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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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4. Kapitel

Einen Monat nach dem Tod des Oberbürgermeisters Prätorius erlebte die Stadt Siebenwasser einen Skandal. Der Anlass ergab sich aus der Eröffnung des Stadttheaters. Intendant Bringolf hatte mit den Vorstellungen einige Wochen früher als üblich begonnen. Das anhaltend gute Wetter der Sommermonate hatte seiner Tournee durch die Badeorte sehr geschadet. Da er persönlich für die aufgelaufenen Gagen und Steuerrückstände haften musste, zog er es bei den ersten Anzeichen eines Defizits vor, die Tournee abzubrechen und nach Siebenwasser zurückzukehren. Immerhin waren seine Verpflichtungen hoch genug, dass er gezwungen war, sich nach einer Kompensation umzusehen. Er besprach sich lange mit Kalahne. Kalahne und Bringolf hatten gemeinsam in Tübingen studiert. Sie stammten aus dem gleichen Dorf der Rauen Alb. Sie waren Spiel- und Schulkameraden gewesen. Schon damals hatte der Sohn des kleinen Bauern Kalahne seine geistige Überlegenheit über den jungen Lehrerssohn Bringolf dazu benutzt, ihn zu einem dienenden Freund zu machen. Mit Hilfe des starken Knaben vermochte sich der kleine rothaarige, schwächliche Kalahne gegenüber den Dorfbuben, die ihn wegen eines Fußleidens hänselten, durchzusetzen. Allgemein im Dorf galt er als Sonderling, ja, böse Weiber tuschelten, er sei ein Kuckucksei, das ein durchreisender Händler dem alten Kalahne ins Nest gelegt habe. Trotz mehrerer Klagen, die der kleine Bauer angestrengt hatte, wollte das Gerücht nicht verstummen.
Sie waren tüchtig, die Kalahnes, das mussten ihnen selbst die größten Neider lassen, sie arbeiteten vom frühen Morgen bis tief in die Nacht. Dem steinigen, kargen Boden ihrer Äcker rangen sie in unablässiger Arbeit einen Ertrag ab, den die anderen Bauern selten erzielten. Sie lebten ein Dasein von aufreizender Einfachheit. Jeden Überschuss an Geld benutzten sie zur Meliorisierung ihrer Felder. Sie kauften die neuesten Maschinen, sie stärkten ihren Viehstand, sie errichteten eine Hühnerfarm, deren Produktion der älteste Sohn einmal wöchentlich mit einem kleinen Opelwagen nach Tübingen fuhr. Sie hatten das Auto aus einem Verschrottungslager für wenige Mark erstanden. Als sie es zu dritt den Berg hinauf nach dem Dorf zu schoben, fand der Witz der Bauern keine Grenzen. Sie lachten über die verrückten Probier, aber ihre Laune schlug um in Groll, als nach drei Nächten, während deren sie dauernd das Hämmern aus der Scheune Kalahnes hörten, der Wagen lief und der älteste Sohn mit einer quietschenden Hupe den Berg hinabfuhr.
Dr. Kalahne war das siebte Kind seiner Eltern. Er ähnelte in nichts seinen Geschwistern. Sie zeigten einen derben, gesund-bäuerlichen Schlag, wasserblaue Augen, in denen kaum ein Glanz war, es waren großknochige Burschen mit langen Schädeln, wortkarg und arbeitsverbissen. Schweigend standen sie auf ihren Äckern, wortlos saßen sie abends in der Küche vor dem langen Tisch und zermahlten die Kartoffeln zwischen ihren starken Kiefern. Frühmorgens kurz nach dem Aufgang der Sonne stiegen sie aus ihren Betten und wuschen sich an der Pumpe im Hof. Sie sangen nie und mieden jeden Verkehr mit den Burschen des Dorfs. Die beiden Schwestern unterschieden sich kaum von den Brüdern. Sie waren hässlich, und wenn sie nicht schliefen, dann arbeiteten sie. Farblos waren ihre Kleider, ohne Bänder und Schmuck. Beim Kirchgang in die Nachbargemeinde, wo sich die einzige katholische Kirche der Umgebung befand, sprachen sie kein Wort mit den Frauen, die ihnen begegneten, und wenn ihnen ein paar Burschen etwas zuriefen, hoben sie nicht den Blick von dem Boden.
Schon früh sonderte sich der jüngste Kalahne von seinen Geschwistern ab. Er beteiligte sich nie an ihrer Arbeit, er mied den Stall und das Feld. Er saß in einem Schuppen hinter dem Garten und las. Da er kein Geld hatte, war er auf die schmale Bibliothek des Lehrers Bringolf angewiesen. Dort fanden sich neben ein paar Lehrbüchern und einer kleinen Sammlung von Anleitungen für Bienenzüchter nur die Sagen des klassischen Altertums von Gustav Schwab. Das Buch wurde dem jungen Kalahne zum Evangelium. Heldische Menschen, die Götter verwundeten, dass ihr Geschrei die Sphären erschütterte, heldische Menschen, die dennoch keine List scheuten, um in den süßen Genuss der Macht zu kommen, weißglänzend im silbernen Schein ihrer Rüstungen standen sie vor ihm, lebendige Denkmale eines unbekümmerten, totalen Lebens. Hier herrschte nicht die Muffigkeit des Elternhauses, das ewige Schuften und das sinnlose Wühlen im Boden, hier verbog einem kein Pfarrer die Sinne, keine Religion machte die Erde zur Mitleidsanstalt, hier lebte der Mensch, ein starkes, gesundes Tier, kraft seiner List und Schläue allen anderen Tieren überlegen, selbst die Götter zwang er in den berauschenden Kreis seines Lebens zwischen Macht und Tod. Kalahne stand völlig unter der Magie dieses Buches. Kein Abend verging, da er nicht dem jungen Bringolf von den Taten der Helden berichtete. Kein Traum erhob sich in seinem Innern, in dem nicht die Stimme der erregenden Gesänge erklang. Er verachtete die Arbeit seiner Eltern als etwas Kümmerliches. Er hasste das Dorf und den simplen Sinn seiner Mitschüler, aber er verbarg diesen Hass hinter einem eisigen Schweigen. Schwach von Gestalt, durch ein Fußleiden, das er seit seiner Geburt an sich trug und das ihn zum Spott der Bauernburschen machte, in seinen Bewegungen gehemmt, schwor er sich, in seinem späteren Leben dennoch jene Macht über Menschen zu erlangen, nach der es ihn dürstete.
Mit der einem Krüppel eignen Selbsterkenntnis besann er sich sofort auf seine einzige Waffe, auf die List, auf den Intellekt und auf die Verlockung durch den Traum. Das Feuer, das in ihm brannte, wuchs von Tag zu Tag, es höhlte seine Wangen aus, es machte seine Haut fiebrig, und sein Atem ward heiß, wenn er über den Büchern saß. Der junge Bringolf, ein starker Bub, gutgläubig und mit einer tanzenden Phantasie begabt, geriet völlig unter Kalahnes Einfluss. Er schützte den Schwachen vor den Hänseleien der Dorfjugend, dafür erschütterte dieser sein junges Herz mit Lebensträumen von ungeahnter Gewalt. Sie schwuren sich eine Freundschaft, die nur der Tod lösen könne, tagelang lagen sie während der Ferien in den Büschen und berauschten sich an den Werken der Helden, aber es war bei Kalahne mehr als ein knabenhaftes romantisches Spiel. Die innere Erregung durchfraß jedes seiner Worte, und die Glut, die von seinen Worten ausging, faszinierte den jungen Bringolf bis zur völligen Dienstbarkeit. Zum ersten Mal schmeckte Kalahne die Macht über einen Menschen, wenn der kleine Bringolf für ihn Obst stahl und es ihm wie einem Häuptling zu Füßen legte.
Es kam der Krieg, und die Herzen der Knaben schlugen in wilder Erwartung des Anbruchs des heldischen Jahrhunderts. Es kamen der Tod und die Not, die Verwelkung des Volkes, die Unlust der Bauern, zuletzt die Niederlage und dann die Revolution. Kalahne war sechzehn Jahre und besuchte mit Bringolf das Gymnasium in Tübingen. Am Waffenstillstandstag schloss er sich in sein Zimmer ein, zeigte sich zwei Tage und zwei Nächte nicht. Als er wieder in der Schule erschien, war sein Gesicht eine Maske. Die Lehrer hatten Scheu vor der seltenen Intelligenz des Knaben. Der faszinierende Einfluss, den er auf seine Kameraden ausübte, war ihrem Durchschnittsgefühl unbegreiflich. Sie wussten, dass sich um Kalahne ein Bund gebildet hatte, eine Schar entschlossener Knaben, die dem von Gestalt kleinen Krüppel mit einer Verehrung anhingen, die ans Mystische grenzte. Die Devise dieses Bundes hieß: „Lieber tot als Sklav!"
Da der Junge als Bauer völlig ungeeignet war, ließ ihn der alte Kalahne studieren. Aber sein bäuerlicher Sinn war noch so weit in Ordnung, dass er als Studium die Jurisprudenz vorschrieb und sich jede Beschäftigung mit politischem Firlefanz verbat. Der Junge erkannte die Chance und griff zu. Kraft seiner Intelligenz war es ihm ein leichtes, das juristische Studium ohne großen Zeitverlust zu absolvieren. Die Freizeit benutzte er, sich in der Beherrschung der Menschen zu üben. Es war in diesen Jahren der geistigen Desolation nicht schwer, um sich einen Bund verzweifelter junger Menschen zu bilden. Das bürgerliche Weltbild hatte durch den Krieg und den latenten Nachkrieg in Deutschland innerlich längst den entscheidenden Stoß erhalten. Seit langem waren die Konventionen labil. Nur der Staat merkte es nicht.
Kalahnes Bund jedoch unterschied sich von anderen Bünden vor allem durch die Eigenart seines Leiters. Alle seine Freunde verpflichtete er, nach dem heldischen Gesetz zu leben. Was heldisch war, entschied er selbst. Er untersagte ihnen jede Diskussion mit den neuen Strömungen, die nach der Revolution durchs Land gingen. Er verbot jede romantische Schwärmerei, die sich etwa darin ausdrücke, dass man keinen Beruf ausüben wollte, sondern lieber als Landsknecht ins Baltikum, nach Oberschlesien oder in den Ruhr- und Separatistenkampf ging. Jedes Mitglied war verpflichtet, den ihm erreichbaren Posten im Staat oder in der Wirtschaft zu besetzen und danach zu trachten, ihn durch einen einflussreicheren abzulösen.
So kam es, dass Kalahne nach Absolvierung seiner Studien und der Erlangung des Doktorgrades ein Angebot der Stadt Siebenwasser, als Pressereferent und persönlicher Sekretär des Oberbürgermeisters in ihre Dienste zu treten, sofort annahm. Nachdem er erkannt hatte, dass es zweckmäßig sei, ließ er sich auch als Mitglied in die Sozialdemokratische Partei eintragen.
