6. Kapitel
Die „Braunschweig" näherte sich Bremerhaven. Nach dem ersten Frühstück war Irene in die Kabine gegangen, um die Koffer zu ordnen. Sie hatte den Vater unten im Rauchsalon verlassen, wie er vor der großen Landkarte Deutschlands stand und mit dem rechten Zeigefinger die Flussläufe nachfuhr und die Namen der Städte halblaut vor sich hinsagte. Sein Auge lag auf dem Tal des Neckars, und Irene hörte ihn lesen. „Heidelberg... Neckarsteinach... Hirschhorn... Wimpfen... Siebenwasser..." Er sprach die Namen aus wie ein Kind, fast buchstabierend und mit einem ernsthaften Eifer in der Stimme.
Still war Irene von dem Vater gegangen. Es schien ihr gut und richtig, ihn in dieser Stunde allein zu lassen. Als sie über das Deck zu den Kabinen schritt, passierte die „Braunschweig" das erste Feuerschiff. Irene saß auf dem Bett. Die Koffer waren geschlossen. Durch das offene Fenster sah sie am Horizont einen dünnen bräunlichen Streifen. Frisch ging die Brise über das Schiff. Weich und glatt
war die See. Fast lautlos schob sich die „Braunschweig" über die spiegelnde Fläche. Es war drei Uhr nachmittags, und über dem Meer und dem langsam ergrünenden Ufer des Festlands lag die reife Sonne des September.
Irene verließ die Kabine. Ein Träger holte das Gepäck. Die Passagiere versammelten sich im Mittelschiff. Die „Braunschweig" verlangsamte die Fahrt. Immer näher schob sich das Land. Da standen die spitzen Kirchtürme in der Patina des Kupfers, und der Wind von der See her bog die Weiden landeinwärts.
Ein Gong erklang. Schon war die harte Kaimauer sichtbar. Irene ging in den Rauchsalon. Dort stand der Vater. Zärtlich fasste sie ihn an der Schulter. „Wir sind da", sagte sie.
Sie gingen nach oben. Sie überschritten die Brücke. Als sie an Land waren, umarmte Johann Kaspar sein Kind.
Das Friedrich-Carl-Gymnasium zu Siebenwasser war ein roter, unfreundlicher Bau aus den sechziger Jahren. Es stand unterhalb der Bastion auf einem kleinen Plateau.
Seine Schüler rekrutierten sich in der Mehrzahl aus den Söhnen der höheren und mittleren Beamtenschaft und jenen Bauernjungen der umliegenden Dörfer, die für das Studium der Theologie vorgesehen waren. Der Charakter der Anstalt war äußerst exklusiv, trotz der Bonhomie ihres Leiters, des weinfröhlichen Direktors Holzapfel. Aber es war Tradition in Siebenwasser, dass ein Schüler der Friedrich-Carl-Anstalt sich im Verkehr mit der Bevölkerung größter Zurückhaltung befleißigen musste, indem er durch diesen Abstand zu erkennen gab, dass sein Leben anderen Zielen geweiht war als dem der gewerbetreibenden Bürger. Hier war eine Pflanzstätte des konservativen Beamtentums, wie es sich nach den Napoleonischen Kriegen in den deutschen Kleinstaaten herausgebildet hatte, aufgeklärt im Sinne des Humanismus, doch voller Abneigung gegen jede Popularisierung seines Bildungsideals und gegen jede Vermengung seines Lebens mit dem Volk. Wohl war diese Tradition oft durchlöchert worden — die Woge der Wilhelminischen Ära hatte viel davon weggeschwemmt und eine gefährliche Halbbildung in den Schulbetrieb einziehen lassen — aber immer wieder war es gelungen, den Lehrkörper zu säubern und die Anstalt zu dem Palladium süddeutsch-konservativen Geistes zurückzuführen. Die hohe Bürokratie in Stuttgart, die zu einem nicht unerheblichen Teil aus dem Gymnasium von Siebenwasser hervorgegangen war, hatte kurz vor dem Krieg die Errichtung einer Oberrealschule durchgesetzt. Dort konnten die Kinder der Kaufleute, der Angestellten und des übrigen Volks sich die Matura für das Studium erwerben. Das Gymnasium blieb rein vom Geist einer fortschrittlichen Halbbildung, und die alte Tradition, die einen bestimmten Charaktertypus schaffen wollte und nicht irgendeinen technischen Fachmann, lief keine Gefahr mehr, verwässert zu werden. Hier herrschte Plato und nicht der Physiksaal oder die Logarithmentafel. Lebende Sprachen kann jeder Oberkellner lernen, doch das kalon k'agathon im Sinne des Humanismus war nur durch eine strenge, exklusive Schule zu erlangen. Hohe Beamte der Bürokratie in Stuttgart wachten über den Geist der Anstalt. Sie waren froh, wenn man sie als rückständig verschrie. Denn sie glaubten nicht, dass der Motoren bauende Mensch dieser Epoche den Geist ersetzen könne, ohne den es keine Ordnung, kein Maß und keine Harmonie gäbe. Es war ein konservativer Platonismus, der sich hier der zivilisatorischen Anarchie entgegenstemmte.
Als Dr. Voß das Klassenzimmer betrat, erhob sich die Prima. Er ging zum Katheder, setzte sich und sah in die Gesichter der vor ihm stehenden Jungen. Er betrachtete jeden einzeln, das tat er immer, vor jeder Stunde. Und die buschigen Augen auf die achtzehn jungen Menschen gerichtet, sagte er: „Wir kommen heute zur deutschen Reichsverfassung aus dem Jahre 1919. Es ist die sogenannte Weimarer Verfassung. Sie wissen, dass Sie im kommenden März beim Abitur in den wichtigsten Bestimmungen dieser Verfassung geprüft werden. Laut einer Verordnung der Regierung ist Staatsbürgerkunde Pflichtfach. Es ist meine Dienstpflicht, Sie darin zu unterrichten. Ich muss Sie aber bitten, die Ansichten, die ich hier vortrage, nicht als die meinen zu betrachten. Es handelt sich um ein Werk, das ich sowohl seiner Entstehung wie auch seinem Sinn nach auf Grund meiner Weltanschauung und meiner Vergangenheit ablehnen muss. Aber das steht auf einem anderen Blatt. Das hat mit unserem Pensum nichts zu tun. Setzen!"
Achtzehn Knaben setzten sich und sahen nach ihrem Lehrer.
Voß begann zu lesen. Seine Stimme war klanglos und entbehrte der gewohnten Schärfe. Es war ein Kommentar über die Entstehung der Verfassung, aus dem er las. Ein langweiliges, mit Daten und Hinweisen gespicktes Elaborat. Zehn Minuten waren vergangen. Keiner der Knaben hörte mehr hin. Einige hatten aus ihren Mappen die Bände herausgezogen, die sie sich am Morgen aus der Schülerbibliothek ausgeliehen hatten, und begannen zu lesen. Andere arbeiteten an ihren Lektionen für die nächste Stunde, und bald geschah es, dass manche ihre Plätze verließen und sich zu ihren Freunden setzten.
Voß sah nicht hoch. Durch den Raum ging das Summen der Stimmen. Oft ein kaum verdecktes Lachen. Schließlich erhob sich einer und fragte, ob es erlaubt sei, die Toilette aufzusuchen. Dr. Voß hob den Blick.
„Sie wissen, meine Herren, dass Sie in dem, was ich hier lese, geprüft werden. Wenn aber Ihr Gesundheitszustand beim Anhören dieser Paragraphen merkwürdige Veränderungen zeigt, kann ich Sie nicht hindern, dem nachzukommen." Da lachte die Prima hell auf. Das war wieder echt Voß. Dieser blendende Sarkasmus zeichnete auch seine Aufsätze aus, die er über geschichtliche Themen in den „Preußischen Jahrbüchern" veröffentlichte. Nach und nach verließen die Knaben den Saal. Sie hatten für solche Gelegenheiten einen Turnus. In Dreiergruppen gingen sie hinaus, und während die eine Gruppe auf dem Häuschen im Hof Zigaretten rauchte, wartete die andere zehn Minuten, um sie dann abzulösen.
Hans Diefenbach saß in der letzten Bank. Er machte den Exodus nicht mit. Er fand diese ganze Art zu demonstrieren albern. Nicht dass er die Weimarer Verfassung verteidigen wollte. Aber so unter Duldung, ja unter Aufmunterung eines Vorgesetzten sein Mütchen kühlen, das entsprach nicht seinen Ansichten vom ehrlichen Kampf. Vor drei Tagen, das war eine andere Sache gewesen! Da waren die besten Leute vom Sturm ins Theater gegangen und hatten gegen das Gewicht einer Mehrheit demonstriert, hatten sich nicht gefürchtet vor der Polizei, hatten sich abführen lassen — für ihre Idee vom neuen Deutschland. Aber hier, diese Kameraden, naseweise Beamtensöhne, die jeden Oberrealschüler über die Achsel ansahen, die hatten kein Recht... die nicht!
Hans sah vor sich hin. In achtzehn Minuten würde es schellen. Auf dem Katheder näselte Herr Dr. Voß seinen Sermon herunter. Mit absichtlich müder Stimme erklärte er, was ein Misstrauensvotum sei. Hans dachte an den Neuen, der da plötzlich bei dem Theaterkrach mit dabei war. Wie hieß er noch. Jürgen Winkler. Gestern hatte er ihn bei Gerhard Träger getroffen, als sie den Plan für die Nachtübung besprachen. Der hatte ihm gefallen. Was hatte er gesagt? Man müsse die Arbeiter gewinnen. Man müsse sozialistisch sein. Man müsse Schluss machen mit dem Liebäugeln mit der alten verkalkten Reaktion. Und Gerhard Träger hatte ihm zugestimmt und ihn beauftragt, in Siebenwasser zu bleiben und für den deutschen Sozialismus zu kämpfen. Und Jürgen hatte geantwortet, außer seinem Hass gegen die Juden empfände er nur noch einen Hass, den gegen die Reaktion. Das waren Worte, die Hans schon lange gedacht hatte. Hatte nicht auch Vater unter diesen Schichten gelitten, die Jürgen Reaktion nannte? Wie hatten sie es dem aktiven Hauptmann schwer gemacht, weil er eine Handwerkerstochter heiratete. Verrat hatten sie ihm vorgeworfen. Als ob es Verrat sei, wenn einer ins Volk geht. Nun, Vater lag tot vor Verdun, und Mutter zehrte von der schmalen Pension, die kaum mehr als ein Almosen war. Was war Hans gegen die Jungens hier in der Klasse? Die hatten Verwandte, die in Ministerien saßen oder in großen Fabriken. Die redeten und lebten ja nur unter ihresgleichen. Was wussten die vom Volk?
Lange Jahre hatte sich der Sohn des Hauptmanns Diefenbach im Gymnasium gefürchtet, nicht weil er arm war, wie sehr ihm das auch die ängstliche Zärtlichkeit seiner Mutter zu verheimlichen suchte. Aber er sah den Weg vor sich, der ihm drohte. Nach dem Abitur würde man ihn mit Hilfe irgendwelcher Verbindungen in ein Korps pressen, er wird den Alten Herren, die die Stellen vergeben, gefällig zu Ohr reden müssen, und man wird ihn dann, wenn er geschickt und demütig war, in der höheren Verwaltungslaufbahn oder in der Industrie unterbringen. So wenigstens sprach sein Vormund, der Oberstleutnant Diefenbach, jetzt Kurdirektor in Wernigerode am Harz. Immer hatte es Hans vor diesem
Gedanken geschaudert. Was war das für ein Leben? Lag dafür der Vater mit den Hunderttausenden vor Verdun?
