7. Kapitel
So hatte Kilian Kern das ganze Jahr noch nicht geflucht wie an diesem Tag. Waren da fünfzehn Pakete angekommen, fünfzehn hohe verschnürte Kartons, und alle an die Adresse des Oberleutnants Träger, eines Mannes, der eine Viertelstunde außerhalb des Dorfes wohnte und dazu noch einen guten Stich den Hügel hinauf. Das hieß also mit dem kleinen Karren viermal zu dem Herrn Oberleutnant fahren und ihm das Zeug abliefern. Kilian Kern schmiss die Kartons in den gelben Karren. Er stempelte die Paketkarten ab. „Zeugmeisterei München" stand auf den Abschnitten. Kilian Kern setzte sich. Das war deutlich. Das war überhaupt einwandfrei. Und er, der Kriegsinvalide mit dem humpelnden Bein, das er Verdun verdankte samt seinem Nervenschock, der immer wieder kam, wenn er drei Gläser Wein getrunken hatte, er, der Posthalter des Dorfes Erlenbach, Angestellter der Republik, sollte auf Grund der ordentlich gestempelten Zettelchen dem Oberleutnant die Pakete ausliefern, von denen er genau wusste, dass sie für den Staat nichts Gutes enthielten?
Bei der grauen Madonna der Schützengräben! Ich muss wissen, was in den Pappschachteln ist. Viele Minuten schlich Kilian Kern um die Pakete herum. Aufschneiden? Das bedeutete die Entlassung. Aufdröseln und spionieren? Das wäre eine elende Schnüffelei. Also aufladen. Und er lud die Pakete auf. Er schob den Karren durch die Dorfstraße. Das Vieh kam heim von den Wiesen. Schon senkte sich die Sonne. Die Flüche der Bauern auf den Äckern verstummten.
Kilian Kern war ein Mann von vierzig Jahren. Sein Vater, Landarbeiter in Erlenbach, hatte fünf Kinder gezeugt, davon war er der Älteste. Zwei Brüder waren gefallen, und ihn hatte es bei Verdun erwischt mit dem Bein. Die Schwestern waren verheiratet, die Marie in Heidelberg mit einem Lageristen, der auf Hitler schwor und sonntags als Gauredner durch die Dörfer zog, die Annie in Bochum mit einem alten, verwitweten Pensionär, dem sie schon als Haushälterin das Bett hatte wärmen müssen. Er, Kilian Kern, war humpelnd ins Dorf zurückgekehrt. Da hockte der Vater immer noch in der alten zugigen Hütte, die Gelenke von Gicht und Arbeit verbogen, und außer einem Tannenholzbett, einem Schrank, einem Tisch und zwei Stühlen, einer Geiß und zwei Maltern Kartoffel im Keller war nichts mehr da. Die Mutter lag auf dem Kirchhof, drei Schritte von der Blutbuche, und wenn die Annie aus Bochum nicht jeden Monat eine Mark an den Friedhofswärter geschickt hätte, wäre das Gras längst über das Grab gewuchert, und niemand hätte mehr die Stelle gewusst, wo die Mutter schlief. Der Vater war
kindisch und flennte in einem fort. Nachts schlich er hinter der Hütte auf der Wiese herum und grub nach einem Schatz aus dem Dreißigjährigen Krieg. Drei Monate lang war Kilian Kern Soldatenrat in Wetzlar gewesen. Er hatte an die Revolution und an das Recht der armen Leute geglaubt. Dabei war er ein armer Teufel geblieben, während sich viele reich machten an der Verschiebung von Heeresmaterial und durch die Ausstellung von Scheinen zur vorzeitigen Entlassung. Der Unteroffizier Kilian Kern war vom Lazarett aus in die Freiheit gehumpelt, trunken hatte er auf die Worte der Revolutionäre in den Versammlungen gehört, jeden Morgen, an dem er erwachte, hoffte er, es begänne die so oft versprochene Abrechnung mit den Generälen und den Fabrikherren. Der Traum von der großen deutschen Revolution lebte in diesen Menschen wie ein lang ersehntes Ostern. In seinem Blut spukte noch der wilde Trotz fränkischer Bauernhaufen gegen die Grundherren und Fürsten. Nach drei Monaten war Kilian in sein Dorf zurückgehumpelt. Er glaubte nicht mehr an die Revolution. Das Volk war zu feig.
Der Staat schenkte Kilian eine Prothese und eine kleine Rente. Acht Monate hauste Kilian mit dem Vater in der Hütte, dann gelang es ihm, die Posthalterstelle zu bekommen. Er zog aus der Hütte ins Gemeindehaus, dort wurde ihm eine Stube mit einer Küche angewiesen, ein Jahr später heiratete er. Keines der Dorfmädchen mochte den Invaliden, der obendrein noch arm war. Aber hinter dem Berg, in Hofen, wohnte die Tochter des alten
Lämmle. Beim Tanz und in der Kirche saß sie allein. Keiner der jungen Männer sah nach ihr hin. Auch die Frauen mieden sie, und der alte Bauer schalt sie den ganzen Tag wie ein krankes Stück Vieh. Regina hatte ein Kind, einen Jungen von drei Jahren. Sein Vater war ein kriegsgefangener Franzose, der längst wieder in die Provence zu seiner Frau heimgekehrt war. Nur einmal noch hatte er geschrieben, ein Paket hatte er geschickt mit Wein und Datteln und Schokolade, aber das hatte der Zoll in Siebenwasser Regina weggenommen. Seitdem lebte sie als Magd im Hof ihres Vaters, geduldet und geplagt, verhöhnt von dem Spott des Dorfes. Kilian war Regina 1920 in der Wirtschaft „Zum wilden Esel", die oben im Wald liegt, begegnet. Sie hatte Käse abgeliefert und saß auf der Bank vor der Küche, um auf das Geld zu warten. Sie sah auf den Boden und hielt ihr Kind fest an der Hand. Erst vor zwei Tagen hatten es die Buben mit Steinwürfen durchs Dorf gejagt. „Franzosenbankert" hatten sie gerufen, und wäre der Herr Pfarrer nicht dazwischengetreten, sie hätten es in den Ententeich gehetzt.
Lange hatte Kilian an diesem Abend mit Regina gesprochen, er war ein Stück neben ihr durch den Wald gehumpelt. Zum ersten Mal sprach ein Mann
wieder mit ihr, als sei sie ein Mensch. Und wie hatte er gesprochen! Seine schwere Stimme hüllte sie ein, und sie hatte keinen anderen Gedanken als den, dass er noch bleiben möge und neben ihr hergehen. Kilian hatte vom Krieg erzählt, von seinem Bein, das bei Verdun lag, von den Offizieren, die 1918 geschlottert hätten, von dem Gejammer der Feldwebel und den Gaunereien der Zahlmeister. Und er hatte gelacht und gesagt, das Volk sei dumm. Und besonders die Bauern. Alles hätten sie vergessen, und sie liefen wieder zu den Regimentstagen, und sie marschierten wieder an den Generälen vorbei, als sei gar nichts gewesen. Er aber habe das nie vergessen. Für ihn sei der Zauber erledigt. Still waren sie voneinander gegangen. Am Sonntag drauf aber war Kilian bei dem armen Lämmle erschienen. Da brauchte es keiner langen Rede. Der alte Bauer war glücklich, dass ihm einer die Schande von seinem Hof wegheiraten wollte, und er ließ es auch zu, dass Kilian die Nacht dablieb, damit er nicht die Katz im Sack kaufe. Soviel Liebe wie in dieser Nacht hatte Kilian noch nie umschlungen, und als er am nächsten Morgen hinunter nach Erlenbach humpelte, um rechtzeitig zum Dienst zu sein, sagte er dem alten Lämmle beim Abschiedstrunk, für so ein Weib gäbe er zehn tugendsame, und seine Mutter habe immer gesagt, es seien die schlechtesten Früchte nicht, an denen die Wespen nagen. Der alte Bauer nickte und begleitete Kilian bis ans Ende der Gemarkung. Als sie voneinander gingen, sagte er: „Ich weiß, es ist ein strammes Weibsbild und den Bankert hätt ich schon auf mich genommen, aber dass sie's mit einem Franzos trieb, das kann ich nicht rund kriegen."
Da hatte Kilian gelacht und war schweigend davon gehumpelt. So ein Stockfischbauer! Bildet sich eine Schande ein, wo weiter nichts war als ein Weib mit seiner Freude und seiner Lust. Sie heirateten im Sommer. Regina zog in die Posthalterei. Das Kind brachte sie mit. Kilian gab ihm seinen Namen, und wenn einer im Dorfkrug nur den Mund aufmachte und ein Wort über seine Frau fallen ließ, hob der Posthalter seinen Stecken.
Kilian Kern hatte den Dorfausgang erreicht. Er hielt ein und wischte den Schweiß von der Stirn. Seit er hier im Dorf die Posthalterstelle verwaltete, hatte er sich nie mehr um Politik gekümmert. Sie dünkte ihm Geschwätz um eine verlorene Sache. Das war ein Beruf, von dem er nichts verstand. Er ging zu keiner Wahl. Er besuchte keine Versammlung. Mochten die dort reden, soviel sie wollten, geändert wurde ja doch nichts.