Als Kalahne nach Siebenwasser kam, hatte sich seine Art gewandelt. Mit beobachtender Bescheidenheit passte er sich dem Wesen seiner Vorgesetzten an. Prätorius' instinktive Abneigung gegen den blassen Hinkefuß mit den brennenden Augen hatte sich bald in eine Hochachtung für die Arbeitskraft seines Sekretärs gewandelt. Niemand verstand es so gut wie Kalahne, zwischen den Fraktionen und ihren Wünschen zu vermitteln, niemand wusste die Verlautbarungen des Magistrats, die Protokolle der Sitzungen so schmackhaft herzurichten wie der merkwürdige Bauernjunge aus der Rauen Alb. Sechs Monate nach seinem Eintritt in die Dienste der Stadt Siebenwasser wurde Kalahne als ständiger Referent in die Theaterkommission berufen und dort mit der Vertretung des Magistrats betraut. Drei Monate später wurde auf Kalahnes Vorschlag Bringolf, der es nur auf zwei Semester Jura in Tübingen gebracht hatte und dann als jugendlicher Liebhaber an eine der damals aufblühenden Wanderbühnen gelangt war, von welcher Basis aus er sich schließlich zu einem kleinen Regisseur an einem niederrheinischen Theater hinauf gespielt hatte, als Intendant an das Stadttheater Siebenwasser berufen. Vor seiner Verpflichtung durch den Magistrat hatte er Kalahne gelobt, keine Handlung ohne dessen Willen zu unternehmen. Er schwur auf das Gesetz des Bundes, das, wie Kalahne versprach, in wenigen Jahren in Erfüllung gehen werde.
Die Intendanz Bringolfs stand unter einem guten Stern. Durch Kalahnes Einfluss wurde ihm ein höherer Zuschuss als seinem Vorgänger bewilligt. Bringolf gründete auf Kalahnes Rat sofort eine Vereinigung der Freunde des Stadttheaters Siebenwasser. Die Frauen und Töchter der akademischen Bürokratie, der Industriellen, hatten bei den alle vierzehn Tage sich ergebenden Zusammenkünften endlich die Möglichkeit, ihr Scherflein zu der deutschen Kultur beizutragen, und, was das Wichtigste für Bringolf war, die Theaterreferenten der drei Zeitungen in Siebenwasser konnten aus eigenen Werken lesen und die längst verschimmelten Manuskripte aus den Schubladen holen. Und welch eine Freude war es, wenn die Mitglieder der Vereinigung endlich die Möglichkeit fanden, in Referaten über Shaw, Kaiser, Brecht und Bronnen ihre Meinung öffentlich vorzutragen und am nächsten Tag eine lobende Besprechung in der lokalen Zeitung zu lesen. Bringolf stellte auf Kalahnes Rat diese Versammlungen unter das Motto:
„Praktische Mitarbeit am Aufbau der deutschen Kultur." Die Folge war, dass jede unabhängige Kritik an seinen Aufführungen im Stadttheater zunichte wurde, weil kaum ein Mensch, der sich um diese Aufführungen kümmerte, nicht Mitglied der Vereinigung der Freunde des Stadttheaters Siebenwasser war. Kalahne hatte Bringolf jenen Satz aufgeschrieben, den der Intendant vor jeder Versammlung auswendig hersagte: „Wir sind eine große geistige Gemeinde. Es ist unser Schicksal, das dort auf unserer Bühne abgehandelt wird. Wir wollen demütig sein vor dem Leben und stille weiterschaffen als Diener im Tempel der Kunst."
Mit der Beherrschung des Stadttheaters hatte sich Kalahne in der Gesellschaft Siebenwassers eine starke Position geschaffen. Überall wurde er als der Initiator des Theaters gelobt und verehrt. Kalahne beherrschte das geistige Denken der Stadt. Als mit dem Tod des alten Redakteurs der Posten am Feuilleton des „Generalanzeigers für Siebenwasser und Umgebung" frei wurde, war es Kalahne ein leichtes, die Stellung Schickedanz zu verschaffen, der gerade in Heidelberg promoviert hatte und einer der ergebensten Anhänger des Bundes war. Kalahne verpflichtete ihn auf das Ziel, jede List anzuwenden, um das selbstsichere Gefühl der herrschenden Gesellschaft zu zerstören, Zweifel zu säen, wo nur Zweifel möglich waren, und vor allem sich Mitarbeiter aus der Jugend zu holen. Schickedanz war noch keine drei Wochen in Siebenwasser, als er in seiner Zeitung eine Beilage schuf, die sich Sprechsaal der Jugend nannte und allen jungen Menschen für Glossen und Beschwerden offenstand. Da die Auflage erheblich stieg, war der Verleger, ein steinreicher Druckereibesitzer, mit mancher Ausschreitung der Gedanken einverstanden. Öffentlich musste Schickedanz jeden Verkehr mit Kalahne, soweit er über die kollegiale Form ging, meiden. Er erhielt seine Weisungen durch ein anderes Mitglied des Bundes.
Dieses verbot ihm vorläufig jede Polemik gegen die Sozialdemokratie. „... es ist Wert darauf zu legen, dass Du heute und für die nächsten Jahre in allem, was Du schreibst, immer vom Menschen sprichst und nie von politischen Parteien. Du musst so tun, als gäbe es sie nicht. Umso rascher werden sie verschwinden. Betone immer, dass das Leben einmalig ist und dass sein höchstes Moment in dem Gefühl der Macht beruht. Proklamiere das nicht, aber zeige es durch Erzählungen, die Du Dir beschaffst. Es gilt nicht die Vernunft, sondern den Instinkt zu erregen. Eine glücklich bestandene Löwenjagd ist mehr wert als ein gewonnener Prozess."
Bald wurde Schickedanz' Feuilleton die beliebteste Lektüre der Jugend von Siebenwasser.

Bringolf war sofort nach dem Abbruch der Tournee zu Kalahne gegangen. In der Webergasse, im Oberstock eines alten Hauses lag das Zimmer. Bringolf, im neuen englischen Sommeranzug, braun gebrannt von der Sonne, die sein Defizit verschuldet hatte, stieg die schmale Treppe hoch. Es roch nach Zwiebeln und gewärmtem Kaffee.
Er hat es doch nicht nötig, dachte Bringolf, in solch einer Spelunke zu wohnen. Sonntag nehme ich ihn im Auto mit, dann hat er wenigstens einmal Waldgeruch.
Er stand vor der Tür. Er klopfte. „Ja", hörte er eine Stimme.
Bringolf trat ein. Vor einem Spiegel stand Kalahne und rasierte sich.
„Ich weiß schon", sagte er, „setz dich!" Dann schabte er weiter.
Bringolf setzte sich. Merkwürdige Bude, dachte er. Nichts befand sich in dem Raum als ein Bett, ein Schrank, ein Tisch, ein Stuhl und eine Waschgelegenheit.
„Wie hoch ist das Defizit?" begann Kalahne und fing an, sich zum zweiten Mal einzupinseln. „Woher weißt du das schon?" fragte Bringolf. „Wie hoch das Defizit ist, habe ich gefragt." „Dreitausend — aber mir genügt's", brummte Bringolf.
„Du kannst in zwei Tagen hier anfangen zu spielen." Bringolf stand auf. „Das verstehe ich nicht", sagte er.
„Einen Monat auf eigne Regie, bis zur offiziellen Eröffnung der Spielzeit." „Ja, aber..."
„Wenn du ein Stück hast, das zieht, kannst du das Doppelte des Defizits in vierzehn Tagen herausholen. Hast du ein Stück?" „Nein."
„Ich habe eins."
Bringolf sah den schmalen Körper vor sich stehen, die engen Schultern, und darüber den Kopf, übermächtig im Verhältnis zum Körper. Der ganze Körper schien nur eine Prothese dieses Kopfes. Kalahne wusch sein Gesicht. Wahrend er sich abtrocknete, sagte er: „Der ,Fröhliche Weinberg' wird einen Skandal machen."
„Du bist verrückt", sagte Bringolf, „wie kann ich in einer klerikalen Stadt einen Skandal riskieren?" „Du kannst", grinste Kalahne, „die Sozialdemokraten werden das Stück als Anlass zur Verteidigung der Geistesfreiheit benutzen. Sie brauchen endlich wieder eine Parole. Das Bürgertum wird aus Sensation hineinlaufen, und das Zentrum wird so laut protestieren, dass sich noch mehr Leute die ,Schande' ansehen werden. Der Skandal wird kaum über den formellen Protest gehen. Denn unsere beiden stärksten Fraktionen — Zentrum und Sozialdemokratie — haben wieder einmal einen Handel auszumachen. Dein Defizit wird gedeckt werden, und du verpflichtest dich, zwei Drittel des Überschusses an den Bund abzuführen." „Gern", sagte Bringolf.
„Ich habe Schickedanz informieren lassen, er wird nach der zweiten Vorstellung mit dem Skandal beginnen."
„Es ist gut", sagte Bringolf, „ich werde heute noch den Antrag auf Eröffnung unter eigner Regie für einen Monat stellen."
„Das ist schon geschehen." Kalahne setzte sich und rieb seine wunde Backe an dem Frottiertuch. „Du hast...?" rief Bringolf.
„Ja, ich habe mir erlaubt, deinen Namen unter das Gesuch zu setzen", sagte Kalahne. Er stand auf, ging
nach dem Primuskocher und begann Wasser zu sieden.
„Ich danke dir", sagte Bringolf. „Es ist alles organisiert — auch der Skandal." Kalahne legte seine großen Zähne frei. Bringolf ging zur Tür.
„Willst du nicht Tee trinken?"
„Danke, aber sag, warum wohnst du so schlecht?"
„Ich muss arm sein", antwortete Kalahne.

Als der Intendant Bringolf seine Kanzlei betrat, überreichte ihm der Sekretär ein Paket. „Die Rollenbücher für das neue Stück", sagte er. Bringolf riss den Umschlag herunter. Es war „Der fröhliche Weinberg".
Bringolf ging sofort ins Cafe Adelmann. Er begann das Stück zu lesen. Nach dem ersten Akt hatte er bereits zwei Mokka getrunken. Dann ging er zu Kognak über. Federleicht war das alles zu inszenieren. Das sprach ja und spielte sich von selbst. Aber fast hinter jedem Wort wuchs der Skandal. Unmöglich, dass sich das die Kirche gefallen ließ. Und die Beamten! Bringolf freute sich, das war Theater. Das sollte man vor den Bauern in den Dörfern spielen. Verdammt...!
