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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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5. Kapitel

Es ist ein Samstag im März. Am Morgen ist das Wetter umgeschlagen. Trocken und warm treibt der Wind vom Westen her über das Feld. Die schwarzen Bänder der Äcker beginnen sich zu wölben. Weicher Dunst zieht kniehoch zwischen den Furchen. In den Wiesen sammelt sich blaugrün das Wasser. Kleine Bäche zirpen durch das Gras. In den schattigen Mulden verblüht der letzte Schnee. Hans geht den Weg nach Siebenwasser hinab. Über dem braunen Hemd trägt er einen alten, gewendeten Zivilmantel. Es widerspricht zwar der Vorschrift, so zu gehen, ja, es gehört sich einfach nicht, aber Irene hatte so inständig gebeten, er solle sich gegen die Märzluft schützen, dass er schließlich gehorchte. Oh, er gehorcht gern, wenn Irene ihn bittet. Ihre Worte werden dann ganz weich, und sie sieht dabei auf den Boden, als läge ein Geheimnis in der Erde. Hans macht große Schritte. Um fünf Uhr ist die Führerbesprechung, und zum Abendessen will er wieder zurück sein, denn er muss Irene heute noch Revanche geben für die Schachpartie, die sie gestern verlor. Hans freut sich darauf. Irene ist so schön, wenn sie ratlos wird und den dummen König mit dem letzten Pferdchen zu schützen versucht. Gestern war sogar eine Träne in seinem Auge gewesen, als er Matt sagte.
Wie anders alles geworden ist, denkt Hans, ich siege, und es tut mir leid.
Johann Kaspar ist auf den Balkon hinausgetreten. Die dünne Märzsonne trifft in schrägen Strahlen die gelbe Front des Hauses. Bäuerle sieht in den Garten. Zwischen den gedeckten Beeten schlüpfen die ersten Blumen aus dem Gras. Die Luft ist von einer übermütigen Unruhe erfüllt. Schlohweiß steigt der Rauch aus den Kaminen. Bäuerle reckt sich. Bis in den letzten Muskel seines Körpers spürt er die Jugend dieses Tags. Und plötzlich beginnt er zu pfeifen. Unten zwischen den Schleifen der Äcker, im großen Plan des Feldes, läuft Hans, klein wie ein Spielzeugmännchen. Bäuerle lacht. Er sieht dem Jungen nach, der die Kreisstraße erreicht und hinter einem Waldstreifen verschwindet.

Man hatte den Winter auf Weißenfels in stiller Arbeit verbracht. Die Ereignisse in Siebenwasser — zehn Konkurse seit Stählins Tod, der Bankrott der kleinen Konservenfabrik im Tal, die Arbeiterentlassungen bei Weber — hatten Johann Kaspar nicht der allgemeinen Nervosität verfallen lassen. Zwar wusste er, wie es um viele Bürger stand. Ihr Vermögen hatte sich in Schulden verwandelt, denn die Mehrzahl von ihnen hatte auf Kredit spekuliert. Jetzt waren ihre Häuser gepfändet. Ihre Außenstände, ihre Warenlager, ja sogar oft ihre Arbeitskraft gehörten der Bank. An Stelle des heiteren Reigens der sich aufwärts schwingenden Aktien war der Albtraum der sich wanzenhaft vermehrenden Zinsen getreten. Die Kredite wurden gestoppt, der Staat senkte die Löhne und die Gehälter, die Bautätigkeit erlahmte, doch schlimmer noch als der Verlust der Güter war der Zusammenbruch des Vertrauens. Dennoch schien es Bäuerle, man übertreibe. Besonders Schrader war von einer heillosen Sorge erfüllt. Von diesem Schock wird sich der Bürger kaum mehr erholen, sagte er. Die Inflation hätte er noch hingenommen als den letzten Akt der Kriegstragödie. Jetzt aber sei es zu viel. Der Absturz aus der Hoffnung sei zu tief. Da hatte Bäuerle nur gelacht. Natürlich sei es peinlich, aus dem Traum eines wachsenden Wohlstandes splitternackt auf die Straße der Wirklichkeit zu fallen, zumal dieser Wohlstand zuletzt alles andere als gediegene Formen angenommen hätte. Und es sei auch empörend, dass bei Verschiebungen innerhalb des Kapitalismus immer der kleine Mann die Zeche zu zahlen habe, aber deshalb brauche man doch nicht zu verzweifeln, das Land sei doch sonst prächtig in Ordnung. Schließlich habe man den Krieg verloren. Daran lasse sich nicht rütteln, auch wenn man alles täte, um es zu vergessen.
„Sie sehen die Dinge von außen, lieber Bäuerle", hatte Schrader geantwortet. „Sie wissen nicht, dass die Deutschen in diesen letzten Jahren geglaubt haben, sie hätten den Frieden gewonnen", und er hatte Johann Kaspar nach Siebenwasser geführt, in Derns Versammlung.
Zuerst hatte Bäuerle gelacht. Er kam sich vor wie in einer der Bekehrungshallen mittelwestlerischer Sektierer. Der ganze Aufzug, Musik, Lieder, Uniformen, die fiebrigen Augen der Frauen, das theatralische Beschwören der Leidenschaften von der Bühne herab, die Luft, die nach Erlösungswut roch — das alles überraschte ihn nicht. Nur dass hier nicht von Gott, sondern von der Rasse gesprochen wurde. Und aus dem Teufel war der Jude geworden. Obwohl der Saalbau überfüllt war, hielt er alles lange für einen Unfug, den politisches Sektierertum aufführte. Dann jedoch wurde er nachdenklich. Hinter dem Zauber vernahm er plötzlich einen Ton, der ihn seit seiner Jugend verfolgt hatte. Die Drohungen gegen den Staat, gegen die Juden, die Franzosen und die Marxisten — das gehörte dazu. Aber da war durch das Sperrfeuer der Demagogie plötzlich ein Satz wie eine Lohe gebrochen: „Seit 1918 habt ihr an diese Welt geglaubt, an dieses Europa. Ihr habt den schimpflichen Vertrag unterschrieben. Ihr habt eure Ehre hingeschmissen im Vertrauen auf die Anständigkeit dieser Welt. Jetzt nimmt man euch noch das letzte Hemd, ihr Narren! Der Jude, der in allen Regierungen hockt, hat euch an der Kehle. Man hat euch eingelullt mit Pazifismus, Humanität, und wie diese undeutschen Worte noch heißen. So pfeift doch endlich darauf! So pfeift doch endlich auf diese Welt! Wir haben nie an ihre Anständigkeit geglaubt. Zehn Jahre hat man uns ausgelacht. Aber ich sage euch, ich schreie es in euer Gesicht: Deutschland muss stark werden, es muss sein Schwert wieder haben. Erst dann wird man es achten. Denn Macht und Furcht regieren die Völker."
Maßlos war der Beifall, der durch die Halle donnerte. Still waren Schrader und Bäuerle auf die Straße gegangen. Erst bei Henri Jockel kamen sie wieder ins Gespräch.
„Wie die tanzenden Derwische", sagte Johann Kaspar.
Der Oberbürgermeister nickte. „So ist das immer in Deutschland", sagte er, „mit dem Griff an die ökonomische Existenz wird auch die geistige erschüttert. Sie hätten das sehen sollen, lieber Freund, wie dieselben Bürger, die heute der Gewalt nachlaufen, 1918 um Frieden gewinselt haben. Es fehlt ihnen jede moralische Substanz." Lange saßen die Männer an diesem Abend bei Henri Jockel. Bäuerle spürte, wie sich in ihm der alte Hass des Vaters erhob. Er wehrte sich dagegen. Und als Holzapfel sagte, er habe es aufgegeben, über Politik, besonders über die deutsche, nachzudenken, das sei immer eine schmutzige Angelegenheit, das wahre Deutschland läge jenseits dieser Dinge, da brach es in Bäuerle los. Er sei hierhergekommen, weil er dieses Volk liebe, ganz verrückt liebe er es, und er wolle sich nicht in ein Studierkämmerlein setzen und die Läden schließen, nein, er wolle voll Freude aus dem Fenster sehen auf dieses Land, auf diese Hügel hier, die seine Heimat seien. Und was dieser Postsekretär da von Rasse erzähle, so sei das weiter nichts als ein teuflischer Trick der Preußen, das Volk wieder unter ihren Einfluss zu bekommen. Dahinter stecke nichts als der nackte Wille zur Macht. Ob die Herren diese kleinen Krämer gesehen hätten, wie sie sich spreizten, wie sie sich aufblähten als nordische Menschen. Das sei weiter nichts als geistiger Kasernenhofdrill, und Gotteslästerung sei es auch, ja, lieber Holzapfel, so sehe ich die Sache. Lächelnd betrachteten die Männer die Erregung des Amerikaners. Und als er von den Preußen als von wendischen Bastarden sprach, die nur von der Rasse schrien, weil sie keine hätten, da nickte Holzapfel und trank ihm zu.
Bald jedoch beruhigte sich Bäuerle. Das Gut und seine Forderungen nahmen ihn auf. In diesem Sommer erwarteten sie die erste große Ernte, Weißenfels' Auferstehung aus Ursels fürchterlichem Fluch. Oft, wenn Bäuerle über die winterlich verwehten Äcker sah, dachte er, dass unter der toten Fläche Samen lag, kleine, weiße Kerne, die er in die Erde gesenkt hatte. Und er sah sie zwischen den Krumen sich öffnen, und er sah kleine, weiche Triebe aus ihnen wachsen, das ganze Land vor ihm war erfüllt von diesen lautlosen Trieben. Ruhe ergriff sein Herz. Er vergaß den Tumult der Menschen. Selten ging er nach Siebenwasser hinunter. Dennoch kamen Stunden, da es ihn immer wieder packte. Dann rannte er zu seinen Büchern und suchte nach einem Sinn. Vielleicht hatte dieser Dern recht? Vielleicht war das Deutschland des Maßes und der Güte nur ein Phantom? Aber, was er auch las, es war seine Gesinnung, die ihm begegnete. Goethe, Hölderlin, Lessing und Herder, das unbewusste Erbe, das er in sich trug, es stand mit ihm gegen die Gewalt und für die Erhöhung des Menschen über das Blut. Aus diesen Stunden kam er immer gestärkt zurück. Es wird nicht geschehen, dachte er, so tief können sie sich nicht verraten. Aber da war noch ein zweites, das ihn bewegte. Er sah die Verwandlung Irenes. Seit jenem Abend, da die Kinder Stählins Leiche ins Haus gebracht hatten, lag eine merkwürdige Unruhe über dem Mädchen. Irene war nachdenklicher und schöner geworden. Die naive Rundung ihrer Augen wurde plötzlich durch ein Staunen belebt. Bäuerle spürte die zärtliche Unrast ihrer Stimme, wenn der Junge nicht auf dem Gut war. Er merkte das Abgleiten ihrer Bewegungen ins Sorghafte, wenn Hans länger in Siebenwasser blieb, als sie berechnet hatte. Er sah die Wöge von Licht, die in ihr aufstieg, wenn der Eleve zurückkam.
Lange hatte Johann Kaspar geschwankt, ob er durch ein Wort in das zarte Gewebe greifen sollte. Zu jung waren die Kinder, und der Bursche hing obendrein noch den Teufeleien von Dern an. Er hatte sich bei Henrici und auch bei Holzapfel über den Jungen erkundigt. Und da stand er plötzlich vor der schrecklichen Heimatlosigkeit dieser Zwanzigjährigen, die nichts wussten von der Würde des Jahrhunderts, dem Bäuerle entstammte. Bäuerle sah den Krieg. Er hatte sich durchgefressen bis in diese Seelen. Wer trug die Schuld? Wer hatte das Lied von der Gewalt vier Jahre lang als gottgefälligen Choral gesungen? Seine Generation, wider ihr eigenes Gesetz. In jedem Land. Da lag die Schuld. Wir haben unsere Grundsätze verraten, dachte Bäuerle. Jetzt haben wir die Quittung. Und dann kam dieses Versailles!
Das ist die Antwort, düsterer Clemenceau. Eine bessere Waffe hättest du den Preußen nicht geben können als diese Jugend.
So saß Bäuerle in der Zange der Fragen. Schuld und Unschuld mischten sich quälend. Er konnte Hans nicht zürnen. Er sah die stille Dankbarkeit des Jungen für jede Geste des Wohlwollens, er sah Irenes Glück, wenn er gut zu Hans war — er schickte ihn auf die landwirtschaftliche Winterschule, er ließ ihn die Autoprüfung ablegen, er bot ihm die Chance der Arbeit. Denn nichts hasste Bäuerle mehr als Gesinnungszwang, die Quelle alles Unredlichen in der Welt.
Und dann war ein Abend gekommen. Irene sagte ihm gute Nacht. Sie küsste ihn wie immer auf die linke Schläfe. Es waren zarte, vorsichtige Lippen. Johann Kaspar spürte, wie der Bannkreis der Liebe für den Vater unüberschreitbar war. Doch da, als sie ging und wie zum Abschied eine Sekunde noch in der Tür stand, war es geschehen. Er sah Juana. Juana, die unter den Zwergbäumchen schlief auf dem Friedhof in Baltimore. Juana, den einzigen Traum, den er mitnehmen wird aus dieser Welt. Da war es wieder, das Licht um den geliebten Scheitel. Es war nicht verweht. Es erstand in den Augen des Kindes, in der Scheu seiner Formen, in der verwirrten Zärtlichkeit seiner Stimme, im absinkenden Glanz seiner Wimpern.
Bäuerle vergaß die Zeit. Oft, wenn die Kinder im warmen Schimmer der Abende Schach spielten und der schöne Ernst ihrer Köpfe den Gesetzen der Figuren nachhing, traf sich sein Blick wie von weit her mit Irene, und aus der blutroten Sekunde stieg Juanas Atem und Leib.