Hans schlug sein Scharbüchlein auf. Da standen sie, die Sätze, die ihm Gerhard Träger auf die erste Seite geschrieben hatte an jenem Abend, da er sich ihm anvertraute. Sie waren aus der Turnhalle, wo für das Verbandstreffen trainiert wurde, zusammen ein Stück Wegs gegangen. Es war im Winter. Sie stapften durch den Schnee. „Was ist mit dir?" hatte ihn Träger gefragt. Hans war erschrocken. Er hatte dummes Zeug gestammelt. Aber Träger ließ nicht locker. Und als sie dann ins Reden kamen, da hatte Hans ihm gesagt, dass er so nicht leben wolle und könne. Und Träger hatte genickt. Sie waren in das kleine Bauernhaus gegangen, wo Träger wohnte. Hans war es etwas unheimlich, denn in der Schule wurden schlechte Witze über den Offizier erzählt, und auch die Mutter hatte schon gesagt, Knaben sollten sich vor seinem Umgang hüten. Das war aber alles nur eine Finte, um Träger zu isolieren. So machen es die Bürger immer. Wenn ihnen einer unbequem ist, verdächtigen sie seine Moral.
Diese Begegnung war für Hans entscheidend geworden. In wenigen Sätzen, wie es seine Art war, hatte ihm Gerhard Träger die neue Idee erklärt. Die Jugend und der unbekannte Soldat des Weltkriegs sind berufen, das neue Reich zu gründen. Es ist das große Erwachen des Volkes nach tausendjährigem Schlaf. Das heilige Reich der Gemeinschaft. Und er hatte ihm die Feinde gezeigt. Und er hatte ihn gefragt, ob er ein Soldat dieses neuen Reichs werden wolle. Und Hans, erschüttert von der gewaltigen Vision eines durch keinen Dünkel und keinen Hass mehr getrennten Volkes, hatte ja gesagt. Denn dafür waren sie gestorben, draußen vor Verdun, nicht für den Kaiser, nicht für die Generale, nicht für die Industrie — sondern dafür! Und hier standen sie, die Sätze Gerhard Trägers, die Hans immer und immer wieder las, wenn er sein Leben bedachte: „Die Lage unseres Volkes macht es notwendig, dass sich Männer zu einem heiligen Eid zusammenfinden, die um des Neuen willen auf jeden bürgerlichen Vorteil verzichten und denen der Tod für das kommende Reich mehr gilt als ein Leben im behaglichen Winkel."
Hans sah auf. Immer noch näselte Voß. In zehn Minuten musste es schellen.
Hans begann gerade seine Sachen zusammenzupacken, als es klopfte. Dr. Voß schritt zur Tür. „Diefenbach, zum Direktor!"
Hans erhob sich. Alle sahen ihn an. Er ging durch die Reihen der Bänke auf den Flur. Dort stand der Pedell.
„Dicke Luft!" flüsterte Rübsam. Sie schritten die Treppe hinab.
Direktor Holzapfel hatte gerade über der neuen Plautusbearbeitung gesessen, die er für einen Verlag auf philologische Korrektheit prüfte, als sich Polizeileutnant Schnebel melden ließ. Holzapfel war trotz seiner konservativen Grundeinstellung ein Verächter der Polizei. Sie war für ihn die Degeneration des Begriffes Krieger, den er getreu seiner platonischen Anschauung zwar als notwendig, aber als lästig empfand. Und nun kommt ein Mestize dieser Kaste und stört ihn am Plautus. „Der Herr Leutnant möge gefälligst warten." Rübsam war zurückgekommen. Der Herr Leutnant könne nicht warten. Es handle sich um einen dringenden Auftrag des Herrn Polizeipräsidenten. Da war Holzapfel aufgestanden. Alles Blut schoss ihm zu Kopf.
Was der Herr Polizeipräsident wohl in einem humanistischen Gymnasium zu suchen habe? Aber Rübsam, der die Launen seines Direktors kannte, schaffte ein Fait accompli und ließ Polizeileutnant Schnebel ein.
Als Holzapfel die Uniform sah und den glänzenden Tschako und an dem Gurt den Revolver, schlug er mit der Faust auf den Plautus und rief: „Herr Polizist, legen Sie augenblicklich die Waffe weg! Der Geist dieser Anstalt verträgt keine Revolver!" Polizeileutnant Schnebel, der den Holzapfel von der Weinstube, wo er seine Abende verbrachte, wenn er nicht am Plautus arbeitete, kannte, verbeugte sich und sagte: „Herr Direktor, nie hätte ich es gewagt, den Geist dieser Anstalt zu verletzen, wenn sich von hier aus nicht ein Attentat gegen die öffentliche Ordnung und gegen die Sicherheit des Staates vorbereitet hätte."
„Sie sind der ulkigste Kerl, der jemals einen Tschako getragen hat!" brüllte Holzapfel. Ohne eine Antwort zog der Leutnant aus dem Ärmel ein Papier, legte es vor den Direktor und sagte: „Ich muss Sie bitten, sofort den Oberprimaner Hans
Diefenbach zu rufen. Sollten Sie sich weigern, bin ich gezwungen, selbst einzugreifen. Befehl des Polizeipräsidenten."
Holzapfel starrte auf das Papier. Plötzlich ward ihm der Kragen zu eng. Er schellte. Rübsam kam. „Diefenbach", knurrte der Direktor. Dann stellte er sich vor die Bibliothek und betrachtete die Einbandrücken des Plutarch.
Als Hans das Konferenzzimmer betrat, sah er zuerst den Leutnant. Er wusste sofort, was vorlag. Seit Tagen hatte er damit gerechnet. Dennoch wurde er blass. Lange hing das Schweigen im Raum. Holzapfel rührte sich nicht vor der Bibliothek. Schnebel räusperte sich. Ohne Erfolg. Er schnipste mit den Fingern. Der alte Mann vor den Büchern drehte sich nicht um. Da ging Polizeileutnant Schnebel zu Holzapfel und legte ihm die Hand auf die Schulter. „Der Gesuchte ist da", sagte er sehr höflich. Mit einem Ruck schoss Holzapfel herum. „Rühren Sie mich nicht an!" brüllte er. Lächelnd deutete Schnebel auf Hans. Holzapfel atmete tief. Dreimal hob und senkte er die gewaltigen Schultern, der alte Mann. Dann ging er zu Hans. Er fasste ihn am Arm.
„Sagen Sie, Diefenbach, haben Sie wirklich durch Ihr Verhalten an einem mir unbekannten Ort..." „Im Theater", fiel Schnebel ein. „Aber jetzt hören Sie gefälligst auf! Ich habe das Hausrecht hier!" brüllte Holzapfel, um dann fast zärtlich fortzufahren:
„Haben Sie wirklich durch Ihr Verhalten an einem mir unbekannten Ort diesen bewaffneten Prätorianern die Berechtigung gegeben, in unser Gymnasium einzudringen? Nicht wahr, Diefenbach, das muss doch ein Irrtum sein!"
Liebevoll sah er den Knaben an. Mein bester Hexameterleser, dachte Holzapfel.
Hans sah die klaren gütigen Augen des Direktors. So leuchteten sie immer, wenn er die Verse von der Insel der Phäaken las oder wenn er die platonischen Dialoge übersetzte.
„Es ist kein Irrtum", antwortete Hans, dann fror ihn. Holzapfel trat zurück. „Diefenbach", sagte er, weiter nichts als „Diefenbach". Er schritt nach der Bibliothek zurück, als suche er einen Schutz. „Es liegt das Delikt des Landfriedensbruchs vor", Polizeileutnant Schnebel zog das Papier, „anlässlich der zweiten Aufführung des Schauspiels ,Der fröhliche Weinberg' hat sich der Schüler Diefenbach aus Siebenwasser mit anderen Konsorten im vollbesetzten Haus zu Ruhe und Ordnung störenden Handlungen hinreißen lassen und durch Aufforderungen zur Gewalttätigkeit den Tatbestand des Landfriedensbruchs erfüllt."
„Schweigen Sie!" schrie Holzapfel. Er schlug die Hände ineinander. „Das ist unmöglich. Das macht kein Humanist!"
Er rannte durch das Zimmer.
Schnebel sah Diefenbach an.
„Ich habe es getan, Herr Direktor", sagte Hans.
Mit einem Ruck blieb Holzapfel stehen.
„Dann sind Sie unwürdig!"
Bleich war das Gesicht des alten Mannes. Schweigend standen sie da.
„Ich habe es für Deutschland getan, Herr Direktor." Holzapfel entspannte sich. Leicht ging er zu dem Jungen.
„Für Deutschland?" sagte er, „das ist immer die Ausrede von Wirrköpfen, mein Lieber. Sie haben das Gesetz verletzt. Sie haben aber noch mehr, Sie haben den geistigen Anstand verletzt, Sie haben gebrüllt, wo Sie hätten überzeugen sollen, Sie haben Platon verletzt, indem Sie auf den Marktplatz gingen. Sie haben alles, was ich euch gepredigt habe, besudelt und sich in Dinge gemischt, die den Pöbel angehen. Das haben Sie getan. Diese Schule haben Sie verraten! Ja!"
Der alte Mann setzte sich. Hans spürte sein Herz. Schnebel trat verlegen von einem Fuß auf den anderen. Schließlich fasste er sich. „Herr Direktor, es liegt nicht im Sinn des Polizeipräsidenten, aus diesem Dummenjungenstreich eine Staatsaffäre zu machen. Wir wissen, dass die Jugend durch gewisse Drahtzieher gelenkt wird, und wir wollen endlich einmal in diesem Fall die Hintermänner öffentlich feststellen, damit Ruhe kommt nach Siebenwasser. Wenn also der Schüler Diefenbach uns jetzt hier seinen Auftraggeber nennt, wird der Akt niedergeschlagen, und wir überlassen es Ihnen, Herr Direktor, die Sache durch einen Verweis aus der Welt zu schaffen." Schnebel nahm den Tschako ab. Es sah aus wie ein Friedensangebot, aber vielleicht schwitzte er nur. Alles straffte sich in Hans. Jetzt war die Stunde da.
Jetzt musste er sich bewähren. Jetzt versuchten sie ihn.
„Was ich getan habe, habe ich aus eigenem Ermessen getan. Ich hatte keinen Auftraggeber. Wir demonstrierten gegen das Gift in unserem Volk. Wir demonstrierten gegen den jüdischen Geist. Wir demonstrierten gegen die bürgerliche Schlappheit. Wir glauben an das Neue Reich." „Angelernte Sprüche", näselte Schnebel. Holzapfel erhob sich. Er sah alt aus. Er ging langsam auf Diefenbach zu. „Hans", sagte er — lange hatte er ihn nicht mehr beim Vornamen genannt—, „Hans, Sie sind einer meiner besten Schüler. Ich kenne Ihren Stolz. Jetzt nehmen Sie eine Schuld auf sich, um jemanden zu decken. Das ist löblich, Hans, aber Sie opfern sich an einem falschen Ort. Sie leiden nicht für den Geist. Glauben Sie mir, das Stück im Theater war zwar kein Klassiker, aber was ihr getan habt, das greift an die Grundlagen jeder Gesittung — und diese Grundlagen werden hier in diesem Haus von mir verteidigt. Hans, das ist ja unser Leben, dass wir diese Grundlagen nicht verlieren, das ist ja das A und O jeder Gemeinschaft, Hans, wenn wir das nicht halten, dann kommt eines Tages der Pöbel über uns, und alles, was wir gebaut haben, war umsonst!"