Als Bringolf gegen fünf Uhr in die Kanzlei zurückkam, lag ein Brief des Magistrats auf seinem Tisch, in dem stand: „In Genehmigung Ihres Gesuchs vom 16. August 1927 übergeben wir Ihnen das Stadttheater in eigene Regie auf die Dauer eines Monats. Als Haftung bitten wir um die Hinterlegung von RM 2000.—. Dieselben sind durch einen Scheck auf die örtliche Volksbank bei uns eingegangen und von uns zu treuen Händen bei der städtischen Sparkasse deponiert worden. Wir bitten um eine Gegenbestätigung."
Bringolf diktierte die Gegenbestätigung, unterschrieb den Vertrag mit dem Bühnenvertrieb und setzte auf den Probenzettel: „Erstaufführung Der fröhliche Weinberg, Stellprobe Dienstag 10 Uhr. Der Intendant."
Als er am Abend Kalahne im Cafe Adelmann traf, fragte er: „Wohin soll ich die zweitausend Mark Kaution zurückschicken, wenn alles gut abgeht?" „An den Bund", antwortete Kalahne.

Die Premiere des „Fröhlichen Weinbergs" fand am 5. September 1927 im Stadttheater Siebenwasser statt. Bringolf hatte vorsorglich den Verein der Freunde des Stadttheaters mobilisiert und dort von Rektor Allwohn, mit dem er eine Nacht vorher durchgesoffen hatte, einen Vortrag über das „Derbe in der deutschen Volksdichtung" halten lassen.
Er hatte dem Rektor dafür ein geheimes Honorar von achtzig Mark gezahlt und ihm die Uraufführung seines Dramas „Attila" in Aussicht gestellt. Die Rede wurde in den drei Zeitungen von Siebenwasser veröffentlicht — nur Schickedanz schrieb eine Randglosse dazu, in der zu lesen war, dass das Derbe keinerlei Entschuldigung bedürfe, wenn es nur der deutschen Art, derb zu sein, entspräche, und nicht einer jüdischen Spekulation über das „Derbe", was einer Verfälschung der Instinkte gleichkäme. Schickedanz bezieht Posten, dachte Bringolf, und er überredete noch am gleichen Abend den Redakteur des Volksrechts zu einer Polemik gegen die Einführung des Rassegedankens in der Kunst. Am Abend der Premiere war das Haus ausverkauft. Die Vereinigung der Freunde des Stadttheaters war ohne Ausnahme erschienen. Im Parkett trafen sich die Vertreter der intellektuellen Berufe, Anwälte und Ärzte, mit der höheren Bürokratie und den Spitzen der Kaufmannschaft. Auch die Ränge waren voll besetzt. Hier hatte das theaterbegeisterte Publikum der kleinen Leute seinen Platz, Angestellte, junge Arbeiter des Volksbildungsvereins, Gymnasiasten der letzten Klassen.
Schickedanz war wenige Minuten vor Beginn nach seinem Platz in der zweiten Reihe des Parketts gegangen. Er setzte sich und tat so, als studiere er das Programm. Aus den Gruppen, die noch zwischen den Sesseln standen, hörte er oft seinen Namen. Eine starke Spannung hielt das Haus gefangen. Bringolf hatte die Säulen im Parkett und in den Rängen mit frischem Weinlaub umwickeln lassen. Im Foyer war ein großes Fass aufgebaut. Frau von Berg, als Winzermädchen gekleidet, goss dort den neuen Most aus, der schon leicht gärte. Lachen und laute Reden füllten die Gänge. Schickedanz starrte auf das Programm und rührte sich nicht. Als sich der Raum verdunkelte und nach dem zweiten Gongschlag der Vorhang sich hob, atmete Schickedanz auf. Das Halbdunkel beruhigte ihn. Schon nach den ersten Szenen begann der Applaus. Er setzte auf den Rängen ein und griff über in das
Parkett. Wie leicht die Leute zu haben sind, dachte Schickedanz. Er gab sich Mühe, seine Umgebung, die sich bereits in dem Zustand eines unterdrückten Kicherns befand, zu vergessen. Er sah auf die Bühne. Nichts dagegen zu sagen, Bringolf ließ da eine flotte Sache sehr flott herunterspielen. Nach dem zweiten Akt dachte Schickedanz: ein ganz netter Schwank. Und als der Vorhang sich wieder hob, sagte sich Schickedanz, dass es eigentlich lächerlich sei, aus einer heiteren Mücke einen schweren Elefanten zu machen. Das Stück hatte Humor, das war nicht zu leugnen. Und die Szenen saßen. Das hatte zwar nichts mit jener Kunst zu tun, die Schickedanz als einzige anerkannte, die Strenge und Exklusivität Georges, sein heroisches Element, sein Widerstand gegen eine schwache und weibische Epoche — aber es wäre sinnlos gewesen, hier den Volkswitz zu übersehen, die Lust am Derben und an der komischen Situation. Nein, das hatte nichts mit Jüdisch-Spekulativ zu tun, das war echt. Die ganze Polemik, die er auf Anraten Kalahnes angefacht hatte, stand auf schwachen Füßen. Allerdings, es galt, Bringolf zu helfen, und der brauchte etwas Stunk, damit das Haus voll werde. Das war geschehen, aber wie konnte man sich aus einer Affäre herausziehen, die bei Gott nicht angetan war, zu weltanschaulichen Kämpfen herauszufordern? Hatte er sich nicht eben selbst bei einem Lacher ertappt? Das Stück besaß Verve. Und wie das über die Rampe griff. Das ganze Haus befand sich schon im Zustand einer leicht angeheiterten Familie.
Als schließlich der Assessor auf dem Misthaufen lag, kannte auch das Parkett kein Halten mehr. Der Beifall steigerte sich zur Ovation. In ihrer angestammten Loge stand Frau von Berg in hellblauer Schürze und weißem Häubchen. „Nieder mit den Muckern!" rief sie, „nieder mit den Muckern!" Und das Haus stimmte ein.
Gerade als es Schickedanz gelungen war, durch die klatschenden Gruppen sich nach dem Ausgang zu kämpfen, erschien Bringolf auf der Bühne. Jubelnde Zurufe empfingen ihn. Frau von Berg riss ihr Häubchen vom Kopf und warf es ihm mit einer Blume auf die Bühne. Bringolf hob den Arm. Mühsam trat Stille ein.
„Meine Damen und Herren, Bürger von Siebenwasser", rief der Intendant, „dieser Abend beweist es mir aufs neue und in so überwältigender Art, wie ich es nie geahnt hätte: in Siebenwasser hat die Kunst trotz aller Versuche einer hinterwäldlerischen Moral eine uneinnehmbare Hochburg gefunden. Ich bin glücklich, diese Stunde zu erleben." Minutenlang raste der Beifall. Alle hatten sich von ihren Plätzen erhoben. Lächelnd verbeugte sich Bringolf. Das Defizit ist gedeckt, dachte er.

Schickedanz hatte unauffällig das Theater verlassen. Rasch ging er durch die Rudel der fröhlichen Heimkehrer. Eine Atmosphäre unbefangener Ausgelassenheit lag über den Straßen. Die Weinstuben füllten sich. Schickedanz war wütend. Eine schöne Sache hatte Kalahne ihm da eingebrockt.
Auf seinem Buckel sollte das Defizit Bringolfs ausgetragen werden, und er hatte den Spott davon! Was sollte er gegen das Stück sagen? Es war handfestes Theater. Dass es unsittlich sei? Alles in ihm sträubte sich, in die Gesellschaft von Sittenschnüfflern oder Moraltanten zu kommen. Das Theater ist kein Internat, und er, Alfred Schickedanz, ist kein Reaktionär. Der donnernde Applaus galt auch ihm — wie hatte er das gespürt! Gelacht hatte man hinter ihm, als er hinausging. Sollte er morgen das Stück und die fröhlichen Leute öffentlich vor der bürgerlichen Moral denunzieren? Und er selbst? Hasste er doch nichts mehr als eben diese bürgerliche Moral! Schickedanz fror. Sein Zorn auf Kalahne war gewaltig.
Nach zwanzig Minuten Marsch hatte er die letzten Häuser von Siebenwasser hinter sich gelassen. Er ging auf einer dunklen Landstraße. Im Gelände verstreut schimmerten ein paar Bauernhäuser. Frau von Berg hatte das Ensemble und einige Freunde nach der Premiere auf ihr Gut eingeladen. Auf der Terrasse und in den Gärten hatte sie ein Winzerfest arrangiert. Sie hatte kleine Trinklauben errichten lassen. Auf der Tenne der mittleren Scheune wurde getanzt.
In drei großen Leiterwagen, mit schweren Gäulen bespannt, fuhr das Ensemble auf das Gut. Kalahne und Bringolf trafen sich mit Frau von Berg im Cafe Adelmann. Bringolf bestellte echten französischen Kognak.
„Hättest du das erwartet?" lachte er Kalahne an. „Ein seltener Erfolg", sagte Kalahne.
„Eine Sensation für unser kleines Siebenwasser!" rief Frau von Berg und schüttelte Bringolf am Ärmel.
Glücklich wie ein Kind bestellte Bringolf zwei Eier im Glas und, nachdem er sie ausgelöffelt hatte, erklärte er, jetzt sei sein schlimmster Hunger gestillt. Jetzt könnten sie fahren.
Der Arme, dachte Frau von Berg, seit drei Tagen hat er nichts Richtiges gegessen, und das alles wegen der Proben.
Sie öffnete den kleinen Buick, und die Männer stiegen ein. Als der Wagen die Stadt hinter sich hatte und Frau von Berg gerade den Motor auf Touren kommen ließ, riss sie plötzlich das Steuer mit solcher Gewalt zur Seite, dass die Männer im Fond mit den Schultern hart wider einander stießen. Sie bremste stark ab, gab aber sofort wieder Gas und fuhr in rasch sich steigernder Geschwindigkeit weiter. „Ein Hindernis?" fragte Kalahne. „Nein, irgend so ein Kerl, der statt auf der rechten natürlich auf der linken Seite spazierte." Frau von Berg fluchte.
„Diese blöden Fußgänger", sagte Bringolf.

Schickedanz war vor dem scharf dahinfahrenden Wagen auf die rechte Straßenseite geflüchtet. In der grellen Breite der Scheinwerfer sah er plötzlich das Haus, das er suchte. Fast hätte ihn der Kotflügel gestreift. Der Dreck spritzte ihm die Hosen hinauf bis an die Knie. „Bande!" sagte er, als der Wagen in der Kurve verschwand. Dann läutete er. Gerhard Träger öffnete.
„Sie sind etwas früh", sagte Träger, als sie die Stube betraten, „Dr. Kalahne hat sich erst kurz nach zwölf Uhr angesagt."
„Ich dachte, sofort nach der Premiere..."
„Aber das macht nichts", Gerhard Träger schob einen Stuhl hin, „wir werden eben versuchen, uns vorher ein wenig zu unterhalten."
Schickedanz setzte sich und betrachtete die Stube.