„Das Privatleben hört auf! Ich meine damit, wer vor unserer Aufgabe eine Furcht empfindet, der soll rechtzeitig gehen. Der Führer verlangt blinden Gehorsam. Eine ganze Generation begibt sich freiwillig ihrer Individualität, um Deutschland durch eine gewaltige kollektive Anstrengung zu retten." Kalahne senkt die Stimme. „Hierin liegt unsere Tragik und unser Glück."
Ernst sitzen die Männer um den Tisch. Keiner von ihnen bewegt sich. Hans sieht das Gesicht des Doktors. Es ist blass, und die Augen glühen. Er ist der einzige, der Zivil trägt in diesem Raum. Alle hören auf ihn.
Wie Dern plötzlich so schweigsam ist, der laute, polternde Dern. Selbst die Reitpeitsche hat er heute nicht mitgebracht. Und Hungrich? Seine spitzen Rattenzähne gehen bis zur Unterlippe. Auch er sieht Kalahne nicht an. Beide wissen, dass von diesem Tag an der Gau dem kleinen Doktor untersteht. Er ist von München mit besonderen Vollmachten zurückgekommen, und er ist keinem verantwortlich, nur dem Führer.
Kalahne legt ein Papier auf den Tisch. „Die Merksätze für die verschiedenen Organisationen habe ich hier schlagwortartig zusammengestellt. Sie werden in den nächsten Tagen verteilt. Ich greife hier nur kurz heraus, um was es geht. Die Bewegung ist zu einer entscheidenden Aktion bereit. Die Situation ist reif. Der Bürger ist in Bewegung geraten, die letzten Ereignisse haben seine Mittelstandsideale erschüttert. Es gilt, diese Millionenmassen zu gewinnen. Wir sind entschlossen, den Kampf um die Macht auf der legalen Basis des Wahlkampfs zu beginnen. Mit Putschromantik ist es vorbei. Ich untersage jedes Liebäugeln mit illegalen Plänen. Wer es dennoch tut, fliegt aus der Partei."
Knapp klangen die Sätze. Hans war es, als würde ein Diktat heruntergelesen.
„Die Versammlungswelle, die jetzt schlagartig einsetzt, gilt vor allem den kleinbürgerlichen Massen. Die Enttäuschung über das Versagen der Wirtschaft ist dort so groß, dass wir ruhig von einer antikapitalistischen Sehnsucht sprechen können. Diese Sehnsucht ist auszunutzen, und zwar mit allen Mitteln. Es besteht die Gefahr, dass diese Massen zu den Kommunisten überlaufen, wenn nicht rechtzeitig ein Auffang geschaffen wird. Dieser Auffang ist erstens der Antisemitismus, zweitens die nationale Schmach, zu der jetzt eine Verschwörung der ausländischen kapitalistischen Kreise hinzugekommen ist, drittens der Kampf gegen die Parteien, die als korrupt und verbonzt hinzustellen sind. Es muss eine Atmosphäre geschaffen werden, in der sich der kleine Mann als verkauft und verraten vorkommt. Wir werden ihn das Gruseln lehren. Er muss so lange hypnotisiert werden, bis er wie ein Huhn umsinkt. Das beste Mittel dafür ist der Skandal. Denn der Kleinbürger ist rachsüchtig. Nutzen wir seine Rachsucht aus, verstärken wir dazu seine Angst, zwingen wir ihm unsern Willen auf, dann ist die erste und die entscheidende Bresche geschlagen."
Kalahne schweigt. Lächelnd sieht er auf Jürgen Winkler.
„Es scheint einen Parteigenossen zu geben, dem diese Taktik nicht behagt?"
„Ja", sagt Jürgen, „sie behagt mir nicht. Ich hasse den Bürger. Ich bin zu dem Führer gekommen aus dem Hass gegen diesen Meltau, der über Deutschland liegt, und jetzt wollt ihr euch mit ihm gemein machen. Das geht nicht."
Kalahne sieht Jürgen an. „Du bist zu ehrlich", sagt er, „das geht nicht!"
Seine Stimme ist scharf. „Niemand weiß besser als ich, dass wir nie den heroischen Menschen aus diesem Meltau, wie du sagst, bilden werden. Ich weiß, es ist eine elende Luft, die uns aus diesen Seelen entgegenschlägt. Aber ich sage dir, und damit beende ich jede Diskussion, der Weg zur Macht führt durch den geistigen Sud dieser kleinen Leute. Jede Revolution hat ihre Drecklinie. Aber sind wir Ästheten? Oder wollen wir die Macht?" Seine Stimme klingt plötzlich hoch. Ein hartes Lachen maskiert sein Gesicht. Er legt seine langen, knochigen Finger ineinander, dass die Gelenke knacken.
„Oder glaubt jemand ernstlich daran, wir würden diese bürgerlichen Haufen, wenn wir die Macht haben, nicht en canaille behandeln? Die Revolution beginnt nach dem Sieg, lieber Pg. Winkler." Jürgen schweigt. Kalahne wendet sich zu seinen Papieren. Mit verbissenem Zorn schauen Dern und Hungrich auf den Sturmführer Winkler. „Ich habe", fährt Kalahne fort, „hier ein kleines
Dokument, das für unseren Kampf in Siebenwasser von unschätzbarer Bedeutung ist. Der Weg, auf dem es in meine Hände gelangte, war nicht ganz sauber. Aber wir sind ja keine Moralisten. Ihr wisst, dass bei der Vergebung der Arbeiten für die städtische Siedlung das Kaufhaus Hansa, alias Herr Aschaffenburg, den Auftrag für Sechsundsechzig Badezimmer bekam. Nun gut."
Er hebt den Zettel und liest: „Kaufhaus Hansa. Abteilung Pelze. Von Frau Oberbürgermeister Schrader 215 Mark — in Worten: zweihundertfünfzehn — für Lieferung eines Okkasion-Herrenpelzmantels Nerz mit Biber erhalten zu haben, bescheinigt, Siebenwasser, den 18. Dezember 1929, Kaufhaus Hansa, gez. Arnheim."
Zuerst ist Stille. Dann haut mit einem harten Schlag Derns Faust auf den Tisch. Puterrot ist sein Gesicht. Sein Mund steht offen. „Her damit", schreit er, „her damit!"
Kalahne steckt die Rechnung in seine Mappe. „Über die Verwertung entscheide ich", sagt er. Doch Dern ist nicht zu halten. Er reißt dem schwachen Doktor die Mappe aus der Hand, da hat er den Zettel, er steht auf, von rollendem Lachen unterbrochen, liest er ihn zum zweiten Mal vor. „Jetzt hab ich den Jud. Jetzt hab ich den Jud..."
Er geht um den Tisch, er öffnet die Tür. „Mutter Döring!" brüllt er, „drei Liter Wein!"