Er hielt den Knaben an den Schultern und schüttelte ihn. Hans sah starr geradeaus. Wie sie mich versuchen! dachte er. Und als der alte Mann mit den verzweifelten Augen da vor ihm wieder zu sprechen anhob, da schüttelte sich Hans frei, eine heiße Welle der Entschlossenheit durchzog ihn, er stellte sich offen vor den Direktor, und während sein Gesicht in einer hektischen Röte erglühte, sagte er: „Sie verstehen uns nicht, Herr Direktor. Sie verstehen nicht die deutsche Revolution. Sie sind zu alt, Herr Direktor."
Das Wort stand im Raum. Alle schwiegen. Hans zitterte.
Als erster sprach Schnebel. „Frechheit!" zischte er. Doch Holzapfel winkte ab. Es war ein tiefes Lächeln in seinem Gesicht, als er auf Hans zuging und seine Backe streichelte.
„Armer Junge", sagte er, „armer Junge, so steht es also mit dir... Wir sind zu alt... Alles, was da so ist" — er deutete auf die Bibliothek —, „ist zu alt. Der Platon und der Seneca, der Augustinus und der heilige Franz, es ist zu alt, nicht wahr, es ist tot, sag es nur, es war umsonst, so ist es." Schrecklich war das Lächeln auf Holzapfels Gesicht. Da stand sie vor ihm, diese gespenstische Jugend, diese von Sport und Technik taub gewordenen Seelen, diese maßlose, den Körper vergottende Generation, die seit Jahren vor ihm aufwuchs, ohne geistige Zucht, ohne Demut, ohne Willen zur Weisheit und zur Klärung ins Menschliche. Schön waren diese Körper, kluge Tiere. Und wie er Hans dastehen sah, ein wenig bleich, aber mit festen Augen und in gerader Haltung, wie er dieses offene Gesicht sah ohne Fehl und Hinterlist, da überkam ihn der Jammer vor soviel jungem gesundem Blut, da schrie es in ihm auf, wie so oft schon, wenn er diese herrlichen Knaben abtorkeln sah auf die Straße der Finsternis und des blinden Hochmuts, und der Zorn über soviel Verführung, über soviel abgefeimte Verderbnis jugendlicher Seelen übermannte den alter Mann, und alle immer geübte Zucht zerbrach in dem Schrei: „Damals war es wenigstens Alkibiades der den Göttern die Köpfe abschlug und euch verführte, wenigstens Alkibiades, ein Grieche. Ein Abtrünniger, aber wenigstens ein Abtrünniger! Heute aber", die Gestalt des alten Mannes straffte sich, jäh stand er da, sein Haar flog und seine Augen standen voll Tränen, „heute aber hat euch der Barbar, der stumpfe Gewaltanbeter, der Hexenmeister, der Rattenfänger in seinen Klauen..." Hans wusste selbst nicht, wie es gekommen war, „der Führer", hatte er gedacht, weiter nichts als „der Führer" ... und schon schlug es aus ihm heraus mitten in das Gesicht des Direktors Holzapfel. Eine Brille zersplitterte am Boden. Hans wankte Er fühlte sich gepackt. Drei Stöße in seinen Rücken Als er die Augen öffnete, bemerkte er, dass Schnebel seine Arme hielt. Vor ihm durch den Raum tastete sich hilflos mit ausgestreckten Händen ein alter Mann.
„Ich werde sofort das Nötige veranlassen", hörte er Schnebel.
„Aber nein", flüsterte Holzapfel und lächelte, „keine Weiterungen, wenn ich bitten darf! Aber hier auf dem Tisch muss eine Glocke stehen. Ich finde sie nicht. Bitte läuten Sie!"
Hans fühlte sich losgelassen. Eine dünne Schelle ertönte. Die Tür ging auf.
„Rübsam, meinen Ersatzzwicker", sagte der alte Mann. Rübsam brachte den Zwicker. Umständlich, den Fuß auf einen Stuhl gestützt, putzte Holzapfel die Gläser.
Schnebel fasste wieder nach Hans. „Aber nein", lächelte der Direktor, „wir sind hier doch nicht auf der Polizei."
Da ließ ihn Schnebel los. Hans hielt den Kopf gesenkt. Das wollte ich nicht, dachte er. Und wieder hörte er die Stimme seines Lehrers. Sie war von einer wunderbaren Milde und Weichheit. „Sehen Sie, Hans, was Sie eben getan haben, was ich Ihnen verzeihe und worüber ich nie mehr ein Wort hören will", sagte Holzapfel und sah Schnebel bittend an, „sehen Sie, Hans, das ist das Verhängnis. Sie haben völlig richtig gehandelt. So muss es kommen. So müsst ihr alle werden. Dagegen hilft keine Polizei, Herr Leutnant, kein Gericht. Das ist ein fürchterliches Schicksal, wenn man statt der Vernunft nur Blut im Kopfe hat."
Holzapfel setzte den Zwicker auf. Niemand spürte seine Erregung. Seine Stimme war von einer schweren Trauer umflort. Er sah Hans liebevoll an. „Hans, ihr alle seid gute Jungens. Ihr alle glaubt Deutschland verraten. Ihr wollt es retten. Ihr werdet es zu Tode retten!"
Draußen schellte es. Hans hörte die Schüler die Treppen hinunterrennen. Holzapfel sprach lange kein Wort. Sein Blick ruhte auf der Büste der Pallas Athene.
Längst war der Lärm verklungen, als Holzapfel wieder zu reden begann. „Mein lieber Hans, Sie wissen, was ich euch lehrte. Duldet nie, dass der Pöbel regiere. Wie er auch sei, und was er auch rede. Aber
Sie verstehen mich schon nicht mehr. Sie sind schon kein einzelner Mensch mehr, Hans. Ihre Hand wird schon geführt. Heute krachte nur ein Zwicker, morgen kracht vielleicht ein Schädel und übermorgen kracht vielleicht das ganze Haus. So war das immer, wenn man nur Blut im Kopfe hat, Hans." Holzapfel ging zu seinem Schreibtisch. Er schob das Plautusmanuskript hinweg. Er setzte sich mit dem Rücken zur Tür. Er schrieb mit einer knirschenden Feder.
„Sie werden sich selbst sagen, lieber Diefenbach, dass Sie natürlich nicht länger in der Anstalt bleiben können. So weit ist das Verhängnis noch nicht. Vielleicht kommen Sie in ein paar Jahren und prügeln mich samt meinem Seneca aus dem Tempel hinaus. Aber vergessen Sie nicht, Alkibiades starb in der Verbannung, und sein schöner Leib ward nicht mehr gefunden. Selbstverständlich werden wir jedes Aufsehen vermeiden, schon Ihrer Mutter wegen. Sie bekommen ein reguläres Abgangszeugnis, und ich kann Ihnen heute schon sagen, dass Sie mein bester griechischer Schüler waren. Leider nur in der Grammatik, Hans. Sie können dann ja irgendwohin ins Preußische gehen. Dort ist ja die Grammatik die Hauptsache, und Sie werden Ihr Abitur bald haben." Holzapfel drehte sich um. „Heben Sie den Kopf, Diefenbach!" sagte er, „Leuten wie Ihnen kann in dieser Zeit nichts geschehen. Haben Sie keine Angst! Aber um eines bitte ich Sie: Werfen Sie nach dem Abiturium Ihren Platon ins Feuer und auch die Bibel, dieses schlappe Buch, werfen Sie hinten nach!" „Sie aber, Herr Polizist", fuhr Holzapfel fort und stand auf, „sagen Sie Ihrem Häuptling, der Fall sei durch mich geregelt, und wir hätten den Drahtzieher. Es ist der Krieg!" Holzapfel deutete nach der Tür. „Ich danke, meine Herren." Hans ging, von Schnebel gefolgt. Lange horchte Holzapfel auf ihre Schritte. Als sie verklangen, sank sein Gesicht auf den Schreibtisch. Wieder einer..., dachte er, und er weinte, der alte Mann.
Sie waren gegen zehn Uhr in Heidelberg angekommen. Irene hatte sofort den Wagen in eine Garage gefahren und den Vater bestürmt, doch den Tag über in der Stadt zu bleiben. Aber Bäuerle war unerbittlich. Eine Stunde nur gestand er zu. Das Mittagessen sollte im „Schwarzen Bären" in Siebenwasser stattfinden. Er hatte es telegraphisch bestellt. Forellen.
Widerwillig fügte sich Irene. Der Vater war überhaupt auf der ganzen Fahrt merkwürdig gewesen. Nirgends wollte er bleiben, sie musste ihm die Umwege ablisten. Sie hatte es wenigstens erreicht, dass sie von der Weser zum Rhein hinübergelangten, bei Koblenz ins Moseltal fuhren, dann zurück und über den Fluss nach der Lahn bis nach Wetzlar und wieder zurück und den Rhein entlang bis nach Mainz. Dort aber hatte Vater gestreikt. „Ich will erst nach Hause", hatte er gesagt, „später kannst du fahren, wohin du willst."
Irene war berauscht. Nie hätte sie gedacht, dass Deutschland so schön sei. Am Rhein waren sie in
die Weinernte gekommen, da hatte selbst Vater vierzehn Tage zugegeben. Wie hieß dieses Städtchen noch, wo sie wohnten? Oppenheim, ja und die Kirche mit den Fenstern, die das Licht verzauberten, und daneben das Beinhaus mit den vielen tausend Schwedenschädeln, und darüber wuchs der Wein.
Sie wohnten in einem kleinen, einfachen Hotel, und jeden Morgen sind sie mit dem Wagen hinein ins Land gefahren, wo in den Mulden die Dörfer liegen und die Wächter auf den Hügeln mit alten krachenden Schießprügeln die Stare von den Reben verjagen.
Abends, wenn die Kühle kam, saßen sie in den niedrigen Stuben der Bauernkneipen, und Vater ließ sich erzählen, wie es im Krieg war und in den bösen Jahren der Inflation. Es waren gesprächige Menschen in dieser Gegend, und die Mädchen, mit denen Irene oft in der Küche saß, waren nicht zimperlich, wenn sie von den Burschen redeten. Oft war Irene mitgegangen zum Tanzen, während der Vater vor dem Wein saß, der leicht im Glase schaukelte, und den Bauern von Amerika erzählte, von dem rücksichtslosen Leben der Städte und der weiten Dehnung der Farmen. Es kamen viele Bauern aus der Nachbarschaft, um dem Amerikaner zuzuhören. Sie saßen im Kreis um den Tisch. In der Mitte stand der irdene Krug mit Wein. Langsam sogen die Männer an ihren Pfeifen, und erst, wenn die Nacht hochreif über den Weinbergen stand, gingen sie in ihre Häuser zurück. Es waren rheinhessische Bauern, und es gefiel ihnen, was der Amerikaner sagte, wenn er von der falschen
Unruhe in der Welt sprach, von dem bösen Dämon der Unrast, der immer jene Völker befalle, die schlechtes Land besäßen. Und sie nickten, wenn Bäuerle auf den Tisch hieb und sagte: „Wisst ihr, deshalb sind die Preußen heute immer noch so. Das schlechte Land steckt ihnen im Blut. Das vererbt sich wie ein Gift, und das lässt die Menschen niemals los. Das möcht ich schwören, wenn einmal in Kottbus Reben wachsen, dann ist Ruhe..." Die Bauern verstanden den Mann. Viele von ihnen hatten noch ein Bild in der Stube hängen von dem Franzosenkaiser, der die Preußen schlug. Das blieb dort trotz Krieg und Besatzung. Und als die Separatisten kamen, da wären manche beinahe zu ihnen gestoßen, hätten die Burschen kein Gesindel bewaffnet und sich nicht von Negern schützen lassen. Nicht wenige Bauern gingen damals mit sich zu Rat, ob es nicht besser sei für die Ruhe und den Wuchs der Kinder, wenn sie ihr Gesicht abwendeten von dem Osten, aus dem der Krieg gekommen war und der große Betrug der Inflation. Es hätte damals nicht viel gefehlt, und sie wären aufgestanden aus dem dumpfen Gefühl, in Berlin herrscht der Teufel. Aber der Franzose stand im Land — das genügte, um zu schweigen. Nein, Verräter waren sie nicht. Aber ihr Hass war geblieben. „In Berlin herrschen die Marxisten", sagten sie, und als Bäuerle fragte, was das sei, da antworteten sie: „Die wollen den Bauer zum Taglöhner machen, genau wie die Junker." Irene war in diesen Tagen durch die Weinberge gegangen, getragen von dem Gefühl, als habe sie schon einmal in diesem Lande gelebt. Das schien ihr alles nicht fremd, die Hügel, die Dörfer, die Pappelchausseen, die kleinen Städte am Fluss und die Weiden am Ufer. Oft dachte sie, hier bin ich schon gewesen, vor diesen Kirchen habe ich gespielt, vor diesen Madonnen habe ich gebetet. Und immer wieder gelang es ihr, dem Vater noch einen Tag abzuschmeicheln. Bäuerle war glücklich über das Kind. „Jetzt habe ich keine Angst mehr, dass sie leiden muss." Sie waren an einem Samstag in ein Dorf gegangen. Es ruhte tief im Land, in der Nähe von Alzey. Es war Mittag. Eine milde Sonne lag über den Dächern. Sie fanden das Pfarrhaus, ein von Efeu überwachsenes Gebäude nahe der Kirche. Sie läuteten, und eine behäbige Dame machte auf. Ob sie wohl Hochwürden sprechen könnten. Was sie denn wollten? Sie kämen aus Amerika, sagte Johann Kaspar, und es klang wie im Spaß. Die behäbige Dame deutete nach dem Keller. Dort unten sei Hochwürden. Damit schloss sie die Tür. Johann Kaspar ging nach dem Keller. Da standen zwei Männer und schwefelten Fässer aus. Wer denn der Pfarrer sei, fragte Bäuerle. „Ich", antwortete der Ältere und ging ein paar Stufen die Treppe empor. Ob sie ihn störten? Was es denn gäbe? Der Mann wischte sich die Hände an einem grünen Schurz. „Ja", sagte Bäuerle, „wir kommen nämlich aus Amerika, und wir möchten uns nach einer Familie Schmittchen erkundigen."