Sie war schmucklos. In der Mitte stand ein langer, blank gescheuerter Holztisch. Die verschalten Wände waren mit keinem Bild behangen. Nur über dem aus rohen Backsteinen gefertigten Kamin sah er einen Degen und einen Stahlhelm mit den Insignien
der Oberschlesien- und Baltikumkämpfer.
„Trinken Sie?" fragte Gerhard Träger.
„Bitte", antwortete Schickedanz.
Träger goss zwei Kirsch ein.
„Danke", sagte Schickedanz.
Es fiel ihm schwer, Gerhard Träger in die Augen zu sehen. In ihrem mausgrauen Schimmer lag die Pupille als ein stechender Punkt. Sie war klein, diese Pupille, und es fehlte ihr jede Unruhe. Aber auch jede Wärme. Es war, als spieße sie die Gegenstände auf, die sie betrachtete. Der kalte Ausdruck dieser Augen wurde noch verstärkt durch einen schmalen Kopf, über dessen rostbrauner Stirn sich die weißblonden Haare zu einem trockenen Scheitel legten. Gerhard Träger war groß, obwohl sein Oberkörper eher zierlich wirkte. Zwei Drittel seiner Figur machten die Beine aus. Es waren hohe, schmale Schenkel, durch die Breeches in ihrer Linie über betont, und es schien, als sei der Oberkörper und besonders der Kopf nur ein Bewusstwerden der in den Beinen ruhenden, federnden Kraft. Zum ersten Mal saß Schickedanz Gerhard Träger so nahe gegenüber.
Er hatte es überhaupt erst vor zwei Monaten erfahren, dass Gerhard Träger in der Nähe von Siebenwasser wohnte. Niemals wäre er darauf gekommen, dass der Dichter jener strengen Erzählung „Zucht vor dem Tod" die weiche Luft Württembergs atmen könnte. Er hatte immer geglaubt, dieser Mann müsse in der herrischen Abgeschlossenheit einer nordischen Landschaft leben. Auf den Schären. Oder in der schweigsamen Ebene Pommerns. Zum ersten Mal hatte man in Siebenwasser von Gerhard Träger gehört, als der neue Sport- und Wehrverein gegründet wurde. Träger hatte den Vorsitz oder, wie es in den Ankündigungen des Vereins hieß, die Führung. Mitglied konnte nur werden, wer kein Jude und nicht über dreißig Jahre alt war. Kaum mehr als vierzig junge Männer versammelten sich um Gerhard Träger. Man lächelte über sie, weil sie eine Art Uniform trugen, olivgrüne Hemden mit Schulterriemen, und weil sie jede Gelegenheit benutzten, in geschlossenem Zug durch die Stadt zu marschieren. „Soldatenspielerei", schimpften die Bürger von Siebenwasser. Denn sie konnten es nicht fassen, dass man sich freiwillig und ohne staatliche Aufforderung einem Zwang hingab, der verdammt nach Militär aussah. Ihrer süddeutschen Lebensart widersprach der nummerierte Ernst, mit dem die Olivgrünen daherkamen.
Es waren nur junge Leute, die Gerhard Träger anhingen, Gymnasiasten und Söhne von Handwerkern. Ihre Eltern schimpften auf den verrückten Offizier, der da draußen auf seiner kleinen Kate saß und ihre Söhne durch seine blöde Soldatenspielerei von der Schule und der Arbeit ablenkte. Gegen die Kommunisten gab es die Polizei, und von einem Krieg gegen die Franzosen hatte man übergenug. Wozu also die Flausen? Wegen der paar Juden? Lächerlich!

Schickedanz war neugierig. Er hätte zu gerne gewusst, wieso sich ein junger Offizier und ein Schriftsteller vom Range Gerhard Trägers gerade in Siebenwasser ansiedelte und mit halbwüchsigen Knaben Geländeübungen veranstaltete, die ihn unangenehm an die Jugendwehr während des Krieges erinnerten. Er versuchte mit Gerhard Träger zu sprechen, aber dieser schob ihm eine Zeitung hin und nahm selbst ein Buch.
„Einführung in die Bienenzucht" las Schickedanz auf dem abgegriffenen Deckel. Sie saßen sich lange gegenüber. Schickedanz lauerte auf ein Wort. Aber Gerhard Träger schwieg. „Herr Oberleutnant", begann schließlich Schickedanz, „ich habe vor Jahren Ihr Buch gelesen, ich war noch auf der Universität, es war eine Offenbarung für uns."
Gerhard Träger antwortete nicht. „In einer Zeit, die offensichtlich an Knochenerweichung leidet", fuhr Schickedanz fort, „war es für uns durch seine Bejahung des Heldischen
eine neue Hoffnung. Sie haben viele Menschen in der neuen Jugend, die Ihnen anhängen, Gerhard Träger."
„Waren Sie im Krieg?" antwortete Gerhard Träger. „Nein", sagte Schickedanz, „ich gehöre zum Jahrgang 1902. Wir kamen gerade so dran vorbei." „Eine verlorene Generation." Gerhard Träger legte das Buch zur Seite. Lächelnd sah er Schickedanz an. Der Bursche gefiel ihm nicht. Sein Gesicht war weich, und er trug eine Brille. Außerdem hatte er kurze Beine und kugelrunde Augen. Dabei redete er literarischen Sums daher wie irgend so ein Nebbich von einem Ullsteinblatt. Offenbarung und Bejahung des Heldischen. Feuilletonphrasen. Bei solchen Herren muss man vorsichtig sein. Die haben es gern mit dem Heldentum und der Aufopferung, doch wenn es hoch kommt, schreiben sie einen Essay darüber.
Der Mann war nur taktisch wichtig, das sah Gerhard Träger. Wahrscheinlich war er ehrgeizig und sentimental. Ein bürgerlicher Meckerer. Nicht durch Geld, doch durch Lob zu bestechen. „Es ist eine große Verantwortung, die auf Ihnen ruht, Herr Schickedanz."
Gerhard Träger lehnte sich mit beiden Armen auf den Tisch und sah Schickedanz an. Schickedanz fror ein wenig unter diesem Blick, aber er fühlte sich durch die Worte erhoben. „Ich weiß", sagte er, „ich bin mir dessen bewusst." „Sie müssen denken, Sie seien im Feld, und Sie hätten einen Abschnitt zu halten. Der Krieg ist nämlich noch nicht vorbei."
„Ich halte den Abschnitt", antwortete Schickedanz, „und was ich tun kann, den falschen Geist dieser letzten Jahre auszurotten, werde ich tun." „Nicht umsonst ziehen wir Sie ins Vertrauen." Schickedanz wurde rot.
„Wir wissen, wer Sie sind, und wir hoffen, dass Sie uns nicht enttäuschen."
Schickedanz sagte: „Sie können sich auf mich verlassen."
Wie der Bursche auf Redensarten hereinfällt, dachte Gerhard Träger. Er goss zwei Kirsch ein. Sie tranken. Das Glas in Schickedanz' Hand zitterte.

Draußen begann es leise zur regnen. In dem Kamin kohlte das Holz. Leichte Schauer jagten über Schickedanz' Rücken. Man brauchte ihn also. Er kann eintreten in den Bund der Leute um Träger. Er hatte das Vertrauen dieses Mannes, den er verehrte. Eine Kraft stand hinter ihm, die ihn stützte. Und allem, was er tat, verlieh sie einen Sinn. Es klopfte. Kalahne trat ein.
Er begrüßte Gerhard Träger und gab Schickedanz die Hand.
Sie setzten sich.
Kalahne trocknete die Regentropfen an seiner Stirn. „Ich erkläre diese Zusammenkunft für geheim." Gerhard Träger sah Kalahne an. Er nickte. Auch Schickedanz nickte.
„Ich verpflichte uns alle durch mein Ehrenwort zu unverbrüchlichem Schweigen." Sie legten die Hände ineinander. Schickedanz fror vor Erregung.
„Ich verteile die Aufträge."
Gerhard Träger zog ein Papier aus der Tasche und las. „Zwischen Herrn Dr. Kalahne, Pressereferent der Stadt Siebenwasser, und dem Unterfertigten, Oberleutnant Gerhard Träger, Gruppenführer der SA. in Siebenwasser und Umgebung, wurde heute folgendes Übereinkommen erzielt: Herr Dr. Kalahne übergibt die Leitung des Bundes, der sich um ihn gruppiert, der Kontrolle des Gruppenführers der SA. Herr Dr. Kalahne bleibt Leiter des Bundes innerhalb der NSDAP. Herr Dr. Kalahne unterwirft sich in allen Entscheidungen dem Gericht der Partei. Dafür verpflichtet sich die Partei, seine Tarnung als Stütze des Weimarer Systems so lange zu fördern, bis sich die Möglichkeit zur Übernahme der Macht ergibt. Mit Herrn Dr. Kalahne verpflichtet sich Herr Alfred Schickedanz, Redakteur des Generalanzeigers für Siebenwasser und Umgebung', den Befehlen der Parteileitung unbedingten Gehorsam entgegenzubringen und in jedem Fall nach den Parolen der Partei zu handeln. Es ist seine Aufgabe, innerhalb seines Bezirkes das bürgerliche Bewusstsein auszuhöhlen, wo er nur kann. Auch er lebt in der Tarnung und untersteht direkt Dr. Kalahne. Siebenwasser, im September..." „Sie sind bereit?" Gerhard Träger legte das Schriftstück vor Kalahne. Kalahne unterschrieb. In Schickedanz flogen die Gedanken. Wozu hatte man ihn da verlockt? Er sollte sich einem Gericht unterwerfen, dessen Besetzung er nicht einmal kannte. Alles, was er tat, unterstand einer Kontrolle. Er sah Gerhard Träger an.
„Wenn Sie schwanken", hörte er ihn, „dann hindert Sie niemand, die Unterschrift zu verweigern. Aber Sie wissen, dass Sie dann auch außerhalb des Bundes von Dr. Kalahne stehen."
Jetzt begriff Schickedanz. Kalahne hatte ihn einfach mitgebracht wie eine Braut das Heiratsgut. Der Bund wurde in die Partei überführt. Gerhard Träger war der Führer jener Bewegung, über die die Bürger von Siebenwasser als eine Wichtigtuerei von Lausbuben und Wirrköpfen spotteten. Aber man blieb getarnt. Man konnte weiterleben wie bisher. Und man hatte ein Ziel. Vernichtung dieses Staats! Das Ende dieser lächerlichen Republik. Und vor einem lag die Hoffnung auf den Sieg. Auf das Abenteuerliche eines versteckten Kampfes. Man brauchte nicht mehr in seiner Redaktion zu sitzen und zu überlegen, wohin man gehöre. Gerhard Träger dachte für einen, und alles geschah nur, um endlich frei zu werden von der Trostlosigkeit eines schlecht bezahlten Privatlebens. Schickedanz unterschrieb. Gerhard Träger verwahrte den Bogen in seiner Rocktasche.
