Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
http://nemesis.marxists.org

2. Kapitel

Die Stadt Siebenwasser zählt gegen fünfzigtausend Einwohner. Sie liegt in einem Seitental des Rheins, wenige Stunden vor der Mündung des Neckars. Um einen Hügel, der das Tal beherrscht, gruppiert sich der alte Teil. Sein mittelalterliches Profil ist unversehrt. Das rötliche Band der Mauer, von Toren und Warttürmen durchbrochen, umschließt die Häuser der eingesessenen Handwerker und die Bauten und Magazine des ausgestorbenen Patriziats. An jener Straße gelegen, die von den oberitalienischen Städten über Augsburg und Nürnberg nach Norden führte und den Orient mit den Plätzen der Hanse verband, hatte Siebenwasser bis zur Entdeckung Amerikas und der Verlagerung des Welthandels in die westatlantischen Staaten eine hohe Blüte erlebt. Als Mitglieder des Süddeutschen Städtebunds schlugen sich seine Bürger mit Fürsten und Bauern. Reichsunmittelbar entfaltete das Gemeinwesen seine Kraft weit über die Länder, seine Schecks und Geldverschreibungen hatten einen guten Namen, der weltläufige Sinn seiner Bewohner, deren Söhne in Italien als Kaufleute in die Lehre gingen, war ebenso beliebt wie die Güte ihrer Waren. Mit dem Dreißigjährigen Krieg erhielt die Stadt ihren entscheidenden Schlag. Zwei Drittel der Bevölkerung verfielen dem Mord oder der Pest. Das Patriziat starb aus. Schweden, Franzosen, Kaiserliche, Evangelische — sie alle plünderten und brannten im Namen des dreieinigen Gottes.
Bei Abschluss des Westfälischen Friedens zählte die Stadt kaum mehr als achthundert Seelen, die in sechzig Häusern hockten, elende, zerbrochene Menschen und grindige Kinder. Siebenwasser verlor seine Reichsunmittelbarkeit. Der Glanz seines Namens verblasste. Und die Mäuse und Ratten, die früher fett wurden in den Gelassen und Kellern der Magazine, flohen aufs Land. Die Stadt sank in den Kleinstaat und in die Hände der Herzöge von Württemberg. Sie bauten sie aus als einen Stützpunkt ihrer Bürokratie und ihres Militärs. So dämmerte Siebenwasser durch das achtzehnte Jahrhundert. Der Ausbruch der Französischen Revolution traf die Stadt in dem Zustand einer ohnmächtigen Idylle. Zwar lebte das Bewusstsein der vergangenen bürgerlichen Freiheit und Macht noch in den Gehirnen einiger heruntergekommener Handwerkerfamilien, aber fast zweihundert Jahre dynastischer Bürokratie hatten den Geist servil und die Seelen stumpf gemacht. Als sich dennoch aus der Bevölkerung, die inzwischen wieder auf dreitausend Seelen angewachsen war, achtzehn junge Männer erhoben und in der Nacht zum 14. Juli des Jahres 1790 auf dem Marktplatz einen Freiheitsbaum errichteten, wurde die Mehrzahl von ihnen gefasst und unter dem Hohn der Bevölkerung von den Bütteln des Herzogs auf den Hohen Asperg gebracht, wo sie verkamen. Nur zweien gelang die Flucht. Sie erreichten die französische Grenze, wurden Soldaten und marschierten mit in den Armeen der Revolution. Einer fiel bei Lodi, der zweite kam als hoher napoleonischer Offizier 1809 nach Siebenwasser zurück, wo er in seiner Husarenuniform von den Bewohnern angestaunt wurde, als sei er ein seltenes Tier. Von den Freiheitsbäumen sprach er nicht mehr, nur von dem Kaiser. Auch die Leute von Siebenwasser verehrten Napoleon. Hatte er doch aus ihrem Herzog einen König gemacht. Zwei Monate blieb der Offizier mit seinem Stab in der Stadt. Schockweise erlagen die Mädchen den Uniformen der Husaren. Es waren nicht die schlechtesten Kinder, die die Truppe zurückließ. Man nannte sie Napoleonstaler. Der Offizier kam nicht mehr nach Siebenwasser. Er machte den russischen Feldzug mit und erschoss sich in der Nacht der Abdankung des Kaisers in den Gärten des Schlosses Fontainebleau.

