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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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5. Kapitel

Maria hatte sofort nach dem Skandal das Theater verlassen. In ihrer Erregung vergaß sie sogar, die künstliche Marschall-Niel-Rose, die am Boden lag, aufzuheben. Sie lief die Treppe hinab, kämpfte sich durch das überfüllte Foyer und gelangte endlich durch den Kassenraum nach der Auffahrt. Eine Kette Schupos riegelte sie ab. Maria sah einen Wagen, eine Art Lastwagen ohne Verdeck mit durchlaufenden Bänken auf beiden Seiten. Maria drängte sich vor. Sie brauchte nicht lange zu suchen. Er stand neben einem Offizier, der sich Notizen machte. Sie erkannte ihn an dem braunen Hemd. Hinter ihm waren die anderen jungen Leute. Er drehte Maria den Rücken zu. Sie konnte sein Gesicht nicht sehen. Der Wagen war von einer großen Menge umlagert. Es waren junge Männer darunter, die nicht zu den Theaterbesuchern gehörten. Sie kamen auf Fahrrädern angefahren, zufällig wohl, denn manche zauderten, ob sie überhaupt stehenbleiben sollten, doch dann stiegen sie ab und vergrößerten den Schwarm der zuschauenden Menge.
Der Polizeioffizier gab einen Befehl. Zwei Schupos ließen die Wagenklappe herab. Der Braune und die jungen Leute um ihn rührten sich nicht. Sie hatten die Hände in die Hosentaschen gesteckt und schauten nach dem Himmel. Der Polizeioffizier wiederholte den Befehl. Die jungen Leute begannen leise vor sich hin zu pfeifen. Da griffen die Schupos nach ihren Armen. Die jungen Leute, der Braune an ihrer Spitze, ließen sich auf den Boden fallen. „Bravo!" rief es aus der Menge. Alle drängten sich vor, um die Liegenden zu sehen.
„Zurück!" schrie der Offizier, ein bleiches Gesicht über einem steifen Kragen. Und schon wurden die Liegenden gefasst und einzeln, wie Säcke, auf den Wagen getragen. Als letzter kam der Braune. Maria sah sein Gesicht. Er lachte vergnügt. Schon hatte der Offizier das Zeichen zur Abfahrt gegeben, als der Braune im Wagen plötzlich hochsprang und weit über die Rampe geneigt grell über den Platz schrie: „So werden Deutsche von Deutschen behandelt. Und das alles wegen der Juden!" Ein Beamter riss ihn zurück. Ein anderer hielt ihm den Mund zu. Doch aus der Menge antwortete es im Chor: „Juda verrecke! Herr mach uns frei!" Der Wagen fuhr in rasendem Tempo über den Platz. Aus dem Theater klang das Klingelzeichen zum dritten Akt. Es war halb zehn. Maria hatte keine Lust, nach Hause zu gehen. Am liebsten wäre sie dem Wagen nachgelaufen. Ob die wohl gleich ins Gefängnis kommen oder erst auf die Wache? Maria kannte die Wache. Sie war dort schon oft zur Vernehmung gewesen, besonders während ihrer ersten Jahre in Siebenwasser. Der Hauptmann Wendel, der dort amtiert, ist gar nicht übel. Er lässt einen ausreden, und das ist viel wert bei der Polizei. Maria war auf den Marktplatz gekommen. Sie sah das Rathaus und das grün beleuchtete Schild der Wache. Der Wagen stand leer vor der Tür. Maria setzte sich auf eine Bank, links in den Anlagen. Sie zog den Mantel enger. Ein kühler Wind strich durch die Bäume. Die Nacht war sternenklar. Maria sah den Fluss, dessen Wasser vom Licht des Himmels gefleckt war. Weiche Nebelbänke lagen über den Wiesen. Doch wo die Weinberge begannen, war die Luft von einer beispiellosen Reinheit, und die Häuser, die Bäume, sogar die Reben waren zum Greifen deutlich. Maria sah auf der linken Seite des Platzes die Terrasse des Cafe Adelmann. Bunte Lämpchen standen auf den Tischen. Sie hörte die Musik. Man spielte einen amerikanischen Schlager mit viel Geplärr und Saxophon. Zwei Jahre hatte Maria einen Musiker gekannt. Jede Woche war er zu ihr gekommen. Er wusste genau, wer Maria war. Er aß bei ihr, auch Geld hat er genommen. Und als er einen Sommer lang stellungslos war, da hat er auch bei ihr gewohnt. Maria hatte das gerne getan, denn sie liebte den jungen Burschen. Sie war auch gar nicht böse, wenn er einmal irgendein Bürgermädchen verführte. Da sie ihn für einen Künstler hielt, glaubte sie, so etwas gehöre zu seinem Beruf.