Wenn er abends nach den Postgängen seine Prothese abschnallte und seinen Siebkäs mit Quellkartoffeln aß, wenn er dann zu Regina ins Bett kroch, weil sie Licht sparen mussten, denn ein Kind war unterwegs, drehte er oft das Wort Vaterland in seinen Gedanken hin und her, und er meinte zu Regina, mit nichts würde soviel Schwindel getrieben wie mit diesem Wort. Vier Jahre lang habe er dafür im Dreck gelegen, und sein Bein ist dabei draufgegangen. Warum nur die Leute immer von einer Sache schwärmten, die einen verdammt viel kostet? Und was man schon von dem Vaterland habe? Siebkäs und Kartoffeln und, wenn es hoch kommt, zum Sonntag ein bisschen Fleisch. Immer, wenn ihr Mann so sprach, hatte Regina sich an ihn gelegt und ihm den Mund zugehalten. Das waren lästerliche Gedanken, die aus seinem Herzen
kamen. Das gehörte sich nicht für einen Posthalter. Das konnte ihn die Stellung kosten. Schwanger lag sie neben ihm, dicht gewebt hing die Dunkelheit im Zimmer, und das Herz des Kindes klopfte in ihrem Leib. Sonntags gingen sie immer in den Wald. Sie rasteten in einer Grasmulde, und Kilian holte den Atlas hervor, den er in einem französischen Schloss in der Champagne erbeutet hatte. Es war ein dickes Buch mit bunten Tafeln. Alle Länder waren darin und viele Bilder von Städten und fremden Flüssen. Und immer wieder deutete Kilian auf das Bild der Stadt Stockholm mit dem Schloss, das aussah wie ein großer Juwelenkasten, und auf das blaue Meer mit den Schiffen und den Flößen. Und dann schlug er ein paar Seiten um, und die Spitzen vieler Kirchen stachen in einen kobaltblauen Himmel, und Moskau stand in einer Schleife über dem Ganzen. Und er schlug weiter die Blätter um. Turm an Turm stand da, und die Türme waren Häuser, und vor ihnen glänzte der Ozean, und schwere Schiffe lagen am Kai. Das war New York.
Sie saßen in der Grasmulde. Hinter ihnen wuchsen die Buchen in gestufter Ordnung, die Weihe kreisten still über dem Wald, das Schaumkraut blühte, und alles war nah und wohlbekannt. Kilian hielt den Atlas.
„Warum ist der Mensch arm?" fragte er und deutete auf Stockholm, auf Moskau und auf New York. „Warum kann ich nicht dorthin gehen und sehen, wie es bei den anderen ist? Warum müssen wir sterben und kennen kaum mehr als Erlenbach?" Immer wieder versuchte Regina ihren Mann von dem Atlas zu befreien. Aber er hütete ihn besser als die Bibel. Oft rief er nachts im Traum nach den Männern von New York.
So lebte der Posthalter Kilian Kern. Dem Vaterland hatte er sein Bein gegeben. Er glaubte, das genüge für ein Leben. Heimlich träumte er von der Welt. Aber sie war weit, denn Kilian war arm. Es war in der Nacht, als das Kind kam. Regina schrie schon zwei Stunden. Kilian saß in der Küche und trank Schnaps. Da waren sie wieder, die Schreie, wie im Trichterfeld. Und man saß da und musste es über sich ergehen lassen. Der unsichtbare Feind schoss, und die Frau wälzte sich unter seinen Treffern. Und wie er so voller Angst ins Schnapsglas blickte und nebenan im Zimmer die Regina kreißte, da kam es plötzlich über die Straße: rumbum, rumbum, eine Trommel, und dann Gesang und Marschtritt. Er war aufgesprungen und ans Fenster gelaufen, und vor ihm, im Licht des Mondes, standen sie in der Runde des Platzes, vierzig Mann in Uniform, ausgerichtet wie im Etappenlager, und er hörte das „Rührt euch!", und er vernahm die Stimme des Offiziers: „Alle mal herhören! Nächsten Samstag Gepäckmarsch, Antreten sechs Uhr früh. Dass keiner mit faulen Ausreden kommt! Kneifen gilt nicht. Sieg Heil! Sieg Heil! Wegtreten!"
Kilian war mit einem Sprung vom Fenster zurück. Ein fürchterlicher Schrei hatte aus dem Nebenzimmer geantwortet. Er riss die Tür auf. Da lag die Regina im Blut, und die Hebamme schwang das Kindchen durch die Luft.
Er war zum Bett gestürzt. Zitternd stand die Amme
vor der Frau. Das Blut schoss über die Linnen. In polternden Sprüngen war Kilian auf der Straße. Er rannte wie damals bei Cambrai, als die Engländer durchbrachen. Er holte den Doktor Fritz aus dem Dorfkrug. Und während der alte Mann mit der Goldbrille dann oben im Zimmer stand und den blutenden Leib der ohnmächtigen Frau tamponierte, hörte Kilian Kern durch das offene Fenster weit hinter den Bäumen, am Rande der Nacht: „Siegreich woll'n wir Frankreich schlagen..." Neben dem Spankorb, in dem das Kind lag, kniete die Amme. An ihren Händen hing Blut, doch ihr Gesicht lächelte über dem Knaben.
Nie hatte Kilian Kern diese Nacht vergessen. In der Küche hatte er lange mit dem Doktor Fritz gesprochen. Wie elend das Leben sei. Einen Liter Kirsch hatten sie getrunken. Geflüstert hatten sie. Der alte Landarzt hatte noch ein Fläschchen mit Herztropfen aus der Tasche gezogen, dann wollte er gehen. Aber Kilian hatte ihn gehalten. Warum die Menschen immer alles vergäßen? Da hatte der Doktor Fritz gelacht und gesagt, damit müsse man sich entweder abfinden oder sich aufhängen.
Das lehre die Praxis. Kilian aber war aufgestanden, hatte das Kind mit dem Spankörbchen geholt, da stand es in der Küche, und das rötliche Wesen schlief den ersten Schlaf in der Welt — ob er es gehört habe vorhin? „Natürlich", sagte der Doktor Fritz. Und ob er glaube, dass mit solchem Singen aus den Menschen etwas würde. „Nein", lächelte der Doktor Fritz, „immer wieder fängt es von vorne an." Da stellte Kilian das Spankörbchen wieder ins Zimmer, schnallte seine Prothese ab und legte sie auf den Tisch. „Einmal vor vielen Jahren, das war bei Bapaume, da lagen wir im Graben, und es war Weihnachten. Und der Leutnant, der in meinem Unterstand lag, spuckte Blut, schaumiges Blut, Herr Doktor. Die Nacht war so ruhig wie hier meine Hand, und die Leute sangen in den Löchern, und von den Franzosen kam kein Schuss. Zwei Kameraden und ich trugen den Leutnant auf einer Zeltbahn nach hinten. Wir konnten aufrecht gehen, obwohl der Mond schien. Überall sang es aus den Löchern, als hätten die Ratten Feiertag. Und wie wir so gingen und an das erste Lazarett kamen und dort den ersten Lichterbaum sahen, da trugen wir den Leutnant hinein in die Halle. Und immer noch war Schaum, rötlicher Schaum vor seinem Mund. Wir haben ihn niedergelegt, und ein Arzt kam, und er nickte uns zu, und wir trugen den Leutnant in ein Zimmer. Das war das Zimmer des Arztes. Dort lag der Leutnant im Bett. Unten spielte einer auf einem Klavier, so ein Lied vom Frieden. Da hat sich der Leutnant plötzlich ganz hoch gesetzt, und er hat meine Hand genommen, und er hat geflüstert: ,Du, wenn du nach Haus kommst, sag es ihnen, sag's, es muss alles ganz anders werden...' Dann starb er. Sehen Sie, er legte sich einfach um und wurde weiß im Gesicht."
Kern trank. Doktor Fritz trank auch. Dann sagte Kern: „Es ist aber nicht anders geworden." Leise kam die Amme aus dem Zimmer. Sie ging an den Herd und kochte Kaffee.
Gerhard Träger hatte sich den Bericht Hans Diefenbachs angehört. Sie saßen in der großen Stube des Bauernhauses. Auf dem Tisch lagen Karten ausgebreitet, das Deutsche Reich in seiner Schmälerung durch den Versailler Vertrag. Jenseits der Landesgrenzen waren jene Gebiete rötlich schraffiert, in denen Deutsche als Minderheiten wohnten. Gerhard Träger wollte an diesem Abend, bevor die Nachtübung stattfand, die erste staatspolitische Stunde eröffnen. Man musste den Jungens, die sich seit einem halben Jahr um ihn versammelten, eine Vision ihrer Aufgabe geben, und diese war für Gerhard Träger und für alle, die wie er sich der Bewegung angeschlossen hatten: die Einigung aller Deutschen in einem großen geschlossenen Reich. Hans hatte ohne Umschweife erzählt. Knapp hatte er gesagt, was in der Schule vorgefallen war. Er hatte nichts verheimlicht, auch seine Furcht nicht und seine Skrupel.