„Schmittchen I oder Schmittchen II?" fragte der Pfarrer.
„Das wissen wir nicht", sagte Bäuerle, „auf jeden Fall Schmittchen."
Der Pfarrer kam nach oben, und sie folgten ihm durch den Grasgarten. Vor dem Haus warteten sie ein wenig, dann kam Hochwürden in der Soutane heraus. Als sie in der Sakristei waren, sagte Hochwürden, weit reichten die Kirchenbücher nicht. Der letzte Brand sei 1814 gewesen, und man hätte nur wenig retten können.
Sie standen in der Sakristei. Der Pfarrer schlug die Folianten auf.
„Schmittchen, Pauline, wenn ich nicht irre", sagte Johann Kaspar.
Hochwürden blätterte. Vorsichtig schlug er die Seiten um, auf denen in sorgfältiger Schrift Leben und Tod der Menschen vermerkt war. Vor jedem Blatt feuchtete er den Finger.
„Schmittchen, Pauline Anna Josefa, Tochter des Schmittchen, Baptiste, und seiner Ehefrau Anna, geborene Weilchen. Getauft am 15. Oktober 1849. Empfing die erste heilige Kommunion am 9. April 1861. Ehelichte am 23. Juni 1868 den Amadeus Bäuerle aus Siebenwasser im Württembergischen, weiland auf der Wanderschaft durch unseren Gau." Der Pfarrer schlug das Buch zu. „Das ist meine Mutter", sagte Johann Kaspar, und er ging durch die Sakristei in die Kirche und sah den Altar und die Bauernblumen darauf. „Gibt es noch Schmittchen im Dorf?" fragte er, als er zurückkam.
„Schmittchen II ja, aber Schmittchen I nicht mehr", antwortete der Pfarrer.
„Wir sind wohl Schmittchen I?" fragte Bäuerle. Der Pfarrer nickte. „Es waren arme Bauern", sagte er, „sie zogen in die Stadt, und man hat nichts mehr von ihnen gehört."
Still war Johann Kaspar mit seinem Kind durch das Dorf Erlenbach gegangen. Fünf Dollar hatte er dem Pfarrer geschenkt. „Für die armen Bauern", hatte er gesagt, und Hochwürden war ins Haus gelaufen und hatte Wein und Brot geholt, und sie hatten getrunken und gegessen, aber wenig gesprochen. Und dann gingen sie an der inneren Friedhofsmauer entlang. Da standen die verwitterten Steine. Manche waren eingestürzt, und das Gras wucherte zwischen den Gräbern. „Sie zogen in die Stadt, und man hat nichts mehr von ihnen gehört..." So war es der Mutter gegangen, so war es dem Vater gegangen, und so war es auch ihm, Johann Kaspar, ergangen. Das Land, aus dem sie kamen, hatte sie vergessen. Verweht war die Spur des Geschlechts. Aber er war noch da. Er kehrte zurück. Und Irene sollte wieder ein Anfang sein. Schweigend stiegen sie in den Wagen, der draußen einige hundert Meter unterhalb des Dorfs unter einem trächtigen Apfelbaum stand. Langsam führ Bäuerle durch die Kurven zu Tal. Irene lehnte sich zurück. „Vater", sagte sie still, „jetzt weiß ich, warum es mir hier so gut gefällt."
Vor ihnen glänzte der Fluss, und hinter ihnen stand das Dorf im Lichte des Mittags.
Die Witwe des Hauptmanns Diefenbach bewohnte in einem Haus an der Uferstraße drei Zimmer. Nach dem Tod ihres Mannes war sie in Siebenwasser geblieben. Die schmale Pension gestattete keinen Umzug, und wohin sollte sie auch ziehen? Ihre Verwandten von der Mutter her waren Bauern in der Kasseler Gegend, die fast steif waren vor Geiz, und das kleine Haus in Celle, das ihr Vater, der Küfer Hartwig, bewohnte, war zu trostlos für sie und ihr Kind. Seit Mutters Tod trank der Mann und prügelte, wenn er mit schwerer Schlagseite nach Hause kam, dieses schreckliche Weib durch, das ihm den Haushalt führte, eine ehemalige Kellnerin aus Stettin. Als Mutter noch lebte, hatte er schon ein Verhältnis mit ihr gehabt. In Hannover hatte er sie eingemietet, dorthin floss das Geld, und sie zu Haus mussten darben und schweigen. Es war eine Erlösung, als damals der junge Offizier kam. Zuerst war es nur eine kleine Liebelei, wie sie zwischen den Bürgertöchtern und den Militärs häufig vorkam, aber bald hatte Herta in dem Offizier die große Chance ihres Lebens gewittert. Kurz vor den Herbstmanövern war Herr Hartwig, ein kräftiger Mann mit einem rötlichen Hambacher Bart, in die Wohnung des Herrn Hauptmann gegangen und hatte ihm sehr deutlich zu verstehen gegeben, entweder er heirate seine Tochter oder er zeige die Schande, die er über sein Haus gebracht, rücksichtslos an. Diefenbach war ein weicher Mensch. Er nahm die Strafversetzung nach Siebenwasser in Kauf und heiratete Herta. Sechs Monate nach der Hochzeit wurde Hans geboren. Die Familie des Hauptmanns löste jede Verbindung, aber auch das ertrug der Offizier, denn Herta war eine zärtliche Frau, und das Kind gedieh gut unter dem süddeutschen Himmel. Der Hauptmann war beliebt. Er galt als liberal. Er ging oft in Zivil. Als der Krieg begann, war er einer der wenigen Männer in der Stadt, die im Taumel der Begeisterung ihren Ernst und ihre Nachdenklichkeit bewahrten. Still war er mit seiner Kompanie Jäger zum Bahnhof gezogen, und als das Regiment unter dem Jubel der Bevölkerung nach Lothringen fuhr, hatte er mit bleichem Gesicht am Fenster gestanden und sein Kind betrachtet, das auf dem Arm der Mutter lachend nach den Blumen griff, die er am Helme trug. An der Aisne wurde der Hauptmann verwundet. Sechs Wochen lag er in Kreuznach im Lazarett. Er sprach nicht vom Krieg. Er war ein stiller Mann, und wenn man ihn fragte, wann der Krieg zu Ende sei, dann antwortete er: „Der wird ewig dauern. Das ist nie mehr gut zu machen." Die letzte Erinnerung, die Hans an den Vater hatte, war ein Morgen in Münster am Stein. Das vierjährige Kind hatte sich aus Sand und Steinen von einer Ordonnanz des Lazaretts eine Stadt bauen lassen, die es Paris nannte. Von einer kleinen Böschung aus warf es mit Steinen danach, und es freute sich, wenn unter seinem Bombardement die kleinen Gebäude zusammenkrachten und die Ordnung der Straßen zerstört wurde. Da stand plötzlich der Vater vor ihm, er ging noch am Stock, er humpelte auf das Kind zu, riss ihm die Steine aus den Händen und schlug es. Zum ersten Mal hatte es der Vater geschlagen. Am Abend war er jedoch zu ihm ans Bett gekommen und hatte ihm erzählt, einmal, da seien sie in eine Stadt gekommen, die sei ganz zerschossen gewesen. Und sie hätten sich in die Keller der eingestürzten Häuser gelegt, denn sie seien schrecklich müde gewesen. In der Nacht aber sei er aufgewacht, und er hätte ein Wimmern gehört. Sie hätten den Schutt weggeräumt, und da hätten sie auf dem Boden einer Küche ein Kind gefunden, ein Bübchen so alt wie er, das blutete an der Brust und an den Beinen. Mit seinen Armen aber hätte er seine kleine Schwester gehalten. Die war tot und konnte nicht mehr sprechen. Und auf dem Flur, da hätten sie die Mutter gefunden, der war von einem Balken der Kopf zerschmettert. Ob das wohl etwas sei, das man spiele? Hans hatte den Kopf unter die Decke gesteckt. Die ganze Nacht noch sah er das tote Schwesterchen. Vierzehn Tage später fuhr der Vater zurück in den Krieg, und es war kaum ein Monat vergangen, als die Mutter in der Küche umfiel, über dem Telegramm, das auf dem Boden lag. Frau Hauptmann Diefenbach trug schwer an ihrer Trauer. Oft saß sie die Nacht hindurch vor dem Bild des Mannes, das mit Flor und Lorbeer drapiert über ihrem kleinen Schreibtisch hing. Sie wusste, was dieser Mann für sie geopfert hatte. Eine Karriere, denn er war ein guter Offizier. Reichtum — damals in Celle war er Gast auf allen Gütern. Und als sie zuletzt zusammen waren, in Münster am Stein, da hatte sie es ihm in der Nacht gesagt, und sie hatte geweint, weil er so gut zu ihr war und alles ableugnen wollte. Jetzt war er tot — durch sie. Denn ohne die Heirat wäre er nie in dieses Pechregiment gekommen, wäre er längst Major bei einem Stab, und er läge jetzt nicht in der Kalkgrube, die weichen, guten Hände im Dreck.
Nach den Monaten einer dumpfen Trauer war die Frau entschlossen, ihre vermeintliche Schuld durch das Kind zu sühnen. Hans war wie der Vater. Er sollte ihn erfüllen.