Nichts hatte den Johann Kaspar Bäuerle in seiner Jugend mehr erregt als die Geschichte dieses Großonkels. In dem kleinen, schmalbrüstigen Haus, das im Schatten der alten Mauer stand, war Johann Kaspar oft hinauf auf den Boden geschlichen. Dort stand die Kiste, die der Onkel zurückgelassen hatte. Ein alter, mit Blech ausgeschlagener Koffer. Zitternd hob das Kind den vermotteten Uniformrock ans Licht. Wie glänzten immer noch die Schnüre! Wie rot waren die Troddeln! Und wie geheimnisvoll vornehm sah der Dreispitz aus in seiner gelben Seide. Lange saß der Junge auf dem Boden. Er roch an der Uniform, er spielte verzückt an den Troddeln, er streichelte die Litzen und die Schnüre, und er sah sie, die Reiter, wie sie hintrabten über die Erde, herrlich anzusehen im wiegenden Glück ihrer Sättel, und er sah den Onkel mit geneigtem Degen neben dem Schimmel des kleinen Kaisers. Stunden um Stunden verbrachte das Kind zwischen den Spinnweben und den verstaubten Kisten. Es hörte nicht auf die Ermahnungen der Mutter, die als Waschfrau bei den Beamten arbeitete und selten vor Sonnenuntergang nach Hause kam — es saß am Fenster und vor seinen Augen füllte sich das weiche, friedliche Tal mit blitzenden Uniformen, rauchenden Geschützen, flatternden Fahnen, und unter dem hellen Jubel der Clairons, dem jubelnden Zuruf der Truppen ritt durch den dünnen Nebel des Abends ein kleiner Mann, schweigend wie ein Gott. Erst wenn der Vater von der Fabrik nach Hause kam und betrunken in der Küche den Hund zu prügeln begann, schlich das Kind hinunter und zog seinem Vater die Stiefel aus.
Es war das Jahr 1880. Der neue Reichtum nach dem gewonnenen Krieg hatte auch die Stadt Siebenwasser verwandelt. Unten im Tal waren Fabriken entstanden. Neben dem Fluss zog sich das Schienenband der Bahn. Durch die linke Seite des Bergs hatten italienische Arbeiter einen Tunnel gebrochen. Rot schimmerten die Kasernen unterhalb der Weinberge. Neben der alten Steinbrücke mit ihren verwitterten Heiligen spannte sich eine Brücke aus Eisen. Auf der linken Seite des Flusses wuchs das Arbeiterviertel, wo in engen, schlecht gelüfteten Schlafstellen die überzähligen Bauernsöhne aus der Umgebung schliefen und Branntwein tranken. In der Form mittelalterlicher Schlösser, mit Schießscharten, Söllern und Wehrtürmchen auf dem Dach, standen die Villen der Fabrikanten abseits auf den zum Wald ansteigenden Wiesen.
Johann Kaspar Bäuerle war zwölf Jahre alt, als sie seinem Vater den Prozess machten. Der rothaarige, grobknochige Mann arbeitete als Lohntischler in der neuen Möbelfabrik. Zehn selbständige Handwerkergenerationen konnte die Familie aufweisen. Ihr Wappen stammte aus einer Zeit, da es für einen Mann noch unmöglich war, sich durch den Verleih von Geld die Arbeitskraft arbeitender Menschen zu kaufen, wie es jetzt die Aktionäre der Möbelfabrik taten — dumpf vor Wut und dem Trunk ergeben sah sich Amadeus Bäuerle den neuen Fabrikationsmethoden, gegen deren maschinelle Fixigkeit seine handwerkliche Solidität nicht aufkam, unterlegen. Freie Handwerker waren die Bäuerles seit Jahrhunderten — kein Fürst, kein Papst hatte ihren Sinn zu brechen vermocht. Jetzt kam die Maschine, und der Enkel eines alten Geschlechts musste zu Kreuze kriechen. Er musste in die Fabrik. Er war nicht mehr Herr seiner Arbeit. Amadeus Bäuerle besaß ein starkes Familiengefühl. In seiner alten Werkstatt, die jetzt als Küche diente, hingen an der weiß gekalkten Wand eingerahmte Blätter. Da war ein Zunftbrief aus dem Jahre 1580, nach dem es dem Christian Bäuerle, Meister des Tischlerhandwerks, erlaubt war, sechzehn Gesellen zu beschäftigen. Da hing eine Urkunde, in welcher der Herzog von Württemberg einem Bäuerle für die Lieferung „wonnig weicher Betten" ins Jagdschloss Belvedere dankte. Da hingen die Meisterbriefe aller Bäuerle, die vergilbten Urkunden eines vergilbten Geschlechts. War nicht ein Bäuerle in Paris als Lieferant des Königs gestorben? War nicht ein Bäuerle in Petersburg gewesen, um für das Schloss eines Großfürsten die Hölzer auszusuchen? War nicht ein Bäuerle in der Suite des herrlichsten Kaisers geritten? Da stand es an der Wand, und da hing noch an der Wand eingerahmt und mit Flor umwickelt die Todesurkunde jenes Bäuerle, der für die deutsche Freiheit gekämpft hatte und von den Preußen bei Rastatt niedergeknallt worden war. Wie? War das nicht ein Geschlecht?