Hans und Jürgen gehen den Fluss entlang. Schiefergrau wächst die Dämmerung über der Stadt. Hans spürt den Wein. Dern hatte ihn gezwungen zu trinken. „Ach Junge", hatte er gesagt, „es war ein Missverständnis damals von mir. Handelt sich um andere Diefenbachs. Kann vorkommen, so etwas, bei der Rassenversauung im heiligen jüdischen Reich deutscher Nation." Und er hatte ihm die Hand gegeben und dann das Glas vor ihn gestellt. Es lief über. Tropfen, wie falsche Tränen, fielen auf den Tisch. „Besuch uns doch mal", hatte Dern noch gesagt. Aber Hans hatte weggesehen. Wenn jetzt der Vater hinter ihm gestanden wäre, mit der flachen Klinge hätte er diesem wulstigen Kahlkopf eine über den feixenden Schädel gerissen. Das da und Rasse, höhnt es in Hans. Dieser unedle, breitgeöffnete Mund, dieses auf kurzen Beinen schaukelnde Fleisch. Und so etwas hat die Mutter und träumt vom Blut der weißen Pferde.
„Warum schüttelst du dich?" fragt Jürgen. Er hat
Hans untergehakt. Sie gehen über die Brücke.
„Ich dachte an Dern", antwortete Hans.
Jürgen ist still. Die Disziplin verbietet ihm die Rede.
„Hast du von Gerhard etwas gehört?" fragt er stattdessen.
„Nein", antwortet Hans. „Seit Monaten nichts mehr."
„Er ist jetzt beim Stab in München", sagt Jürgen, „von dort wird alles neu organisiert. Pass auf, mit Hungrich dauert's auch nicht mehr lang. Dern ist zu populär."
Hans lacht. „Was liegt mir daran", sagt er. Jürgen bleibt stehen. „Was hast du nur?" fragt er, „seit Wochen merke ich das schon."
Da nimmt Hans seine Hand. Er ist sehr blass. „Ich bin krank", antwortet er, „ich kann nicht mehr hassen."