Es kam der Zusammenbruch und nach ihm die Inflation. Das kleine Vermögen, das sie von zu Hause noch hatte, zerschmolz. Der neue Staat gab eine Rente für den toten Mann, die kaum für die Miete und das Essen reichte. Das Kind wuchs heran mit allen Forderungen seines jungen Lebens. Herta Diefenbach begann zu nähen. Zuerst für sich und das Kind, dann für ein paar Bekannte, bald für ein Weißzeuggeschäft. Stunde um Stunde saß sie vor dem Linnen, die Seide der Brautausstattungen rann durch ihre Hände, der neue Reichtum des Nachkriegs mit seiner hektischen Üppigkeit ließ sich gern von der armen Frau Hauptmann die Monogramme auf seine Gewänder sticken. Tat Herr Kommerzienrat Aschaffenburg nicht ein gutes Werk, wenn er die Wäscheausstattung seiner Tochter Beatrice dieser vom Schicksal geschlagenen Frau anvertraute, obwohl es Schneider & Co. in Stuttgart in der Hälfte der Zeit gemacht hätte? Und war es nicht nett von Frau Fabrikant Weber, ihre Leibwäsche bei der Diefenbach arbeiten zu lassen, obwohl es immer Anstände gab und die Person gar keine Ahnung von dem letzten Schick besaß?
Herta nähte, und wenn ihr die Augen zuzufallen drohten, da trat sie an das Bett, wo das Kind im rötlichen Schlummer lag, und dann wieder in die Küche zu dem Leinen und der Seide. So ging das Leben, Stich für Stich. Und das Mitleid war schwerer zu ertragen als die Not.
Lange Jahre hatte Herta Diefenbach in den Andachten des Pfarrers Möller Trost und Stärkung gefunden. Zweimal in der Woche ging sie in den kleinen Saal des Gemeindehauses. Da saßen auf harten Stühlen alte Fräuleins, greise Töchter ehemals hoher Beamter und hoher Offiziere, die sich jetzt vom Vermieten ihrer Zimmer und dem langsamen Verkauf ihrer Möbel ernährten, Rentner und frühere Hausbesitzer, die heute in Dachkammern wohnten und von der öffentlichen Fürsorge erhalten wurden, alte Handwerker, die ihr Geschäft in der Hoffnung auf einen ruhigen Lebensabend verkauft hatten und jetzt ihren Söhnen zur Last fielen — es war eine traurige Gemeinde, die mit Pfarrer Möller betete, und oft schien es Herta, ihr Hass gegen die Menschen sei stärker als ihre Liebe zu Gott. Das alte Fräulein von Klassen, die Tochter eines Generalmajors, hatte Herta einmal mit zu den Andachten genommen, und wiewohl alle in der Gemeinde viel älter waren als Herta, waren ihr diese Menschen und die Worte des Pfarrers Möller bald zu einem Bedürfnis geworden. Wo noch in dieser Welt schien Gerechtigkeit als bei Gott? Zwar seine Wege waren wunderbar, und er ließ lange warten mit seiner Rache, aber niemand von diesen Opfern der Inflation zweifelte daran, dass durch göttlichen Eingriff einmal wieder das Unrecht gutgemacht werde, das sie um die Sicherheit und Ruhe und um ihre Stellung in der Gesellschaft gebracht hatte. Wie rachsüchtige Mumien saßen sie auf den Stühlen. Ihre Gebete waren heimliche Flüche, und wenn sie die knochigen Hände falteten, dann schien es, als würgten sie einen unsichtbaren Feind. Hass sprang aus
ihren Augen, Hass verbarg sich hinter ihren Worten, hassend erwachten sie, hassend löschten sie am Abend das Licht.
Oft erschrak Herta über die Worte, die sie hier gegen den Staat vernahm. Besonders die alten Fräuleins, die noch gekleidet waren wie in ihrer Jugend und die sich heute noch zierliche Löckchen über die vergilbten Stirnen legten, überboten sich in der Erfindung immer neuer Qualen. Die Minister, die Bankiers und die Juden, sie sollten nicht nur an die Wand gestellt werden, nein, vorher müsse man sie peitschen, halbtot prügeln und ihnen das Blut abzapfen, genau so, wie sie es mit dem Volk getan hätten. Mit gespenstischer Wollust verschlangen sie die alttestamentarischen Flüche der Propheten. Nach Jesu verlangten sie nicht. Nur die Austreibung der Händler aus dem Tempel ließen sie gelten. Lange Jahre hatte Herta die Last ihres Lebens in diese Andachten getragen. Hier verstand man ihr Schicksal. Hier brauchte sie keine Almosen anzunehmen. Hier war sie unter Gleichen. Oft traf sie sich mit Fräulein von Klassen, die in ihrer alten Villa die Mansarde bewohnte, während die zwei Etagen und der Garten an Rechtsanwalt Baer vermietet waren. Das Zimmer mit den schiefen Wänden war vollgestopft mit Möbeln aus den achtziger Jahren, mit Militärbildern und Vasen, in denen künstliche Blumen staken. Hier in der staubigen Luft lernte Herta den Hass. Hier las sie die Protokolle der Weisen von Zion, hier erfuhr sie, welch einer gemeinen Verschwörung das deutsche Volk zum Opfer gefallen sei. Oft kam auch Pfarrer Möller herauf in die Mansarde. Er beteiligte sich voll Eifer an den Gesprächen, indem er nachwies, dass viele Worte des Heilands nachträglich von römischen Priestern als echt in die Bibel geschmuggelt wurden, um das Volk zu verwirren und lammfromm zu machen. Doch Pfarrer Möller mahnte zur Geduld. Gottes Wille richte sich nicht nach den Wünschen der Menschen. Worauf Fräulein von Klassen einmal heftig die Bibel zuklappte und dem Pfarrer ins Gesicht schrie: „Nun gut, dann müssen wir uns eben selber helfen!" Pfarrer Möller ging, und das Fräulein mied fortan die Gebetstunden. Sie baute sich in dem Winkel der Mansarde einen kleinen Altar. Dort stand vor dem Kruzifix das Bild eines Mannes, den Herta noch nie gesehen hatte. Es überlief sie, wenn sie die Augen betrachtete. Sie waren starr und bohrten sich in sie hinein, als suchten sie etwas in ihr. Sechsunddreißig Jahre war Herta alt. Unter den Augen dieses Mannes spürte sie nach vielen Jahren wieder ihr Blut.
Verzückt kniete das Fräulein vor dem Altar. Mit ihren Händen hielt sie das Bild umschlungen. Ihr greisenhafter Mund küsste das Glas. Doch über ihr Gesicht strömte die Röte eines neuen Lebens. Herta wollte vorsichtig das Zimmer verlassen, als ihr das Fräulein winkte. Herta trat an den Altar, da zog sie das Fräulein an beiden Händen. „Knien Sie", flüsterte das Fräulein, „knien Sie, meine Liebe. Gott hat ihn geschickt."
Es war in diesem Herbst, als Herta zum ersten Mal von der Familie ihres Mannes etwas vernahm. Seit ihrer Hochzeit hatte ihr Mann nie mehr von seinen Verwandten gesprochen. Als das Kind geboren wurde, als Herbert fiel und das Elend begann — kein Wort war von den Diefenbachs zu Herta gedrungen. Sie wusste nur, dass sie auf großen Gütern in Niederschlesien saßen und dass ihr Mann auf jeden Erbanspruch verzichtet hatte. Fromm und böse hatte Herbert einmal seine Familie genannt, und das stand in einem Brief, wenige Tage vor seinem Tod. Nun geschah es, dass es an einem Mittag an ihrer Tür schellte. Hans war gerade aus der Schule gekommen. Er öffnete, und als er zurückkam, sagte er: Draußen stände ein Mann, der behaupte, Diefenbach zu heißen. In hellem Schreck war Herta aufgefahren. Gedanken, die sie schon längst begraben hatte, schossen jäh in ihr hoch. Kommt er zurück? Vor zwei Jahren kam einer in Heilbronn zurück. Sieben Jahre war er verschollen. Ihre Knie wurden kalt. Sie hielt sich am Küchentisch. Eine Blutwelle schoss ihr zum Herzen.
Es war Herbert, der eintrat. Herta stürzte zu Boden. Als sie erwachte, lag sie im Wohnzimmer auf der Chaiselongue. Hans rieb ihr Essig auf die Stirn. Der Mann hatte ihren Puls gefasst. Er beugte sich zu ihr nieder. Herta schloss geblendet die Augen. „Es war ein Fehler von mir, dass ich mich nicht vorher angemeldet habe", hörte sie plötzlich die Stimme des Mannes, „die Ähnlichkeit mit meinem Bruder ist allerdings frappant. Schon als Kinder wurden wir immer verwechselt."
Er gab ihren Puls frei und legte ihr die Hand auf die geöffnete Brust. Hans trug die Essigflasche in die Küche.
„Ein prächtiger Junge", sagte der Mann, „seinetwegen komme ich her."
Herta ging in ihr Zimmer. Ohne ein Wort. Lange lag sie über dem Bett und weinte. Es war ihr, als sei ihr Mann zum zweitemal gestorben. Als sie in das Wohnzimmer zurückkam, saßen das Kind und der Onkel schweigend am Tisch. Sie spielten Schach.
Die Familie Diefenbach war übereingekommen, vorausgesetzt, dass der Eindruck des Jungen und der Mutter gut ausfiel, monatlich fünfundsiebzig Mark für die Ausbildung von Hans beizusteuern. Heinrich Diefenbach, Oberstleutnant a.D. und Kurdirektor, war mit der Rekognoszierung beauftragt worden. Im Falle günstigen Befunds solle er die beiden mit auf den Familientag bringen, der diesmal in München stattfand.
Zwei Tage nach dem Besuch des Onkels bestieg Herta mit ihrem Kind ein schweres Auto, das ein livrierter Chauffeur lenkte, und Hans durfte vorne neben ihm sitzen. Noch am Abend, als sie in München ankamen, wurde Hans von den Tanten und Onkels besichtigt. Um Herta kümmerte man sich wenig. Man gab ihr Geld und riet ihr, sich die Stadt anzusehen. Schweigend ertrug sie es, dass ihr Kind morgens im Wagen vom Hotel abgeholt wurde und erst spät am Abend zurückkam. Sie lief gelangweilt durch die Museen, betrachtete im Englischen Garten den Fall der Blätter und aß in den Bräus, empört und erregt durch die Blicke der Männer. Abends, wenn sie auf Hans wartete, nähte sie.
Es war an einem Nachmittag. Der Wind strich schon kühl durch die Ludwigstraße. Zwischen den Springbrunnen vor der Universität spielte das Laub. Und auf den Fronten der Häuser, nach der Feldherrnhalle zu, lag das Licht des beginnenden Abends, violett und karmin.
Herta kam aus einer der Seitenstraßen, die wie kleine Kanäle nach dem englischen Garten zu liefen. Sie stand, etwas geängstigt durch den Verkehr, an einer Litfaßsäule. Vor ihr fuhren die blauen Trams, und die Autos sausten laut und lärmend vorüber. Am Morgen schon hatten sie den Jungen geholt, zu einem Ausflug nach den Schlössern. Es würde spät in der Nacht werden, bis er nach Hause kam. Drei Tage ging das jetzt so — die Diefenbachs verschleppten ihr Kind. Sie führten es in teure Lokale, sie nahmen es mit ins Theater, sie taten, als gehöre der Junge ihnen und sie, die Mutter, sei kaum mehr als seine Amme gewesen. Herta hatte zu dieser Methode geschwiegen, denn sie gönnte Hans die Exkursionen, das gute Essen und den Glanz der Kristalllüster. Allzu lange hatte der Knabe im Grau ihrer Armut gelebt.
Herta wollte gerade den Weg ins Hotel einschlagen, um dort im freudlosen Zimmer auf Hans zu warten, als sie vor der Litfaßsäule eine Ansammlung von Menschen gewahrte. Sie trat näher, und ihre Augen sahen ein Plakat in der Farbe geronnenen Bluts. Und mitten auf diesem Plakat, da war es wieder, das Gesicht vom Altar des Fräuleins von Klassen, da brannten sie wieder auf sie zu, diese Augen, vor denen damals ihr Blut erwacht war, und sie las, dass dieser Mann heute Abend sprechen werde in einem großen Saal, hier in München, über den Verrat am deutschen Volk.
