanz verschränkt die Arme und stemmt sie auf den Tisch. „Du  musst nämlich wissen, dass du noch viele Freunde hast." „Ei..." „Und  dass diese Freunde deinetwegen in München vorstellig geworden sind,  weil sie es nicht dulden, dass ein so feiner Kerl wie du einfach von  dem Postsekretär zerstampft wird..." „So?" „... und diese Freunde haben  klipp und klar alles Gerhard Träger vortragen lassen, und er lässt dir  ausrichten, du solltest nicht schlapp machen. Es bereiten sich große  Veränderungen vor, riesengroße, weißt du, in ganz Deutschland... und  wenn es soweit sei, sorge er dafür, dass dein Fall kassiert wird."  
    Hans schweigt.  Er möchte am liebsten wegrennen. Aber dann sagt er: „Was du da erzählst, ist  mir wirklich ganz egal."  
    Schickedanz legt  seinen Kopf auf die verschränkten Arme. „Das glaube ich nicht, dass dir das  gleichgültig sein kann."  
    Lange reden sie  kein Wort. Sie haben Grog vor sich stehen. Sie betrachten den Zucker, der  langsam im Glas zerfällt.  
    „Und was hast du  mir sonst noch zu sagen?" fragt Hans nach einer Weile. Seine Stimme ist  abweisend und hart.  
    „Nichts",  antwortet Schickedanz, „nur dass ich gern öfters mit dir zusammen wär."  
    „Du kannst mich  ja einmal besuchen", sagt Hans, und das klingt nicht ohne Hohn.  
    „Mach ich gern",  nickt der Schickedanz, „ich bin nämlich nicht wie die andern."  
    Sie trinken den  Grog leer. Dann trennen sie sich.  
    Als Hans eine  halbe Stunde später am Stauwerk die Skier anschnallte und in ruhigem Gang den  Hügel  
    hinaufstieg,  überholte ihn bei der dritten Kurve Johann Kaspar mit dem Wagen. Er stoppte.  
    „Du", rief  er, und seine Stimme klang hell in der glasigen Januarluft, „in zehn Tagen darf  sie nach Haus!"  
   
    Es ist Nachmittag. Der Firnis ist trocken. Hans hat die Wiege auf die  Drehbank gestellt. Unter die Kufen hat er Klötzchen geschoben. Jetzt  kann sie nicht schaukeln, wenn er malt. Er nimmt einen Stift und  beginnt ein Schema zu zeichnen. Aber die Wolken, die er schuf, wurden  schwer und dick wie ein Gewitter. „Nein", sagt er, „ich werde nichts  tun, was uns ängstlich macht." Und schon beginnt er kleine leichte  Wölkchen zu zeichnen, lustige Himmelsschäfchen, auf denen die  Gottesmutter steht wie eine Blume im Mai.  
    Jetzt legt er die Farben an. Das Violett tupft die Wiege, und der  Himmel blüht auf zu einem Traum. In schweren Bögen untermalt Hans  Karmin. Es ist die Grenze zwischen Himmel und Erde. Ein ernstes Rot.  Wesen um Wesen wächst auf der Wiege. Hier ist der Garten, ein schwarzer  Baum auf einer ockergelben Wiese. Dort ist eine Blume, in deren Kelch  ein Kindergesicht schläft. Hier zieht ein Flieger über das Meer, und  auf seiner Tragfläche steht: Der Mut. Hier wogt ein Kornfeld, dort  fließt zwischen Wiesen der Neckar, ein Zug verschwindet im Tunnel,  Häuser stehen am Ufer mit roten Dächern und dunkelblauen Balkonen, und  auf den Hügeln ringsum flattern kleine Fahnen, und aus der gelben Sonne  schwingt sich ein Band. Darauf steht: Die Heimat. Und neben ihr, da  stuft sich ein Weinberg hoch, und aus einem kleinen Stück Himmel sieht  der liebe Gott, und darunter steht: Ich freue mich.  
    Viele Stunden malte Hans. Längst war der Ofen erloschen, und die Kälte  kroch durch die Ritzen, als er die Gottesmutter betrachtete. Sie trug  keine Krone. Sie trug kein Kind auf dem Arm. Es war eine schwangere  Frau.  