Zu Weihnachten noch hatte sie ihm einen Smoking geschenkt, und damit hatte die Trennung begonnen. Fünfundachtzig Mark hatte Maria für das Ding bezahlt, und der Verkäufer von der Herrenabteilung im Warenhaus Aschaffenburg hatte noch extra betont, es sei das teuerste Stück, das sie auf Lager hätten. Herr Willibald Pfeifer jedoch hatte geschmollt, weil es keine Maßarbeit war. Ein Smoking aus der Konfektion ströme einen Armeleutegeruch aus. Dafür hatte Maria ihm einfach ein paar heruntergehauen, denn das ging selbst für ihre Verliebtheit zu weit. Und was macht das Schwein? Klaut sich aus ihrer Wäschetruhe obendrein noch hundert Mark, fährt damit nach Frankfurt, kommt dort im Kristallpalast unter, geigt sich nach einem Vierteljahr an die erste Stelle, bildet sich eine eigne Truppe, und eines Tages, siehe da, liest Maria im „Generalanzeiger", dass ihn das Cafe Adelmann mit seiner Kapelle engagiert hat. Viermal sind sie sich begegnet auf der Straße, und Maria muss heute noch lachen, wenn sie daran denkt. Immer verschwand Herr Willibald in einem Geschäft, und einmal sogar ist er, da gerade kein anderer Laden in der Nähe war, in die Kalasiris gelaufen. Und er hatte sich auch ein Schnurrbärtchen wachsen lassen, als ob er sich damit vor Maria verkleiden wollte. So eine Reihe von Mückenschissen unter der Nase... Maria lachte. Vom Café Adelmann wimmerte das Saxophon. Sicher saß dem Metzger Beraller seine Tochter unten an einem Tisch und ließ das Eis vor lauter Bewunderung für ihren eleganten, künstlerischen Bräutigam verlaufen. Mag er mit dem Geld der kleinen Buckligen glücklich werden. Ich steh ihm nicht im Weg. Aber nie mehr in meinem Leben einen Musiker! Feiges Pack! Die Töne des Saxophons trudelten über den Platz, der frische Glanz der Septembernacht lag über den
Dächern der abwärts geneigten Stadt, von den Talwiesen her stieg der Nebel in gutmütigen Schwaden, behaglich leuchteten die Lämpchen von der Terrasse des Cafes — doch Maria erschrak. Aus der Tür der Polizeiwache traten einige Burschen. An der Gleichart ihres Aussehens erkannte Maria, dass es die Demonstranten aus dem Theater waren. Maria zitterte. Das unregelmäßige Licht unter den Bäumen ließ sie niemanden in der Gruppe unterscheiden. War der Braune dabei? Sie stand auf. Bin ich verrückt, dachte sie. Was hab ich nur? Aber schon ging sie auf die Burschen zu. Sie standen vor der Rathaustreppe unter dem Licht der großen Kandelaber.
Maria überquerte die Straße, die den Platz zur Rechten flankierte. Sie fand es ganz in Ordnung, dass sie zu den Leuten ging, die sie nicht kannte. Wie sie näher kam, bemerkte sie, dass der Braune fehlte. Ohne Zögern fragte sie: „Ist der Braune nicht da?" „Wird noch verhört", war die Antwort. „Und ihr?"