Der dreißigjährige Offizier betrachtete den Jungen. Der offene Ernst seiner Rede gefiel ihm. Diese Bereitschaft sich zu opfern, ohne Anspruch auf Lob und Lohn, dieser Glaube an die Erneuerung des Menschen von Grund auf und an die Wiedererstehung des Reichs in all seiner Herrlichkeit ruhten in den Augen des Jünglings so hell und aufrichtig, dass Gerhard Träger eine wehe Erschütterung empfand, wenn er gegenüber diesem Gesicht an die Visagen all der rachsüchtigen Kleinbürger dachte, die als Wahlhaufen immer mehr zur Bewegung stießen. Für eine Sekunde spürte er, dass sich die Gefahr eines widerlichen und fluchwürdigen Verrats zusammenziehe, eines Verrats an Glauben und Arglosigkeit, aber kaum hatte der Gedanke ihn wie ein Schatten berührt, schüttelte er ihn schon ab. Er trat zum Tisch. Hans hatte sich erhoben. Lange sah er den Jungen an. Das waren die gleichen Augen wie damals 1914 in Flandern, als sie bei Ypern zum Sturm antraten gegen das britische Feuer. Die gleiche Todesliebe sprach aus diesem Blick. Die Flamme brannte weiter. Die Niederlage hatte sie nicht gelöscht.
„Es ist eine schwere Stunde für dich", sagte der Oberleutnant, „du weißt, was du aufgibst?" Hans nickte. Klar lag sein Auge in dem Blick des Offiziers.
„Du weißt, dass dich nichts als Kampf erwartet, Hans, nichts als Kampf, denn es ist kein Frieden." „Ich gehorche dem Führer", antwortete Hans. Sie schwiegen. Die Hand des Jungen lag in der Hand des Offiziers. Regungslos.
Kilian Kern hatte den Karren weit vor das Dorf geschoben. Hinter dem ersten Meilenstein zog sich der Weg die Wiese hinauf. Die Sonne stach, und über dem Wald schoben sich blauschwarze Wolken. Kilian kochte vor Wut. Er hasste die Pakete dort vor ihm im Karren. Kaum zehn Jahre war der Krieg zu Ende, und schon wieder schnarrten die alten Kommandos abends über die Wiesen. Im Dorf war es aus mit der Ruhe. Die jungen Bauern übten sich im Kleinkaliberschießen. Noch ein paar Jahre so weiter, und alles war vergessen. Umsonst die Gebete im Schlamm, umsonst das Schreien der Weiber zu
Gott... im Namen des Vaterlandes besoffen sie sich wieder, die Jungen, das ganze Dorf war verrückt. Neulich, da war eine Versammlung gewesen, in der Turnhalle hatten die Bauern gestanden, zweihundert Männer und Weiber. Der Mann, dem sie zuhörten, war aus Siebenwasser, ein Postsekretär. Alle Schuld für die Sorgen und die Not im Dorf trügen die Marxisten und die Juden. Dann aber kam der Satz, den Kilian Kern sich genau gemerkt hatte: „Knüppeln wir den inneren Feind nieder, damit wir stark werden. Jagt den Jud und die Bonzen aus dem Land, dann sind wir unüberwindlich. Dann kann uns keiner das Recht streitig machen, das wir als Herrenvolk beanspruchen und das wir uns holen werden." Aha, hatte Kilian Kern gedacht, so läuft der Hase. Erst die Juden und die Marxisten und dann los auf die anderen Völker.
Die Prothese knarrte. Ihn werden sie nie herumkriegen mit solchen Flausen. Und wenn er hundert gesunde Beine hätte, würde er nicht mehr marschieren.
Es waren etwa hundert Meter vor dem Haus Gerhard Trägers, als der Karren in der ausgefahrenen Furche kippte. Die Pakete rollten auf den rötlichen Boden. Mit einem Fluch blieb Kilian Kern stehen. Da lagen sie, vier an der Zahl, und eines von ihnen war offen.
Vor den Augen des Invaliden zeigten sich ein braunes Hemd, ein Schulterriemen, ein Koppel, eine schwarze Hose und ein Paar feste Stulpenstiefel. Grinsend stand Kilian Kern vor der Konfektion. Das also waren die Uniformen, von denen die
Bauernburschen schon seit Tagen im Dorfkrug herumschwatzten. Dafür war also Geld da, aber für ein abgeschossenes Bein oder für ein zerfetztes Gesicht, da fehlte es an allen Ecken und Enden. Das Blut schoss ihm in die Augen. Er nahm einen Stein und schmiss nach dem Hemd. Er spuckte auf die Stiefel.
„Affentheater!" brüllte er, „Affentheater!"
Da brach der Regen los, und ein scharfer Blitz ging nieder hinter dem Wald.
Schickedanz saß bei Mutter Döring unten am Hafen. Er war allein in der Weinstube. Um elf Uhr war er gekommen, und jetzt war es vier. Durch die in Blei gefassten Scheiben sah er den Fluss. In dem künstlichen Seitenarm, der sich Hafen nannte, lag ein voll beladener Kohlenkahn. Seit einer Stunde fiel ein dünner, zäher Regen. Die Berge waren verhängt. Schickedanz starrte auf das Wasser. Vor ihm stand das dritte Viertel Wein. Schickedanz wartete auf Kalahne.
Um fünf Uhr wollte er hier sein. Dann würden sie die Erklärung aufsetzen, die der Verleger verlangte. Dieses verfluchte Stück! Kopf und Kragen hatte es ihn gekostet. Als er am Morgen nach dem Theaterskandal auf die Redaktion gekommen war, wurde er sofort zu Herrn Breitwieser zitiert. So hatte er den Alten noch nie erlebt. Dieser Zeitungsplantagenbesitzer, für den der redaktionelle Teil nur eine Beilage zu den Inseraten war, machte plötzlich in Überzeugung. Weiß der Teufel, wer ihm diese Worte eingeblasen hatte, aber das hagelte nur so von Geistesfreiheit, Tempel der Kunst, Sonderrecht des Dichters und ähnlichen Scherzworten aus der Vorkriegszeit. Kurz, man machte sein Referat für die Ausschreitungen verantwortlich, und man kündigte ihm fristlos, weil er sich zum Sprecher der Straße gemacht hätte.
Mein Referat..., hatte Schickedanz gedacht, doch er war schweigend in sein Zimmer gegangen, hatte sich sein Stück Seife und sein Handtuch aus dem Spind geholt und war dann ohne jedes Aufsehen aus dem Zeitungshaus verschwunden. Bei Mutter Döring hatte er den Leiter der Expeditionsabteilung getroffen, der hatte ihm erzählt, dass beinahe dreihundert Abbestellungen nach Schickedanz' Kritik eingelaufen seien, worauf es Schickedanz klar wurde, was es mit der Geistesfreiheit des Herrn Breitwieser auf sich hatte. Knüppelvoll hatte er sich getrunken, dann war er zu Kalahne gegangen. Kalahne hatte ihn hinausgeworfen. Er solle am nächsten Tag wiederkommen, wenn er nüchtern sei. Knurrend war Schickedanz gegangen. Bis um drei Uhr in der Früh hatte er bei Mutter Döring gesessen, dann hatte er bei Maria geklopft, aber die hatte Besuch.
In dieser Nacht hatte ihn ein unbändiger Hass gegen Kalahne gepackt. Dieser ehrgeizige Teufel hatte ihn in der ganzen Affäre zum Prügelknaben gemacht. Jetzt saß er auf der Straße, und der Mutter konnte er auch nichts mehr schicken. Wäre es wenigstens noch eine politische Tat gewesen, ein klarer Hieb gegen diesen langweiligen Weimarer Staat — so aber war er nur innerhalb einer Intrige, deren Zweck er nicht kannte, auf der Strecke geblieben, ja, noch schlimmer, er war lächerlich geworden, man nannte ihn einen Mucker, einen Finsterling, einen Reaktionär. Schickedanz war fest entschlossen gewesen, mit Kalahne zu brechen und am nächsten Tag im „Volksrecht" alles zu enthüllen, als er gestern Abend die Wohnung des kleinen Doktors betrat. Bevor er jedoch zum Sprechen kam, legte ihm Kalahne die Kopie eines Briefs vor, den die Redakteure sämtlicher in Siebenwasser erscheinenden Zeitungen heute an seinen Verleger abgeschickt hatten. Das Schreiben begann mit einer sachlichen Ablehnung seines Referats, um dann jedoch zu betonen, dass es dem Geist wie dem Buchstaben der Verfassung widerspreche, einen Menschen wegen seiner Gesinnung zu maßregeln. Man lebe in einem Rechtsstaat, der die Freiheit der Kritik garantiere, und die Standesvertretung der Journalisten von Siebenwasser müsste sich aus prinzipiellen Gründen hinter ihren gemaßregelten Kollegen stellen, wenn sie auch sachlich sein Referat ablehne. Es handle sich hier um das Grundgesetz der Demokratie, um das Recht der freien Meinungsäußerung, und dieses sei unantastbar. Sie verlangten die Aufhebung der Kündigung, andernfalls übergäben sie die Sache ihrem Vorstand in Berlin und dem Ministerium in Stuttgart. Unterzeichnet war der Brief von allen Redakteuren, auch von denen des „Volksrecht".
Schickedanz hatte sich an den Kopf gefasst. „Sind die verrückt?" hatte er Kalahne gefragt.
Ein Grinsen war die Antwort.