    Über der Stadt Siebenwasser ruht die eisige Stille des Januar.  Kobaltblau wölbt sich der Himmel, und das Land unter ihm ist bedeckt  mit einem königlichen Weiß.  
    Schickedanz hat den Fußweg benutzt. Bis über die Knie bricht er oft in  die Wächten. Ein elender Weg. Schickedanz seufzt. Er nimmt den  Kalabreser vom Kopf. Das reflektierte Licht der Schneemassen blendet  ihn. Er kommt sich sehr lächerlich vor inmitten des leuchtenden  Schweigens mit seinem verschabten Ulster und der Aktentasche unter dem  Arm. Vor ihm, auf der Kuppe des Hügels, glänzt das Gut. Schickedanz  zieht seine Reiseflasche mit Kognak aus der Tasche und trinkt. Dann  stapft er weiter. Verfluchte Sauerei! denkt er. Gestern Abend war  Hungrich wieder da. „Na und?" hat er gefragt. Ob der Schickedanz  vielleicht glaube, das mit dem Hunderter sei ein Bierulk gewesen? Ach,  ich konnte der Ratte sagen, was ich wollte. Es ständen doch jetzt  wirklich andere Sachen vorm Klappen, sagte ich. Und den Hunderter wolle  ich in monatlichen Raten zurückzahlen. Da kam ich schön an. Um halb  sechs stände ein Motorradfahrer bei der Wirtschaft „Zum grünen Baum" in  Weißenfels. Dem habe ich die Briefe zu übergeben. Er führe mich zum  Bahnhof, und dort habe ich in den Abendzug nach Frankfurt einzusteigen.  Näheres erführe ich am nächsten Morgen in Frankfurt bei der  Dienststelle 1. Wenn ich jedoch nicht pariere, dann bartab, mein  Lieber. Da hab ich ihn angebrüllt. Er solle mich in Ruhe lassen, und  wenn er so weiter quatsche, dann melde ich einfach die Chose. Aber da  hat er mich am Handgelenk genommen, ganz nahe kam sein Gesicht: „Wer  glaubt denn dir, du Säufer?" hat er gesagt, und weg war er.  
    Schnaufend bleibt Schickedanz stehen. Vor ihm breiten sich die  Schneefelder. Ach, denkt er, sich einmal da drauf schmeißen und sich so  lange herumwälzen, bis der ganze Dreck herunter ist. Seufzend greift er  zum Kognak.  
    Lange hat sich Hans gefragt, wer das sei, der den Berg hochkomme. Ein  Bauer ist das unmöglich. Denn so geht kein Bauer. Er muss lachen über  die ulkige Figur. Vielleicht ist's ein Gerichtsvollzieher oder jemand,  der sammelt für die Innere Mission. Er holt Bäuerles Feldstecher aus  dem Gewehrschrank und erkennt Schickedanz.  
    Nach zwanzig Minuten steht Schickedanz im Hof. Er schaut sich um und  macht ein freundliches Gesicht. Was der nur von mir will? Ob der auf  Veränderungen spekuliert wegen Gerhard und so? Gestern hat Bäuerle  erzählt, Schleicher sei gestürzt, und jetzt käme wohl Hitler. Das ließ  mich ganz kalt. Und als Bäuerle sehr ernst im Zimmer hin und her ging  und fragte, was denn jetzt aus Deutschland werden solle, da hab ich  geantwortet: „Ich weiß es nicht." Ich weiß es auch nicht. Ich seh gar  nicht mehr hin. Ich kann einfach nicht mehr. Aber Irene soll leben.  
    Freundlich geht er Schickedanz entgegen. Er führt ihn in die Garderobe.  Da sitzt er jetzt, und der Schnee schmilzt von den Galoschen. „Mensch,  du hast keine Ahnung, wie gut du es hast. Diese Ruhe hier. Unten in  Siebenwasser, na, ich kann dir sagen, wie in einem Irrenhaus. Der Vater  Allwohn zum Beispiel isst seit zwei Tagen nichts mehr, nur weil er  wartet, wie das in Berlin ausgeht. Und bei der Mutter Döring, da sitzen  sie am Radio bis zwei Uhr in der Nacht, und die SA. hat höchste  Alarmstufe, und der Hungrich" — Schickedanz beugt sich vor — „teilt  schon Revolver aus."  