Die Kuppelhalle des Zirkus war überfüllt, obwohl Herta zwanzig Minuten vor acht Uhr eingetroffen war. Bis hinauf in die Galerien standen die Menschen. Und immer neue Massen schoben sich durch den Gang. Eine Musikkapelle spielte. Fahnen hingen von den Wänden, und auf den Transparenten, die in roter Farbe quer durch die Halle gespannt waren, leuchtete in weißer Schrift: „Deutschland erwache! Herr, mach uns frei!" Es war Herta gelungen, nahe ans Podium heranzukommen. Dort standen in dichtem Spalier Männer und Frauen. Herta stellte sich in die Reihen. Ihre Schwäche war plötzlich verschwunden. Sie fühlte sich gar nicht allein. Sie fühlte sich stark in dem gewaltigen Menschenkörper, der um sie war und zu dem sie gehörte. Jäh brach die Musik ab. Ein Hornsignal erklang. Herta fühlte, wie sich die Menschen erhoben. Es war, als stände ein Riese auf in der Halle. Kein Wort war vernehmbar. Tausende von Augen sahen nach der kleinen Pforte am rechten Ausgang. Da ging es auch schon wie ein elektrischer Schlag durch das Spalier, in dem Herta stand. Weich über den Sand, der auf die Bohlen gestreut war, kam ein Schritt. Herta hörte den leisen Aufschlag der Sohlen. Sie sah die lackschwarzen Schäfte der Stiefel. Sie sah die starken Schenkel und das breite Becken. Sie hob den Blick. Sie sah eine untersetzte Figur, prall in einem braunen Hemd, sie sah aufgesteppte Taschen, einen Schulterriemen, ein weiches Kinn, einen gestrafften Mund, und dann die Augen. Da ging er an ihr vorüber. Da traf sie für eine Sekunde sein Blick. Und wieder war es wie damals vor dem Altar. Er aber schritt vorbei, lächelnd und bleich, in der Hand eine Peitsche. Alles, was nachher kam, war Herta wie ein Traum. Sie hörte ein Brausen der Stimmen um sich. Dann war Ruhe, und dann kam seine Stimme. Dies ging über ihre Kraft. Sie lehnte an einem Pfeiler und zitterte unter jedem Wort, das er sprach. Es griff nicht in ihr Denken, es ergriff ihren Körper. Die Worte schwangen durch sie hindurch, sie bebte wie eine Membrane. „Das Volk ist verraten! Juden beuten es aus! Umsonst liegen sie draußen in den Gräbern vor Verdun. Verbrecher regieren uns! Landfremde verfressen unser Geld. In ihren ergaunerten Lackschuhen tanzen sie mit den Huren des Mammons. Wir aber sind erwacht! Wir kennen keine Gnade! Wir versammeln uns zum Gericht. Wir verlangen Rechenschaft für unser gestohlenes Leben, für den Fleiß unserer Väter, für den Tod unserer Männer und Söhne." Da ging ein Schrei durch die Halle, dass Herta glaubte, die Säule hinter ihr stürze ein. „Wenn aber die Wölfe in den schwarzen Kutten zu euch kommen und euch vorlispeln, das Leid sei Gott wohlgefällig, dann glaubt ihnen nicht. Sie lügen! Und wenn sie sagen, diese Erde sei ein Tränental, dann antwortet ihnen, ja, ein Tal, in dem die Armen die Tränen vergießen. Wir wollen aber nicht mehr! Wir machen jetzt Schluss mit der verdammten Demut! Wir sind erwacht!"
Es war Herta, als schlüge ein gewaltiger Hammer wider die Kuppel, so metallisch war der Schrei der Menge. Sie schloss die Augen. Sie gab sich der Stimme hin. So hatte sie noch kein Mann besessen. „Und wenn sie euch sagen, man dürfe nicht wettern gegen den Staat, dann antwortet ihnen: das ist kein Staat, der uns Almosen gibt, statt Gerechtigkeit. Und wenn sie euch sagen, seid Untertan der Obrigkeit, dann antwortet ihr, das ist keine Obrigkeit, die uns das sauer ersparte Geld aus den Taschen gestohlen hat. Und wenn sie euch sagen, du sollst nicht hassen, dann lacht ihr und antwortet ihnen: Hass macht stark! Nur der Hass erhält uns am Leben! Nur der Hass auf euch lässt uns hoffen! Nur durch euren Tod werden wir auferstehen!" Ein Scheinwerfer flammte auf. Dort, wenige Meter vor Herta, stand der Mann und hob die Hand zum Gruß. Und vor ihm da standen die Tausende, gehetzte, enttäuschte Menschen, in der abgewetzten Kleidung früheren Wohlstands, und sie hoben die Hände, und es war ein Wald erhobener Hände, und sie sangen, ja manche gingen nieder in die Knie, und der Choral dröhnte unter der Kuppel, und Herta sang ihn mit: „Verzage nicht, du Häuflein klein..." Unbeweglich stand der Mann auf dem Podium. Sein Arm ragte wie im Schwur in die Luft. Ganz allein stand er da. Wie ein Prophet auf der Höhe des Bergs. Taumelnd erreichte Herta den Ausgang. Verzückt sprachen die Menschen um sie. Und als er draußen das Auto bestieg, da sah Herta alte Frauen sich verneigen und Männer sich ihrer Tränen nicht schämen. Sie erreichte das Hotel gegen elf Uhr. Hans saß halb ausgezogen auf dem Bett. Sie umarmte ihr Kind. Und als der Junge erzählte, die Diefenbachs hätten ihm gesagt, sie, seine Mutter, habe seinen Vater überlistet und er, der Hans, solle auf ihre Güter kommen und weggehen von der Mutter, da stieg Herta herunter zum Portier, zahlte das Zimmer und fuhr am nächsten Morgen nach Siebenwasser zurück. Herta ging heim zu ihrer Arbeit. Sie nähte Tage und halbe Nächte. Aber alles war ihr jetzt verklärt. Die Not war nicht mehr aussichtslos. Sie brauchte nicht mehr auf die himmlische Gerechtigkeit des Pfarrers Möller zu warten. Sie saß in der Küche und las die Worte des Mannes von München. Was war dagegen die Verheißung der Bibel? Dieser wollte das Glück auf die Erde zwingen. Dieser versprach das Jüngste Gericht nicht droben in den Wolken, nicht zwischen Himmel und Hölle, sondern hier in Deutschland, in Siebenwasser, in der Uferstraße. Und Herta räumte die schönste Ecke ihres "Wohnzimmers aus, stellte eine Kommode hinein, überdeckte sie mit weißem Linnen, streute Blumen darüber, stellte das Kruzifix mit dem falschen Marmorsockel mitten darauf, und vor den leidenden Gott hing sie das Bild des Mannes, der die Gerechtigkeit auf Erden versprach. Oft, wenn ihr Sinn klein wurde in den Nöten des Tags, holte sie sich neue Kraft aus den Augen des Bildes, und wenn sie in ihren einsamen Nächten die Sehnsucht nach Liebe überkam, träumte sie von der heiligen Sekunde, da er sie angesehen, im Zirkus zu München. Sie mied die Andachten. Selten ging sie in die Kirche. Sie las die Reden des Führers, und sie blühte auf in dem Gedanken der nahen Rache und des gewaltigen Gerichts. Als jedoch Pfarrer Möller ihr liebevolle Vorhaltungen machte, warum sie die Gebete versäume, lächelte sie und sagte: „Er wandelt wieder auf Erden, Herr Pastor."
Hans war rasch nach Hause gegangen. Er war gelaufen, denn es war spät, und um drei Uhr sollte er bei Gerhard Träger zur Besprechung sein. Die Geländeübung sollte in eine feierliche Verpflichtung der SA. ausklingen, die mit diesem Tag in Siebenwasser offen hervortrat. Der Wehr- und Sportverein, diese langweilige Tarnung, wurde abgestreift, ab morgen waren sie alle Soldaten der Bewegung. Als Hans in die Uferstraße einbog und das Haus sah, wo seine Mutter wohnte, überkam ihn ein Schrecken. Für ihn war alles klar — er hatte für Adolf Hitler gelitten, und es gab kein schöneres Leid. Aber ob Mutter ihn verstand? So kurz vor dem Abitur flog er auf die Straße, und es war aus mit der Universität. Zwar, sie liebte den Führer, sie war Mitglied der kleinen Ortsgruppe, und sie war bereit zu hungern, wenn es der Bewegung galt, ob sie aber seine Tat verstand? Konnte das eine Frau verstehen? Konnte überhaupt eine Frau fühlen, was es bedeutet, sich für den Führer zu opfern? Er ging durch den Hof. Er roch die Zwiebelsauce aus der Küche. Er stieg die Treppe hoch und sah das Licht in den albernen Fensterbemalungen. Er kam auf den Flur. Er sah die Mutter. Sie nähte in der Küche. Er trat ein. Da warteten die Kartoffeln auf dem Herd. Da sah ihn die Mutter an. „Sie haben mich aus der Schule gejagt", sagte Hans. Die Frau stand auf.
„Es ist aus mit dem Abitur." Die Frau ging zu dem Jungen.
„Er hat den Führer beleidigt, und ich musste einfach schlagen, ich weiß nicht, wie es kam, aber es kam aus mir so ganz von selbst..." Da fasste die Mutter ihr Kind.
„Du hast recht getan", sagte sie. Sie streichelte sein Haar. Es war weich und blond. Lange sprachen sie nichts.
Hans aß die Kartoffeln mit der Zwiebelsauce. Herta nähte.
Und während das Kind sich an der schmalen Speise stärkte, dachte die Witwe Diefenbach: Welch ein Glück, wir dürfen leiden für ihn.
Irene hatte kurz hinter Heidelberg dem Vater das Steuer überlassen. Eine Stunde waren sie in der Stadt geblieben, dann litt es Johann Kaspar nicht mehr. „Was gibt's hier eigentlich zu sehen?" rief er, als Irene noch eine Besichtigung des Schlosses verlangte, „wir wollen doch heim..."
Und jetzt fuhren sie die Windungen des Flusses entlang. Die Straße lag weich zwischen den Wiesen. In den Weinbergen sangen sie, und von den Villen flatterten die Fahnen.
Irene betrachtete den Vater, sie betrachtete das Tachometer. 70, 80, 85, 90... Der Wind schnitt schrill über sie hinweg, und die Bäume rasten nach hinten. Johann Kaspar hielt das Steuer. Das war ein Leben! Wie der Wagen fuhr! Nach Hause — heim!
Vor fünfundvierzig Jahren bin ich diese Strecke zu Fuß gegangen, zusammen mit der Mutter, wenn wir den Onkel besuchten, der hatte in Heidelberg einen Bootsverleih. Und die Mutter, die hatte kalte Pfannkuchen in der Markttasche und die aßen wir dann auf der Bank da, und ich durfte flache Steine über den Neckar hüpfen lassen... Fein war das... Und wenn die Gesangvereine auf den Schiffen vorbeifuhren und so herzinnig sangen, da hab ich immer dazwischengegröhlt und „wuppdich" gerufen, damit sie aus der Tonlage fielen.