„Nach Feststellung der Personalien entlassen." Die jungen Männer wandten sich zum Gehen. Maria sagte: „Werden sie ihn verhaften?" Da rief einer, als sie schon mehrere Meter von Maria entfernt waren: „Was geht das dich an, du Sau?" Wankend stand Maria unter dem Licht der Kandelaber. Die Schritte der Burschen verhallten über dem Platz. Maria hielt sich an dem Geländer der Treppe. „Ach", sagte sie, weiter nichts als „Ach". Langsam ging sie zur Bank zurück. Vom Café her zogen die weichen Wellen eines Tango.
Vom Rathausturm schlug es zehn Uhr. Maria stand auf. Sie sah nach der Polizeiwache. Hinter den blind gestrichenen Scheiben hing kahles Licht. Langsam ging sie zwischen den Anlagen zurück. Sie senkte den Kopf. Es war das erste Mal, dass sie in Siebenwasser auf der Straße beschimpft worden war. Sie kannte die jungen Leute gar nicht, aber sie hatte sie bewundert, wie sie im Theater aufgestanden waren, und wie sie nachher auf dem Lastwagen gerufen hatten: Juda verrecke! Das hatte Maria sehr gut gefallen. Und als sie den Braunen gesehen hatte, da hatte ihr gegen die Liebe abgehärtetes Herz wieder jene unsichtbaren Stöße gespürt, von denen sie seit langem verschont gewesen war. Und jetzt war es wieder da, dieses Zittern, dieses Frösteln im Kreuz und diese Blutwellen unter der Stirn. Wie hilflos ein Weib ist, dachte Maria. Sie stand gegenüber dem Cafe Adelmann. Sie betrat die Terrasse. Bunt leuchteten die Lämpchen auf den festlichen Tischen.

Gaston Willibald Pfeifer hatte gerade den Bogen zu seinem abendlichen Solo von Santa Lucia angesetzt, als seine Augen, die schon in der Selbstgefälligkeit des zu erwartenden Beifalls schwammen, an einem Tisch auf der rechten Terrassenseite Maria bemerkten. Er verspürte einen leichten Stich in der Hüftgegend und in den Handflächen etwas Schweiß. Das Solo begann.
Das Aas kann spielen, dachte Maria, und leicht schloss sie die Augen.
Längst war die Serenade verklungen, und Gaston
Willibald hatte nach seinem Bravourstück die übliche Pause eingelegt, die er am Tisch seiner Braut verbrachte, als Maria, durch ein lautes Gelächter geweckt, die Augen öffnete. Zwei Tische von ihrem Platz entfernt sah sie den Intendanten in einer Gruppe von Schauspielern und Schauspielerinnen. Sie hatten Bringolf in die Höhe gehoben, und während von der Kapelle her ein Tusch erklang, rief Körner, der Charakterspieler, der auch im Zivilleben nicht über die Pose hinauskam: „Unserem edlen Geistesritter und Herzog — Heil! Heil! Heil!" Jäh fiel der Chor ein, und Bringolf, die Arme um den Nacken zweier Schauspielerinnen, sank auf den Boden zurück. Sie rückten drei Tische zusammen. Herr Adelmann kam selbst und nahm die Bestellung entgegen.
Maria betrachtete die Frauen. Sie hatten die Haare wie junge Burschen geschnitten und hielten die Zigaretten zwischen den Zähnen. "Wiewohl sich Maria ihres sündhaften Lebens bewusst war und wiewohl sie fühlte, dass keine Beichte ihr helfen würde, so weit hätte sie sich doch nie erniedrigt, dass sie ihr schweres dunkles Haar einfach so herunter geschnitten hätte. Sie war eine Frau, wenn auch eine sündige, und wie oft hatte sie die Tränen, die manchmal an schwermütigen Sommerabenden über sie kamen, mit ihren Haaren getrocknet, die sie gerne lang und offen trug, wenn sie allein zu Hause war und im Zimmer saß und an die Resi dachte. Es war ungeheuer tröstlich, in das Haar zu weinen. Sicherlich hatte Gott den Frauen diesen Schutz gegen das Leid gegeben, und diese da schnitten es einfach ab!