    „Willst du lieber Wein oder Schnaps?" fragt Hans. „Wenn du vielleicht  Mosel..." Sie gehen in den Keller. Lange bleibt Schickedanz vor den  Weinspinden stehen. „O Gott", sagt er, „wenn ich das hier so sehe, kann  mir der ganze Schwindel gestohlen bleiben." Zärtlich liest er die  Namen. Er streicht voller Ehrfurcht über den Staub. Er horcht an den  großen Fässern. Er hebt die irdenen Krüge. „Unsereiner säuft Verschnitt  — na, ich bin auch danach!"  
    Später sitzen sie in der Halle und trinken. Schon liegen blaue Schatten  draußen über dem Schnee. „Hast du einmal darüber nachgedacht, wegen  Gerhard... Du weißt ja?" fragt Schickedanz. Hans schüttelt den Kopf.  „Ich habe nicht darüber nachgedacht."  
    „Du willst also  gar nichts mehr davon wissen...  
    überhaupt nichts  mehr?"  
    „Überhaupt nichts  mehr", antwortet Hans.  
    „Und wenn es  jetzt losgeht?"  
    „Auch dann  nicht."  
    „Versteh schon.  Dir haben sie ja auch verdammt übel mitgespielt."  
    Schickedanz  trinkt. Er kaut den Wein auf der Zunge. Dann trinkt er wieder. Lautlos fällt  Minute um Minute.  
    „Was macht denn  das Mädel?" „Wen meinst du?" fragt Hans. „Na, wie heißt sie doch...  Irene." „Irene bekommt ein Kind."  
    „He?" Der Schickedanz vergisst den Mund zu schließen. Seine großen,  gelben Zähne klaffen sprachlos auseinander. Schließlich gelingt es ihm  „Mensch!" zu sagen, worauf er hastig sein volles Glas leer trinkt.  
    „Weißt du jetzt genug von mir?" lächelt Hans. „Du meinst wohl, ich wär  ein Spion?" Schickedanz haut auf den Tisch. „Weißt du, was ich bin?"  schreit er plötzlich, „ein ganz armes Luder, jawoll... ein ganz armes,  elendes Schwein." Er sieht zu Boden und hält den Kopf in den Händen.  Seine Schultern zucken. Hinter dem Hügel versinkt die Sonne. Und der  Schnee auf dem Feld wird grau wie Blei.  
    „Ach, Schickedanz", sagt Hans, „ich weiß, dass du kein Spion bist. Du  bist nur ein schwacher Mensch... genau so wie ich... wie die meisten."  Schickedanz hebt den Kopf. Sein Haar hängt in die Stirn. „Du weißt gar  nichts", antwortet er, „die Schweinerei ist viel zu groß."  
    Es war in der Dämmerung, als sie in den Hof gingen und die Ställe  besichtigten. Hans zeigte Schickedanz das Vieh. Sie halfen bei der  Fütterung. Dann gingen sie in die Meierei, in das Pumpwerk und zur  Dreschmaschine. Schickedanz konnte nicht genug sehen. Sie  durchstöberten das Gut. Sie stiegen auf die Hängeböden der Scheunen, wo  das Getreide lag, und sie ließen die trockenen Körner durch ihre Finger  gleiten. Sie liefen durch die Keller, zapften Wein aus den Fässern und  aßen Käse dazu, und am Schluss führte Hans den Schickedanz vor die  Wiege. „Das hast du alles gemalt?" Hans nickte.  
    „Den Himmel dort  und das Meer und den Baum und die Kinder und da den Rebhügel mit dem Herrgott,  der sich freut?"  
    „Das hab ich alles auf einmal gekonnt", sagte Hans. Da umarmte ihn der  Schickedanz. „Du bist ein glücklicher Mensch!" rief er. „Du hast recht,  dass du nicht mehr dabei bist."  
    Während des  Aufräumens hatte Hans die Kassette auf den Tisch gestellt. „Was ist denn da  drin?" fragte der Schickedanz.  
    „Ach", antwortete Hans, „die letzten Briefe meines Vaters und auch die  von Gerhard." Er öffnete die Kassette und entnahm ihr ein Bild seines  Vaters. „Ein gütiger Mann", sagte der Schickedanz, „wie alt war er, als  er fiel?"  