Oberbürgermeister Schrader hat den Bericht der Finanzkommission geprüft. Er sitzt in seinem Zimmer. Der Morgen ist hellblau.
Achtzehn Prozent Rückgang seit dem ersten Januar bei den städtischen Steuern. Gas und Elektrizität zweiundzwanzig Prozent. Müllabfuhr gar sechsunddreißig Prozent. Daneben steht: viele Bürger legen mit dem Müll jetzt Komposthaufen an oder, wo der Garten fehlt, tragen sie den Abfall in der Dunkelheit heimlich an den Fluss oder nach den Kiesgruben bei der oberen Stadt. — Städtische Trambahnen vierundvierzig Prozent. Man geht zu Fuß in Siebenwasser. Städtisches Schwimmbad neunzehn Prozent. Und jetzt kommt das Schlimmste für Schrader. Er mag gar nicht hinsehen. Rückgang der Mieten in der neuen Siedlung: achtundsechzig Prozent. Vor zwei Monaten hatte er sie eingeweiht. Damals schon war nur knapp über die Hälfte der Wohnungen besetzt. Und jetzt, nach den neuen Entlassungen bei Weber, der zweite Rückschlag.
Schrader denkt nach. Was ist das für eine Zeit. Man baut, man holt die Menschen aus den alten, muffigen Häusern, gibt ihnen Wohnungen, wo sie Platz haben und Luft und Sonne für die Kinder, und plötzlich schlägt die Wohltat für sie in eine Plage um. Sie verfluchen das Licht, und sie ziehen zurück in das Dunkel der alten Höfe. Schrader addiert. Neun Parteien wegen der Miete gepfändet. Er wird nicht vollstrecken lassen. Er stemmt sich gegen die Teufelei. Was empfiehlt die Finanzkommission? Abbau der Gehälter und Löhne. Einführung einer neuen Steuer auf den Kopf der Bevölkerung. Das sind zweihundert neue Anhänger für Dern, denkt Schrader. Man senkt die Einkünfte der Massen, man wirft sie in die Wohlfahrt, oh, es herrscht gleiches Recht. Der Fabrikant Weber wird den gleichen Prozentsatz Bürgersteuer zahlen wie sein Arbeiter Krumm. Herr Weber wird zu Hause in seiner Villa bleiben. Schrader schüttelt den Kopf. Auf was für Abwege man kommt in diesen lausigen Zeiten. Eigentlich sollte man oben anfangen. Alle Einkommen über zehntausend Mark kassieren. Aber das verstößt gegen die Verfassung. Es ist merkwürdig mit unserer Freiheit, denkt Schrader, sie setzt Wohlstand voraus. Er schiebt den Akt zur Seite. Er denkt an Bäuerle. Wie der jetzt im Glück schwelgt. Die Kirschen- und Mandelbäume blühen auf Weißenfels. Die Gemüsefelder sind ein einziges Grün. Schrader öffnet das Fenster. Da liegt die geliebte Stadt im Flimmer. Die Kastanienbäume haben schon Kerzen aufgesetzt, und weithin über den Fluss ziehen die hellen, fröhlichen Wolken. Ich werde morgen nach Weißenfels fahren, denkt Schrader, mag der Teufel die Akten und die Finanzkommission holen. Da sieht er einen Mann über den Platz laufen. Der Alarm! Der Alarm! schreit er. Natürlich hat er ein braunes Hemd an. Wird wohl Derns großangekündigte Zeitung sein. Merkwürdig, wie die Leute dort unten die Papierfetzen kaufen. Wie Extrablätter. Gibt's wieder Krieg? denkt Schrader.
Er geht zurück und klingelt dem Diener. „Holen Sie mal so ein Blatt herauf!" „Sehr wohl", sagt Kremmelbein. Er geht. Schrader zündet sich eine Zigarre an. Man muss gewappnet sein.
Frau Nelly Schrader hatte den Morgen mit Besorgungen verbracht. Sie war über den Markt gegangen, es war ein fröhliches Schlendern zwischen den Blumen und den ersten Gemüsen. Schrecklich, dass ihr Garten hinter dem alten Patrizierhaus so schattig war. Nur Taxus gedieh dort und Efeu. Aber Alfred war nicht aus dem Haus zu bringen. Die Fabrikantenfrauen hatten alle schöne Villen nach der Sonnenseite und terrassenförmige Gärten mit Reben und Spalierobst. Sie dagegen wohnten in einem alten, garstigen Palast mit weiten, steinernen Stiegen und prunkvoller Schmiedekunst an den Geländern. Puh, denkt Nelly Schrader, ein kleines, nettes Haus mit Blumen wäre mir lieber. Alfred ist doch immer so für das Moderne, aber uns lässt er in dem ehrwürdigen Grab. Aber so machen's die Männer. Träumen von weiten Zielen und sehen das nächste nicht. Nelly Schrader verlässt den Markt. Hinter ihr geht die gute Kathinka. Sie trägt die Blumen und das Gemüse.
Beim Metzger Hofmann liegen schöne Schweinszungen aus. Das mit frischen Erbsen, denkt Nelly, und sie geht hinein. Sie kauft zwei Stück. Merkwürdig, Herr Hofmann ist so verlegen. Da geht er plötzlich hinaus, und der Gehilfe bedient sie. Na, wird Rheuma haben, der alte Trinker, bei dem Frühling. Der zwickt die Sünder.
Sie gehen in die untere Stadt. Ah, da kommt Bringolf. Schick sieht er aus. Der ganze Mann ist englisches Tuch. Wenn doch Alfred auch einmal zu so etwas zu bewegen wäre. Wie? Er dreht sich plötzlich um. Geht in einen Zigarrenladen. Ungehörig ist das. Er hat sie doch gesehen. Schauspielergrößenwahn!
Nelly und Kathinka gehen über den Bahnhofplatz. Dort, in dem appetitlichen Laden von Fischer, gibt's herrliche ungarische Salami. Für ihr Leben gern isst Nelly ungarische Salami. Schadet zwar dem Teint. Aber so zweimal im Monat... ha, fein... Sie kommt ins Trippeln. Was das nur ist. Es sind so viel Menschen da auf dem Platz, morgens um elf Uhr. Es geht doch kein Zug jetzt. Und Zeitungen haben sie in der Hand. Sie lesen, sie lesen, sie schauen gar nicht auf. Ein Unglück?
Kathinka, was ruft er da? Der Braune dort? Schrecklich, diese jungen Leute! Geben keine Ruh... Wie? Der Alarm? ... Brennt es? Da ist sie schon bei dem Braunen. Nettes Jungengesicht. Kostet? Sie nimmt einen Fünfziger aus der Tasche. Was? „Ihnen schenk ich's", brüllt der Braune. Nelly hat das Zeitungsblatt. Nelly schreit auf, ganz leise wie ein Vogel. „Aber gnädige Frau", ruft Kathinka. Da rennt Nelly schon weg. Wie verrückt läuft sie nach den Taxis. Sie hält das Zeitungsblatt vor das Gesicht. Alle Taxis haben die Verdecke heruntergeklappt. Denn es ist Frühling, und die Spatzen pfeifen es von den Dächern.
Ein Taxi fährt an. Die Leute auf dem Platz lachen. Mitten durch Siebenwasser fährt Nelly Schrader, die Zeitung vor dem Gesicht, vermummt, durch die bösen, leuchtenden Straßen.

Der Oberbürgermeister hat keine Lust mehr zu arbeiten. Wie ein Schulbub möchte er schwänzen bei diesem Wetter. Auch Kremmelbein kommt nicht. Hockt der Kerl vielleicht unten in der Kantine und gurgelt sich eins? Mag er. Es ist ein herrlicher Tag. Heute wird die Schule geschwänzt. Vergessen sind die unregelmäßigen Verben des Lebens. Der Oberbürgermeister lächelt. Er freut sich an seinem Leichtsinn. Er zündet die zweite Zigarre an und legt sich mit langausgestreckten Beinen in den Stuhl, als sei er auf einer Wiese, und der Herrgott schaue ganz jung und fröhlich auf ihn herab.
„Nicht mehr zu kriegen", sagt Kremmelbein, „alles schon weg." Und gleich will er wieder aus der Tür. „Halt!" ruft Schrader, „waren Sie auch an dem Kiosk?"
„Ausverkauft", murmelt Kremmelbein. „Warum sind Sie so blass?" fragt Schrader. Aber da ist der Kremmelbein schon hinaus. Merkwürdig, der Kerl zitterte ja.
Lausiger Frühling. Kippt die Männer um. O du geliebte, dreimal verfluchte Arbeit. Schrader nimmt wieder den Akt zur Hand. Von Sankt Andreas läutet es zu Mittag.
Schrader hebt den Hörer. „Doktor Kalahne", sagt er ins Telefon, „zum Referat." Wie, was wispert die da? „Lauter!" schreit Schrader. Dr. Kalahne sei verreist.  Vor einer Stunde.  „Und das melden Sie jetzt... Sie hat wohl der Frühling an den Haaren, Sie stöpselnde Jungfrau?"
„Ach", antwortet es dünn. Dann ist die Verbindung unterbrochen.
Schrader haut die Zigarre in den Becher. Sind denn
alle verrückt? Er nimmt eine neue Verbindung. „Die
Wohnung von Dr. Kalahne!" schreit er. Ein Sausen,
dann kommt die Stimme:
„Achtung, Sie werden verlangt!"
„Hier Dr. Wachtel."
„Ja?"
„Kommen Sie sofort! Ihre Frau..." „Was?" brüllt der Oberbürgermeister. „Salzsäure", klingt es zurück.