Neckargemünd, oh, du meine Stadt Athen... Da muss ich halten. Und wenn das Essen in Siebenwasser verbrozzelt... Er stoppte den Wagen. Er schritt die weißen Treppen der Weinstube hinauf. Irene kam zögernd nach. Über der Terrasse blühte die Sonne. Unten lag der Fluss. Und die Wälder der Hügel glänzten in der Bronze des Herbstes. „Weißt du", sagte Johann Kaspar zu seinem Kind, „als mein Vater einmal ganz traurig war, denn wir hatten gar kein Geld, da hat er gesagt, wenn ich einmal glücklich werde, dann gehe ich in die Stadt Athen und trinke Lacrimae Christi." Der Kellner brachte die Flasche. Es war ein süßer, schwerer Wein, süß wie der Traum eines armen Mannes.
Hans hatte das Haus gegen zwei Uhr verlassen. Die Mutter hatte ihm noch zwei Brote geschmiert mit Schmalz, er hatte sie in den Beutel gesteckt, der über seiner Schulter an einem Leinengurt hing. Dann war er ein kleines Stück die Uferstraße entlang gegangen, hatte den Viadukt durchquert, und jetzt ging er auf der rechten Seite des Flusses nach dem Dorf Erlenbach zu. Der Wind kämmte die Wellen des Neckars, und über dem Schilf standen die Schwärme der Schnaken.
Die Straße zog einen Bogen um einen waldigen Hügel, der sich tief in das Tal vorschob und die Stadt Siebenwasser gegen die Sicht von Westen her verdeckte. Hans setzte sich auf die Steinbank, die am hoch gemauerten Ufer stand und seit vielen Jahrzehnten als Ruheplatz für die Bauersfrauen diente, die frühmorgens in hohen Kiepen das Gemüse zur Stadt brachten. Es war die Hälfte des Wegs zwischen Erlenbach und Siebenwasser und die Grenze der Stadthoheit.
Hans machte es sich nicht leicht. Er wusste, dass dieser Tag seinem Leben die entscheidende Richtung gab. Zwar, es war gut, dass auch Mutter seine Tat gebilligt und sich neben ihn gestellt hatte wie ein Kämpfer und Kamerad, aber der achtzehnjährige junge Mensch besaß so viel Klugheit, dass er wusste, alles, was jetzt komme, habe er allein zu verantworten. Er, Hans Diefenbach, war mündig geworden mit diesem Tag. Er hatte sich unter die Männer gesellt. Mit dem Schlag seiner Hand in das Gesicht des Direktors war das Haus seiner Kindheit zerbrochen.
Ja, da war die Partei, da war die SA., auf die sie heute Abend vereidigt würden, und da war vor allem der Führer, dieser einzige Mensch, der es fertiggebracht hatte, dem Leben so vieler, die nicht mehr glaubten, wieder einen Sinn und eine Richtung zu geben. Er war das neue Leben, um ihn scharte sich der Glaube der Jugend — nein, man war nicht mehr allein.
Schweigend zog Hans mit seinem Stecken Figuren in den Sand. Wie dumm war das von Holzapfel, ihm mit Platon zu kommen. Hatten die nur noch Tote gegen Lebende einzusetzen? Und dennoch reute ihn der Schlag. Das war ja das Schlimme, dass er ihn reute, dass er immer wieder den kurzsichtigen Direktor durch das Zimmer tapsen sah — das musste er erst niederringen in sich, dieses Gefühl der Scham, bevor er zu Gerhard Träger ging. Hatte er immer noch zu viel Platon in sich, immer noch zu viel Humanitätsduselei? Ach, die Bauernburschen und die Handwerkersöhne in der SA., die hatten gut reden. Keiner von ihnen war bei Holzapfel in die Schule gegangen und hatte sie erlebt, diese Stunden, da der alte Mann beglückt aus dem „Gastmahl" las und seine Stimme zurück blühte in die Jahrtausende, in die ewige Gegenwart des Griechentums, wie er es nannte. Da hilft mir keiner, dachte Hans, das muss ich allein ausmachen mit mir.
Der Sohn des Hauptmanns Diefenbach saß auf der Bank. Der Vater war tot, und der Führer war weit. Wenige Meter unter ihm zog der Fluss in einer großartigen Kurve um den Berg. Zu Hause saß die Mutter, arm wie je, aber nicht mehr verbittert und grau, sondern fröhlich in der Hoffnung auf den kommenden Kampf. Ja, dies alles hatte der Führer vollbracht, die Mutter trug wieder helle Kleider, und um das Bild des Vaters hing statt des Flors ein Blumenkranz. Es war hell geworden in ihrem Haus.
Die Not, einst ein schleichendes Gespenst, war vergoldet von dem Strahl der Gerechtigkeit, die der Führer versprach. Und der Hunger hatte endlich einen Sinn, und die Armut war keine Schande mehr, sondern ein Adel.
Dennoch, Hans hätte lügen müssen, wollte er sagen, er sei einverstanden mit sich. Er zweifelte an seiner Tat. Er spürte, dass er mit ihr etwas verloren hatte. Er konnte sich nicht sagen, was es war. Aber die Unruhe in ihm wuchs, und die Gedanken an seinen Vater wurden unsicher und ängstlich. Hans bewegte sich nicht. Starr sah er auf den Wald am andern Ufer. Dort schwebte ein Raubvogel fast regungslos über den Bäumen.
„Das ist Erlenbach!" rief Johann Kaspar Irene zu, als er mit kaum geminderter Geschwindigkeit in das Dorf einbog. Es war Mittag, und die Straße war leer. Da stand dem alten Adam sein Haus, windschief wie vor fünfundvierzig Jahren. Da war die Kirche mit der Blutbuche und dem Kriegerdenkmal, und daneben stand jetzt ein zweites, eine Säule mit einem Stahlhelm darauf, alles aus weißem Kunststein, da war der Dorfteich, grün von Algen, umschnattert von Gänsen. Bäuerle zog die Sirene am Auspuff. Mit einem Aufheulen schoss der Wagen auf die freie Landstraße. Johann Kaspar legte sich zurück. Er kannte die Strecke. Da standen sie, die Apfelbäume, und da waren sie, die Wiesen mit den Erlenbüschen, da war der Viadukt aus rotem Sandstein, und da stand er, der Berg, hinter dem Siebenwasser lag. Für eine Sekunde schloss der Mann die
Augen. Für eine Sekunde sah er Feuersalamander, Schlüsselblumen, Hagebutten und Hirschkäfer. Und er sah den Jockel, wie er das Ohr auf den waldigen Boden presste, um das Herannahen der Feinde zu belauschen. Und er sah den verwundeten Eichelhäher im Gebüsch und sich selbst, wie er dem Tier mit einem Knüppel den Kopf einschlug wegen der schönen Federn für seinen Hut. Aber er sah auch die Wiese, wo sie die bunten Eier warfen zu Ostern, und die Lapinshöhlen und die Hamsterbauten und die Kressen im Bach, die sah er auch. Johann Kaspar öffnete die Augen. Noch wenige Minuten, und er umfuhr den Berg, und seine Augen ruhten auf Siebenwasser. Noch wenige Minuten, und er war daheim.
Mit einem Krach trat er in die Bremse. Der Wagen schleuderte zur Seite. In den Kotflügeln klirrte der Schotter. Der Wagen stand quer über dem Radfahrweg.
Wenige Meter vor ihnen zog ein Bauernfuhrwerk über die Chaussee auf den gegenüberliegenden Acker. Der Bauer sah sich nicht um. Er rauchte die Pfeife, und die Kuh schritt ruhig im Gleichmaß ihrer Geduld.
Johann Kaspar lachte. „Das geschieht uns recht", sagte er.
Er versuchte den Wagen rückwärts in die alte Bahn zu steuern.
Der Wagen stand. Vorwärts, der Wagen bewegte sich nicht.
„Blockiert", sagte Irene.
Sie stiegen aus, Bäuerle kroch unter das Chassis.
„Aus", rief er, „wir hängen!"
Sie setzten sich an den Rain. Vor ihnen stand der Lassalle, und nach Siebenwasser waren es noch vier Kilometer.
„Kommt davon", murmelte Bäuerle, „waren zu hochmütig. Mit so einem Stück da nach Hause kommen und den dicken Mann spielen. Geschieht mir recht. Alles in Ordnung."
Er legte sich ins Gras. Wolkenlos war der Himmel. Und wie er so durch die Augenwimpern blinzelte, da saß neben ihm das Mädchen, und über seiner Stirn, deren Weiß wie aus Seide gespannt war, lag das Haar, schwarz wie dunkler Achat.
Hans hatte die Bank verlassen und war weiter die Straße nach "Westen gegangen. Sein Herz war unruhig. Die kalte Stärke, die ihn kurz nach der Tat erfüllt und ihn sicher durch die Straßen bis zur Mutter getragen hatte, war einer lähmenden Ungewissheit über sich selbst gewichen. Zwar, es hatte sich nichts geändert in seinem Denken. Das große Vorbild des Führers, das heilige Ziel der Bewegung, die sichere Hoffnung auf die Wandlung des Volkes — sie standen alle noch über ihm, unverrückbar wie die Sterne des Himmels. Aber es war doch nicht wie früher. Etwas Fremdes hatte sich zwischen ihn und das Firmament seines Glaubens geschoben, eine atmosphärische Störung, ein luftleerer Raum. Die Ideen, denen er diente, sie waren noch sichtbar, aber zwischen ihn und sie hatte sich die Tat gestellt. Die Welt war anders geworden, ernster, dunkler. Hans war kein furchtsamer Mensch. Bei Gerhard
Träger hatte er den Hohnpfiff auf jede Art Gefühlsduselei gelernt. Er wusste, nur der Starke kommt durch dieses Leben, und der Schwache verdient keine Träne. Das war es ja, was sie einte, dieses Recht aus der Kraft, diese Ablehnung jedes Mitleids und diese Hoffnung auf den zukünftigen Staat männlichen Bundes. Oh, er wusste, dass man das, was fallen will, noch stoßen muss. Dies jedoch war kaum tiefer als in seine Gedanken gedrungen. Er konnte reden aus diesem Bewusstsein. Heute aber hatte er gehandelt. Heute war aus dem Denken "Wirklichkeit geworden. Und es geschah, dass sein Herz ihr nicht standhielt. „Und morgen würde ich es wieder tun", sagte Hans, während er mit dem Stecken ins Gras hieb. Er ging rasch, aber so rasch er auch ging, immer war es ihm, als ginge Holzapfel neben ihm her. Er trug keinen Zwicker. Kurzsichtig tapste er zwischen den Bäumen. Er sagte gar nichts. Er sah nur Hans an. Und wenn Hans lief, dann lief er auch.
Irene saß auf der Wiese. Neben ihr im Gras schlief der Vater. Sein Gesicht lag gegen die Sonne. Kein Laut trübte die Luft. Nur der Wind, der durch die Gräser ging, sirrte. Lächelnd sah Irene auf den schlafenden Mann. Wie ein alter Bub lag er da, eingeschlafen auf der Wiese. Hinter ihm stand das gestrandete Auto, und von der Heimat trennte ihn nur noch ein Hügel.
Wie gut Vater aussah! Die Falten in dem glattrasierten Gesicht waren energisch. Braun war die Stirn, und das aschblonde Haar wirkte gesund, weder schütter noch fett. Wie gleichmäßig er atmete. Und
der Mund, er war jung, die Freude und das Staunen, sie kamen noch über diese Lippen, und der Traum konnte sich immer noch wie ein Falter setzen auf dieses Gesicht.
Irene sah auf die Wiese. Das Gras stand im zweiten Wuchs. Ein dünner Schwarm Insekten zog sich über die spärlichen Blüten. Sie sah den Hügel. Dahinter lag Siebenwasser. Dort hinter diesen Bäumen stand das neue Leben.
Sie lächelte. Vater träumte. Er lachte und hielt die Augen geschlossen. Die Muskeln seines Gesichts spielten. Nur mit Mühe hielt der Mund. Die Hände krampften sich im Gras. Die Nase legte sich in possierliche Falten. Schon hob sich der Rücken. Die Beine bewegten sich. Die Knie standen nach oben. Die Ohren liefen rot an.