    „Achtunddreißig."  Lange sahen sie auf das Bild. Dann ging Hans hinunter, um das Vesper zu holen.  
    Als er zurückkam, ist der Schickedanz im Zimmer auf und ab gegangen und  pfiff sich eins. Hans verschloss die Kassette und stellte sie zurück in  den Schrank. Dann setzten sie sich an den Tisch und aßen und tranken.  Der kleine Ofen brummte. Draußen wurde es Nacht.  
    Der Schickedanz wurde plötzlich sehr redselig. „Wenn das der Jürgen  wüsste", rief er, „aus dem Grab würde er springen. Jetzt sitzen sie in  Berlin und verhandeln mit der Reaktion und der Großindustrie. Ach,  Hans, das wird ein großer Beschiss werden. Wenn die erst alle mal ihre  Posten haben, dann ade, arme Seele. Und der Kalahne, das sag ich dir,  der wird noch Minister. Weißt du, was der kann? Der lügt, ohne die  Unwahrheit zu sagen!" Schickedanz sah auf. „Weißt du", sagte er, „das  ist nämlich so: Wenn ich da ein Stück Holz habe, nicht wahr, und ich  leuchte es grün an, dann kann ich sagen, es sei grün. Und wenn ich es  später blau anleuchte, dann ist es blau. Aber in Wirklichkeit ist es  grau. Und so wird es mit Deutschland. Haargenau wird es so."  
    Hans lächelte. Er merkte, dass der Schickedanz betrunken war. Und er  spürte, dass der Schickedanz reden musste, einfach so, ohne Vorsicht  und Disziplin. Deshalb ist er wohl zu mir gekommen? Deshalb...  
    „Hau ab!" brüllte plötzlich der Schickedanz, „hau ab aus diesem  Ländchen! Der Bäuerle hat doch Fabriken drüben in Amerika. Was willst  du hier? Erst lassen sie uns ein bisschen am Sozialismus riechen, die  Jugend, weißt du, damit wir aufstehen... aber am Schluss, da tritt uns  doch der alte Feldwebel in den Arsch! Und wenn der Jürgen in zwei  Jahren aus seinem Grab aufstehen würde und das alles hier sähe, ich  sage dir, ich geb dir das schriftlich — im selben Moment hüpft er  freiwillig wieder zurück." Schickedanz trank. Er trank maßlos. Starr  und rötlich wurden seine Augen. Käsig sein Gesicht. „Ich sag überhaupt  nichts mehr", murmelte er, „ich sauf nur noch... und dann sterb ich..."  Hans ging, um einen Kaffee zu holen. Als er zurückkam, lag der  Schickedanz mit dem Kopf auf dem Tisch und schlief.  
    Hans gab ihm einen Schubs. Schickedanz sah hoch. „Hast du geheult?"  fragte Hans. Schickedanz stierte in die Tasse. „Das kommt manchmal so  über mich... weißt du, das ganze Elend." Er schlürfte die Tasse leer.  „Wie spät ist es denn?" „Zehn vor halb sechs."  
    Schickedanz stand  auf. „Ich muss gehen, ich hab nämlich Nachtdienst."  
    Hans half ihm in den Mantel. Er tat ihm leid, der Schickedanz, weil er  so verzweifelt war. In der Tür blieb der Schickedanz stehen. „Du",  sagte er, „darf ich noch mal die Wiege betrachten?"  
    Hans holte die Wiege. Er stellte sie auf den Tisch. Lange sah der  Schickedanz auf die Bäume, auf die Kinder, auf den Fluss und die Reben  und auf den lachenden Herrgott. Dann trat er näher. Er hob die Hand.  Mit dem kleinen Finger begann er die Wiege zu schaukeln.  
    „Der hat's gut,  der da hineinkommt", sagte er, als er ging, „der kann nämlich von vorne  anfangen."  
    Drei Stunden später vermochte der Redakteur Faulstroh vom  sozialdemokratischen Volksrecht endlich den Beweis zu erbringen, wie  nützlich seine Querverbindungen, die er zu gewissen Kreisen der SA.  unterhielt, sich auswirkten. Vor den Augen seiner erstaunten Kollegen  warf er einen Pack Briefe auf den Tisch. „So!" rief er, „jetzt sind die  Kerle wenigstens moralisch erledigt!"  