„Also im Namen der Demokratie, die wir bekämpfen und die du mit deinem, Pardon, ich mit meinem Referat verhöhnt habe, im Namen dieser jüdischen Geistesfreiheit, die aus Deutschland einen Saustall gemacht hat, im Namen dieser Verfassung, die wir... die Kerle sind total verrückt. Das heißt ja sich selbst entmannen. Das ist ja kein Kampf mehr, das ist einfach..."
„... legal", hatte Kalahne geantwortet, und als er das verdutzte Gesicht des Schickedanz sah, da hatte er ihn wieder angegrinst und gesagt, er solle sich endlich die romantischen Flausen von Putsch, Barrikaden und so aus dem Kopf schlagen. Die Taktik habe sich gewandelt. Man werde die Demokratie durch die Demokratie schlagen. Und als Schickedanz immer noch taub und verständnislos dreinschaute, da war dieses Wort gefallen, über das er seit Tagen nachgrübelte und das ihm den Wein sauer machte: „Mir scheint, deine Menschenverachtung reicht für diesen Gedanken noch nicht aus." Schickedanz sah auf den Fluss. In dünnen Schleiern hing der Regen über dem Ufer. Er wehte durch die Bäume und an den Fenstern vorüber. Er sprühte auf den Dächern, und der Rauch der Kamine zog in gequälten Spiralen. Schickedanz trank. Um ihn lag die weiche Hülle des Rauschs. Der Kohlenkahn war ein gestrandeter Walfisch, und der Hafen da und die Häuser, das war eine norwegische Stadt.
Es war kurz vor fünf Uhr, als Kalahne in seiner Wohnung von Stadtrat Schrader angerufen wurde. Er möge sofort ins Büro kommen, es sei eine eilige Sache. Kalahne ging. Er war verärgert. Die ganze Einleitung des Samstagnachmittags war durch diesen Anruf umgeworfen. Bei Mutter Döring wartete Schickedanz. Der Brief, den der Verleger Breitwieser für die Beilegung des Konflikts verlangte, in dem Schickedanz nichts weiter zu erklären brauchte, als dass er die terroristischen Methoden der Straße ablehne und sie auch in Zukunft verurteilen werde (wie billig war diese Demokratie), der Brief sollte heute Abend geschrieben werden, bevor neue Komplikationen eintreten konnten. Schickedanz musste unbedingt in die Zeitung zurück. Märtyrer waren vorläufig überflüssig. Wichtiger war es, durch ergebene Leute den bürgerlichen Apparat zu durchsetzen! Überhaupt diese Revolutionstümelei! Diese blaue Blume der Barrikaden. In seinen „Richtlinien zur Eroberung der Macht", die er vor wenigen Tagen nach München geschickt hatte, stand der Satz: „Die Strategie unserer Revolution darf sich nie nach den pathetischen Vorbildern des neunzehnten Jahrhunderts richten. Siehe das naive Bild der Barrikaden von Delacroix. Wir müssen dem Staat das Blut nehmen, indem wir ihm durch eine ameisenhafte Emsigkeit die Menschen entfremden. Dazu brauchen wir die Mittel der Demokratie und nicht den Aufstand. Eines Tags muss das Volk außerhalb des Staates stehen. Das ist die Revolution!" Kalahne ging durch die Anlagen nach dem Rathaus zu. Der Regen nässte seine Stirn.
Stadtrat Schrader saß in seinem Amtszimmer über der Berechnung des Etats, der in wenigen Wochen den Stadtverordneten vorgelegt werden sollte. Es war eine prekäre Situation, in der er sich befand. Zur Annahme des Etats bedurfte es einer sicheren Mehrheit. Bisher hatten Sozialdemokraten und Zentrum eng zusammengearbeitet, und alles, was der Magistrat projektierte, stand auf dieser Basis. Aber da war vor wenigen Wochen dieses unglückselige Stück über die Bühne gegangen, und seitdem war der Teufel in Siebenwasser los. Zum Glück hatten die jungen Burschen einen Skandal verursacht, der weit über das Stück hinausgriff und sich sehr rasch als eine Attacke gegen die herrschende Ordnung entpuppte. Das hatte wenigstens die schlimmsten Weiterungen erspart, denn das Zentrum, das ursprünglich die Premiere als einen Casus belli auffasste, war vor öffentlichen Erklärungen zurückgeschreckt und hatte seine Proteste in die Kulisse verlegt. Verbissen war der Kampf der Fraktionen. Die Sozialdemokratie kam immer wieder mit ihrer Geistesfreiheit, doch das Zentrum drohte die Koalition zu kündigen, wenn nicht endlich mit solchen Theatereskapaden Schluss gemacht werde. Das waren heiße Verhandlungen. Alles schien wegen dieser Theatersache auseinander zu fallen. Vier Tage hatte Stadtrat Schrader auf die Sozialdemokratie eingeredet, sie sollten dem Zentrum für seinen Verzicht auf einen Protest ein Äquivalent geben. Am fünften Tag hatte er endlich den Preis. Das Zentrum bekam den Schulratsposten im Außenbezirk. Geistesfreiheit und Koalition waren gerettet. Der Etat lief keine Gefahr. Die Verhandlungen waren streng vertraulich gewesen. Außer den Fraktionsführern waren nur er und Dr. Kalahne zugegen. Befriedigt war man auseinandergegangen. Die Vernunft hatte gesiegt. Drei Tage später wurde ein Flugblatt in Tausenden von Exemplaren auf den Straßen verteilt, überschrieben: „Der Schacher der Parteien." Im Ton maßlos, aber in der Sache nicht unrichtig, wurde darin die Verhandlung um den Schulratsposten enthüllt. Unterschrieben war es von dem Postsekretär Dern, der sich Gauleiter der Nationalsozialistischen Arbeiterpartei nannte. Der maßlose Ton erlaubte ein formelles Dementi, dazu kam, dass Dern wegen seines herrischen Auftretens bei den Bürgern sehr unbeliebt war, aber es blieb doch der furchtbare Rest eines bitteren Verdachts. Wer hatte Dern informiert? Eine Nacht lang hatte Stadtrat Schrader alle möglichen Kombinationen in seinem Kopfe gewälzt. Er kam zu keinem Ende. Alle Beteiligten hatten Schweigen gelobt. Ob Doktor Kalahne? Ein wahnwitziger Gedanke, wenn man wusste, dass dieser tüchtige Mensch für eine Kreatur wie Dern nur Spott übrig hatte. Hatte er ihn nicht erst kürzlich im Salon der Frau von Berg den Wotan von Siebenwasser genannt? Verkehrte er nicht bei Kommerzienrat Aschaffenburg, einem Juden? Allerdings sagte man ihm nach, er ginge auch in dem Haus dieses Oberleutnants Träger ein und aus, aber daraus machte er selbst keinen Hehl. Dieser Träger war ein verwirrter, verbitterter Offizier, aber die literarische Bedeutung, die er mit seinem Kriegsbuch nicht zuletzt mit Hilfe der großen liberalen Presse erlangt hatte, war nicht abzustreiten. Niemand konnte es Kalahne verübeln, dass er sich auf dem Boden der
Kunst auch mit politischen Gegnern traf. Man lebte schließlich in einer Demokratie und nicht unter einem Zaren.
Schrader seufzte. Sein Verdacht ging in einer quälenden Richtung. Es musste Schnüffler und Horcher unter seinen Beamten geben. Schon seit einigen Wochen hatte er bemerkt, dass zwei Stadtsekretäre den „Schwäbischen Adler" in den Frühstückspausen lasen. Er hatte darüber hinweggesehen. Was ging ihn die Privatlektüre seiner Beamten an? Aber seit diesem Flugblatt fühlte er sich unsicher. Der Boden schien ihm unterwühlt. Er schloss alle Papiere weg. Welch eine Atmosphäre! Beamte als Spitzel und Schnüffler. Das bedeutet die Erwürgung jeglichen Vertrauens.
Stadtrat Schrader war ein konzilianter Mensch. Für ihn war das Kompromiss im Leben der widerstreitenden Kräfte die einzig würdige Lösung. Er liebte die offene Aussprache. Und er hasste nichts mehr als Dunkelmännerei.
Besorgt saß er vor seinem Schreibtisch. Wenn es nur ein Mittel gäbe, diese vergiftete Atmosphäre zu bereinigen. Wie unwürdig war dieses Getuschel in den Wirtshäusern, wie ekelhaft war für den freien Geist der Stadt Siebenwasser diese Schlange von Verdächtigungen und Verleumdungen, die durch die Häuser kroch.
Der Amtsdiener brachte eine Karte. Schrader las:
Henri Jockel
Eigentümer und Restamateur
in einer lebenswichtigen Sache für das Gemeinwohl.