„Für alle kulturellen Fragen ist Dr. Kalahne in Zukunft entscheidend. Herr Schickedanz wird sich völlig nach den Maßnahmen Dr. Kalahnes richten." Schickedanz sah Kalahne an. Beherrscht war sein Gesicht. Die abstehenden Ohren waren blutleer. Gerhard Träger erhob sich. „Wir sind fertig", sagte er.
Kalahne und Schickedanz gingen auf die Straße. Es war stockfinster. Sie tasteten sich die Gartenmauer entlang. Sie sprachen kein Wort. Von dem Hügel her, wo das Gut der Frau von Berg lag, wehten die Schleier des Tangos.
Als sie den Marktplatz erreichten, gab Kalahne Schickedanz ein Kuvert. „Hier ist die Kritik", sagte er. „Welche Kritik?" fragte Schickedanz. „Uber den ,Fröhlichen Weinberg'. Du bringst sie morgen. Dann gibt es abends einen Skandal." „Aber ich habe sie ja gar nicht gelesen." „Daran wirst du dich gewöhnen müssen. Deine Privatmeinung über das Stück ist höchst uninteressant. Wir brauchen den Skandal. Das wird dir genügen, und als Sicherheit kann ich dir sagen, dass dir wegen deines mannhaften Eintretens für die Moral nichts passieren wird."
Kalahne lachte. Schickedanz hielt das Manuskript in der Hand.
Kalahne ging nach links. „Gute Nacht!" rief er. Schickedanz stand unter einer Laterne. Um den Lichtkegel sprühte der Regen.

Vorsichtig lupfte er das Papier. Da stand die Überschrift: „Kulturbolschewismus in Siebenwasser." Schickedanz steckte das Manuskript in die Tasche. Er schlug den Kragen hoch. Eine Frechheit von Kalahne, dachte er. Er will mit allen Mitteln den Skandal. Die Bürger hatten über das Stück gelacht, und morgen würden sie lesen, dass das Kulturbolschewismus sei. Sie würden es sicher glauben, wenn es gedruckt war. Denn wer von diesen Kerlen hatte schon eine eigene Meinung? Morgen waren die Witze, über die sie heute Abend so behaglich gegrinst hatten, plötzlich Zoten. Und aus dem Tempel der Kunst wurde über Nacht ein Schweinestall. Schickedanz stapfte im Regen auf und ab. Sollte er den leisen Befehl Kalahnes durchbrechen? Und seine Meinung sagen? Das Stück war nicht schlecht. Es war derb, aber der Autor hatte szenischen Griff. Aber was lag an dem Stück? Hier schien es um andere Dinge zu gehen. Krach sollte entstehen. Zu welchem Ende, das sah Schickedanz nicht.
Und wenn er rebellierte? Und morgen zu seinem Verleger ging und ihm den Sachverhalt erzählte? Und die Verschwörung publizierte? Niemand würde ihm glauben. Kalahne war im Vertrauen der sozialdemokratischen Stadtverordneten, Gerhard Träger würde dementieren. Er selbst war erledigt, wenn er gegen Kalahne anging. Nur durch ihn hatte er diesen Posten bekommen, und verschuldet, wie er war, wäre Aufrichtigkeit Selbstmord gewesen. Kalahne hätte ihn sicher aus der Stellung geboxt. Und dann säße er da, ohne Geld, die Mutter könnte auch nicht mehr den Zuschuss bekommen, und alle Chancen wären, heidi, dahin.
Schickedanz entschloss sich zur Tat. Um sieben Uhr wird er das Referat in Satz geben, was lag schon an dem Stück? Es galt die bürgerliche Gesellschaft auszuhöhlen, wie Gerhard Träger gesagt hatte. Was hatte er schließlich auch von ihr? Dreihundert Mark verdiente er im Monat, und dafür war er ein Kulturträger. Eine feine Kultur! Vierzig Mark Rente bekam die Mutter für den gefallenen Vater, und für seine Schwester, die Agnes, musste er auch noch sorgen. Die Krawatte, die er trug, war gewendet — aber neulich in Heidelberg bei den Festspielen hat so ein Star im Hotel Viktoria allein für das Souper zwanzig Mark ausgegeben.
Schickedanz spürte den Kirsch. Er war ein Trinker. Das Leben gefiel ihm nicht. Diese blöde Redaktion. Der Inseratenchef war mächtiger als er. Jeder Dreckfilm musste gut besprochen werden. Nur das Referat über den Roman war vogelfrei, weil die Verleger nicht inserierten. Dort konnte man Unabhängigkeit mimen. Aber wen interessierte das? Ein elendes Leben, dachte Schickedanz, zu Haus die Bude ist kalt, um sieben Uhr muss ich in der Setzerei sein, wo kann ich noch hingehen?
Da fiel ihm Maria ein. Er kramte in den Taschen. Zehn Mark hatte er bei sich. Und wenn der Artikel erschien, war Kalahne sicher wieder zugänglich für einen Pump.
Schickedanz sah auf die Uhr. Es war zehn Minuten nach zwei. Der Regen ließ nach. Von den Nussbäumen am Rande des Platzes fielen die Blätter. Langsam ging Schickedanz nach der Altstadt zu. Die Laternen waren gelöscht. Schickedanz taumelte etwas. Ich bin betrunken, dachte er, aber das ist egal. Er orientierte sich, indem er nach den spitzen Giebeln sah, die das Licht der Sterne bestrahlte. Er erreichte das Haus, ein schmales, engbrüstiges Gebäude in der Fleischergasse. Er tastete nach der Klingel. Er fand den hölzernen Knopf und läutete. Einmal kurz, zweimal lang. Das war sein Zeichen. Es dauerte einige Minuten, bis sich die Tür öffnete. Schickedanz stand im Schatten. „Alfred?" fragte eine Stimme.
„Ja", flüsterte Schickedanz. „Hast du Geld?" „Zehn Eier." Er trat ein.
Sie setzten sich ins Zimmer, das nach dem Hof zu ging, auf das geblümte Kanapee. Vor ihnen stand der Pfefferminzschnaps, und neben der Flasche standen jene sechs Gläser, die Marias Vater vor dreißig Jahren auf dem Schützenfest in Heilbronn ausgeschossen hatte. Es war einfach geschliffenes Glas, jedes mit dem Emblem einer bunten Scheibe bedruckt. Es war der Rest von Marias Heimat.
„Wo kommst du her?" fragte Maria. „Ich habe gearbeitet." „Warst du auch im Theater?" „Ja."
„Das ist merkwürdig mit dem Theater heute Abend", lachte Maria, „vorhin hatte ich Besuch, der war auch vorher im Theater, und kaum war er weg, da kam wieder einer, der war auch vorher im Theater, und jetzt kommst du und warst auch vorher im Theater." Schickedanz trank den zweiten Schnaps. Wie die blöden Gedanken wegflogen. Großartig! Er betrachtete Maria. Allein diese Stimme! Und diese nussbraune Haut. Und der Mund mit dem leichten Flaum blauschwarzer Haare... Das ist nur eine simple Hur, dachte er, und der Schnaps zog in grünen Wolken durch seinen Schädel, aber dafür geb ich zehn höhere Töchter. Er stand auf und zog den Rock aus. Maria löschte das Licht.
Es war Morgen. Schickedanz stand vor dem Spiegel und band sich die Krawatte. Er musste sich beeilen. Durch die Ritzen der Läden drang die erste Sonne, und im Hinterhof lärmten die Spatzen. Schickedanz sprach kein Wort. Zehn Mark waren weg, und heute war erst der fünfundzwanzigste. Maria klopfte die Kissen aus.
Ob sie das Maul halten wird? Aber er wusste, dass Maria schwieg. Ihre Konzession als Masseuse hing von dem Wohlwollen einiger Stadträte ab, und diese hatten ihr beigebracht, dass Schweigen ihre beste Chance sei.
Und Maria schwieg und empfing nur die Eingeweihten. Sonst war sie eine Heilgehilfin. Dreitausendfünfhundert Mark hatte sie auf der Bank, aber viertausend fehlten noch für die Pacht des Wirtshauses in Wimpfen, und ihr Bräutigam, ein Staubsaugervertreter in Eßlingen, „meine Jugendliebe", wie Maria ihn nannte, hatte nichts, um beizusteuern. Verrückte Welt, dachte Schickedanz und rieb sich mit dem Handtuch Marias Rot von den Lippen. Da vernahm er ihre Stimme.
„Du, hör mal, das muss aber ein tolles Stück sein, in dem ihr heute Abend wart..." Schickedanz wandte sich um.
Auf dem Kanapee im verblichenen Kimono saß Maria. Vor ihr lagen die Blätter des Referats. „Was geht das dich an?" brüllte Schickedanz. „Aber das lag doch so auf dem Tisch, und da hab ich es gelesen." „Leg es weg!"
Schickedanz warf seinen Rock über, raffte die Blätter zusammen und steckte sie in die linke Seitentasche.
„Ist das Stück wirklich so unsittlich, wie du da schreibst?" fragte Maria.
„Es ist ein Skandal!" rief Schickedanz.
„Aber warum schreist du? Ich kann doch nichts dafür."
Beleidigt stand Maria auf, zog den Kimono enger und ging zum Spiegel.
„Aber so seid ihr Männer... Wenn ihr es hinter euch habt, werdet ihr unausstehlich." „Ist schon gut", brummte Schickedanz, warf die zehn Mark auf den Tisch und ging zur Tür. „Wie roh du heute bist. Einem das Geld so hinzuschmeißen..."
„Tu nicht so", murmelte Schickedanz. Die Frau war ihm plötzlich zuwider. Alles war ihm zuwider. Die Stadt, der Kalahne, das Referat und das Stück und vor allem sein Beruf. Heimgehen und baden, dachte er. Er ging auf den Flur. Hinter ihm stand Maria mit einer Taschenlampe. Widerlich süß hing der Geruch des Pfefferminzschnapses zwischen seinen Zähnen. Auf seiner Lippe spürte er ein abgebissenes Haar. Er spie es aus.
Maria öffnete das Tor. Vorsichtig prüfte sie, ob die Straße frei sei. Als sie nickte, ging Schickedanz hinaus. Er prallte fast zurück vor der strengen Klarheit des Lichts.
„Alfred", flüsterte Maria, „morgen schau ich mir das Stück an. Eine schöne Hetz muss das sein. Aber sag, was ist das eigentlich, Kulturbolschewismus?"
Ohne Antwort ging Schickedanz weg. Hell und kühl war die Luft. Auf den Schieferdächern der Altstadt glänzte der Tau. Überwirklich, im Licht des Morgens, stand die Front des Rathauses. Schickedanz fror. Er lief über den menschenleeren Platz.
In seiner Tasche fühlte er das Manuskript.