   
    Hans ist am Vormittag nach Siebenwasser hinuntergegangen. Er sitzt im  „Blauen Bären" und wartet auf das Essen. Um zwölf Uhr dreißig wird er  nach Heidelberg fahren. Bäuerle hatte angerufen, er solle Decken und  Pelze mitbringen und auch einen Fußsack für Irene. Hans ist froh.  Morgen wird er neben Irene im Auto sitzen, und er wird ihr erzählen,  von Weißenfels wird er erzählen und von der Wiege, die er gebaut hat.  
    Hans sieht hoch. Hinter dem Fenster brütet ein grauer Tag. Uber der  Straße nieselt der Regen. Es taut, und der Schnee schlägt in nassen  Klumpen vom Dach. Es läutet zwölf. Immer, wenn Hans die Glocken von  Sankt Andreas hört, fühlt er eine merkwürdige Trauer in sich. Damals,  als das Telegramm kam und die Mutter umfiel in der Küche und Hans  wusste, dass der Vater tot war, da hatte auch plötzlich die Glocke  geklungen. Ernst und schwer war ihr Ton über die Dächer gezogen, und  das Kind neben der ohnmächtigen Mutter hatte sich gebeugt unter dem  dröhnenden Geläut. Und später, als sie ihn aufnahmen in die  Christenheit, da hatte sie auch geläutet, und ihr Klang war es gewesen,  der ihn begleitet hatte über all die Stufen seines Lebens. Und heute  ist sie ganz nah über ihm. Dort auf dem Platz ragt der Turm, der sie  hält. Und wenn er hinaufblickt, sieht Hans den schweren, schwingenden  Klöppel.  
    Die Glocke schweigt. Aus der unteren Stadt dringt Gesang und Musik. In  harten, festen Takten zieht es näher heran. Die alten Lieder, von  hundert Stimmen getragen, wachsen zwischen den Häusern empor. Auf der  Straße ballen sich die Menschen. Da, vor dem Fenster, ist das nicht  Henri Jockel, und seine Frau, das Minchen? Sie tragen kleine  Papierwimpel mit dem Hakenkreuz, und viele, die um sie sind, haben  Fähnchen und lachen. Hans sieht weg. Allein sitzt er in dem trüben  Restaurant, immer näher kommt die Musik, oh, er kennt den Marsch — der  Fahne gilt er, der Fahne. Und plötzlich ist sie ganz nahe, er spürt es,  denn ein brausendes Heil dröhnt die Hausfront entlang, er wendet den  Kopf, er sieht die Standarte, und als sie vor ihm mitten im Fenster  steht, da erhebt er sich doch. Stumm blickt er auf die tobende Straße.  Er sieht die Wimpel flattern und die Arme in starrer Schräge in die  neblige Luft stechen, und er sieht Hungrich vor der Standarte  marschieren, den Sturmriemen unter dem blassen Kinn. Hinter dem Sturm  trabt berittene Polizei.  
    Hans sieht auf die Uhr. Wo nur das Essen bleibt. Rindfleisch hat er  sich bestellt, und der Kellner sagte, es sei in wenigen Minuten  serviert. Hans steht auf. Das Büfett ist leer. Auch die Küche ist leer.  Alle sind sie auf der Straße. Das Herdfeuer glimmt und droht zu  zerfallen.  
    Hans friert. Allein sitzt er wieder am Tisch. Schal schmeckt der  Rotwein. Wenn Henrici nur da wäre oder gar Bäuerle. Und ob sie die  Standarte jetzt wohl in Derns Wohnung tragen, und die Mutter wird an  der Tür stehen und wird sich vor der Standarte verbeugen? Und dann  werden sie warten, warten, bis das Zeichen kommt... und sie werden  singen und jubeln, und sie werden rufen, Deutschland gehöre jetzt  ihnen.  
    Er schreckt auf. Was ist das nur? Auf der Straße ballen sich Gruppen.  Direkt vor dem Fenster steht Henri Jockel. Er hat ein Zeitungsblatt.  Viele Köpfe sind um ihn. Er liest. Was liest er nur? Wie böse plötzlich  die Augen sind, ganz dick sind sie... Ist er am Ende doch nicht  Reichskanzler? Was hat der Kellner nur? Er stößt den Henri Jockel an.  Er flüstert ihm etwas zu. Und plötzlich starrt der Henri Jockel hier in  mein Fenster. Ganz weiß ist er im Gesicht. Wie? jetzt winkt er.  