Und plötzlich brach es heraus aus dem Alten, ein jähes, unbändiges Lachen, er warf sich zur Seite, er ruderte mit den Händen, er schlug mit den Beinen. Und dann lag er da, die Augen nach dem Kind, und das Lachen spielte noch immer um seinen Mund, und er sagte zu Irene: „Den Doktor Baker, den hab ich gesehen, und er hat sein saures Gesicht gemacht, und dann hat er mir gesagt, das gäbe es nicht mehr, Siebenwasser, das wäre ins Meer versunken wie Vineta."
Er sprang auf. Er rannte zu dem Auto: „Lass die Karre stehen", rief er, „wir gehen zu Fuß." Irene deutete auf die Koffer, die hinten am Wagen angebracht waren.
„Aber wir können doch hier nicht sitzen, bis dem Wagen Flügel wachsen", lachte Bäuerle.
Irene sah sich um. Die Straße war leer. Nirgends ein Haus.
„Dann musst du vorausgehen." Irene sah den Vater an. Bäuerle machte sich wieder an der Bremse zu schaffen. Er ließ den Motor auf hohe Touren laufen. Er schaltete Gang für Gang ein. Das Auto bewegte sich nicht.
„Also geh", sagte Irene, „und schick rasch jemand von der nächsten Reparaturwerkstatt her. Ich warte."
Sie setzte sich in den Fond. Bäuerle stieg aus.
„Eine Stunde wirst du warten müssen." Irene hob ein Buch.
Johann Kaspar nickte und ging. Nach wenigen Schritten drehte er sich um und rief: „Ich kürze ab. Da über den Berg geht ein Weg. Das weiß ich noch —" und schon begann er zu pfeifen und drauflos zu marschieren.
Lange sah Irene dem Vater nach. Sie sah ihn an einer Hecke Halt machen und sich einen Stock abschneiden, mit dem er dann in die Apfelbäume schlug, dass die Früchte zur Erde prasselten. Sie sah den Vater sich bücken und sich die Taschen vollstecken, und sie sah ihn dann in den Wald laufen, der über den Berg hinabwuchs. Lächelnd saß sie im Wagen. Sie wartete.
Hans hatte zuerst an ein Unglück geglaubt, als er das Auto über dem Weg stehen sah. Er ging näher und bemerkte Irene. Sie saß im Fond und las. Hans trat an den Wagen heran.
Irene hob den Kopf.
„Ist etwas passiert?" fragte Hans.
„Die Bremse...", antwortete Irene.
„Darf ich helfen?" fragte Hans.
„Wenn Sie glauben, dass Sie es können!"
Irene stieg aus dem Wagen. Der leichte Staubmantel aus Seide lag weich um ihre Gestalt.
„Sie warten schon lange?"
„Mein Vater ist unterwegs nach Siebenwasser, um jemand zu holen."
„Entschuldigen Sie..." Hans kroch unter den Wagen. Er kroch wieder hervor. Wortlos warf er den Führersitz hoch, kramte im Werkzeugkasten, dann verschwand er unter dem Chassis. Irene hörte ihn hämmern und klopfen. Schweigend stand sie neben dem Motor. Wer ist das? dachte sie.
„Kein Wunder", rief Hans, „die Handbremse hat sich festgefressen."
Er hämmerte, dann kam er wieder zum Vorschein. „Bitte, versuchen Sie es jetzt", sagte er. Und Irene stieg in den Wagen, startete, schaltete — das Auto bewegte sich.
„Vorsicht!" hörte sie, „die Fußbremse ist durchgetreten."
Sie fuhr langsam zurück, schaltete um und stellte
den Wagen gerade. Dann stieg sie aus.
Da stand er vor ihr und lachte, und er hielt den
Hammer und den englischen Schlüssel in der Hand.
Und an seinem Ärmel klebte das Öl.
Irene gab ihm die Hand.
„Danke", sagte sie.
Er aber meinte, so könne sie nicht fahren, allein mit der Handbremse. Es kämen viele Kurven bis Siebenwasser und in der Stadt unten sei immer ein starker Verkehr.
„Ich warte", antwortete Irene. Hans legte das Werkzeug in den Kasten und schob die Sitze zu Recht. Ob er aus Siebenwasser sei? Ja, und sie?
Aus Baltimore, aber sie bliebe in Siebenwasser. Was sie dort wolle? „Leben", sagte Irene.
Da sah sie Hans an, und es schien ihr, dass er maßlos verwundert sei. Er riss etwas Gras aus und wischte sich das Öl von den Händen. Irene betrachtete ihn. Sie sah, dass er gehen wollte. Sie sann auf eine List. Im Fond lag die Bilderzeitung. Irene holte sie. Ob er noch ein wenig Zeit habe? „Wenig", knurrte Hans. Er setzte sich neben Irene auf das Trittbrett.
Hastig überflogen ihre Augen das Rätsel. „Ich suche nämlich schon zwei Tage einen griechischen Philosophen, und ich finde ihn nicht." Sie schob die Zeitung über ihre Knie. „Vielleicht Heraklit", sagte Hans. Irene suchte die Silben ab. „Nein, der ist es nicht", antwortete sie. „Oder Archimedes?" „Nein, nein", sagte sie, und sie freute sich, dass er weiter riet. Er lehnte sich nahe an ihre Schulter. Obwohl sie ihn nicht ansah, erblickte sie sein Gesicht. Er war es, der Schlafende unter dem Märchenbaum, der Jüngling unter dem wirren Geäst an der Quelle. Er war herausgetreten aus dem Bild. Er saß neben ihr. Jetzt wusste sie, warum sie so zitterte.
„Etwas mit O ist es bestimmt..." „Vielleicht Solon", antwortete Hans. „Nein", jubelte Irene.
„Mit O... mit O...", Hans echote vor sich hin, „griechischer Philosoph mit O..." Er nahm das Blatt und prüfte die Silben. Irene gab ihm den Bleistift. Eng aneinander saßen die Kinder. Radfahrer und Lastwagen fuhren an ihnen vorüber. Die Schatten der Bäume wuchsen. Schweigend sahen sie auf das Papier, dessen alberner Scherz sie einte.
Plötzlich schrie Hans: „Ich hab's!" Er strich hastig zwei Silben aus. Irene nahm das Blatt. „Platon", las sie leise.
Lachend sah sie hoch. Doch ihr Lachen erschrak. „Was ist Ihnen?" rief sie.
„Nichts", stotterte Hans. Alles Blut war aus seinem Gesicht.
Der Wirt „Zum blauen Bären" hatte am Morgen ein Telegramm erhalten. Lange hatte er über dem Inhalt gegrübelt.
Sechs mittelgroße Forellen stop zwei Flaschen Siebenwasser Herdenweg stop Spätzle wie gewöhnlich stop Dessert Kartäuserklöße mit Weinsauce stop ankommen 2 Uhr stop Bäuerle Baltimore.
Verrückt, dachte Henri Jockel. Aber er ließ das Telegramm nicht aus der Hand. Es war aus Mainz. Zweimal ging er zum Bach, der durch den Garten floss, lüpfte den Deckel zum Fischkasten und zählte die Mittelgroßen. Dann schlug er wieder den Deckel zu voller Wut. Das mit dem Telegramm war doch sicher nur eine Fopperei von irgendeinem Saufbruder, der gerade auf Urlaub war. Henri Jockel ging zu seiner Frau. Er verlas das Telegramm. Minchen, die seit beinahe dreißig Jahren gewohnt war, die Stimmung ihres Mannes an seiner Stirnader abzulesen, betrachtete dieses natürliche Barometer, ehe sie in ihrem hanseatischen Platt sich zu äußern getraute: „Ech glaube, do steckt etwas dahinter." „I auch!" brüllte Henri Jockel und schmiss die Tür zu. „Weiberweisheit, dreigedrehte..." Er schritt in das Kontor, verleibte sich zwei Kirsch ein, dann nahm er das Adressbuch und sah die Bäuerles durch. Da lagen sie in den Linien wie Sand am Meer. In Siebenwasser waren die Bäuerles so billig wie Brombeeren. Es war sozusagen die Urbevölkerung der Stadt. Henri Jockel schmiss das Adressbuch in die Ecke. Sechs mittelgroße Forellen... zwei Flaschen Herdenweg... Kartäuserklöße... Bäuerle — Baltimore. Ihn würden sie nicht hereinlegen mit so einem Jux. Er war helle.
Er nahm noch einen Kirsch.
Und noch einen. Die Laus auf der Leber wollte nicht weg.
Es klopfte. Die Küchenmamsell stand in der Tür. Scheu fragte sie nach dem Tagesmenü. „Deutsches Beefsteak mit Kartoffelgemüse", brüllte Henri Jockel, dann ging er wieder in den Garten, dort, wo der Fischkasten stand.
Johann Kaspar hatte nur wenige Minuten auf der Kuppe des Hügels verweilt. Seine Augen sahen Siebenwasser. Da standen die Türme von Sankt Andreas, da lag die Bastion und das Schiefergrau der alten Stadt. Doch unten im Tal und an den Lehnen der Berge entlang wuchsen neue Gevierte. Sie ist groß geworden, dachte Johann Kaspar. Er spürte keine Verwunderung, keine aufregende Freude. Zu lange hatte er diese Stunde ersehnt. Jetzt war ihm alles selbstverständlich. Er hatte Hunger. Und er hatte Glück. Gleich unter dem Hügel lag eine Garage. Er sprach mit dem Tankwärter. Er schilderte die Lage seines Wagens. „Zum blauen Bären", sagte er, als das Abschleppauto losfuhr. Dann ging er den Weg, der durch die Gärten führte. Von der Bastion wehte die schwarzrote Fahne, und über die Straßen, die Bäuerle erreichte, waren Girlanden gespannt. Als er vor dem Rathaus stand, sah er ein Schild: Fünfzig Jahre Odenwaldverein — Ehre der Heimat. Johann Kaspar nickte.
Zehnmal hatte Henri Jockel den Fischkasten geöffnet und dann wieder zugeschlagen, das Telegramm ließ ihn nicht los. Er ging über das Gras. Er trat es absichtlich nieder. Am liebsten wäre er über die Rabatten gelaufen, wo die Gurken lagen. Aber da kam Minchen. Natürlich Minchen, die muss immer kommen, wenn ihn die Wut hat. Und jetzt läuft sie auch noch auf ihn zu. „Hennrieh!" schrecklich, dreißig Jahre, und sie hat immer noch nicht seinen Vornamen gelernt.
Er sah sie an, da stand sie schon. „Hascht wider ebbes?" schrie er. „Och", sagte Minchen, „do ös in Mann im Weinrestaurant und seggt, mit dainem deutschen Beefsteak, döswegen köm er nich von Baltimore dahör." „Ha?" Henri hielt Minchen gepackt. „Wo isch err?"
Aber bevor sie etwas sagte, schlich er zum Kontor. Er linste durch den Spalt, durch den er sonst die Kellner überwachte.
Da saß ein Mann am Tisch, glattrasiert und braun gebrannt. Er rauchte eine Pfeife. „Der isch echt!" rief Henri Jockel. „Den Wein kalt stelle, stellt doch den Wein kalt, is er immer noch nicht kalt... he?" brüllte er in die Küche, dann rannte er hinaus in den Garten, klappte den Fischkasten hoch, nahm das Netz. „Minche, Minche, dös Messer!" und Minchen kam mit dem Messer gelaufen, und da stach der Jockel in die zappelnden Fische, eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs... und das Minchen hielt sich die Ohren zu, obwohl sie stumm starben, die mittelgroßen Forellen. |
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