Noch am Abend traten Magistrat und Stadtverordnete von Siebenwasser zu einer außerordentlichen Sitzung zusammen. Vor ihnen stand ein gebrochener Mann.
„Ich wusste von alledem nichts", sagte der Oberbürgermeister Alfred Schrader, „ich gab dem Kaufhaus Hansa den Auftrag, weil es das vorteilhafteste Angebot machte. Dass meine Frau diesen Pelz erwarb, geschah aus Leichtsinn und Ahnungslosigkeit. Sie wollte mir eine Freude machen, wir haben kein Vermögen, aber sie spart regelmäßig vom Haushaltungsgeld. Sie sah den Pelz in der Abteilung des Kaufhauses. Er war jedermann angeboten und mit zweihundertfünfzehn Mark als eine Okkasion ausgezeichnet. Die Pelzabteilung hat ihn mit vierzig Prozent Gewinn verkauft. Hier sind die Belege. Er wurde für die Summe von einhundertdreißig Mark aus dem Nachlass des Bäckermeisters Stählin gesteigert."
Magistrat und Stadtverordnete sprachen dem Oberbürgermeister gegen die eine Stimme des Postsekretärs Dern ihr Vertrauen aus. Dennoch beharrte Schrader auf seiner Demission. Es dauerte bis tief in die Nacht, als er schließlich nachgab. Nelly war siech für ihr Leben. Es blieb nur die Pflicht. Von diesem Tag an schritt bei Beginn der Dämmerung bis kurz nach Mitternacht vor Schraders Haus ein Mann auf und ab. Er trug einen nach außen gewendeten Pelz. Manchmal tanzte er unter dem Bogenlicht.

Der Sommer brach mit starker Glut über das Land. Wochen hindurch fiel kein Regen. Dumpf, wie ferne Schlachten, verhallten die Gewitter in der Ebene. Sirrend lag die Dürre über den Äckern. Der Boden riss. Nach Mariapein, der kleinen Kirche oberhalb Erlenbachs, stieg in lautem Gebet eine Prozession.
Auf Weißenfels versuchten sie es ohne Gott. Morgens, bevor die Sonne über den Wald kam, stand Hans mit den Knechten auf dem Feld. Sie zogen kleine Bewässerungsgräben durch die Gemüsekulturen. Sie stellten Zerstäuber auf. Sie legten lange Schläuche vom Pumpwerk bis in die berstende Flur. Dennoch blieb die Arbeit ein eitles Bemühen. Die Sonne war von einer tödlichen Gewalt. Die Beete welkten. Die Wiesen wurden grau. Schon fiel das Korn aus den Halmen.
Bäuerle war erschüttert. Der größte Teil der Ernte war verloren. Die Arbeit eines Jahres war umsonst. Zusammen mit Henrici verbiss er sich in einen absurden Plan. In einem Bericht über die Materialschlachten des Weltkrieges hatte er einmal gelesen, dass eine Beeinflussung der Atmosphäre durch Kanonade möglich sei. Das Wetter entsteht durch Störungen, sagte er zu Henrici. Sie montierten eine Art Böller, ähnlich jenen kleinen Geschützen, mit denen die Weinbauern den Hagel bekämpfen, nur größer und von steiler Wucht. Sobald sich eine Wolke näherte, die, von einem Gewitter abgesprengt, über die Berge zog, schossen sie. Es war ein sinnloses Unterfangen. Eine Art Goldmacherei am Himmel. Sie wussten es bald, doch rasch hatte sie die Spiellust ergriffen, so dass sie immer wieder schossen. Wenn der brütende Mittag plötzlich durch einen harten Knall durchbrochen wurde und die weiße Pulverwolke zum Himmel zog, sagten die Bauern in Erlenbach: „Der Amerikaner droht Gott", und sie bekreuzigten sich. Kilian Kern zuckte immer zusammen, wenn er in der Hitze die Hänge hochhumpelte — das klang ihm verdammt nach bekannten Geräuschen. Nicht nur das Wetter, die ganze Menschheit schien plötzlich wieder verrückt. Gehaltsabbau, die Renten gekürzt, die Steuern erhöht, und zu Hause saß die Frau und erwartete das zweite Kind. Bumm! da knallte es wieder. Wollen das Wetter vom Himmel schießen, die Narren. Kilian Kern lacht. Er hält nichts mehr vom Himmel. Den hat er zusammen mit seinem Bein bei Verdun verloren. Der Tag ist heiß. Kilian tritt in den Hof des Anheggerbauern. Er zieht ein Kuvert aus der Tasche. Portopflichtige Dienstsache steht darauf. Der Anhegger muss den Empfangsschein unterschreiben. Er reißt den Umschlag auf. Da hat er das Urteil. Wenn er bis zum Fünfzehnten nicht zahlt, wird der Hof versteigert. Blaurot läuft der Anhegger an. Er reißt den Wisch mitten hindurch, knüllt ihn und wirft ihn dem Kilian ins Gesicht. „Sag den Bankherren", schreit er, „sie sollen nur kommen. Das Gewehr ist geputzt." Er lässt den Briefträger stehen und geht in den Keller, wo das Fässchen mit dem Kirschschnaps liegt. Kilian humpelt weiter. In seiner Tasche trägt er noch zwei andere Briefe, auf denen „portopflichtige Dienstsache" steht.

Irene ist nach dem Essen von Weißenfels weggegangen. Die Hitze ist so stark, dass niemand arbeiten kann. Vater schläft, Henrici liegt im Grasgarten, Fräulein Degerloch sitzt in der Küche und schlürft ihren Kaffee — wie diese ulkige Person das aushält? Lange Ärmel, Stehbundbluse, den wollenen Unterrock, und in all das noch den heißen Kaffee... Irene lacht. Sie trägt lange, weite Hosen, eine Polobluse und den Badeanzug darunter. Auch aus dem Wald ist jede Kühle gewichen. Das Laub beginnt schon zu bleichen. Der Humusboden ist trocken wie Stroh. Irene geht durch die Stämme. Es sind helle Buchen von schlankem, weiblichem Wuchs. Rechts von der Schonung biegt der Pfad ab. Er führt durch Heckengestrüpp eine Böschung hinauf. Irene schlägt die Brombeerzweige zurück. Sie springt den kleinen Damm nach oben. Vor ihr liegt in stiller Rundung der See.
Langsam geht das Mädchen an den Fichten vorüber. In einer kleinen Bucht ist Sand aufgeschüttet. Ein hölzerner Steg, an dessen Ende ein Sprungbrett schwebt, ragt weit in das Wasser. Irene steht in der Bucht. Sie wirft die Kleider ab. Sie schwimmt in die Mitte des Sees, packt das Floß, schwingt sich hoch und legt sich auf die Bretter.
Irene wusste nicht, wie lange sie lag. Sie hatte von Onkel Baker geträumt. Vom Tennisplatz in Baltimore. Dort spielte sie mit Frau von Berg, und Dr. Kalahne war Ballbub. Eine weiße Jockeymütze trug er und kurze, weiße Kniehosen, und in den Pausen musste er Icecream holen und Grapefruits, und jedesmal, wenn er an den Stuhl kam, sagte Frau von Berg: Wie ruft der kleine Mann? Da stemmte Kalahne beide Arme in die Hüften und schrie: Nieder! Nieder! Nieder! Da lachten alle laut und vergnügt, und über ihrem eigenen Lachen war Irene erwacht. Es war ihr rot vor den Augen, und die Zunge klebte ein wenig am Gaumen. Sie legte den Kopf auf die Arme und betrachtete eine Wasserspinne. Ob er wohl kommt, denkt sie. Ich habe es ihm gesagt. Er ist so scheu die letzten Tage. Immer sucht er sich als Ausrede eine Arbeit. Jetzt sitzt er im Keller und hämmert die Apfelbetten zurecht. Zwei Stunden war sie am Morgen bei ihm gewesen, kaum ein Wort hat er gesprochen, nur als sie sich küssten, da haben sich plötzlich alle seine Muskeln gespannt, und es war eine Sekunde, als wollte er sie zerbrechen.
Irene schließt die Augen. Das Wasser gluckst unter dem Floß. Ihre Brust härtet sich. Irene denkt nichts.
Bis drei Uhr hatte Hans an den Apfelbetten gezimmert. Immer neue Latten nagelte er zusammen. Mit lauten Schlägen trieb er die Nägel in das Holz. „Wenn der bis drei drinnen ist, geh ich..." Eins! Zwei! Drei! Der Kopf des Nagels schaut noch einen halben Zentimeter heraus. Hans atmet auf. Er wird also bleiben.
Doch sein Herz beginnt von neuem das Spiel. Eins, zwei, drei... Der Nagel sitzt. Hans wirft die Latten zusammen, steht eine Minute ruhig, dann nimmt er wieder den Hammer, und die Schläge gellen durch den Keller.
Ich werd es ihr einfach sagen, rund heraus, ohne Umschweife, dann mag sie mich wegjagen. Eins, zwei, drei... Ob sie das überhaupt begreift? Ich selbst begreife es ja auch nicht mehr, wie das mit Gerhard möglich war. Aber ich muss es ihr sagen. Manche behaupten, so etwas sei eine Krankheit. Er schlägt auf die Latte ein. Das Holz reißt. Nach zehn Minuten verlässt Hans den Hof. Er ist entschlossen. Nein, feig ist er nicht.