    Was? Ich soll... versteh ich nicht, nach dem Boden zu winkt er...  verrückt, das heißt doch: ducken... der ist wohl betrunken? Ich  schüttle den Kopf. „Was haben Sie denn nur, Herr? Sie laufen ja blaurot  an? Sie sind wohl..." Jetzt greift er nach den Holzläden, direkt vor  meinem Fenster, nach den grünen Läden greift er... Krach! jetzt  schmeißt er sie zu... und ich sitze im Duster, als ob Sommer wär...  
    Hans fasst nach seinem Glas. Er will trinken. Seine Hand zittert. Da  fühlt er sich gepackt. Am Arm hat ihn der Henri Jockel. „Kommen Sie",  flüstert er, „kommen Sie! Rasch! Rasch!" Und er zieht ihn zwischen den  weißen Tischen hindurch über den Gang hinein in sein Kontor. Dort  riegelt er ab. Dann fällt er auf einen Stuhl. „Mein Herz", seufzt er,  „ach, mein Herz." Hans will zu ihm und ihm behilflich sein, da aber  springt der Henri Jockel auf, er stößt den Jungen wider die Wand.  „Rühren Sie sich nicht!" brüllt er, „oder ich vergesse, was ich tue!"  Und noch bevor Hans zu antworten oder zu fragen vermag, steht der Henri  Jockel ganz nahe vor ihm. Er flüstert, er zischt. „Das sage ich Ihnen,  wenn nicht der Bäuerle sozusagen mein Jugendfreund wär und noch dazu  ein guter Kunde, dann hätt ich Sie schon längst aus dem Haus geprügelt,  Sie Dreckhund, Sie!"  
    Mit zwei Griffen hat Hans den Mann gepackt. Er zwingt ihn auf den  Boden. „Was wollen Sie von mir?" keucht er, und die Zunge bricht ihm  bald vor Trockenheit. Der Restaurateur windet sich unter dem Griff,  doch er kommt nicht hoch. Nach einer Minute schweigenden Kampfes  scheint er sich zu beruhigen. Er sieht Hans an. „Hören Sie", sagt er,  „in Erinnerung an die alten Zeiten, wo Sie noch ein anständiger Bursche  waren, geb ich Ihnen einen guten Rat: verschwinden Sie heut noch aus  Siebenwasser, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist. Ein Glück, dass nur ich  Sie hinter dem Fenster gesehen habe, sonst wäre hier längst alles kurz  und klein geschlagen. Verstehen Sie mich jetzt?"  
    Hans sieht auf den schwitzenden Mann. „Nein", sagt er, „ich verstehe  Sie nicht." „Sie verstehen mich nicht?" Grell lacht der Henri Jockel  auf. „Spielen den Unschuldigen, wie?" Und plötzlich nickt er mit dem  Kopf nach dem Tisch. „Da... da... da liegt es doch! Da gucken Sie doch  hin... da steht es doch schwarz auf weiß!" Mit einem Sprung ist Hans an  dem Tisch. Er faltet die nasse Zeitung auseinander:  
   
  Aus dem braunen  Sumpf  
    Das wahre Gesicht der Volkserneuerer  
    „Dass du mir nicht nach Mädchen  riechst..."  
    Tatsachenbericht. 
   
    Nie in seinem Leben hatte Henri Jockel einen solchen Schrei gehört wie  in dieser Minute. Es war ein Aufheulen, so schrill und unwirklich, als  habe man einem Menschen mit einem Griff die Haut heruntergerissen. Dann  schlug die Tür zu, und es wurde plötzlich fürchterlich still. Als  Minchen in das Kontor gestürzt kam, saß ihr Mann auf dem Boden. Er  hielt sich die Ohren zu, und seine Lippen waren weiß.  
   
    Laufen... laufen... ach, immer noch Häuser... und immer noch Stimmen...  laufen... und jetzt ein Stein... mitten ins Kreuz... weiter...  weiter... er stolpert... er stürzt... das war ein Prügel... er ist  wieder hoch... er rennt... er rennt... dort öffnet sich die Straße...  Schnee... weißer Schnee... und über ihm der Wald.  