Schrader runzelte die Stirn. Was mochte das wohl wieder sein? Henri Jockel, ein ausgezeichneter Hotelier, berühmt wegen seiner Küche und seines Kellers, hatte einen peinlichen Fehler. Er war ein unverbesserlicher Projektemacher. Kaum ein Monat verging, dass er nicht mit einem Plänchen kam. In seiner Jugend hatte er sich ernsthaft damit beschäftigt, den Neckar nach Norden umzuleiten und ihn mit dem Main zu verbinden. Er nannte den Plan gigantisch. Kein Mensch wusste, was er damit bezweckte. Aber gigantisch, das war sein zweites Wort. Als sein erstes Kind kam, hatte seine Frau eine gigantisch schwere Geburt. Wenn einer seiner Gäste einen kleinen Schwips hatte, dann sagte Henri Jockel: „Der ist gigantisch blau." War das Wetter ansprechend und gut, so war es für ihn gigantisch schön, goss es wie aus Kübeln, so war das ebenso gigantisch. Nichts war harmlos genug, um nicht gigantisch zu sein. In Siebenwasser hieß Henri Jockel allgemein der Giganz. Stadtrat Schrader überlegte, aber bevor er dem Amtsdiener einen Bescheid geben konnte, war Jockel schon im Zimmer. Aufgeregt polterte er auf Schrader ein. Der Bäuerle sei zurückgekommen, der Johann Kaspar. Vor fünfundzwanzig Jahren sei er mit ihm auf der Schule gewesen, da habe er kaum drei Knöpfe an der Hose gehabt, so gigantisch arm sei er gewesen. Aber heute sei er bei ihm abgestiegen, in einem „Lassaich", wie seine Frau das gigantische Auto nannte, und eine Tochter habe er bei sich, so eine gigantische Schönheit gäbe es überhaupt nicht mehr. Und sie hätten natürlich ein Gläschen getrunken, und dabei hätte ihm der Bäuerle anvertraut, er besitze große Fabriken in Amerika, aber er wolle in Siebenwasser bleiben und sein Geld in der Heimat verzehren.
In Stadtrat Schrader wuchs ein Gedanke. Wenn der Jockel nicht phantasierte, dann hatte er hier die nötige Ablenkung für die Stimmung in der Stadt, nach der er seit Tagen suchte.
Kalahne betrat das Rathaus durch einen Nebeneingang. Es war Samstagnachmittag. Die Flurtüren standen weit offen. Er roch den süßlichen Dunst der Akten, und er hörte das Geschlurf der Scheuerfrauen zwischen den breitgesessenen Stühlen der Bürokratie.
Als er Schraders Zimmer betrat, ging der Stadtrat ganz gegen seine Gewohnheit auf und ab. Hinter ihm stand Henri Jockel und rief: „Ein Gut will er sich kaufen mit Weinberg und Wald, und wie es mit dem Museum stehe, hat er gefragt, und mit dem Theater und mit dem Altersheim, gigantisch, sag ich Ihnen!" Schrader blieb stehen. Er winkte Kalahne. Dann sagte er: „Jetzt wollen wir uns einmal setzen, und dann sind Sie so nett, lieber Jockel, und erzählen uns alles nochmals von vorne. Aber ruhig und ohne gigantisch."
Sie setzten sich. Henri Jockel stemmte die Hände auf die Knie. Tief holte er Atem. Er starrte auf den Teppich. Und er begann: „Vor fünfunddreißig Jahren, als ich noch ein Knabe war..."
In der Küche des Bauernhauses, das Gerhard Träger bewohnte, standen fünfzehn Pakete. Durch das enge
Fenster fiel träg das Licht. Zwei Männer standen im Halbdunkel. Ihre Oberkörper schimmerten nackt. Auf dem Tisch und über dem Herd lagen die Uniformen. Fünfzehn Paar Schuhe glänzten ausgerichtet an der Wand. Hell schimmerte die Haut des Knaben. Schweigend betrachtete ihn der Offizier. Hans hob die Hemden in die Höhe und maß sie an den Armen. Er lachte und prüfte das Kernleder der Koppel. Er streichelte die Sturmriemen. „Wirklich?" rief er, „wirklich?" „Ja, Hans", hörte er den Offizier, „nimm. Du verdienst es."
Da setzte sich Hans auf einen Stuhl, Stiefel und Hose flogen zu Boden, das alte, geflickte Hemd zog er herunter, nackt stand er in der Küche, Gerhard Träger trat auf ihn zu.
Verlegen lachte der Knabe. Er spürte die Hand des Offiziers an seiner Schulter.
„Warum fürchtest du dich?" hörte er weit eine Stimme.
„Ich fürchte mich nicht..."
Johann Kaspar Bäuerle lag auf dem Bett im Zimmer Nr. 1 des Hotels „Zum blauen Bären". Blinzelnd sah er zum Fenster. Die Türme von Sankt Andreas schimmerten graublau im Regen. Über den Dächern kroch der Rauch der Kamine. Die Traufen summten.
Johann Kaspar fühlte sich frisch. Der kleine Rausch des Weins war vorüber. Er hatte geschlafen. Erdig roch die Luft, die durchs Fenster drang. Bäuerle sprang auf. Er klopfte an die Wand, hinter der Irene wohnte.
Keine Antwort. Bäuerle wiederholte das Klopfen. Nichts. Rasch zog er sich an. Als er vor Irenes Tür stand, war sie verschlossen. Bäuerle ging ins Vestibül. Dort saß Irene.
Sie erhob sich, als der Vater kam. Neben ihr sah Bäuerle einen Mann, der sich korrekt verbeugte. „Das ist Doktor Kalahne, Papa, er kommt vom Magistrat, und er lädt uns ein, heute Abend an dem Festessen des Odenwaldvereins teilzunehmen. Nachher ist Tanz."
Bäuerle betrachtete den Doktor. Ein Pfaffengesicht, dachte er.
Kalahne wiederholte die Einladung.
„Ihr tut wirklich, als sei ich der Onkel aus Amerika",
lachte Bäuerle und schüttelte Kalahne die Hand, der
nur mit Mühe den Schmerz verbiss. „Was meinst du,
Irene?"
„Aber natürlich, wir kommen."
Kalahne verbeugte sich und ging.
„Der sieht gar nicht wie ein Deutscher aus", flüsterte
Irene.
Dann lief sie hinauf in ihr Zimmer. Als sie vor dem Spiegel stand und das weiche Licht der Lampe ihre Haut bedeckte, schloss sie für Sekunden die Augen. Sie sah die Straße nach Erlenbach. Sie sah das Auto. Und sie sah die Hand, die Hans ihr gegeben hatte, als er weitergegangen war, bleich und ohne ein Wort.
Frau von Berg hatte mit Bringolf zusammen das Manuskript durchgearbeitet, das der Intendant zur Feier des fünfzigjährigen Bestehens des Odenwaldvereins inszenieren sollte. Stunden hatten sie gebraucht, bis sie sich von der Lektüre erholt hatten. Es war ein Weihespiel in zehn lebenden Bildern mit Sprechrollen und Musik. So hatte es Rektor Allwohn genannt. Er saß seit Jahren im Vorstand des Vereins, ein wackerer Wanderer. Fünf goldene Plaketten zierten seinen Stock.
Siebzig Jahre alt war der Mann. Er gehörte mit zu den Gründern des Vereins. Es gab keinen Gipfel des Gebirges, den er nicht bestiegen, keinen Weg, den er nicht gegangen war. Er hatte die Markierungen ausgearbeitet, nach denen sich die Städter bei ihren Touren richten konnten. Das Klubhaus am Katzenbuckel war sein Werk, und die Sagen und Volkslieder aus den Spinnstuben hatte er in einem Bändchen gesammelt, das vor dem Krieg in der „Wiesbadener Volksbücherei" erschienen war. Dort standen die Sagen, aufgeschrieben in der einfachen Sprache des Volkes, dort standen die Lieder, und in ihren Melodien schwangen Liebe und Tod, Sehnsucht und Grausamkeit. Es war ein halbes Jahr vor dem Jubiläum, als Vater Allwohn, wie der bärtige Mann allenthalben genannt wurde, in der Vorstandssitzung des Vereins ein dickes Manuskript hervorzog. Dies sei ein Weihespiel, das er in langen einsamen Nächten sich abgerungen habe. Es sei das Vermächtnis seines Lebens. Er schenke es dem Verein und bäte um nichts anderes, als um die Aufführung am Tage des fünfzigjährigen Bestehens. Gerührt von der Geste des alten Mannes hatte der Vorstand das Weihespiel ungelesen angenommen und den Intendanten mit seiner Inszenierung beauftragt. Bringolf hatte das Manuskript lange in seiner Schublade
liegenlassen. Erst wenige Wochen vor dem Jubiläum hatte er es gelesen.
Er war sofort zu Stadtrat Schrader gegangen, der auch dem Vorstand angehörte. Der wilde Rodensteiner, so hieß das Stück, war ein lauter und lärmender Aufruf gegen die Juden, gegen die Franzosen, die hier die Welschen genannt wurden, gegen die Katholiken, die die Schwarzen genannt wurden, und am Ende, da begann ein großes Gemetzel unter den Schwarzen, den Juden und den Welschen. Der Rodensteiner hieb sie zu Tod, und Deutschland, die Wiege des Guten, war wieder frei. Es war unmöglich, dem alten, eigensinnigen Mann das Manuskript zurückzugeben. Es war aber auch unmöglich, es zu spielen. So blieb nichts anderes, als mit Vater Allwohn zu verhandeln. Fünf Tage lang hatte sich Bringolf dieser Prozedur unterzogen. Wenn er abends zu Frau von Berg kam und das veränderte Manuskript, das er dem hartgesottenen Alten abgerungen hatte, mitbrachte, war des Gelächters kein Ende. Es war Bringolf gelungen, dem Vater Allwohn die Schwarzen und die Welschen durch Allegorien zu ersetzen. Das sei künstlerischer, hatte er gesagt. So stand für die Schwarzen ein Kohlenbrenner, der die blonden Kinder verlockte, und für die Welschen ein Zigeuner, der Hühner stahl. Nur mit den Juden war es schwer. Da war Vater Allwohn zu keinem Kompromiss bereit. Das seien Volksverderber, und die Bauern wüssten davon ein Lied zu singen. Als aber Bringolf darauf hinwies, dass Herr Kommerzienrat Aschaffenburg sicherlich den jährlichen Zuschuss zu dem Klubhaus am Katzenbuckel sperren würde, opferte sich Allwohn unter Flüchen und Seufzern. Sie tauften den Juden in den Fremden um, aber das leicht jüdelnde Idiom der Rolle ließ sich Vater Allwohn nicht abhandeln. In fünf Tagen war das Weihespiel umgedichtet. Frau von Berg hatte tüchtig dabei geholfen. Aus Volksliedern hatten sie zusammen ein Singspiel gemacht, und nur die Heimkehr des wilden Rodensteiners war geblieben.