Immer, wenn Bäuerle betrunken nach Hause kam, das war meistens am Samstag, setzte er sich in die Küche und starrte die Urkunden an. Stundenlang konnte er so sitzen. Frau und Kind legten sich in den Schlafraum, der neben der Küche war. Und oft kam es vor, dass sie des Morgens erwachten, und der Vater saß noch in der Küche. Dann lief die Mutter eilig zur Messe, und das Kind lief nach dem Fluss. Der Hass, der in Amadeus fraß, galt nicht den Herren der Möbelfabrik, deren Konkurrenz seine Selbständigkeit vernichtet hatte, nicht den Franzosen, die ihm bei Sedan das Knie lahmgeschossen hatten, nicht den Juden, denen er verschuldet war, nicht den Pfarrern, die sein Weib aufwiegelten gegen ihn, weil er trank und das uralte Recht des aufrechten Mannes, nämlich sein Weib durchzuprügeln, wenn er nicht aus und ein wusste, ausgiebig für sich in Anspruch nahm —, dies alles rührte ihn nicht, und er hätte darüber immer mit sich reden lassen, ohne aufzubrausen, und er hätte Besserung und Einsicht versprochen, sogar wegen des Trinkens hätte er mit sich reden lassen — in einem jedoch verstand er keinen Pardon, das waren die Preußen. Sie hatten seinen Vater erschossen, damals in Rastatt, und der Kartätschenprinz, der vor der Empörung des Volkes nach England flüchten musste, derselbe Mann, der aufrechte Bürger zusammenknallen ließ, war heute der Kaiser der Deutschen. Seit diesem Tag von Rastatt war es zu Ende mit den Bäuerles. Seit diesem Massaker war es aus mit der deutschen Freiheit. Die Teufel aus dem Osten, wo kein Weizen wächst und kein Rebstock gedeiht, hielten das Land besetzt. Sie bauten die Fabriken, die dem ehrlichen Handwerk das Brot wegnahmen, sie durchbrachen mit ihren Reden von der Pflicht jede Freude am Nichtstun, an der stillen Betrachtung eines vollen Weinglases oder des Flusses zwischen den Wiesen, sie pressten den aufrechten einzelnen Mann in eine Armee, wo sie so lange an ihm herumhobelten, bis er nichts mehr war als ein kopfnickendes Etwas, sie sagten, es sei besser, sich für den Kaiser zu opfern, als still und gut für sich zu leben — und wie sahen sie aus? Kam man in ihre Städte, da war es kalt und dunkel, und keine Blume war da. Kam man in ihre Kasernen, da war jener der Beste, der sich am raschesten duckte. Und kam man in ihre Fabriken, dann nahmen sie einem das Handwerkszeug weg, nachdem sie einem obendrein noch den Vater erschossen hatten.
Für Amadeus waren an allem die Preußen schuld. Ihr Kaiser hatte seinen Vater getötet. Unter ihrer Herrschaft ging es los mit dem Teufelsspuk der Maschinen. Sie hatten Napoleon auf dem Gewissen und die bürgerliche Freiheit.
Amadeus war ein Trinker, aber es mangelte ihm nicht an Instinkt. „Es ist nicht Gottes Wille, dass diese Heiden über uns gekommen sind", sagte er oft, und er stieg auf den Dachboden, wo er sich die Uniform des alten Onkels anzog und unter den ehrfürchtigen Augen seines Sohnes gravitätisch einherstolzierte.