    Hinter dem letzten Haus spürt er, dass ihm niemand mehr folgt. Er hört  einen Signalpfiff. Dann hört er eine Stimme: Verreck an dir selbst! Und  nochmals: Verreck an dir selbst!  
    Er läuft den Fußweg hinauf. Sein Atem dampft. In seinem Kopf rollt eine  feurige Kugel. Als er den Pavillon erreicht, schlägt es eins. Er lacht.  Er lacht ganz unbändig. „Schickedanz", lacht er, „du armseliger  Schuft!" Jetzt steht er still. Maßlos ist der Ekel auf seiner Zunge.  Unten im Tal pfeift ein Zug. „Irene", ruft Hans. Er stürzt auf den  Boden und schreit.  
    Als er sich erhebt, fährt der Zug in den ersten Tunnel. Lange noch  steht der Rauch über dem Land. Dann vergeht er in den Falten der Hügel.  Hans horcht. Kein Laut regt sich im Wald. Nur der Schnee fällt leise  von den Zweigen. Und die Wolken sinken immer tiefer ins Tal.  
    Hans beginnt zu gehen. Wie ein Kind setzt er die Schritte. Es ist, als  habe er das Gehen verlernt, während der Jagd durch die Stadt und den  Hügel hinauf. Vorsichtig hält er sich an den Stämmen. Die glühende  Kugel im Kopf ist weg, aber jetzt ist eine helle, lichte Leere da, so  leicht macht sie ihn, dass er sich festhalten muss, um nicht zu  schweben. Als er zu den sieben Bächen kommt, bleibt er stehen. Er hört  das Wasser unter der Schneedecke fließen, das Blut der sieben Ritter,  die hier starben im Kampf gegen die Hunnen. Hans bückt sich. Er stößt  den Arm durch die Schneedecke hindurch, bis er das Rieseln fühlt. Und  während das Wasser durch seine Finger spielt, weiß er, dass Irene  gesund bleiben wird. Er weiß das einfach. Ganz genau weiß er das. Und  das Kind sieht er auch.  
    „Das  genügt", sagt er und steht auf. Es ist wenig mehr zu tun.  
    Fünfhundert Schritte sind noch zu gehen, dann ist er in Weißenfels. Er  geht sie, ruhig und ernst, als käme er von der Arbeit zurück. Als er  den Hof betritt, hört er das Vieh. Er lächelt. Welch eine Gnade, denkt  er, die haben keine Seele. In seinem Zimmer öffnet er den Schrank. Die  Kassette ist leer. Nur das Bild des Vaters ist noch darin. Hans nimmt  es an sich. Dann holt er die Wiege. Er stellt sie neben sich und  schaukelt sie.  
    Lange sitzt er so und bewegt leise die Wiege. Dann erhebt er sich. Die  Waffe, Gerhards Geschenk, liegt in der oberen Lade des Waschtischs. Er  steckt sie ein. Er schreibt einen Brief. Dann schiebt er den Sessel zum  Fenster. Er spricht mit dem Vater. „Ich weiß nicht, wo du bist", sagt  er leise, „aber es ist dein Herz, das ich habe. Es ist ein einfältig  Herz... ja, und es genügt nicht, dass es gut ist... siehst du, es  genügt... heute nicht mehr..." Und plötzlich nimmt er das Bild. Er  zerreißt die Fotografie. „Ich könnte ja noch leben", sagt er laut,  „aber mich ekelt." Jetzt hebt er die Waffe. Auf dem Hof ist ein  Geschrei. Die Degerloch rennt durch die Pfützen. Was schreit sie nur?  Ach so... Reichskanzler ist er geworden... jetzt läuten die Glocken,  Sankt Andreas... Sankt Andreas! Oh, Sankt Andreas... du kommst noch  einmal... ja, und die anderen auch, alle, vom Dorf... von den Hügeln...  aus dem Tal... danke... danke...  
    Aufrecht setzt er sich hin. „Adieu, Irene", sagt er leise, zweimal sagt  er es, dann drückt er ab Das Geläut der Glocken aber klang so gewaltig,  dass niemand den Schuss hörte. Dröhnend erhob sich das Erz über das  Land. Und es war, als rolle die Erde in ehernem Schwung in eine andere  Sphäre   | 
  
    
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