Maria fröstelte. Sie rief die Kellnerin. Sie bestellte einen Glühwein. Wie laut die lachten! Wie ungeniert die sich an die Schultern der Männer legten. Und wie die angaben mit ihrer Stimme, als wären sie allein da, und alle hörten ihnen zu. Still saß Maria in ihrer Ecke. Sie dachte an den Braunen. Sie zitterte. Die Kapelle begann. Kühl strich der Herbstwind über den Platz. Als Maria zum zweiten Mal nach der Kellnerin rief, sah sie Gaston Willibald Pfeifer mit Herrn Adelmann vor dem Büfett stehen. Sie blickten nach ihrem Tisch. Willibald sprach auf Herrn Adelmann ein. Bei den Schauspielern wurde Sekt aufgetragen. Sie nahmen die Gläser, und Körner rief: „Nieder mit den Muckern! Es lebe die Freiheit der Kunst!" Es klangen die Gläser, und alle drängten sich um Bringolf. Aus dem Cafe kamen Leute gelaufen, die Biergläser in der Hand, sie hoben sie, und als Bringolf mit einem Zug das Sektglas leerte und es dann krachend auf die Erde warf, wo es zersplitterte, da klatschten alle.
Das nennen die Freiheit, dachte Maria in ihrem einfältigen sündigen Herzen, das nennen die Freiheit, wenn ein Staatsbeamter auf dem Misthaufen liegt und auf der Bühne ge... wird. Vor ihr stand die Kellnerin. Statt des Glühweins brachte sie einen Zettel auf einem Nickeltablett. Sie stellte es wortlos auf den Tisch. Dann ging sie. Maria las: „Wir bitten Sie, möglichst unauffällig und rasch unser Lokal zu verlassen. Der Besitzer." Aus Marias Kopf schoss alles Blut. Schwer stand sie auf. Sie ging. Niemand sah ihr nach.
Sie begegneten sich unter dem großen Kandelaber, der die Linksfront des Rathauses erhellte. Jürgen Winkler überlegte, ob er sich links oder rechts halten müsse, um die Straße zu finden, die zu Gerhard Trägers Haus führte. Er war erst zehn Stunden in der Stadt und eigentlich so mitten in diese großartige Sache hineingeschneit. Am Technikum in Freienwörth, das er gestern wegen Relegation verlassen hatte — in dem Nest war sonst nichts zu holen —, hatte ihm der Zellenleiter Gerhard Trägers Adresse gegeben. Kaum hatte er sich dort gemeldet, gab es schon einen Auftrag. Die Sache hatte großartig geklappt. Das soll ein liberal und marxistisch verseuchtes Nest sein, dieses Siebenwasser. Na, wir werden schon Zunder anlegen. Auf der Polizeiwache hatte er gleich gemerkt, dass die gar nicht so sind, wie sie öffentlich tun. Der Hauptmann zum Beispiel, mit dem konnte man reden. Was hatte er gesagt, als Jürgen von der großen Freiheitsbewegung sprach? Sie sind ein Idealist, hatte er gesagt und ihn dabei gar nicht unfreundlich angeschaut. Gut, gut, so reden alle, die bald reif sind... Jürgen zündete sich eine von den Zigaretten an, die ihm der Hauptmann geschenkt hatte. Die Herren haben es gut. Dritte Sorte kann der verschenken... Er zog den Rauch ein und dachte: Jetzt noch ein Bier, das wäre großartig. Er besaß noch fünfzig Pfennige.
Maria hatte lange hinter dem Braunen gestanden, ohne dass er sie bemerkte. Sie hatte seine Bewegungen betrachtet, und alles, was dieser Abend ihr an Demütigungen und Schande gebracht hatte, war versunken vor der Freude, endlich in der Nähe
dieses Mannes zu sein.
„Sie sind frei?" sagte Maria.
Der Braune drehte sich um. Sie sah ein trotziges Gesicht, darüber das hellblonde Haar, sie sah den sonnengebräunten Hals und die starke Nase über dem offenen Mund.
„Ach so", sagte der Braune, „das sind Sie! Ich hab Sie im Theater gesehen. Das war brav von Ihnen." Er ging zu Maria und gab ihr die Hand. Maria zitterte.
Die beiden Menschen sahen sich an. Jürgen überlegte: ein Weib, hübsches Gesicht, gar nicht übel... Maria dachte: wenn er nur nicht auf Wiedersehen sagt, wenn er nur nicht weggeht... Da sagte der Braune: „Wie wär's mit einem Gläschen Bier nach den Aufregungen des Tags?" Er trat nahe zu Maria. Sie spürte seinen Atem. Er war jung. „Ich habe Bier zu Hause", antwortete Maria, aber schon wollte sie die Worte zurückholen. Sie errötete. Der Braune stutzte. „Wo wohnst du denn?" „Zehn Minuten von hier", stotterte Maria. „Aber, weißt du, zahlen kann ich nichts." Da brachen aus Maria die Tränen, sie versuchte zu lachen, aber über das Lachen lief ein unbändiges Schluchzen. Nichts gelang ihr mehr. Keine Miene. Keine Haltung. Sie weinte.
Jürgen hasste nichts mehr als Weibertränen. Das waren unlautere Waffen, gegen die ein Mann nur schwer ankam. Als in den letzten Semesterferien die Mutter ihn zusammen mit dem Pfarrer beschwor, doch die Hände von der gefährlichen Politik zu lassen und endlich das Studium fertigzumachen, da hatte sie auch geweint, und das gerade hatte ihn bockig gemacht. Ohne ein Wort war er von zu Hause weggegangen, und den Rest der Ferien hatte er als Knecht auf einem Hof im oberen Schwarzwald verbracht.
Aber die Frau da vor ihm, die weinte ganz anders. Er kannte sie gar nicht, aber vielleicht gerade deshalb empfand er ihre Tränen reiner und schmerzlicher. Galten sie ihm, seiner dummdreisten Rede? Oder heulte da ein Mensch vor sich hin, weil er einfach nicht mehr wusste, was er tun sollte? Jürgen war zwanzig Jahre alt. Er war viel herumgekommen im Volk. Er kannte sich aus in dem, was wirklicher Schmerz oder nur so ein Theater oder gar eine Erpressung ist.
„Komm", sagte er, „so war's nicht gemeint." Er nahm Maria unter den Arm. Er führte sie über die Straße. Sie gingen durch die Anlagen. Vom Café her plärrte das Saxophon. Durch die dünnen Zweige der Linden glänzte der Himmel. Als sie in die schmale Gasse, die nach der Altstadt führte, einbogen, sagte Maria: „Ich habe wirklich nur an das Bier gedacht." „Na also", antwortete Jürgen, „ich auch..." Die Gasse war mit schlechtem Kopfpflaster besetzt. Kleine Treppen durchbrachen den Bürgersteig. Den Rinnstein entlang flossen schmale Bäche. Das waren die sieben Wasser der Stadt, die, in enge Kanäle gefasst, kleinen Adern gleich, sich nach dem Tal ergossen.
Maria schwieg. Still ging sie am Arm des Mannes. Die Tränen waren auf ihren Backen getrocknet. Ach, dachte sie, nur bis an die nächste Straßenkreuzung soll er noch bei mir bleiben. Nur bis an die übernächste Ecke. Ach, nur das Bier soll er noch trinken bei mir...
Und als fürchte sie, ihr Schweigen könne ihn vertreiben, begann sie plötzlich zu reden. „Wissen Sie, was ihr da gerufen habt, gegen die Juden, das hat mir besonders gut gefallen. Hier in Siebenwasser sind sie arg frech. Bei uns zu Haus im Spessart, da hat mein Vater immer einen großen Bogen gemacht, wenn er einen Viehjuden sah, und in der Spinnstube, hat die alte Barthel erzählt, als sie noch jung war, da hätte plötzlich ein kleines Kind aus der Gemeinde gefehlt, und sie hätten es gesucht mit Hunden und Gendarmen und es nicht gefunden. Ein Mann aber sei damals in die Aschaffenburger Synagoge geschlichen, es sei bei den jüdischen Ostern gewesen, und dort habe er eine Schüssel gesehen, die sei bis obenhin voll gewesen mit Menschenblut. Es ist aber nichts herausgekommen, weil die Juden den Zeitungen und auch den Richtern viel Geld gegeben haben. Und auch der König hat von ihnen genommen. Sie kaufen überhaupt die ganze Welt. Aber in unserer Gemeinde, da sind die Bauern helle, und wenn sie einen Jud nur von weitem sehen, dann machen sie die Hofreiten zu. Wenn nur endlich einer käme, der sie hinausjagt aus Deutschland. Das wäre fein."
„Adolf Hitler!" sagte da der Mann neben Maria. „Wer ist das?" fragte Maria.
„Der Retter", antwortete Jürgen. Sie traten ins Haus.

Zum Glück habe ich aufgeräumt, dachte Maria, als sie die Tür ihrer Wohnung aufschloss. Sie standen im dunklen Flur. Jürgen zündete ein Streichholz an. „Gleich", sagte Maria. Sie lief in die Küche und kam mit einer Kerze zurück. Dann ging sie in das Zimmer voraus. Sie stieg auf einen Stuhl und steckte die Gaslampe an. Die Flamme pfiff und warf unruhige Schatten an die getünchten Wände.
Maria schob einen Stuhl vor den Tisch, auf dem ein Wachstuch lag. Sie rieb den Stuhl mit einem Lümpchen ab, dann sah sie Jürgen an. Er setzte sich. Maria ging in die Küche. Er hörte sie draußen hantieren. Als sie zurückkam, trug sie auf einem Tablett drei Flaschen Bier. Sie stellte sie vor Jürgen hin und lief sofort wieder in die Küche. Jürgen trank.
Das ist großartig, dachte er und strich sich den Schaum des Bieres von der Lippe, was das Mädel nur an mir gefressen hat? Und wieder stand Maria vor ihm. Wurst und Käse stellte sie auf den Tisch und dazu ein Glas feiner Gürkchen. Sie setzte sich und strich ihm das Brot. Sie schnitt die Wurst auf und mischte ihm den Käse mit Pfeffer, Salz und Zwiebeln. Jürgen aß. Vor ihm saß Maria und lächelte. Sie war glücklich, wenn er in die Brote biss. Als Jürgen fertiggegessen hatte, sah er auf die Uhr. „In einer Stunde muss ich weg." Maria erschrak.
„Aber das dauert nur zwanzig Minuten, dann komm ich wieder. Kann ich bei dir wohnen?"
„Ja", stotterte Maria, und das Blut kehrte in ihre Backen zurück, „oben hab ich ein Zimmer, da kannst du wohnen, solange du willst."
Sie stand auf und räumte den Tisch ab.
„Kaffee?" fragte sie.
„Nein, lieber Bier", antwortete Jürgen, und Maria öffnete die zweite Flasche. Sie goss Jürgen ein. Dann ging sie zur Kommode und kramte aus der oberen Schublade Zigaretten.
„Warum musst du eigentlich noch einmal fort?" fragte sie, „es ist doch schon spät in der Nacht." „Dienst", sagte Jürgen, und er machte ein Gesicht, dass Maria nicht weiter zu fragen wagte. Sie setzte sich zu ihm an den Tisch und sah ihn an. Jürgen rauchte.
„Also, das mit dem Zimmer ist perfekt?" fragte er. „Solange du willst, kannst du dort wohnen." Maria lächelte. Welch ein Glück, dass sie ihm helfen konnte. „Ich habe nämlich kein Obdach und nur noch fünfzig Pfennige."
„Ach", sagte Maria. Sie sprang auf, holte ihre Tasche und schob verlegen einen Zehnmarkschein auf den Tisch. Jürgen tat, als sähe er die Note nicht. „Die haben mich nämlich vom Technikum gejagt, weil ich für die Partei arbeite. Bei der letzten Wahl haben wir ein paar Marxisten und ein paar Juden, die in der Wirtschaft frech geworden waren, verhauen, und dann gab es ein Mordshinundher, und sie haben von mir verlangt, dass ich einen Revers unterschreibe wegen Wohlverhalten und so. Das hab ich natürlich
nicht getan. Meine Herren, hab ich gesagt, Sie mögen mich zehnmal maßregeln — aber von Adolf Hitler lass ich nicht, und es wird eher keine Ruhe geben, bis dieser ganze Saustaat zusammengehauen ist und kein Jud hier noch etwas zu sagen hat, sondern nur das deutsche Volk. Da sind sie natürlich hochgegangen, und ich hab geschrien, ich würd lieber hungern und krepieren, wenn es um die deutsche Freiheit geht, als ein fetter Bürger werden, und ich gehorche meinem Führer, und die Professoren, die könnten mich... Da haben sie mich hinausgeschmissen, und ich bin hierhergekommen, und ich muss schon sagen, das heute Abend, das war eine saubere Sache." Jürgen schwieg. Sein Gesicht war ernst, und seine Augen waren ohne Bewegung. „Du bist ein Held", sagte Maria leise, „aber weißt du, ich versteh gar nichts von Politik..." „Das ist keine Politik", Jürgen sah sie an, „das hat mit dem ganzen Kram da in den Rathäusern und an den Stammtischen nichts zu tun. Das ist einfach frische Luft, verstehst du, wir wollen einfach nicht mehr so leben wie bisher, verstehst du, wir wollen wieder ein großes Volk werden, nicht so ein Winselstaat, der überallhin betteln gehen muss. Wer frisst uns denn die Butter von den Tellern? Die Juden. Wer quält denn den Bauern und holt ihm das Vieh aus dem Stall? Die Juden! Wer sitzt denn oben in der Regierung, he? Juden, nichts als Juden! Und wer hetzt das Volk gegeneinander? Die Juden! Die Juden! Nichts als die Juden!"
Er schlug auf den Tisch. Maria zitterte. Wie er sprach und wie seine Augen leuchteten!
„Ich hab dich lieb", sagte sie.
Jürgen schaute auf. Das Haar war ihm in die Stirn gefallen. Er schob es zurück. „Wie heißt du?" fragte er. „Maria."
„Gut, und was treibst du sonst?" „Ich bin Masseuse, aber das reicht nicht mit dem Verdienst, und da muss ich oft eben herhalten, weißt du. Spaß macht es mir nicht. Aber ich kann leben." Sie sagte das ohne Scheu. Sie lächelte Jürgen an. „Es ist gut", sagte er. „Ich bin kein Bürger und heuchle dir nicht so was wie Moral vor. Die Schweinehunde in ihren Fünfzimmerwohnungen, mit dem vielen Dreck hinter den weißen Westen, können mich gern haben."
Er stand auf. Er ging zu Maria. Er streichelte ihr Haar.
„Das macht mir Spaß", sagte er, „dass du so einfach erzählst, was du bist. Und kein sentimentales Geschwätz dazu fabrizierst. Du gefällst mir. Ich hab nichts zu fressen und kein Dach über dem Schädel. Feine Jugend, was? Und du gibst mir ein Dach. Und du sagst, du hättest mich lieb. Und ich sag dir, ich mag dich auch und ich bleib bei dir, wenn du willst, und ich schmeiß den Laden hier in Siebenwasser, und es wird nicht lange dauern, dann kracht der ganze Schwindel zusammen, und wir fangen das richtige Leben an."
„Das richtige Leben?" Maria hielt seine Hand und presste sie an den Mund.
„Adolf Hitler hat es uns versprochen, und Adolf Hitler hält, was er verspricht. Glaub mir, Gott hat ihn geschickt. Ich war auf dem letzten Parteitag an seiner Seite. Das ist kein Mensch mehr. Wirklich, Maria, das ist viel mehr!"
„Und was wird er tun?" Maria legte ihren Kopf auf den Tisch und sah zu Jürgen hoch. „Die Not aus dem Land wird er treiben, Maria, wirklich, alle Not und allen Gestank und allen Schwindel. Und wir können wieder daheim sein und herumgehen und friedliche Arbeit tun." Jürgen beugte sich nieder und küsste Maria. „Ach", stammelte sie, „ich glaube dir. Aber du sollst bei mir bleiben."
Er löschte das Licht. „Ich heiße Jürgen", sagte er.

Maria lag im Dunkel. Das dünne Licht einer Straßenlaterne drang durch die Gardinen. Es fleckte den Tisch und den Boden. Stumm lag sein Schein auf den Möbeln. Maria zählte. Jetzt war sie schon auf neunhundertvierzig und Jürgen war immer noch weg. Mein Gott, welch ein Mann! Aber das hab ich ja gewusst, als ich ihn sah, wie er dem Juden eine 'runterhieb und wie er der Polizei getrotzt hat. Ob er wohl wiederkommt? Was macht er nur in der Nacht? Wie er das Brot und die Wurst aß — und wie er sprach! Wie heißt er noch? Adolf... Ich komm auf den Namen nicht. Ist auch egal. Irgend so etwas mit i... Aber das hat mir gut gefallen, was er da über die Bürger mit dem Dreck hinter den weißen Westen sagte. Schöne Bagage. Hat einen Tripper und läuft in die Kirche. Und kniet vor der Madonna. Ich werd den Jungen hier behalten. Kann oben wohnen. Kann unten essen. Werd ihm sagen, dass ich manchmal Besuch haben muss. Wird er schon einsehen. Weiß ja Bescheid. Macht sich ja keine Flausen vor. Kennt den Schwindel. Ist süß, ach. Maria bewegte sich nicht. Sie lag unter dem Licht und dachte, wenn er nur wiederkommt. Das mit der Frau Franzke, die oben wohnt und der das Haus gehört, deichsle ich schon. Das arme alte Luder sitzt ja den ganzen Tag in der guten Stube und starrt das Bild von dem Sohn an, der gefallen ist. Spinnt wohl ein bisschen. Stellt dem Bild Essen hin. Jeden Tag. Und sonntags Wein. Ach Gott, da soll man nicht lachen: Ist halt eine Mutter... Krach? — was war das? Komisch, mitten in der Nacht. Krach! — das sind doch Fensterscheiben. Mein Gott, jetzt wieder... Krach! — ich bleib liegen. Das geht mich gar nichts an. Das sind Besoffene. Ich möcht nur wissen, ob der Junge wiederkommt. Da hab ich ein Haar von ihm im Mund. Fein, wie ihm das Brot geschmeckt hat. Und wie er dann geredet hat. Großartig. Der glaubt wirklich, was er sagt... Krach! aber was ist denn das nur? Morgen muss ich Fleisch kaufen. Schnitzel, ja, und dazu mach ich Kartoffelbrei. Nachher mach ich ein Glas mit Kirschen auf. Ist doch gut, dass ich eingekocht habe. Muss ihm viel zu essen geben. Umso feiner wird er. Nein, nicht so. Soll leben, wie er will. Aber bei mir sein, bei mir... Jesus Maria, was ist nur, ich bin verrückt... Ein paar kurze Schritte. Dann das Geräusch im Türschloss. Er kommt. Er ist da. Er steht im Zimmer. Er zündet ein Streichholz an. „Jürgen!" ruft Maria. Das Zündholz brennt ab, erlischt. Er sitzt neben ihr am Bett. „Jürgen!"
„Das hat großartig geklappt", sagt der Junge, „vier Erkerscheiben vom Warenhaus Aschaffenburg sind hops."
Er lacht und lehnt sich an Maria.
„Ach, dass du da bist", ruft sie, „du sollst immer da sein."
Jürgen fällt in die Umarmung. Es wird langsam hell.

 
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