Irene spürt einen Stoß. Das Floß schwankt. Es biegt sich zur Seite. Es kippt. Lachend vor Schrecken rollt sie ins Wasser. Sie taucht, und als sie nach oben kommt, schwimmt Hans neben ihr. Sein Haar ist nass und hängt ihm bis in die Augen. Er schnaubt wie ein Seelöwe. Sie spritzt ihn an, da geht er nach unten, er packt sie an den Beinen und zieht sie nach.
Sekunden schwimmen sie unter der kobaltblauen Fläche, schweigend, wie spielende Tiere. Irene geht zuerst hoch. Sie schnappt Luft, dann krault sie nach dem Ufer. Nach zehn Stößen hat sie Hans eingeholt. Er packt sie und zieht sie wieder nach unten. Es ist ein wortloser Kampf. Irene spürt, dass es kein Spiel mehr ist. Sie merkt seinen Leib ganz nahe dem ihren, und während sie mit geschlossenen Augen und angehaltenem Atem unter Wasser treiben, spürt sie, wie er sie immer und immer wieder umfängt. Manchmal stoßen sie hinauf in die Sphäre der Menschen, um nach kurzem Atemholen gleich wieder abzusinken in den amphibischen Liebestanz. Erschöpft kommen sie schließlich ans Ufer. Sie sprechen kein Wort. Sie legen sich in die Sonne. Keuchend lassen sie sich trocknen.
Lange liegen sie so, bis sich Hans plötzlich mit einem Ruck hochsetzt. Er sieht auf das Wasser, er nimmt kleine Steine und wirft sie über den See; ein paar Wasserhühner, die zwischen dem Schilf ziehen, verjagt er mit einem Ast. Irene spürt ihr Herz. Es klopft hart und schnell. Sie sieht nach dem Himmel, wo ein Weih steht. Die Zeit gerinnt zu einer unendlichen, schmerzenden Sekunde. „Ich muss dir die Wahrheit sagen." Er ist ganz heiser. „Dann kannst du tun mit mir, was du willst." Wie rau er das spricht, und wie schön ist dieser Gedanke.
„Ich bin nicht mehr rein. Ich bin sogar noch schlimmer. Ich habe mit einem Mann... Ich weiß nicht, wie ich das nennen soll..."
Jetzt hat er sich ganz umgedreht. Sie spürt es, obwohl sie nur den Himmel sieht. O Gott, wenn er
nur dableibt und nicht wegrennt...
„Jetzt weißt du es. Jetzt kannst du mich verachten."
Ach, er bewegt sich. Er steht auf. Sie schließt die Augen. Sie will das nicht sehen. Ach, halt ihn doch fest, lieber Gott, halt ihn doch fest!
Sie kann sich nicht rühren. Alles in ihr will zu ihm.
Aber sie kann sich nicht rühren.
„Siehst du", sagt er, „das begreifst du nicht. Ich begreife es heute auch nicht mehr. Aber es war so."
Jetzt geht er hinunter zum See. Sie hört es. Sie sieht es durch die geschlossenen Lider. Da steht er. Da will
er fort. Mit aller Kraft richtet sich Irene hoch. Sie krallt die Hände rückwärts in die Erde. Sie zittert.
Sie friert fürchterlich.
„Hans", ruft sie, „Hans... ich wusste es ja..." Er kommt zurück. Sie sieht ihn, sie sieht seine harten, hohen Beine, und sie sitzt da und zittert. „Du wusstest es?" Er ruft aus einer schrecklichen Entfernung, obwohl er vor ihr steht. „Ja, Annemarie von Berg hat es mir erzählt. Sie will nicht, dass ich dich will. Aber ich, ich will dich doch... das andere ist mir egal... Ja... Ja!" schreit sie und hämmert mit den Händen auf den Boden. Sie starren sich an. Ist das Glas zwischen ihnen? Oder sind es nur Tränen? Da bricht er hindurch. Da fällt der Himmel über sie. Sie spürt, jetzt müsste ich sterben. Sie umklammert Hans. Sie hält ihn fest. „Du", schreit sie, „du... Lieber... Ja?"

Der Bauer Anhegger hat am Morgen seine Frau und die Kinder zu Verwandten am unteren Ende des
Dorfes geschickt. Dann hat er das Tor verrammelt, alle Fensterläden geschlossen und sich auf den Boden hinter die Dachluke gesetzt. Auf einem kleinen Brett lag die Munition, hundert saubere Schuss. Der Karabiner stand griffnahe in der Ecke. Die Parabellumpistole war auf weite Distanz gestellt. In der Blechkanne schaukelte der Kirsch. So wartete der Bauer. Es war gegen elf Uhr, als der Gerichtsvollzieher Schnabel in das Dorf kam. Kein Mensch ist auf der Straße. Überall sind die Fensterläden geschlossen. Ja, die Hitze, denkt Schnabel. Es ist ihm nicht wohl zu Mut. Er spürt ihn schon, den Hass, der ihn empfangen wird. Ha, vor dem Krieg, da war das ein schöner Beruf. Als er nach zwölf Jahren Dienstzeit vom Militär kam, hatte er ihn gerne ergriffen. Es war ein moralischer Beruf. Man bestrafte die Taugenichtse, die böswilligen Schuldner, überhaupt das Unsolide. Man war ein Finger der Gerechtigkeit. Heute? Schnabel lüftet den Strohhut. Denken macht krank, seufzt er leise vor sich hin und geht in die Bürgermeisterei.
Die Tür zum Amtszimmer ist verschlossen. Niemand regt sich im Hause. „Halli-Hallo", ruft Schnabel, und klopft mit dem harten Rand des Strohhuts wider die holzverschalte Wand. Keine Antwort. Er geht in den Hof. Alles ruhig. In einer halben Stunde soll die Versteigerung beginnen, und der Bürgermeister ist verreist. So etwas ist Schnabel noch niemals passiert. Er hat zwar viel erlebt in diesem letzten Jahr, oh, er könnte erzählen — aber, dass sich ein Bürgermeister einfach seiner Pflicht entzieht, das begreift er nicht. Was hatte man denn auf dieser trostlosen Erde noch anderes als seine Pflicht? Sie allein hielt einen hoch. Sie gab dem Leben überhaupt den richtigen Wert, alles andere war Tand, eitler Flitter, Spitzbüberei...
Schnabel horcht. Geht da oben nicht eine Tür? Natürlich, da war doch ein Schritt. „Hallo", ruft Schnabel, „ich bin's!"
Wieder ein Schritt. Schwer klingt es auf den Stufen. Oben, im Helldunkel der Treppe gewahrt Schnabel den Bürgermeister.
„Halli-Hallo... guten Morgen." Der Gerichtsvollzieher schwingt den Hut. Der Bauer lehnt sich über das Geländer. Gemächlich schaut er auf das Lüster-röckchen da unten. Schmal ist sein Mund. Als er ihn öffnet, zeigen sich nur noch wenige Zähne. „Nö", sagt er, „ich mache nicht mit!" Schnabel ist starr. So früh am Morgen und schon blau, denkt er.
„Im Dorf macht überhaupt keiner mit. Und wenn ein Fremder steigert, dann..." Der Bürgermeister spuckt in die Hände und haut mit einer unsichtbaren Peitsche durch die Luft. „Ja aber", ruft Schnabel, „was Sie da tun, ist ja Amtsverweigerung!"
„Weiß ich", lacht der Bürgermeister, „aber dieser Staat kann mich..." Sagt's und geht, haut die Tür ins Schloss, leise rieselt der Kalk von den Wänden. Wortlos steht der Schnabel im Gang. Es wird ihm plötzlich kalt. Mitten im Juli.