Dass die Weiber niemals schweigen können, wenn
sie nicht mehr wichtig sind, dachte er.
Er ging in die Setzerei.

Der Generalanzeiger für Siebenwasser und Umgebung erschien um die Mittagsstunde. Es war die Zeit, da die Schulen schlossen, die Handwerker ihre Werkstätten verließen, die Arbeiter in die Kantinen gingen und die unverheirateten Beamten und Angestellten sich über die Gastwirtschaften verteilten. Kalahne saß im Cafe Adelmann. Er hasste den Dunst und Geruch der Restaurants, die unangenehme Eile, mit der die Angestellten ihre Suppe hinunter löffelten, wobei sie die Zeitung lasen. Er verachtete das Berufsgeschwätz an den Tischen, die Speisen, welche man zu sich nahm, die Redensarten, die man von sich gab, die Witze, die man belachte. Seine Weigerung, den üblichen Tageslauf eines Beamten zu absolvieren, ging so weit, dass er dem Freitagstisch der Assessoren in der Krone fernblieb und sich auch an keinem der häufigen Trinkgelage beteiligte. Während seiner Studentenzeit war Kalahne niemals aktiv gewesen. Er verurteilte die Verbindungen als Brutstätten des Standesdünkels, und er bekannte sich zu dieser Auffassung mit aller Schärfe.
Absichtlich isolierte er sich von der Akademikerschaft der Stadt. Sein Verkehr beschränkte sich auf die Einladungen der Frau von Berg, auf die Abende, die Fabrikant Weber alle zwei Monate gab, und auf seine Zusammenkünfte mit Bringolf. Er betonte sein Außenseitertum, wo er nur konnte, und nichts war ihm lieber als der schlechte Ruf, den er unter der Beamtenschaft genoss. Das stärkste Argument, das man gegen diesen Bauernsohn aus der Rauen Alb vorbrachte, war seine Arbeitsmethode. Sie widersprach allerdings dem Mechanismus des bürgerlichen Tages. Während alle Beamten pünktlich ihre Zeit abdienten und den Tag peinlich in Dienststunden und Privatleben trennten, kannte Kalahne diesen Unterschied nicht. Er wäre erstickt, hätte man ihn gezwungen, nach der Regel zu leben. Oft verließ er sein Büro, ging ins Cafe oder in die Stadtbibliothek. Zwar sagte er stets zu seinem Aktuar, wo er zu erreichen sei, und er war immer zur Stelle, wenn man ihn brauchte, aber diese laxe Auffassung von Beamtendisziplin hatte innerhalb seiner Kollegen bald eine solche Empörung entfacht, dass sie nach zwei Monaten in eine offene Beschwerde ausartete. Prätorius hatte Kalahne gedeckt. Er hatte ihn zu seinem persönlichen Sekretär ernannt und ihn aus der üblichen Stellung eines Kommunalbeamten herausgenommen. Trotz seiner persönlichen Abneigung gegen den jungen Mann musste er sich eingestehen, dass er seit Jahren keinen tüchtigeren Mitarbeiter gekannt hatte. Es war nicht nur die ungewöhnliche Intelligenz Kalahnes, die ihn anzog, es war der Fanatismus, mit dem er eine Arbeit angriff und in Prätorius das Gefühl weckte, er habe hier einen Menschen vor sich, der nicht nach der Regel zu beurteilen sei. Es gab keine Aufgabe, der sich Kalahne nicht gewachsen zeigte. Zu jeder Stunde konnte man ihn rufen und ihn arbeiten lassen. Er machte keinen Unterschied zwischen seinem Privatleben und seinem Dienst. Er arbeitete nicht seine Zeit ab, sondern er war immer mit den Fragen, die die Stadt angingen, beschäftigt. Am liebsten arbeitete Kalahne nachts. Seit zwei Jahren war kein Gutachten, keine städtische Erklärung, keine Denkschrift hinausgegangen, ohne von Kalahne stilisiert zu sein. Es war erstaunlich, wie dieser junge Mensch die Sprache beherrschte. Er schrieb ein wendiges, prägnantes Deutsch, und Stadtrat Schrader, der nach dem Tode von Prätorius die Stelle des Oberbürgermeisters provisorisch versah, erinnerte sich noch mit Bewunderung jener Denkschrift über das Kanalprojekt für die Regierung in Stuttgart. Kalahne hatte den umfangreichen Akt von sechsunddreißig Seiten in einer Nacht fertiggestellt. Von Stuttgart kam neben dem sachlich günstigen Entscheid noch die Anfrage, wer der Verfasser dieser vorzüglichen Denkschrift sei. Prätorius hatte damals Schrader angegeben, was formal richtig war, denn die Sache fiel in dessen Respiziat. Seit diesem Tag erfreute sich Stadtrat Schrader der besonderen Gunst des Innenministers. Kalahne hatte auf dem roten Sofa unter dem falschen venezianischen Spiegel Platz genommen. Margrit brachte den Kaffee, die Pastete und die Eier im Glas. Kalahne las die „Frankfurter Zeitung". Das Cafe war leer. Margrit setzte sich hinter die Theke und betrachtete die Traubentörtchen und die Sahnenbaisers.
Die „Frankfurter Zeitung" spielte im Leben Kalahnes eine große Rolle. Seit seiner Studienzeit las er sie täglich. Er hasste ihren Geist. Aber er verehrte ihren Stil und die vornehme Besonnenheit ihrer Sprache. Hier atmete das Bürgertum in seiner weltmännischen Form, klug, gebildet, skeptisch, ernst und absolut unheroisch.
Kalahne las den Leitartikel des Tages. In einem umständlichen, aber exzellenten Deutsch wurde hier wieder jenes gefährliche Ziel herausgearbeitet, das die Republik auf ihre farblose Fahne geschrieben hatte: den Wohlstand, die Ruhe und die Ausgeglichenheit der Verhältnisse. Hier stand der Gegner in seiner besten Form. Mit den Mitteln eines seriösen Journalismus wurde hier täglich das Land urbanisiert und jener Denkart angeglichen, die Kalahne als westlich bezeichnete.
Er hasste sie, aber er war sich ihrer Stärke bewusst. Als er den Bund gründete, hatte er den ersten Schritt auf dem Weg seines Kampfes unternommen. Achtzig junge Männer in allen Teilen des Reichs lebten bedingungslos nach seinen Parolen. Als er sich in einer geheimen Abmachung der überall verlachten Partei unterwarf, tat er den zweiten Schritt. Er wusste, dass kleine, esoterische Verschwörerbünde militanter oder geistiger Natur niemals die Breite der Wirkung erfahren könnten, die nötig war, um das Denken des Volkes umzuwerten. Bei aller Verachtung des parteilichen Apparats glaubte er, dass man sich dieses von der Demokratie gelieferten
Hilfsmittels bedienen müsse, um das Volk zum Aufstand zu sammeln.
Dazu war jedes Mittel recht. Denn in diesem Kampf ging es, so glaubte Kalahne, um die Weltmachtstellung der Nation.
Man musste sich tarnen. Man musste Wissen aufhäufen und eindringen in die innersten Gemächer des Staates. Der Gegner war nicht schwach. Wohl war es die Republik in ihrer Struktur und in ihren Methoden. Aber es galt ja nicht, eine Staatsform zu besiegen, sondern es galt, das Volk von Grund auf umzuformen. Man musste es entbürgerlichen. Das hieß nicht nur die Republik, sondern auch die Reaktion besiegen. Der Kampf ging nach zwei Fronten. Gegen vorgestern und heute. Man war noch verflucht allein. Wenige ahnten das Ziel. Schickedanz war ein Schwächling und Bringolf kaum mehr als gutmütiger Durchschnitt. Es wäre falsch, vorzeitig loszuprellen. Unruhe musste man säen, vorläufig nichts als Unruhe.

Über den Rathausplatz, an dessen linker Flanke das Café Adelmann liegt, ging Bringolf. Er trug seinen hellen Anzug aus englischem Leinen und in der linken Hand ein Zeitungsblatt, das er beim Gehen heftig schwang. Sein aschblondes Haar hing in einer Tolle über die gerötete Stirn. Kalahne begann die Pasteten zu essen. Bringolf schritt auf das Cafe Adelmann zu. Margrit erhob sich hinter der Theke. „Einen doppelten Hennessy!" schrie Bringolf, als er eintrat.
Wie martialisch er wieder tut, dachte Kalahne, er muss sehr unsicher sein.
Margrit hatte den Kognak auf ein Tablett gestellt und wollte ihn gerade nach dem Tisch Kalahnes bringen, als ihr Bringolf das Glas wegnahm und es stehend in einem Zug leerte. Er schmatzte und seufzte. Dann ging er auf das rote Sofa zu. „Ich versteh dich nicht mehr", sagte er und hielt Kalahne das Zeitungsblatt hin. Kalahne nahm den „Generalanzeiger für Siebenwasser und Umgebung". Auf der zweiten Seite unter dem Strich las er: „Kulturbolschewismus in Siebenwasser."
„Das hat ein Verrückter geschrieben", sagte Bringolf, „wenn ich den Schickedanz sehe, haue ich ihm eine in die Fresse."
Kalahne lächelte. Bringolf gefiel ihm in seiner Wut und in seiner Ahnungslosigkeit. Warum schöne Männer immer so dumm sind? Bringolf legte sich breit über den Tisch. „Du, im Ernst, was habt ihr da angestellt?" „Ich habe dafür gesorgt, dass dein Defizit gedeckt wird", antwortete Kalahne. Bringolf lachte.
„Das nennst du Deckung? Heute Abend hauen sie mir die Bude zusammen." Kalahne schüttelte den Kopf.
„Aber so lies doch!" Bringolf faltete hastig die Zeitung auseinander, fuhr mit dem Finger die Zeilen ab, murmelte zuerst, dann las er: „... die nationalen und christlichen Kreise dieser ehrwürdigen Stadt können es sich nicht gefallen lassen, wie hier von einem virtuosen, hemmungslosen Talent alle Werte der Moral, der Erziehung und des guten Geschmacks in den Staub gezogen werden. Es ist wahr, wir haben keine Zensur. Aber wir haben die Stimme des Volkes. Wir rufen sie auf, Bürger von Siebenwasser, und du vor allem, Jugend von Siebenwasser, erhebt eure Stimmen und befreit die Stadt von dem Sudelwerk eines kraftmeiernden Literaten." Bringolf hob den Kopf.
„Wenn das kein Aufruf zum Theaterskandal ist, fresse ich einen Besen."