Die Preußenmarotte des trunksüchtigen Amadeus wurde bald in der ganzen Stadt zum Gespött. Wenn er schwankend von den vielen Vierteln die Weinstube „Zum alten Württemberger" verließ, liefen ihm die Kinder nach und brüllten: „Der Kaiser ist ein lieber Mann — er wohnet in Berlin...", worauf der alte Säufer jedesmal so in Harnisch geriet, dass er den Kindern nachrannte und unter ihrem Jubel nach wenigen Schritten kopfüber zu Boden stürzte. Es war auch an einem solchen Abend, als Amadeus aus der Kneipe torkelte und einigen Beamten, die gerade von einer Kaisergeburtstagsfeier, einem solennen Hasenessen, kamen, „preußische Schweine" nachbrüllte. Es waren gut württembergische Beamte, und sie liebten den Hasenbraten mehr als den Kaiser, aber das wortreiche Wüten des betrunkenen Tischlers, dem die ganze Straße zuhörte, zwang sie, Anzeige zu erstatten. Der Prozess war kurz.
„Was haben Ihnen die Preußen getan?" wurde Amadeus von dem gutwilligen Richter gefragt. „Ihr König hat meinen Vater ermordet", antwortete Amadeus.
„Sind Sie Sozialist?" fragten die Richter weiter. Da brauste der Tischler auf.
„Nein!" schrie er, „ich will mit solchen preußischen Ideen nichts zu tun haben. Das ist dieselbe Gemeinheit, nur von der andern Seite. Ich bin für die Freiheit!" Kopfschüttelnd verurteilten sie den Mann. Die Mutter weinte. Johann Kaspar, das Kind, wurde von seinen Kameraden in der Schule verprügelt. „Du Soz!" riefen sie und hieben mit ihren Linealen auf ihn ein.
Es war der Lehrer Neureuter, der ihn rettete. „Johann", sagte er, „von heute ab hilfst du mir beim Botanisieren."

Als der Vater das Gefängnis verließ, ging er nicht mehr in die Fabrik. Er saß in der Wohnung und trank. Oft zog er im Rausch die alte napoleonische Uniform an und schwang den Degen. Jeden Morgen ging die Mutter zur Messe. Die Nachbarn mieden das Kind. Der Lehrer Neureuter ging mit dem Knaben durch die Wiesen, sie stiegen auf die Alb und sammelten die Flora.
Die Kollegen in der Fabrik, Sozialisten, verlachten den ewig besoffenen Tischler. Er verwechsle die Preußen mit den Kapitalisten, sagten sie. In der Kneipe jedoch freuten sie sich an seinen irren Reden.
Sie gossen ihm Schnaps ins Bier und brüllten im Chor: „Sag, Amadeus, wie ist das mit den Preußen?" Da sprang Amadeus hoch, bleich vom Alkohol. „Es ist ein Volk berittener Teufel", schrie er, „schmeißt sie aus dem Land hinaus, und es ist Ruhe." Da lachten die Kollegen und riefen: „Prost, du herziges Engelchen, du..."
Amadeus soff und hungerte. Einmal ging er zu Fuß nach Rastatt und legte sich sternhagelvoll auf das Grab seines Vaters. Die Mutter hatte, als man ihn zurückbrachte, den Pfarrer geholt. Dieser, ein Mann von schweigsamer Geduld, hörte sich die wirren Reden des Tischlers an. Als Amadeus betrunken im Bett lag und der Sohn Johann Kaspar ihm die Stiefel auszog, sagte er zu der knicksenden Mutter: „Ihr Mann spürt das Unheil im Land. Er soll weggehen." Und Amadeus ging. Mit ihm das Kind und die Frau. Ihre Habe war gering. Ein Schubkarren trug sie. Sie erreichten New York nach einer schlechten Überfahrt. Amadeus war krank. Die ersten Anzeichen des Deliriums wechselten mit den Zuständen einer beängstigenden Depression. Mit Mühe erreichten sie das Haus des Verwandten. Er war ein Abkömmling des napoleonischen Offiziers. Er besaß eine kleine Farm in den Mittelstaaten. Drei Monate noch schimpfte Amadeus auf die Preußen. Dann riss die Niere. Sitzend musste er sterben, weil er sich vor Schmerzen nicht niederlegen konnte. Der Verwandte zahlte das einsame Begräbnis. Der Frau besorgte er eine Stelle als Beschließerin in einem kleinen Hotel, Johann Kaspar blieb auf der Farm. Wenn er träumte, sah er die Nussbäume von Siebenwasser.

 
Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur