Nemesis-Archiv   WWW    

Willkommen bei Nemesis - Sozialistisches Archiv für Belletristik

Nemesisarchiv
Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
http://nemesis.marxists.org

ERSTES BUCH

1. Kapitel

Es war drei Uhr nachmittags, als sich die Schulen auf dem Rathausplatz versammelten. In langen, geordneten Zügen, an der Spitze Pfeifer und Trommler, zogen sie über die Brücken des Tals nach der Innenstadt zu.
Die Kinder sangen. Sie trugen Papierfähnchen in den Farben der Republik und des württembergischen Landes. Die Trommeln wirbelten, und es pfiffen die Pfeifen.
Girlanden und Fahnen erhöhten das natürliche, bunte Spiel der Lüfte. Musik und Gesang und das Lachen der Jugend drangen in dichtem Zug den Hügel hinauf, vorbei an der Stadtkirche, vorüber an den Fassaden des Barocks, und blickte man von der Bastion aus, die den Hügel krönte, auf das Land, stand es in der reifen Pracht eines seltenen Sommers. In leichten Terrassen stiegen die Weinberge hoch. Karminrot schimmerte ihre Erde. Das ewige Band der vielfarbigen Äcker schlang sich über das Land. Fast unbeweglich unter der Last ihrer Früchte standen die Bäume. Über dem Fluss spielte das Licht in verliebter Bläue, und der Himmel war wolkenlos und ohne Ende.
In die reifen Farben der Natur mischten sich die Fahnen. Sie flatterten von den Warttürmen an der Peripherie der Stadt. Sie wehten von den Pavillons auf den Höhen der Hügel. Sie glänzten an den Ufern des Flusses und vereinigten sich auf der Wiese, wo das weiße Rund des Stadions leuchtete, zu einem wehenden Wald.
Über die Brücken waren bunte Transparente gespannt. Stafetten der Turner in hellen Trikots liefen durch die Straßen. Radfahrvereine, die Speichen der Räder mit farbigem Papier umwickelt, radelten in dichten Schwärmen aus den Dörfern, Lastwagen mit Wein, Bier, Würsten und frischem Brot rollten nach der Festwiese zu, dazwischen klangen die Musikkapellen der anrückenden Vereine, der Gesang der Kinder, der Zuruf der Bürger — die Stadt lebte in den fruchtbaren Farben ihrer süddeutschen Kraft, und das Fest, das sie beging, war der 2. August des Jahres 1927.
Der Zug der Kinder hatte den Platz vor dem Rathaus erreicht. An der Spitze marschierten die Klassen des Gymnasiums, hundertzwanzig Knaben in weißen Trikots und blauen Kniehosen, exakt in der Ausrichtung, exakt in der Musik. Nach zwei kurzen Kommandos schwenkten die Reihen in eine Front, die starr und unbeweglich nach dem Rathaus zu stand.
Der Direktor Holzapfel, begleitet von zwei Herren seines Kollegiums, musterte die Mauer der Knaben. „Rührt euch!" Die Knaben rührten, indem sie ein
Bein vorstreckten. „Ein feiner Tag, erfrischend, das Windchen", sagte der Direktor Holzapfel zu seinen Kollegen.
Kaiserwetter nannte man das früher", lachte der Studienrat Voß.
Holzapfel blinzelte in die Sonne, strich sich den Hambacher Bart und steckte sich eine Zigarre an. Immer mehr füllte sich der Platz. Das Lyzeum zog ein. Hell leuchteten die Kleider der Mädchen in der Sonne des August, als blühten sie. Es folgten die Klassen der fünf Volksschulen, an der Spitze ein Musikkorps mit Trommeln, Pfeifen, Trompeten und einer Pauke.
Lange standen die Kinder. Von dem kleinen Turm des Rathauses schlug es vier Uhr, als plötzlich auf der oberen Bastion ein Trompetensignal erklang, dessen Echo aus dem Tal dreimal wiederkehrte. Die Lehrer sprangen vor die Züge. Trillerpfiffe und Händeklatschen geboten Ruhe. Kommandos richteten die Reihen. Auf dem Fell der Trommeln lagen die Schläger zum Wirbel bereit. Die Schmalseiten der Pfeifen waren an die Lippen gepresst — da krachten vom Tal her drei Böller, und über das Dach des Rathauses stieg die Fahne der Republik. Dumpf schlug die Pauke an, es rollten die Wirbel der Trommeln, es ertönten die Pfeifen, es schmetterten die Hörner, hoch über den Trupps flatterten die Fahnen. Unter den Klängen eines Marsches setzte sich der Zug in Bewegung.
„Ich schieß' den Hirsch im wilden Forst...", eine bunte Schlange singender Kinder bog ein in die schattigen Straßen der Altstadt.
Unten lag das Tal, blitzend im Licht. Uber den Fluss fuhren bewimpelte Kähne. In den Weinbergen krachten die Böller, und über die Pracht des Landes schwebte, einer hellen Wolke gleich, der Gesang der Jugend. „O Heimat, o Württemberg..." dachte da, überwältigt von dem Antlitz der Natur und dem Rausch der Farben, der Direktor Holzapfel an der Spitze seiner Prima.
Längst hatte der Festzug der Kinder das Tal erreicht, als durch das Portal des Rathauses, gefolgt von dem Magistrat und der Mehrzahl der Stadtverordneten, der Oberbürgermeister den Platz betrat. Prätorius stand still. Seine schweren, dunklen Augen blinzelten mühsam in die Sonne. Er atmete tief. Aber sein Gesicht blieb grau.
„Dr. Kalahne", sagte er, „ist dafür gesorgt, dass die Straßen für die Durchfahrt frei sind?" Der Sekretär Dr. Kalahne, zur Linken des Oberbürgermeisters stehend, verbeugte sich: „Es ist dafür gesorgt, Herr Oberbürgermeister. Sobald der letzte Zug in das Stadion eingeschwenkt ist und dort Aufstellung bezogen hat, geht ein Böller los, zum Zeichen, dass die Durchfahrt frei ist."
Der Oberbürgermeister schwieg. Welch eine Luft, dachte er. Welche Farben!
Die Stadtverordneten nahmen in den Autobussen Platz. Nach Fraktionen geordnet saßen sie auf den Polstern. Hinter den Wagen stand eine halbe Hundertschaft berittener Polizei.
Der Oberbürgermeister, ein Mann von fünfundfünfzig Jahren, Abkömmling einer reichen Hugenottenfamilie, seit zwanzig Jahren im Dienst dieser
Stadt, württembergischer Demokrat, ein Freund Friedrich Naumanns, Hauptmann der Reserve, Doktor zweier Grade, zögerte, den Wagen zu besteigen.
Warten wir, bis der Böllerschuss kommt", sagte er zu Dr. Kalahne. Der Sekretär verbeugte sich. Prätorius ging ein paar Schritte nach rechts. Vor ihm lag das Grün des Rathausgartens. Prätorius ging durch das Tor. Blutbuchen und Silberpappeln bestanden den Rasen. Ein alter, längst verschütteter Ziehbrunnen aus rotem Sandstein, mit ungehobelten Brettern überdeckt, lag in der Mitte des Gartens. Buchs fasste die Wege ein. Steil fiel die Mauer ab, nach der Altstadt zu, achtzehn Meter. Prätorius sah auf das Tal. Er atmete tief. Er fühlte sich schlecht. Sollte er absagen? Streikte nicht das Herz? Aber dort warteten sie auf seine Rede, auf die Eröffnung des neuen Stadions. Seine Rede... Prätorius lachte laut auf. Zehn eng beschriebene Bogen waren es, die der Oberbürgermeister als Rede für den Verfassungstag, der mit der Einweihung des neuen Stadions gekrönt werden sollte, ausgearbeitet hatte. Nicht viel und nicht wenig dünkte es Prätorius, als er seine Arbeit an jenem Abend überlas. Er war zufrieden mit sich gewesen. Die Sätze standen gut in jenem etwas umständlichen Deutsch, das er liebte. Aber es war ihm geglückt, so glaubte er, für die Jugend, vor der er zu sprechen hatte, das Bild der Verfassung freizulegen, so dass sie als das erschien, was sie war: der würdige Ausdruck der bürgerlichen Freiheit. Prätorius wusste, wie es um diese Jugend stand. Er sah ihre Fremdheit, mit der sie in diesen Staat hineinwuchs, ihre instinktive Ablehnung dessen, was sich heute Politik nannte: diese Mischung aus Unentschlossenheit, Schacher und Feigheit. Und keiner sah deutlicher als er, was es für diesen Staat bedeutete, wenn er die Jugend verlöre. Eigentlich, auch ihm lag nicht mehr viel an diesem Staat. Vier Jahre Abgeordneter im Parlament, acht Jahre Oberbürgermeister, dieser Kalvarienberg von Enttäuschungen hatte ihn geheilt. Aber er wusste, es stand mehr auf dem Spiel. Die Freiheit stand auf dem Spiel, die geistige und moralische Grundlage eines Jahrhunderts, der Traum von drei Generationen. Zerbrach dieses Fundament, dann zerbrach mit ihm eine Welt, und was nach ihr kam, war nicht mehr wert zu leben. Lange hatte er in seiner Bibliothek gesessen in jener Nacht und sich berauscht an den großen Vorkämpfern der Humanität. Und als er in seinem geliebten Heine diesen Satz aus der Reise nach England fand: „Wenn einst, was Gott verhüte, in der ganzen Welt die Freiheit verschwunden ist, so wird ein deutscher Träumer sie in seinen Träumen wieder entdecken", da hatte er ihn rasch als Motto vor seine Rede gesetzt als Trost vor dem Dunkel, das er herannahen spürte.
Als er im Magistrat die Arbeit vorlegte — sie bedurfte der Billigung, weil er im Namen der Stadt sprach —, erhoben sich die ersten Bedenken. In höflichen Worten meldeten die Fraktionen ihre Ansprüche an. Das Zentrum verlangte einen Passus über die christliche Schule und Familie. Die Sozialdemokraten verlangten ein deutliches Bekenntnis zum Pazifismus und zur Sozialpolitik. Die Handwerkerpartei interpellierte wegen des Mittelstands und gegen die Warenhäuser. Die Syndizi der Volkspartei forderten eine scharfe Ablehnung der Kriegsschuldlüge und eine gebührende Würdigung der Privatinitiative. Als jedoch der Freiherr von Iltzenstein, Kommandeur des Reichswehrbataillons, ihn durch einen Mittelsmann wissen ließ, dass er die Beteiligung der Reichswehrmusik von einer starken Betonung des Wehrgedankens und von einer deutlichen Verurteilung des Pazifismus abhängig mache, hatte Prätorius kurzerhand seine Bogen gepackt, sie in die Lade seines Schreibtisches geworfen und den Dr. Kalahne mit der Abfassung einer neuen Rede beauftragt.
Prätorius spürte sein Herz. Es war zu viel gewesen in den letzten Wochen. Er hätte dem Arzt gehorchen und in Bad Nauheim die Kur gebrauchen sollen. Grässlich, dieses leichte Sausen in den Ohren und diese Atemnot.
Und heute morgen wieder diese Attacke. Er hatte, wie er es gewohnt war, im Bibliothekszimmer sein Frühstück genommen zusammen mit Max, der in den Semesterferien zu Hause war. Nie hatte Prätorius es versucht, auf die Meinungen seiner erwachsenen Kinder entscheidenden Einfluss zu nehmen. Es widersprach seinen Prinzipien. Aber diesmal konnte er nicht an sich halten, dem Max einen Aufsatz aus der Frankfurter Zeitung — seiner Zeitung, die er über alles liebte — vorzulesen. In dem gepflegten und würdigen Deutsch, das ach so selten im Lande geworden war, wurde hier der Versuch einer Analyse der demokratischen Verantwortung unternommen, ohne jeden Leitartikelschwulst und ohne jedes literatenhafte Gespreize, getragen von einem Ethos, das an die beste Zeit des Bürgertums erinnerte. Dort stand, dass wahre Demokratie Männer von geistig untadeligem Wuchs voraussetze, Männer von hoher Moral und exemplarischer Lebensführung und dass die Freiheit nur erworben werde durch Selbstzucht des einzelnen. Nur ein Volk, dessen Erziehung hoch sei, wäre reif zur Demokratie, zur Selbstbestimmung. Deshalb habe alle Arbeit in der Erziehung zu liegen, dergestalt, dass man dem Menschen von Jugend auf sage: dein Beispiel ist gültig für alle. Gepackt von den Worten, die ihm vertraut waren von Elternhaus und Schule, hatte der Alte gelesen und über seine Backen war der Glanz einer verspäteten Röte gehuscht, als der junge Prätorius sich erhob, lächelnd zu seinem Vater ging, ihm gegen jede Gewohnheit die Haare streichelte und fast zärtlich zu ihm sagte: „Ach, Papa, das ist heute doch alles überlebt."
Lange sah Prätorius auf das Land. Unten auf der Wiese standen die weißen Karrees der Kinder. Sie warteten auf ihn. Doch was hatte er ihnen noch zu sagen? Ein Böller krachte. Dr. Kalahne stand im Garten. „Es ist gut", sagte Prätorius. Er ging zurück. Als er das Auto bestieg, schwindelte ihn. Während die Wagen der Stadtverordneten ins Stadion einfuhren, sangen die Kinder: „Ich hab' mich ergeben mit Herz und mit Hand. O Land voll Lieb und Leben, mein teures Vaterland..." Die Tribüne des neuen Stadions war mit Ehrengästen überfüllt. Prätorius nahm neben dem Rednerpult Platz. „Ein Glas Wasser", flüsterte er Kalahne zu. Man brachte es ihm.
Im Rund des Stadions zogen unter ihrem Lied die Turner auf. Im Takt klatschte die Menge mit. Prätorius fühlte Schweiß auf der Stirne. In seinen Händen lag das Manuskript. Wie das in seinen Ohren sauste! Ist es der Wind? Es wird kalt. Auch etwas dunkel. Von fernher klang die Musik. Heute Abend werde ich früh schlafen gehen, und morgen nehme ich acht Tage Urlaub.
Wer redet da? Ach ja, das ist Holzapfel vom Gymnasium. Ein guter Mensch. Was sagt er? Die Jugend sei unsere Zukunft. Sehr originell, Herr Direktor. Und jetzt? Carpe diem. O Carpe diem — nütze den Tag. Haben wir das getan? Nein! wollte Prätorius schreien, aber da klang das Hurra. Prätorius duckte sich. Angriff? dachte er. Hurra! Hurra! Musik. Prätorius erwachte. Da lag alles ganz nahe. Ich bin krank, sagte er. Dr. Kalahne erhob sich. Prätorius stand vor dem Pult. Die ganze Tribüne erhob sich. Neben ihm dieser böse Kalahne. Die Menschen werden immer böser. Was hat man davon, wenn man ihnen helfen will?
Was spielen sie da? Den Marsch kenne ich doch. Natürlich, 1914, schön war das. Viele Fahnen. Schluss! Was ist das für ein Papier? Ah, die Rede. Kalahne, ein Glas Wasser. Da schweigt die Musik. Alle starren mich an. Ich rede ja schon. Ja, das bin doch ich! Nicht wahr? Ich bin das, der da redet. Und dort sitzt der Stadtpfarrer. Und neben ihm der Iltzenstein. Und da ist das Stadion. Wie ich das nur aus dem Budget kriege. Was habe ich eben gesagt? „Friedlich, aber männlich ist unser Volk. Die Schmach des Versailler Vertrags trifft uns nicht." Was hat der eigentlich mit dem Stadion zu tun? Aber Kalahne wird's wissen. „Die christliche Familie, die ewigen Tugenden...", das war für das Zentrum. „Nie aber hätte unser Volk dieses geleistet ohne seinen gesunden Mittelstand und die herrliche Privatinitiative seiner Unternehmer. Weg mit feiger Unterwürfigkeit, weg mit der Knechtsgesinnung... Und so weihe ich dieses Stadion im Namen unserer Bürger, nehme es in Obhut zum Wohle der Jugend, zur Ehre unserer Stadt und zu Nutz und Frommen unseres Vaterlandes. Und so bitte ich alle Anwesenden, die Herren der Stadtvertretung, der Kirche, der Armee und alle Bürger, die hier festlich versammelt sind, und besonders unsere Jugend mit einzustimmen in den Ruf: Unser geliebtes Vaterland, es lebe hoch!"
Hoch! Hoch! Hoch! klang das Echo. Krampfhaft hielt sich Prätorius an den Leisten des Pults. Schatten flogen in Fetzen vor seinen Augen. Weit hörte er das Deutschlandlied. Als es verklungen war, ging er die Tribüne hinab. Kalahne schritt neben ihm. Prätorius sah die Gesichter als Schemen. Höflich lächelnd erreichte er den Wagen. „Nach Hause", flüsterte er. Er sank ins Polster, und als die Kinder, froh über das rasche Ende der Feier, zu den Wettkämpfen und Spielen ins Stadion eilten, richtete sich Prätorius dumpf gurgelnd hoch und schlug nach heftiger Verdrehung der Augen kopfüber auf die Querleiste, die den Sitz des Chauffeurs von dem Coupe trennte.
„Herr Oberbürgermeister", schrie der Sekretär Dr. Kalahne, „aber, Herr Oberbürgermeister!" Doch Prätorius antwortete nicht mehr.

Als die Nachricht vom Tode des Oberbürgermeisters das Stadion erreichte, wurde das Fest sofort abgebrochen. Die Fahnen der Stadt gingen auf halbmast. Gedämpft spielten die Kapellen das Lied vom guten Kameraden. Schweigend zogen die Kinder die Straßen zurück. Dumpf wirbelten die Trommeln. Die Polizeistunde wurde auf zehn Uhr abends festgesetzt.
Noch am Abend traten die Stadtverordneten zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Stehend hörten sie den Nachruf auf Prätorius an, den Stadtrat Schrader sprach. Einstimmig beschlossen sie das Ehrenbegräbnis.
Zwei Tage stand in der Halle des Rathauses der Sarg, eingehüllt in die Fahne der Republik. Am dritten Tag senkten sie ihn in das Grab. Und als die Erde fiel, sangen die Kinder: „So nimm denn meine Hände und führe mich — bis an mein selig Ende und ewiglich..." Die Schützen traten an das Grab. Die Salve rollte.

 
Sozialismus • Kommunismus • Sozialistische Belletristik • Kommunistische Unterhaltungsliteratur • Proletarisch-Revolutionäre Literatur • Utopische Klassiker • Arbeiterroman • Agitationsliteratur