Wie ein Raubvogel sitzt der Anhegger hinter der Luke unter dem Dach. Er hat den Feind durch das
Dorf gehen sehen. Zum Bürgermeister ist er gegangen. Der Anhegger lacht. Keiner wird kommen. Keiner von den ganzen Leuten hier im Dorf. Kein Katholik und kein Protestant. In diesem Fall sind sie alle ein Herz und eine Seele. Und hier in das Haus kommt auch kein Fremder herein. Seit zweihundert Jahren sitzen die Anheggers darinnen, seit sie aus Tirol wegen ihres Glaubens ausgewandert waren. Und ihn soll's treffen? Nur weil er seit anderthalb Jahren diese Zinsen nicht mehr zahlt? Er nimmt den Karabiner. Liebevoll schaut er durch den gezogenen Lauf. „Nein", lächelt er, „so haben wir nicht miteinander gerechnet, lieber Herrgott!" Er ist sehr ruhig, der Anhegger. Er weiß, was er tut. Wer die Hand an den Hof legt, kriegt die Kugel. Und wenn es der Kaiser von China wäre. Der Bauer sieht in den gleißenden Mittag. Er lächelt. Wie gut die Frau zu ihm war, noch in dieser Nacht. Sie wusste, um was es ging. Ganz weich hat sie an ihm gelegen und ihn gestreichelt, den harten, holzigen Mann.
Jetzt schlägt es halb zwölf. Jetzt muss er ja kommen, der Herr Staat, und er soll es einmal versuchen, ihm den Hof abzunehmen. Anhegger äugt scharf über die Straße. Tatsächlich, da kommt er angewalzt. Ein Lüsterröckchen trägt er, einen harten Strohhut hat er auf dem schwitzenden Kopf, und ein Bäuchlein schiebt er vor sich her.
Der Anhegger lacht. Er setzt die Flasche mit dem Kirsch an den Mund. Das wird lustig werde, denkt er. Schnabel geht direkt auf den Hof zu. Er muss den Tatbestand feststellen. Dann wird er nach Siebenwasser an seine vorgesetzte Behörde telefonieren. Es ist ihm gar nicht wohl bei der Sache. Aber die Pflicht verbietet jedes Privatgefühl. Hier ist der Auftrag, hier ist der Schnabel, das und das hat er zu tun. Damit basta. Jetzt steht er vor dem Tor. Natürlich verrammelt. Keine Klingel da? Nein. Zunächst, denkt Schnabel, muss ich ordnungsgemäß Einlass begehren. Er klopft also. Mit der Faust klopft er. Es klingt nicht sehr laut, aber es müsste hörbar sein für die Bewohner. Entweder sind sie nicht anwesend oder sie hören absichtlich nicht. In beiden Fällen ist der Tatbestand der Behinderung bei einer Amtshandlung erfüllt. Schnabel nimmt die Akten aus der Tasche und notiert. Die Mappe zwischen die Beine geklemmt, steht der Gerichtsvollzieher im grellen Sonnenlicht vor dem geschlossenen Haus.

Kilian Kern hat Schnabel mit Siebenwasser verbunden. Was redet der da? Polizei... Wahrung der Staatsautorität... Dummes Zeug. Sollen dem Anhegger seinen Hof lassen. Haben doch Geld genug, die Banken. Was die und die Krankenkassen für Paläste bauen. Da ginge dem Anhegger sein Haus zehnmal hinein. Der Herr Gerichtsvollzieher sieht ganz nett aus. Gar nicht böse und eisern, wie ich mir so etwas immer vorgestellt habe. Plötzlich schnuppert er. Er fragt, ob es hier Kaninchen gäbe. „Aber natürlich", lacht Kilian, „ich hab drei hohe Ställe hinter dem Haus." Da fängt der Mann an zu strahlen. „Ach", sagt er, „würden Sie mir die einmal zeigen? Ich hab sie so gern. Zu Hause hab ich zwei Albinos und zwei tüchtige Belgier."
Sie gehen hinaus. Sie stehen vor den Ställen. Schnabel nimmt ein Junges aus dem wimmelnden Nest. Er legt es auf den Arm. Er streichelt vorsichtig das mattblaue Fell, und während das kleine Tier die Ohren wohlig bewegt und Schnabels Armbanduhr zu belecken beginnt, ruft der Gerichtsvollzieher: „Ach, sehen Sie doch, wie unschuldig das ist..."