Kalahne musste über Bringolfs Eifer lachen. Merkwürdig, wie alle Menschen seines Berufs nur von der Impression des Augenblicks abhingen. Es wäre sinnlos, ihm den Plan, den Kalahne verfolgte, zu erklären. Das Beste ist, man kommt ihm mit Autorität. Für labile Naturen gibt es kein anderes Mittel. Die Hauptsache ist, er gehorcht. „Ich habe dir gesagt, dass bei diesem Stück mit einem Skandal zu rechnen ist, und ich habe dir gesagt, dass es kein besseres Mittel gibt, das Theater zu füllen. Das sollte dir genügen. Denn deine Interessen sind gedeckt. Nachteile hast du bei der Affäre nicht, man wird dich im Gegenteil als mutigen, fortschrittlichen Intendanten rühmen, und dein Name wird als Vorkämpfer der künstlerischen Freiheit durch alle Blätter gehen. Wozu also die Aufregung?" Bringolf wiegte den Kopf hin und her. „Da steckt mehr dahinter", sagte er. Die ganze Sache war ihm unangenehm. Weiß der Teufel, was Kalahne wieder im Schild führte. Seit
Monaten verstand er diesen Menschen nicht mehr. „Was sonst noch dahinter steckt, kann dir doch gleichgültig sein", antwortete Kalahne. „Aber ich möchte wissen, wozu man mich benutzt!" Kalahne lehnte sich zurück. Er sah Bringolf voll ins Gesicht. Zum ersten Mal seit den Jahren, da sie noch gemeinsam im Grasgarten hinter dem Schulhaus die Sagen des klassischen Altertums lasen, hatte Bringolf widersprochen. Kalahne verbiss den Zorn. Es war seine stärkste Waffe, sich niemals erregt zu zeigen. „Du fühlst dich also benutzt?" fragte er leise. Bringolf nickte. Es war ihm einerlei, was jetzt geschah. Einmal musste er es aussprechen. Das mit dem Bund war doch nur eine romantische Angelegenheit von der Universität her, eine Schwärmerei für erhabene und dunkle Worte, die der Realität nicht standhielten. Ein heroisches Leben führen, wer konnte das heute noch? Höchstens die Flieger.
Kalahne betrachtete den jungen Intendanten. Das offene, gesunde Gesicht Bringolfs reizte ihn. Aus diesen Augen sprach nichts als eitler Ehrgeiz und etwas Leichtsinn. Bald wird er Fett ansetzen, dachte Kalahne.
„Du hast also ganz vergessen, wofür wir kämpfen, und bist ein Bürger geworden?" Bei dem Wort Bürger zuckte Bringolf, denn dieses Wort war gleichermaßen im Bund wie auch beim Theater ein verächtliches.
„Ich will nur wissen, was gespielt wird", lenkte Bringolf ein.
„Das wirst du erfahren, wenn ich es für nötig halte", schlug Kalahne zurück.
Bringolf schwieg. Da war es wieder, wogegen er sich aufbäumte. Diese unwürdige Bevormundung, dieser autoritäre Dünkel Kalahnes, dieses Gefühl, eine Schachfigur in einem dunklen Spiel zu sein. Alle Welt wusste, dass Kalahne es war, der ihn nach Siebenwasser geholt hatte. Und er selbst wusste nur zu gut, dass es eines Wortes von Kalahne bedurfte und sein Vertrag würde für die nächste Saison nicht verlängert.
„Hältst du mich denn für so minderwertig, dass du mir überhaupt nicht mehr sagst, was du vorhast? Ich stehe doch immer zu deiner Verfügung, aber ich muss wissen, was geschieht. Früher warst du anders zu mir."
Kalahne verzog keine Miene. Mit der linken Hand strich er eine tote Fliege vom Tisch. „Der Skandal wird nach dem zweiten Akt ausbrechen", sagte er. „Die Polizei ist informiert. Der übliche Posten ist verdreifacht. Man wird den Skandal unterdrücken. Du wirst das Stück zu Ende spielen und für die ganze Woche auf dem Spielplan halten. Genügt dir das?"
Bringolf saß mit offenem Munde da. Eine solche Sprache war er nicht gewohnt. Er knüllte das Zeitungsblatt zusammen und stand auf. „Das genügt mir", sagte er und verließ, ohne Kalahne anzusehen, das Cafe. Kalahne grinste und aß die Pastete zu Ende.

Eine Viertelstunde vor Eröffnung der Vorstellung stand Maria an der Kasse des Stadttheaters. Eine dichte Schlange wartender Menschen zog sich von der Straße über die Anfahrt zu dem kleinen Schalter hin. Das ist ja wie im Krieg, dachte Maria. Sie trug ihr pfirsichfarbenes Kleid mit einer künstlichen Marschall-Niel-Rose an der linken Schulter und darüber den dunklen Mantel mit der Boa. Ihr Haar war gewellt, ihre Achseln waren mit Eau de Cologne ausgewaschen. Die Eidechsschuhe, die sie zuletzt bei der Hochzeit ihrer Schwester getragen hatte, schmerzten und drückten die Ballen und die Zehen. Lange war Maria nicht mehr im Theater gewesen. Vor acht Jahren, als sie in Darmstadt in Stellung war, da hatte sie einmal den „Fidelio" gesehen. Das Billett hatte ihr ein Freund geschenkt, der war Friseur hinter der Bühne.
Wie hatte Maria damals gebebt, als das Licht erlosch und das Orchester begann. Eine feierliche Furcht war über sie gesunken. Und als der Vorhang sich hob, da war alles weg, was draußen lag, der Herr Architekt, welcher ihr Brotherr war, und das Geld, das sie vor zwei Tagen aus der Tasche der gnädigen Frau genommen hatte, weil die alte "Wernecke unbedingt eine Anzahlung brauchte, sonst würde sie ihr nicht das Malheur beseitigen. Alles war weg, die merkwürdigen Blicke von der Gnädigen heute Abend, das Klopfen und der Druck im Leib und die Unruhe wegen des Zwanzigmarkscheins, den sie im Koffer zwischen den Taschentüchern versteckt hatte. Vor ihr war die Bühne, ein Gefängnis. Ein edler Mann lag in Ketten und sang. Maria war ergriffen von soviel Würde und soviel Schmerz. Die Musik riss sie hin. Wie schön das war, so zu leiden und so
geliebt zu werden. Freiheit! lockten die Violinen. Gerechtigkeit! dröhnte der Bass. Maria hasste den Gouverneur. Ihr Herz hüpfte und tanzte zwischen den Disharmonien des Hasses und den Akkorden der Liebe. Sie konnte nichts mehr sehen. Sie hörte nur noch diese Musik. Und als der Chor anschwoll und die Tür des Gefängnisses zerbrach, als das Licht in greller Neigung über die Bühne fiel und das geschundene Herz unter dem Kuss der Freiheit aufblätterte zu einem gewaltigen Hymnus der Liebe, hatte Maria nicht zu klatschen vermocht, sondern nur leise grüßend mit ihrem Taschentuch nach der Bühne gewinkt. Taumelnd verließ sie das Theater, und sie achtete nicht der Tränen, die sie verschleierten vor den Menschen.
In ihrer Stube stand die Gnädige. Der Koffer war geöffnet. Die Gnädige hielt den Zwanzigmarkschein in ihrer dürren Hand.
„Es ist ja nur wegen der Wernecke", hatte Maria gestottert.
„Hinaus!" hatte die Gnädige geschrien. Und Maria war hinausgegangen. Sie trug den Koffer. Im Schlafanzug stand der Architekt an der Tür. „Wir geben es nicht an die Polizei", lispelte er. Er roch nach Bier wie damals, als er nachts zu ihr gekommen war.
Im Wartesaal schrieb Maria an ihre Mutter. „Liebste Mutter", schrieb sie, „man hat mir ein Kind gemacht. Und weil ich nicht wollte, dass es in dieses Jammertal kommt, und weil die Wernecke in der Stiftstraße dafür zwanzig Mark haben wollte, habe ich gestohlen. Die Gnädige hat es gemerkt und mich hinausgeworfen. Ich bin ein armes Luder und doch so heiß. Das passt nicht für arme Leute. Wolle Gott, dass der Gouverneur bald stirbt. Dann wollen wir uns alle an den Händen fassen und singen. Deine treue Maria."
Sie fuhr nach Frankfurt. Am nächsten Abend traf sie einen Herrn. Es genügte für die Anzahlung auf das möblierte Zimmer.

Als Maria an den Schalter kam, schob der Kassier einen Blechriegel vor die Rubrik Sperrsitz. Die Plätze waren ausverkauft. Maria war beleidigt. Sie hatte sich so auf den Sperrsitz gefreut. Damals in Darmstadt hatte sie auch Sperrsitz gehabt und neben den besseren Damen gesessen. „Nur noch zweiter Rang", sagte der Kassier. Betrübt zahlte Maria eine Mark achtzig, und indem sie mit der linken Hand das Ende ihres seidenen Rockes ein wenig hob, schritt sie die steinernen Treppen hinauf.
Der Platz war nicht ungünstig. Er lag in der ersten Reihe. Man konnte von der Brüstung aus sehr gut das Parkett und die Bühne übersehen. Das Theater war voll besetzt. Maria nahm ihr perlmutternes Opernglas aus dem mit roter Seide gefütterten Lederfutteral und sah nach dem Parkett. Gedämpft durch die Kuppeln des Raums klangen die Stimmen herauf. Zwischen den Reihen der Klappstühle standen dichte Gruppen. Maria erkannte Herrn Stadtrat Schrader, der zusammen mit Kommerzienrat Aschaffenburg in einer Loge saß. Dem sein Geld möchte ich haben, dachte Maria, dann wäre ich sündenfrei.
Träumend saß Maria auf ihrem Platz. Das Licht der Kristallleuchter funkelte um die Säulen. Gedämpft sprachen die Menschen. An den Logen hingen die roten Troddeln, und auf den Vorhang war ein Zug griechischer Schäfer gemalt, die, Flöte spielend, einer silbernen Wolke entgegen tanzten. Als ich zuletzt im Theater war, dachte Maria, vor acht Jahren, da hat sich mein Leben verändert. Da haben sie mich hinausgeworfen aus der Anständigkeit wegen der lumpigen zwanzig Mark. Was dann begann, darüber denkt man nicht nach, wenn man noch ein bisschen Scham vor sich selber hat. Das können sie einem doch nicht nehmen, auch wenn sie einen auf die Straße schmeißen. Und die Resi können sie mir auch nicht nehmen, das kleine Kind. Sieben Jahre wird sie jetzt im Oktober. Da wird Maria Urlaub machen und nach dem Spessart fahren, wo die Resi bei der Mutter wohnt. Schöne Wiesen gibt es dort und kleine Bäche zum Drüberspringen. Früh bei Sonnenaufgang würden sie aufstehen und mit irdenen Töpfen in den Wald gehen und Heidelbeeren pflücken. Und am Sonntag führen sie nach Hanau, dort dürfte die Resi Eis essen und im Wartesaal an dem Automaten ziehen. Leichte Schauer flossen durch Maria, als sie an das Kind dachte. Wie gut war es, dass sie damals nicht zur Wernecke gegangen war. Ob der Architekt wohl noch lebt? Die Resi sah ihm gar nicht ähnlich. Und wie gescheit sie war. Alle vierzehn Tage schrieb sie einen Brief mit Tintenblei, sogar schon mit Kommas und schönen Grund- und Haarstrichen.