Bringolf stand hinter dem Vorhang. Er hatte sechs Beleuchtungsproben hinter sich, denn die Beleuchtung war die Hauptsache an dem Spiel. Die Bühne im Kasino war klein. Eine Garderobe gab es nicht. Die Schauspieler schminkten sich auf einem zugigen Gang. Frau von Berg spielte mit. Sie war das Vaterland.
Unten im Saal waren die Tische gedeckt. Um acht Uhr begann das Festessen. Dann gab es Reden. Um halb zehn sollte der Gong erklingen. Um zehn Uhr fünfzehn musste Vater Allwohn auf der Bühne stehen. Die Blumen waren bestellt. Auch ein Gabenkorb mit recht viel Kognak für den alten Herrn. Stadtrat Schrader stand oben an der Spitze der Tafel. Hell glänzte der Saal. Ihm zur Rechten saß Vater Allwohn. Der Alte war böse. Monatelang hatte er sich auf diesen Abend vorbereitet, einen neuen Gehrock hatte er bestellt, und die Rede, die er in der Tasche trug, hatte er wohl zehnmal umgeschrieben. Und jetzt saß er da, und alle Augen starrten auf den Mann, der links von Stadtrat Schrader, saß, Bäuerle hieß er, und vor fünfundvierzig Jahren war er sein Schüler gewesen, ein übler Patron. Vater Allwohn hörte die Worte des Stadtrats, er hörte seinen Namen, und er vernahm den Dank des Vorstands und der Stadt. Und er erhob sich und sprach. Und als er geendet hatte, da überbrachte ihm ein Diener ein großes Trinkhorn mit silbernen Beschlägen. Er füllte es mit Wein. Vater Allwohn setzte es an den Mund und trank es unter fröhlichem Beifall in einem Zug leer.
Aber schon klopfte der Stadtrat wieder an sein Glas, und Vater Allwohn spürte, wie alle Blicke hinweggingen von ihm.
Traurig sank sein Kopf vornüber. Er tat, als schliefe er.
„Bürger von Siebenwasser! Dieser Tag, den wir feiern in der Liebe zur Heimat und in Verehrung eines Mannes, der uns diese Heimat immer näher gebracht hat in einem siebzigjährigen Leben voller Pflichttreue, dieser Tag erhält noch einen besonderen Glanz."
Vater Allwohn öffnete leicht die Augen. Wie sie alle auf den anderen starrten! Sein Vater hatte kein rechtes Hemd anzuziehen, und seine Mutter musste waschen gehen.
„Es ist, so fügt sich das alles fast zu einem Wunder, ihr Bürger von Siebenwasser, es ist ein neues, großes Beispiel der Liebe zur Heimat, das heute Abend vor uns steht. Und es scheint, als sei der Tag gesegnet durch diese Liebe für unser Land, für unsere Stadt. Ein Mensch, der Siebenwasser als Kind verließ, der nach Amerika ging und dort allen Gewalten zum Trotz sich als Deutscher erhielt, er ist zurückgekommen an die Quelle seines Lebens. Er hat sie überstanden, die Kämpfe um das Leben, wie ein Mann. Das Glück, er hat es bezwungen. Aber er ist nicht satt geworden im Gold der Fremde. Sein Leben neigt sich dem Alter zu. Er will bei uns sein. Er hat sein Kind mitgebracht. Wir verneigen uns vor so viel Treue. Hier sitzt er neben mir, Johann Kaspar Bäuerle aus Baltimore. Wir heißen dich willkommen. Du bist wieder bei uns. Die Heimat hat dich wieder!" Schrader hob sein Glas. Alle standen auf. „Und so grüßen wir dich, der du uns die Treue bewahrt hast. Wir grüßen dich als Blut von unserem Blut. Als Sohn unserer Erde. Nimm teil an unserem Leben. Im Glück und im Leid. Prosit!" Alle hoben die Gläser. Eine große Stille lag über dem Saal. Und als sie die Gläser niedersetzten, war es, als seien alle ein wenig verlegen. Doch schon begann die Musik. „Es steht ein Baum im Odenwald..." Oben an der Tafel winkte der Mann Johann Kaspar Bäuerle, Tränen liefen über sein Gesicht, und er sang das Lied, das er vor fünfundvierzig Jahren in der Schule gelernt hatte.
Kilian Kern saß in der Küche und aß. Regina goss aus einem Schöpflöffel die Zwiebelsoße über die Kartoffeln. Schweigend zerdrückte sie Kilian mit der Gabel. Der kleine Otto lag im Spankorb und schlief. Draußen trieb der Wind eilig die Wolken über den Mond.
Kilian Kern erhob sich. Er ging zur Tür, zog seine alte Militärjacke an, setzte die Mütze auf und nahm den Stock.
„Ich gehe eben mal weg", und schon war er aus der Tür. Er knarrte die Stiege hinunter, Regina sah ihn nach dem Wirtshaus gehen. Sie räumte den Tisch ab, wischte das Wachstuch rein, dann ging sie zum Schrank und holte den Atlas. Vorsichtig schlug sie die Seiten um. Da war es, Paris. Das Glück der Welt hatte er es genannt. Nachts, als sie zu ihm schlich in den Verschlag neben der Scheune, da hatte er sie in seinen Arm genommen, und sie konnte nicht genug bekommen, wenn er erzählte. Paris... Regina starrte auf das Bild, und ihre Finger tasteten die Schleifen der Seine nach.
Kilian Kern ging in den Dorfkrug. Er trank zwei Gläschen Kirsch. Am Tisch der Großbauern schimpften sie auf den Staat. „Er hat schon recht", brüllte der Adameck, „wenn er sagt, schmeißt die Juden 'raus." „Es ist keine Zucht mehr im Land." — „Drei Jahre Militär, und die Burschen haben wieder Mumm in den Knochen."
„Und dann einen Krieg, und wir sind alle wieder zufrieden", brüllte Kilian Kern. Er zahlte und humpelte ohne Gruß hinaus. Fest hielt er den Stecken.
„Alle mal herhören!" Gerhard Träger stand vor der Front seines Sturms. Fünfundvierzig Männer waren zur Nachtübung gekommen. Die Uniformen waren verteilt. Drei Monate hatten sie gespart und gesammelt, bis das Geld nach München abgehen konnte. Jetzt waren sie endlich tipptopp. Das war ein Festtag, und sie musterten sich alle gegenseitig voller kindlichem Stolz.
„Parteigenossen, bevor wir zur Nachtübung ausrücken, eine kurze Erklärung. Ihr werdet euch alle schon gewundert haben, dass ich als einziger hier heute Abend nicht das Ehrenkleid der SA. trage. Ich will euch den Grund sagen. Unter uns steht ein junger Mensch, der allein nicht das Geld aufbrachte, das nötig ist, für das Kleid eines Soldaten Adolf Hitlers. Er ist arm. Wir alle sind arm. Aber er hat gar nichts. Was er aber hat, ist Opfermut und grenzenlose Liebe zum Führer. Diese hat er heute bewiesen. Er hat alles aufs Spiel gesetzt für die Idee, für die Bewegung. Deshalb habe ich ihm das braune Hemd, das für mich bestimmt war, gegeben. Ich grüße ihn im Namen des Führers. Ich grüße den SA.-Mann Hans Diefenbach. Heil!"
Brausend klang der Ruf durch die Nacht. Dann rückten sie aus.
Als sie in den Wald einbogen, löste sich der Invalide Kilian Kern aus dem Schatten eines Baums. Humpelnd folgte er ihnen.
Der Sturm hatte sich nach den Anordnungen Gerhard Trägers im Wald verteilt. Die Aufgabe war einfach. Das Wirtshaus „Zum wilden Esel", das in der Mitte der Schonung lag, sollte zerniert werden. Kein Mann, der dort war, durfte das Haus verlassen, ohne von der SA. gesichtet zu werden. Die Annahme bestand darin, dass marxistische Elemente in der Wirtschaft eine geheime Zusammenkunft abhielten und dass es gelingen musste, jeden Kurier abzufangen.