Nach einer halben Stunde betreten das Dorf Siebenwasser drei Landgendarmen. Der Wachtmeister Dorband trifft sich mit Schnabel auf der Post. Sie beschließen, zu Anheggers Hof zu gehen, und wenn sich auf ihr Rufen und Pochen niemand dort melde, dann müsse das Tor eben gesprengt werden. Drei uniformierte Männer, begleitet von einem Mann, der einen Strohhut trägt, gehen durch die leeren Dorfstraßen. Manchmal ist es Schnabel, als sähe er hinter den Ritzen der Läden Augen aufblitzen, aber das ist sicher das Flimmern der Hitze. Er ist nicht furchtsam, der Gerichtsvollzieher Schnabel, aber heute, das will ihm nicht aus den Knien.
Poch! Poch! Dorband schlägt an das Tor. „Polizei, öffnen!" Still liegt der Hof. Wie ausgestorben ist das Dorf. Nur ein paar Enten treiben über den Mühlbach.
Die Gendarmen sehen sich an. Alle drei, wie sie hier stehen, waren sie einmal Bauernbuben gewesen, bevor sie zum Militär kamen und später zur Gendarmerie. Sie kennen den Eigensinn der Bauern, aber hier, das ist mehr. Ein Mensch, der nicht öffnet, wenn die Polizei es verlangt, ist entweder verrückt oder ein Verbrecher. Die Gendarmen werden wütend. Sie haben die Dienstuniform an, und der Kerl macht nicht auf!
„Öffnen", befiehlt Dorband. Sie versuchen sich zuerst am Schloss, aber das ist quer mit Holzkeilen zugetrieben. Vor einem Schuppen entdeckt einer eine Axt. Dorband lässt sie holen. Er prüft ihren Stiel. Er fährt mit dem Finger über die Schneide. Da hebt er sie schon. Ein gewaltiger Schlag fegt wider das Tor. Erschrocken springt Schnabel zur Seite. „Wie in Feindesland", denkt er. Dorband beißt sich auf die Lippen und haut wieder. Der linke Flügel des Tores neigt sich langsam zur Seite. Zum drittenmal hebt der Wachtmeister die Axt. Die Schneide funkelt im Sonnenlicht. Schnabel zittert an Händen und Füßen. In gleißendem Hieb fährt das Eisen durch die Luft. Krach, peng! ein Knall, ein Schlag. Vornüber stürzt Dorband. Die Axt frisst sich ins Tor. Davor liegt der Wachtmeister und steht nicht mehr auf.
Blitzschnell waren die Gendarmen hinter den Schuppen gerannt! Peng! Peng! peitscht es hinter ihnen her. Sie schießen zurück, scharf an Schnabel vorbei, der wie verblödet auf Dorband starrt. „Deckung", hört er sie rufen. „Wie bitte?" fragt der kleine, dicke Mann. Er hält den Strohhut in der Hand. Um ihn pfeifen die Kugeln. Plötzlich macht der Gerichtsvollzieher einen Satz. „Aufhören!" schreit er, er hält sich die Ohren zu und rennt nach dem Mühlbach. Peng, peng. Klatsch, klatsch... Bis zum Nabel steht der Gerichtsvollzieher im Wasser. Hoch hebt er die Mappe mit den Akten. Kreischend fliegen die Gänse davon. „Ach du lieber Gott", schreit Schnabel, „ach du lieber Gott..."
Die Schüsse verstummen. Er sieht die Gendarmen über die Straße laufen. Pudelnass klettert er das Ufer empor. Er rennt den Gendarmen nach. „Judenknechte", brüllt es aus Anheggers Haus. Dann ist es still, und der Himmel und die Wiesen sind lieblich wie zuvor.
Anhegger hatte mit dem Schuss bis zum dritten Schlag des Wachtmeisters gewartet. Dann löste er den Karabiner. Er sah Dorband fallen. Genau in die linke Schläfe hatte er gezielt. Den Fliehenden hatte er mit der Pistole noch ein paar Schüsse nachgejagt, dann waren sie hinter der Böschung verschwunden. Schade. Aber gelacht hatte der Anhegger, als er den Staat im Mühlbach stehen sah. Dieser Jammer mit der Aktentasche im hellgrauen Lüsterrock. Er hatte sich überlegt, ob er ihm nicht eine ins Gesäß knallen solle, aber er musste so lachen über den Kerl, dass er kaum zum Schießen kam.
Jetzt sitzt der Anhegger auf seiner Bank hinter der Luke. Der Karabiner liegt auf seinen Knien. Er nimmt die Blechkanne und trinkt einen Kirsch. Er denkt gar nichts. Er wartet.
Das Überfallkommando war nach zwanzig Minuten vor der Post vorgefahren. Ein bleicher Offizier sprang ab. Fünfundzwanzig Mann sammelten sich auf dem Hof. Mit fliegendem Atem erstatteten die Gendarmen Bericht. Dann wurde Schnabel geholt. Es war zwei Uhr, als der Anhegger in den umliegenden Gärten eine Unruhe bemerkte. Von allen Seiten zog sich eine Kette grüner Uniformen um das
Haus. Mochten sie nur. Über die Stiege kam ihm keiner. Die hatte der Anhegger unter dem Gewehr. Plötzlich hört er seinen Namen. Er sieht den Mann nicht, der ihn ruft. Das muss rechts im Garten sein, hinter der Blutbuche.
„Anhegger", ruft es, „Anhegger, hör zu. Dein Haus ist umstellt. Man fragt, ob du bereit bist, dich freiwillig zu ergeben. Das kann dich vielleicht noch retten, Anhegger, lässt man dir sagen. Überleg dir's genau."
Der Anhegger lacht. Verhandeln? Ich habe genug geschwätzt, und es hat nichts genutzt. Und er jagt einen Schuss nach der Blutbuche. Sofort löst sich eine Salve gegen das Dach. Die Ziegel splittern. Späne fliegen zu Boden. Aber, wo der Bauer sitzt, schlägt keine Kugel durch. Vor einem Jahr hat er hier ausmauern lassen, eine Wurstkammer für den Winter. Jetzt schweigen sie wieder. Beratschlagen wohl. Er hört, wie sie abziehen.
Dann hört er plötzlich ein Brummen. Er richtet sich auf. Da steht auf der Dorfstraße ein komisches Möbel. Ein Panzerwagen, denkt der Unteroffizier Anhegger vom 83. Infanterieregiment. Er ist gar nicht erregt. Nur neugierig ist er. Und wieder ruft es seinen Namen. „Josef... Josef!" Er rennt zur Luke. Im Garten steht der Pfarrer. Er hat beide Hände erhoben, als beschwöre er das Haus. Anhegger schiebt den Karabiner über das Fensterbrett. Das ist bestimmt eine List. Das machen sie immer so. Erst den Pfarrer und dann... „Schieß, wenn du willst", klingt es aus dem Garten. Der Bauer hebt langsam den Kopf.
„Josef, um fünf Uhr wollen sie stürmen. Bis dahin hast du noch Zeit. Denk an deine Frau und an deine Kinder. Josef, denk an Gott!"
Da legt sich der Bauer über die Brüstung. „Ich will mein Recht!" schreit er, „euer Recht ist kein Recht mehr. Erde ist mehr als Geld. So denkt Gott. Ja, so denkt er."
„Du hast gemordet", sagt leise der Pfarrer, „Josef, du darfst nicht mehr von Gott reden." „Und ihr wollt stehlen!" schreit der Bauer, „ihr dürft nicht mehr von Recht reden." „Denk an Gottes Gebot. Sei Untertan der Obrigkeit. Denk an deine Seele, Mann!" Traurig sieht der Pfarrer in des Bauern Gesicht. „In meinem Haus ist meine Seele", sagt der Anhegger plötzlich ganz ruhig, „und das wollen sie mir wegnehmen."
Dann schlägt er mit einem Krach das Fenster zu. Er fällt auf den Stuhl. Hemmungslos stürzen die Tränen über sein Gesicht. Doch seine Hand hält den Karabiner.
Blass geht der Pfarrer durch den Garten. In den Ställen brüllt das Vieh unter dem Druck seiner Euter.
Der Zeiger auf der Uhr am Kirchturm nähert sich fünf. Der Major hat den Panzerwagen auf der Dorfstraße bereit gestellt. In zwanzig Minuten wird er stürmen. Gegen Mörder hilft nur Gewalt. Kein Mann darf mehr gefährdet werden. Der Major wird das Dach in Brand schießen lassen. Mag der Wahnsinnige verkohlen.
Anhegger äugt scharf auf den Garten. Er sieht die Uhr vorrücken. Bald werden sie kommen. Anhegger denkt nicht mehr an seine Frau und an den Hansli. Er ist in einer anderen Welt. Er steht allein in seiner Luke, wunderbar allein, gegen Gewehre und Granaten, so muss ein Mann sein, aufrecht und einsam. Es denkt in ihm herum. Hätte er nur nicht der ältesten Tochter, die diesen Stadtfratz von Studienrat heiratete, so viel Aussteuer und Bargeld mitgegeben, dann hätte er die Bankschuld nicht gebraucht. Aber die Liesel, die wollte immer hoch hinaus. Fünfzehntausend Mark hat er hingelegt, das war es, das ist an allem schuld. Und jetzt soll er auch noch den Hof hergeben für diesen windigen Studienrat, der in zwei Jahren das Geld verspekuliert hat. Deshalb soll der Anhegger dran glauben. Was ist das? Die Straße ist leer. Der Panzerwagen ist weg. Der Bauer zählt die Munition. Fünfundsiebzig Schuss. Ein teuerer Boden wird das für die Herren. Einen hat er schon geschluckt, und der Anhegger wird scharf zielen, bis er sich die letzte Kugel ins Hirn jagt, dort, wo das Licht ist. Es sind noch fünfzehn Minuten bis fünf. Der Anhegger hört das Vieh. Wie das brüllt! Seit dem Morgen haben sie kein Futter. Die Kühe sind nicht gemolken. Sie schreien. Ihre Euter brennen. Der Bauer hält sich die Ohren zu, aber er hört sie doch, die Tiere. Dass ich das vergaß..., dass ich das Wichtigste vergaß. „Ruhe!" brüllt er sich an. Er starrt durch das Fenster. Niemand kommt. Das Dorf schläft. Vielleicht sind sie weggefahren. Oh, sie sind wohl weggefahren. Wie das Vieh schreit. Josef Anhegger vergisst die Menschen. Er starrt durch die Luke. Da liegt der Stall. Hoch ragen die Rücken der Kühe zwischen den Boxen. Sie reißen an den Stricken. Sie schlagen mit den Hufen. Das böse Feuer saust ihnen durch den Leib.
„Gott im Himmel, hab Erbarmen!" schreit der Bauer, „hab Erbarmen... hab Erbarmen!" Schon ist er die halbe Stiege hinunter. Er sieht nichts mehr. Er vergisst den Pfarrer, den Panzerwagen und den Major. Er hört nur das Gebrüll, den Jammer, das hilflose Betteln der Kreatur. Muuh... Muuuaah... Muuuaaaaah. Anhegger torkelt durch das Haus. Die Pistole hat er in der Hand. Er rennt in den Stall. Wie sie brüllen, als sie ihn sehen. Da kniet er schon auf dem Mist.
Seine Finger fassen die brandigen Euter. Weiß fließt die Milch, ein befreiter Bach, durch das Stroh. Von Tier zu Tier rennt der Mann. Er weint und lacht. Die Kühe lecken sein Haar, und der Saft ihres Leibes schäumt hell über die Hände des Bauern. Langsam schob sich der Panzerwagen über den weichen Grund nach dem Haus. Zwischen den Glocken des Kirchturms stand der Major und beobachtete die Aktion. Es fiel kein Schuss, als sie in die Hofreite drangen. Sie gingen durch alle Zimmer. Oben unter dem Dach stand der Karabiner am Fensterbord. Sie nahmen ihn mit. Sie suchten im Keller, in der Scheune, im Garten, unter dem Dach. Als sie den Stall betraten, fanden sie ihn. Er lag, die Pistole in der Hand, in einem See von Milch, befleckt mit Blut und Kot, als wäre er eben geboren.

 
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