Es klingelte. Maria schrak auf. Vor ihr lag das Parkett des Theaters. Vor ihr strahlten die Kronleuchter. Maria atmete den Duft ihres seidenen Kleides. Maria vergaß, was draußen war. Überwältigt von der Magie des Raums starrte sie auf die schweren Falten des Vorhangs, die sich leise bewegten. Dahinter lag eine andere, bessere Welt. Es war Maria in ihrer Einfalt entgangen, dass die Stimmung innerhalb des Theaters sehr erregt war. Sechs Schupos unter der Führung eines Offiziers hatten nach dem zweiten Klingelzeichen die Seitengänge betreten. In der dritten Reihe des Rangs saßen etwa zwölf junge Männer mit dem Abzeichen des Sport- und Wehrvereins. In ihrer Mitte befand sich ein Mann, der ein braunes Hemd trug und schwarze Hosen. Die jungen Männer sprachen kein Wort. Nur als beim dritten Klingelzeichen auch der Rang von sechs Schupos besetzt wurde, sahen sie sich lächelnd an.
Das Licht erlosch. Zweimal schlug der Gong. Langsam hob sich der Vorhang. Maria atmete kaum. Sie erwartete die Musik.
Auf der Bühne war helles Licht. Männer und Frauen saßen und gingen dort hin und her, und sie redeten in einer Sprache, als seien sie nicht im Theater, sondern auf der Straße oder zu Hause bei sich. Sie lachten laut, machten sogar Witze und taten überhaupt so, als ginge sie das Publikum nichts an. Maria lehnte sich zurück. Sie steckte das Opernglas in das Futteral. Sie fühlte sich betrogen. Das ist doch kein richtiges Theater, dachte sie. Vor acht Jahren, da hab ich gezittert und gebebt, da wurde mir heiß und kalt, und da hab ich geweint. Was ist denn nur los? Wo bleibt nur die Musik? Was die sich da erzählten, das konnte sie zu Haus in ihrem Dorf auf jeder Kirmes erleben. Deshalb brauchte man doch nicht ins Theater zu gehen und das seidene Kleid und die Eidechsschuhe anzuziehen! Maria ärgerte sich. Das schöne Gefühl, welches sie beim Eintritt in das Theater gehabt hatte, war weg. Und jetzt fingen die unten im Parkett auch noch an zu lachen. Man lacht doch nicht im Theater. „Pst! Pst!" wollte Maria machen, aber da brachen wieder die Lachsalven hoch, und die Menschen auf der Bühne redeten immer weiter in einer ganz gewöhnlichen Sprache.
Maria zerknüllte das Programm zwischen den Fingern. Steif saß sie da. Manchmal stieg ihr ein Lachen hoch, aber sie schluckte es mit zusammengebissenen Lippen herunter. Das war alles so gewöhnlich, genau wie draußen, aber war sie deshalb hierhergekommen, um sich etwas anzusehen, was sie auch zu Hause haben konnte?
Als der erste Akt zu Ende ging, rechnete sich Maria aus, dass sie für die eine Mark achtzig der Resi ein paar gute Strümpfe hätte kaufen können. Der Zwischenakt dauerte kaum eine Minute. Verdrossen und gelangweilt schob sich Maria aus ihrer mit Lavendel getränkten Tasche ein Bonbon in den Mund. Unten im Parkett hörte sie laute und lustige Stimmen. Das wollen gebildete Menschen sein, dachte Maria.
Hinter sich hörte sie eine Stimme. Die klang gedämpft.
„Achtung, wenn ich sage Schluss, beginnt ihr zu..."
Der Gongschlag vor dem zweiten Akt verschlang das Wort.
Beleidigt schaute Maria auf die Bühne. Und wieder kam keine richtige Musik. Unten die Leute gingen daher, angezogen wie am Werktag, und sie redeten, als ob sie in einer Wirtschaft wären. Marias Ärger steigerte sich in Wut. Warum das ganze Zeug? Dass es so ein Bursch aus dem Volk besser mit der Liebe versteht als so ein pappdeckliger Beamter, das wusste Maria schon lange. Und wie überhaupt? So etwas öffentlich auf die Bühne zu bringen? Ihr machte man die größten Schwierigkeiten, und hier lachten dieselben Leute, die sonst auf sie herabsahen, unten im Parkett sich beinahe bucklig. Maria hatte genug von diesen Dingen. Sie war froh, wenn sie einmal von dem ewigen Männerkram nichts zu hören brauchte. Wenn sie ins Theater ging, wollte sie erhoben werden, hinweg von dieser Welt. Ach, die da unten im Parkett hatten gut lachen und kichern. Für die war das Gebalz neu. Maria war froh, wenn sie einmal davon verschont wurde. Und so etwas auf das Theater zu bringen, das war einfach eine Schweinerei! Das nächste Mal gehe ich in die Kirche, dachte Maria, da sind doch wenigstens schöne Bilder und Fenster und der Herrgott, vor dem man knien kann. Im Parkett prasselte der Beifall.
Was die nur dabei finden? Wenn ihr Dienstmädchen einmal nachts einen Burschen mit hinaufnimmt, dann fliegt es unweigerlich hinaus. Aber im Theater da freuen sie sich darüber und tun so, als sei es eine fröhliche Sache für alle Welt. Da fiel ihr Schickedanz ein, den sie über der Aufregung und der Magie des
Raums vergessen hatte. Ja, Alfred hatte recht. So etwas sollte man verbieten.
„Schluss!" schrie jemand hinter ihr. Maria erschrak.
Sie wandte sich um. Im Dämmerlicht sah sie eine Reihe junger Leute stehen. „Schluss!" riefen sie im Chor. Im Parkett verstärkte sich das Klatschen. Aus den Logen brüllte jemand „Ruhe!".
„Schluss! Schluss! Schluss!"
Immer stärker wurden die Rufe.
Um Gottes willen, wir sind doch im Theater, dachte Maria.
Da begannen Trillerpfiffe hinter ihr, und ein Chor hob an zu rufen: „Fort mit dem Judendreck! Fort mit dem Judendreck!"
Maria fasste nach ihrer Marschall-Niel-Rose. Wenn nur nichts passiert. Ich bin im seidenen Kleid. Das Licht ging an. Hell lag der Zuschauerraum. Im Parkett standen die Menschen mit dem Gesicht nach dem Rang. In der Mitte der Rufenden, wenige Meter hinter Maria, sah sie den Mann in dem braunen Hemd. Er war jung und lachte lautlos durch seine breiten Zähne, so dass Maria in ihrer Seele erschrak. Wie blond er ist, dachte Maria. In seiner Loge stand Stadtrat Schrader. Sein Kopf war puterrot.
„Ruhe!" schrie er. „Was sind das für Methoden?" „Fort mit dem Judendreck!" antwortete der Chor. „Lausbuben!" klang es vereinzelt aus dem Parkett. Auch in den Rängen begann es zu klatschen. Der Mann in dem braunen Hemd ging nach rechts. An der Brüstung stand der junge Frey. Frey klatschte. „Bravo!" rief er und sah sich dabei fröhlich um. Der
Mann in dem braunen Hemd war bei Frey angekommen. Er sagte etwas zu ihm. Frey klatschte weiter. Hör doch auf! wollte Maria rufen, aber da packte ihn schon der Braune am Arm. Er holte zum Schlag aus, Frey knickte zusammen und klatschte nicht mehr. Aufgerissenen Auges sah Maria die Polizei anlaufen. Die Schupos hatten die Gummiknüppel gelöst. Ein Signalpfiff erklang. Es war Totenstille. Alles starrte nach dem Rang.
„Fort mit dem Judendreck!" brüllten die jungen Männer.
Die Schupos drangen nach der Brüstung vor. Dort stand der Braune. Er hatte die Hände zu einem Trichter geformt und brüllte in das schweigsame Parkett: „Das Theater ist kein Puff, und Deutschland ist kein Absteigequartier!" „Bravo!" entfuhr es Maria. Sie errötete. „Lausbuben! Abführen!" antwortete es aus dem Parkett.
„Verdorbenes Bürgerpack!" brüllte noch der junge Mann, aber schon hatten ihn die Schupos im Griff, und einer hielt ihm den Mund zu. „Es lebe die Demokratie", grölten die jungen Uniformierten.
Die Schupos, die Gesichter weiß und verschwitzt, führten den Braunen an Maria vorbei. Sie sah sein Gesicht. Es war schmal und sehr selbstbewusst. Wie die Augen glühten! Maria zitterte. Werden sie ihn verhaften? Ach Gott. Sie bemerkte es nicht, wie die Gummiknüppel der Polizisten ihr seidenes Kleid streiften und wie ihre Füße die künstliche Marschall-Niel-Rose auf dem Boden zertraten.
Maria stand wie gelähmt. Die jungen Männer hinter ihr hatten sich an den Händen gefasst und sangen. „Hakenkreuz am Stahlhelm" sangen sie. Im Gänsemarsch zogen sie ins Foyer. Dort stand der Braune vor dem Schupooffizier. Im Parkett prasselte erneut der Beifall hoch. Bringolf stand auf der Bühne. Ovationen empfingen ihn.
Und während sein Name das Theater erfüllte und die Schauspieler aus den Kulissen traten und sich lachend hinter dem Intendanten verbeugten, riss sich plötzlich der Braune aus den Händen der Schupos, stieß den einen Beamten vor die Brust, dass er stolperte, und rannte zur Brüstung. Er stand neben Maria. Sie fühlte seinen Atem. Sie sah die angespannten Adern seiner Schläfen. Und wieder formte er die Hände zum Trichter. Weit über die Brüstung klang sein Ruf: „Deutschland erwache! Deutschland erwache!"
Ein brüllendes Gelächter des Parketts war die Antwort.
Der Braune hob den rechten Arm. Wie trotzig er dastand. Maria zitterte vor Erregung. Endlich ein Held!
„Deutschland..."
Zwei wohlgezielte Gummiknüppelschläge über die Schulter ließen den Mann stolpern. Die Schupos nahmen ihn an den Armen und schleiften ihn weg.
Maria schrie auf. Tränen schossen ihr in die Augen. Sie rannte hin und her. Am liebsten wäre sie auf die Beamten gestürzt. Ihr Täschchen fiel zu Boden.
Im Parkett dröhnte der Beifall. Und während die Wolke der Ovation immer höher stieg, stand Maria allein an der Brüstung und trommelte mit beiden Fäusten auf den staubigen Plüsch. „Schweinerei!" rief sie, „Schweinerei!"

 
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