Hans Diefenbach kauerte mit Jürgen in einer Fichtenschonung. Seit dem Theaterskandal sahen sie sich zum ersten mal wieder. Sie knieten im feuchten Laub. Jürgen rauchte eine Zigarette. „Ja, da staunst du, ich wohne wirklich bei einer Hur, da gibt's keine Flausen. Eine feine Person. Verdient ihr Geld mit der Liebe. Meinetwegen. Aber die steht grade zu dem, was sie denkt. Die ist kein Bürger. Mensch, wie die für mich sorgt. Wie bei Muttern."
Hans lag ohne Bewegung. Die Uniform hemmte ihn. Weich stieg der Nebel über die Wiesen. „Du musst überhaupt nicht glauben, dass wir von den Bürgern etwas zu erwarten haben. Das ist feiges Pack. Das hat Angst vor jeder Revolution. Aber bei Maria, da hab ich Kommunisten getroffen, mein Lieber, das sind die richtigen, wenn wir sie erst haben! Drei Abende habe ich schon mit ihnen diskutiert. Dabei wird einem wohl. Die wollen wenigstens etwas. Weißt du, die wollen auch eine andere Welt."
„Was ist das, die andere Welt?" fragte Hans. „Das ist der Sozialismus", sagte Jürgen, „aber den können nur wir machen. Das sehen die Burschen noch nicht ein."
„Will der Führer den Sozialismus?" fragte Hans in das Dunkel. Jürgen lachte.
„Wenn er den nicht wollte, kein Aas liefe ihm nach. Er wird den richtigen Staat machen. Soldaten und Arbeiter und Bauern. Das ist das Neue, was wir brauchen."
„Und die andern?" fragte Hans. „Die sterben aus..."
Ein Pfiff. Sie sprangen hoch. Sie schoben sich über die Wiese.
Gruppe zwei. Der Sohn des Bauern Adameck und der Teifinger.
„Da liegen wir also herum", sagte der Adameck. „Lernst etwas", sagte der Teifinger. „Wenn's nur mal losging, im Ernst, mit diesen Saukommunisten..."
„Wart ab. Der Führer hat's versprochen." „Eine verdammte Geduld hat der. Soll endlich Schluss machen mit dem Marxismus. Der hängt einem jeden Verdienst ab. Muss wieder anders werden. Ich hau drein, dass es nur so kracht, wenn's losgeht..."
Ein Pfiff. Sie sprangen hoch. Dreihundert Meter liefen sie.
Dann verbargen sie sich im Schilf.
„Keine Sau bleibt leben, wenn es soweit ist", keuchte der Teifinger, „kein Jud und kein Soz."
Gruppe drei. Herr Blank aus Siebenwasser hatte doppelte Strümpfe angezogen für die Nachtübung. Es war Herbst, und mit den Erkältungen war nicht zu spaßen. Neben ihm lag Hungrich, ein Geometer.
„Du, wie lang, glaubst du noch, bis es losgeht?" „Wann es der Führer befiehlt." „Quatsch, das weiß ich auch. Aber wann geht es wirklich los?"
„Ich weiß nicht, aber ich freu mich."
„Du, das wird fein. Dann werden wir es den Herrn
Akademikern zeigen, diesen krackeligen Intellektuellen."
„Und den Warenhäusern und den Konsumvereinen..."
„Überhaupt der ganzen Sauerei."
Ein Pfiff. Sie sprangen in eine Schonung und warfen ihre Bäuche auf den federnden Boden der Nadeln.
Gruppe vier. Kilian Kern saß auf einem Anstand. Er war die Leiter hochgeklettert. Wie schön die Wiese da vor ihm lag. Und die braunen Burschen hupften darüber. Mein Gott, das wollten Soldaten sein. Wie das lief. Als hätte es Schwänze. Kilian steckte sich seine Pfeife an. Er blies den Rauch gemächlich von sich. Drunten pfiffen sie. Jammerbuben. Sollten mal mit mir gehen nach Verdun. Da gibt's nur den Tod und Männer. Und wer dort war, der will nichts mehr wissen von diesem Pfeifen und über die Wiese laufen. Der will sein Leben still vor sich hintun, anständig und unauffällig, und das Blut, das man verloren hat, das sollte genügen für die Ruhe der Kinder — ein Leben lang. Was hatte der Einjährige damals gesagt, er war ein Student, und er sprach immer so klug. „Kameraden", hatte er gesagt, „was wir hier tun, das ist eine Bluttransfusion für zwei Generationen." Und als sie ihn gefragt hatten, was eine Transfusion sei, da hat er gemeint, Blut opfern für das Leben der Kommenden. Das hatte ihnen eingeleuchtet, und als er dalag mit dem Kopfschuss, waren sie stumm um ihn gestanden, und der Älteste von ihnen hatte ein paar Worte vor dem Granatloch gesprochen, in das sie ihn einbuddelten. In seinem Tornister aber fanden sie einen Brief an seinen Vater. Da lasen sie: „Lieber Vater, das Blut, das hier fließt, reicht aus für hundert Jahre. Davon können sie leben, die hinter uns wachsen." Stumm hatten sie vor dem Brief gestanden. Da war es, das Wort, mit dem sie sich täglich zu rechtfertigen suchten, wenn sie töteten und getötet wurden. Das Leben, dachte Kilian Kern, ist in die Hände von Lausbuben geraten.
Er humpelte die Leiter hinunter. Dreimal schlug er mit seinem Stock in die Dunkelheit.
Hans Diefenbach und Jürgen lagen im Gebüsch. Scharf beobachteten sie die Schneise, die nach der Wirtschaft „Zum wilden Esel" führte. Sie hatten die Aufgabe, den Zugang zu bewachen und jeden, der sich der Wirtschaft näherte oder sie verließ, durch Alarmpfiffe zu melden.
Hans sprach kein Wort. Die Erlebnisse des Tags waren wie ein Wirbel über ihn gestürzt. Noch sah er kein Ufer, an das er sich retten konnte. Er versuchte wegzudenken, indem er scharf das Wirtshaus im Mondlicht fixierte, aber das gab kaum mehr als eine Minute Ruhe, dann waren sie wieder da, Holzapfel, das Mädchen auf der Landstraße und Gerhard Träger, dieser Mann.
Hans fror. Was hatte er getan? Was war mit ihm geschehen? Er wusste es nicht. Wie grausam aufwühlend das Leben sein konnte. Wie aus der Unruhe immer ein Taumel wurde und dann aus dem Taumel diese fürchterliche Verlassenheit. Wem sollte er sich eröffnen? Konnte er Gerhard sagen, dass er, als die Versuchung über sie gekommen war, an das Mädchen gedacht hatte? Und, dass Gerhards Küsse ihre Küsse waren? War das nicht alles eine furchtbare Sünde? Ein Verrat?
Hans spürte das braune Hemd auf seiner Haut, er spürte den Schulterriemen. Zärtlich tastete er ihn ab. Dies war das große Glück des Tages. Er war ein Soldat des Führers geworden. Jetzt galt nichts mehr als sein Befehl. Aber warum hatte Gerhard ihn angefleht, er solle immer sein Freund bleiben? Warum versprach er ihm, an den Führer zu schreiben, damit Hans das Lob erhalte für seine Tat? Warum diese merkwürdigen Worte: „Wir sind ein Bund von Männern, Hans. Niemand kann uns messen mit der Elle des großen Haufens. Auch du gehörst zu den wenigen."
Es wollte ihn nicht loslassen. Konnte es eine Liebe geben wie die? War das nicht Sünde? „Es gibt keine Sünde", hatte Gerhard Träger gerufen, „es gibt nur Leidenschaft und Macht."
Hans schaute hoch. Neben ihm saß Jürgen und rauchte.
„... zuerst wollten sie mir mit so einem Quatsch kommen. Es ginge nicht, dass ich bei einer Hure wohne und so weiter mit Moral. Da bin ich zur Gauleitung gegangen und hab strikte erklärt, ob es auf die Sache oder auf die bürgerliche Moral ankomme. Das Mädchen hielte mich über Wasser. Wer denn von den Herrn das sonst könne..."
Jürgen lachte. „Man soll sich überhaupt nicht nach der Moral richten. Alle Revolutionen, die es mit der Moral hatten, misslangen. Sind wir ein christlicher Verein junger Männer? He, du — mit Händchenfalten und artig sein ist's jetzt vorbei. Die SA. ist kein Kriegerverein, hab ich gesagt. Soldaten sind wir. Da waren sie ruhig. Und als ich ihnen drei Aufnahmeerklärungen von ehemaligen Kommunisten, die ich durch Maria kennengelernt hatte, auf den Tisch legte, da steckten sie die Köpfe zusammen und meinten am Ende, ich solle es nur nicht zu auffällig treiben. Da kam ich ihnen aber 'ran. Mögen die Sozis in ihren Blättchen schreiben, ich sei ein unmoralischer Mensch, damit ist gar nichts gesagt, und das kümmert nur ein paar alte Klatschweiber. Ich stehe zu meinem Führer, und ich bringe ihm die Seelen der Arbeiter, das hab ich geantwortet. Und da waren sie still." Jürgen spuckte ins Gras.
„Das wäre noch schöner, dass wir eine Revolution machen, um den Bürgern ihre Moral zu retten. Im Gegenteil, wir schaffen sie ab." Jürgen spähte über die Wiese. In kleinen Abständen flammten Lichtsignale auf. „,Der wilde Esel' ist eingekreist", sagte er.
Schweigend lag Hans auf dem Boden. Er roch den Stoff seiner Uniform. Achtzehn Jahre war er alt, und schon ging das Leben mitten durch ihn hindurch.
Dort, wo die Schneise auf die Staatsstraße mündet, ist eine Brücke. Ein kleiner Entwässerungsgraben fließt unter ihr her.
Kilian Kern saß auf dem Steingeländer. Uber ihm war der Himmel hell, und der Wald stand gestuft in weichem Licht der Nacht.
Kilian Kern lachte. Durch den Wald gingen immer noch diese albernen Pfiffe. Einmal war sogar eine Rakete hochgestiegen, ein schöner Anblick über der mondglänzenden Wiese.
Kilian Kern hielt den Stecken. Heute hatte er genug mit der Indianerspielerei. Das ganze Dorf war durcheinander, das war kein Frieden mehr. Er, Kilian Kern, wird sie stellen heute Nacht, und er wird nicht ruhen, ehe er Bescheid weiß über das, was sie da machen. Und er wird auf sie zutreten und ihnen sagen, hütet euch vor dem Feuer, dumm bleibt am Ende immer nur das Volk. Auf sein Bein wird er deuten, und rufen wird er: das bleibt von der großen Zeit. Kilian Kern wollte sich gerade seine Pfeife anstecken, als ein Ruf auf ihn zusprang. Er sah auf. Vor ihm standen zwei Männer. Sie hatten ähnliche Mützen auf wie die Österreicher im Krieg. „Guten Abend", sagte Kilian Kern. Die Männer antworteten nicht.
Schweigend standen sie auf der andern Seite der Straße.
„Na, denn nicht", Kilian Kern zuckte die Schultern. „Was machen Sie hier?" Kilian Kern rief: „Rauchen!" Die Männer kamen herüber.
„Ei", rief Kilian Kern, „Herr Geometer Hungrich, was machen Sie denn hier, und wie sehen Sie denn aus?"
„Warum spionieren Sie hier herum?"
Kilian Kern stand auf. „Man wird doch noch im Gemeindewald Spazierengehen dürfen." Er humpelte auf den Geometer zu. „Und Sie?" fragte er, „und Sie, Sie schauen sich hier wohl den Mond an, weil Sie ihn von zu Hause nicht sehen können? Wie?"
„Halten Sie die Schnauze und machen Sie, dass Sie weiterkommen!"
„Zu Befehl, Herr Zahlmeister!" brüllte Kilian Kern, und hieb mit seinem Stecken Herrn Hungrich, der als Zahlmeister den Krieg in der belgischen Etappe gut überdauert hatte, einen Schlag über das breite Gesäß, dass es klatschte.
Hungrich sprang hoch. Kilian schwang den Stecken. Er hieb auf die Männer ein. „Indianer", brüllte er, „Indianer!" In kurzen Sprüngen waren Hungrich und der andere Indianer im Gebüsch.
„So", rief Kilian, „wie im Krieg. Weglaufen, wenn's ernst wird."
Dreimal schrillte ein Pfiff durch den Wald. Von allen Seiten antworteten die Signale. Kilian setzte sich auf den Stein. Auf der Wiese stand mitten im Mondlicht der Geometer Hungrich und schrie: „Überfall! Überfall!" Hans und Jürgen waren bei dem ersten Signal hochgesprungen.
Sie erreichten den hüpfenden Hungrich. Er deutete nach der Brücke. „Marxisten im Anzug!"
„Los!" schrie Jürgen. Hans lief neben ihm her. Sie lösten die Schulterriemen.
Sie erreichten die Straße. Sie sahen die Brücke. Dort saß ein Mann. Sie sprangen auf ihn los. Kilian Kern aber hatte gemächlich seine Prothese abgeschnallt, den Stumpf auf die Mauer gestützt, und so stand er im Mondlicht. „Indianer", brüllte er, „Indianer!" Jürgen sprang auf ihn los. Ein harter Schlag traf ihn ans Kinn. Funken sprangen vor seinen Augen. Er sackte nieder. Hinter sich hörte er den Anlauf der anderen. Während er stürzte, war Hans von der Seite Kilian Kern bedrohlich geworden. Seine Ohren brausten. Sein Herz war voll Glück. Der Kampf löste die schwere Not des Tags. Mit dem Schulterriemen hieb er nach dem Mann. Er traf ihn zweimal auf die Brust. Er war nahe an ihn heran. Da aber, wie er ausholte zum Schlag gegen das Kinn, wurde er von einer starken Faust am Haarschopf gepackt, hin- und hergerissen, er wehrte sich mit den Händen, er krallte sich in den Anzug des Mannes — und er sah noch das Licht des Monds in dem Bächlein unter der Brücke, da brach der Schlag hernieder, die Prothese, das Ersatzbein des Frontsoldaten Kern traf mit blinder Wut auf das Haupt des Knaben, der das Bewusstsein verlor.
Gerhard Träger war als letzter auf dem Kampfplatz erschienen.
Vor ihm an der Brücke lag Hans, und Jürgen hockte auf dem Boden. Der Mann aber, der an der Mauer stand, schwang ein Bein durch die Luft. Er verteidigte sich mit seinen eigenen Gliedern. „Halt!" rief Träger. Alle wichen zurück. Langsam ging Träger zu Kilian heran.
„Was ist hier los?"
„Fragen Sie Ihren Indianergeometer!" schrie Kern, „dieses Etappenschwein. Aber kommen Sie mir nicht zu nahe!"
Er schwang das Bein.
Und er lachte und deutete auf Hungrich, der in der hintersten Gruppe stand: „Mit so was wollt Ihr Revolution machen? Pfui Teufel, Herr Oberleutnant!" Träger befahl Ruhe. Er ging zu dem Invaliden. „Volksgenosse", sagte er.
„Ich bin euer Volksgenosse nicht, ich will das nicht sein. Der Schwindel fängt wieder von vorne an. Und wenn wir schließlich im Dreck liegen, dann wart ihr es wieder nicht gewesen."
Hoch hob er sein Bein. Träger schwieg. Er senkte ein wenig den Kopf. Er wusste es. Hier stand er vor ihm, der wahre Mann aus den Gräben. Genau so hatten sie gemault, 1917 und 1918, und dennoch ihre Pflicht getan.
Gerhard Träger winkte zwei Leuten. Sie kamen, fassten Hans und legten ihn seitlich ins Gras. Der Offizier kniete neben dem Jungen. Er öffnete das Hemd. Das Herz schlug ruhig. Er tastete den Kopf ab. Träger erhob sich. „Bringt ihn nach Hause, zu mir."
Sie breiteten eine Zeltbahn. Vier Mann trugen den Jungen. Der Oberleutnant stand neben dem Invaliden. „Sturm 43 marschiert ins Dorf zurück. Ich bitte mir eiserne Disziplin aus. Jeder Zwischenfall schädigt die Bewegung. Scharführer Winkler übernimmt das Kommando. SA.-Mann Hungrich hat sich nachher bei mir zu melden."
Und schon marschierten sie. Hell stand der Mond über den Männern.
An der Spitze des Zugs schwankte der Körper des Knaben in der graubraunen Zeltbahn.
Gerhard Träger saß neben Kern auf der Mauer. Der Invalide schnallte seine Prothese an und wollte gehen.
„Auf ein Wort, Herr Kern."
Kilian blieb stehen.
„Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich diesen Zwischenfall außerordentlich bedauere und dass es mir sehr leid tut, dass Sie als alter Frontkämpfer gegen uns stehen. In Wahrheit gehören Sie zu uns, Kern. Menschen wie Sie gehören zu Adolf Hitler. Euch sucht er ja, euch aus dem Volk." So sprach der Offizier auf der Mauer. Kilian Kern jedoch antwortete:
„Bei mir zieht das nicht, Herr Träger, ich bin alt genug, dass ich selbständig denken kann. Und mein Verstand sagt mir, was ihr da treibt, das führt ins Verderben. Schließlich kann man nicht sein Leben lang so im Wald herum hopsen, ohne dass das explodiert. Dann sind wir wieder so weit, und keiner will's gewesen sein. Ich kümmere mich nicht um Politik, ich kümmere mich nur um mein Leben. Ihr mögt recht haben mit dem oder jenem, aber was ihr aus den Menschen macht, das ist das Schlimmste. Sie kennen doch den Schlamassel, und Sie wissen doch, wie das in Wirklichkeit war. Zum zweiten Mal hält das kein Volk aus, Herr Oberleutnant, zum zweiten Mal geht's vor die Hunde, jawohl, das spür ich, dann blutet's einfach aus. Und ihr seid schuld daran, schütteln Sie nicht den Kopf, ihr bringt die Unruhe in die Häuser hinein, ihr redet von beleidigter Ehre, ihr hetzt die Jugend durcheinander. Ich aber sage euch: Lasst die Hände weg vom Volk! Es braucht Ruhe."
So hatte Kilian Kern zum Oberleutnant Träger gesprochen, im Wald zu Erlenbach, dann war er gegangen, grußlos humpelnd, zwischen den Stämmen hindurch, auf das Dorf zu, wo die Hunde bellten und das Licht des Mondes wie weicher Tau über den Dächern lag und über den Wiesen. |
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