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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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8. Kapitel

Es ist November geworden. Aus dem Tal steigt in schweren Säulen der Nebel. Mit Geschrei und Geknall ziehen die Treibjagden über das Feld. Auf den Wegen modert das Laub, und der Wald hallt wider von den Axtschlägen der Holz fällenden Knechte. Ätzend ist die Luft, gärig, voller Tod. Hans ist zum Mittagessen aus dem Wald heruntergekommen. Seit drei Tagen arbeiten sie oben, ein paar hundert Meter hinter den Sieben Bächen. Sie säubern den Wald von Stämmen, die, krank oder vom Blitz zerrissen, den Forst belasten. Hundertfünfzigjährige Eichen sind darunter, mit zerbrochenen Kronen, Opfer der Stürme und der hell dröhnenden Gewitter im Mai.
Hans steht in der Futterküche und reinigt die Stiefel mit einer Spachtel. Der Lehm fällt klatschend auf den Boden, draußen im Hof rieselt der Regen, und hinter dem vergitterten Fenster des Herrenhauses kreischt die Degerloch seinen Namen. Hans lacht. Sechsmal muss sie kreischen, ehe er antworten wird. Er ist der Person nicht grün seit der Affäre mit
Kilian Kern. Absichtlich hat sie damals die Tücher in zu heißes Wasser getaucht, als sie den Briefträger wuschen. Der hatte aufgeschrien und dann gewinselt wie ein Kind. Aber die Degerloch, das scheinheilige Tier, hatte beteuert, sie habe sich nur zufällig am Kranen vergriffen. Dabei findet die Person jedes Salzfass mit geschlossenen Augen. In seiner Wut hatte ihr Hans einen Stoß versetzt, dass sie die halbe Stiege hinab taumelte. Oh, er wusste Bescheid, was in diesem Jungfernhirn vorging. Einem politischen Gegner helfen? Wie? Nicht umsonst rannte die Degerloch seit September in jede Versammlung und schlürfte dort die Worte Kalahnes über die gottverfluchte Humanität. „Herr Diefenbach... Herr Diefenbach... Herrrr Diiiiefenbach!" Hans streckt den Kopf aus dem Fenster, der Regen kitzelt ihn im Genick, da sieht er das kreischende Gesicht der Degerloch hinter dem Gitter, rotblau ist es vor lauter Keifen. Wo er denn stecke? Wo er denn bleibe? Es sei etwas Wichtiges gekommen. Hans macht ein dummes Gesicht. Was wird das schon sein. Aber die Degerloch ist fast außer sich. „Ein Brief", schreit sie, „ein Brief von der Partei!" Gemächlich schließt Hans das Fenster. Das bringt die Degerloch völlig in Rage. Ein Kurier habe den Brief gebracht, hört er sie schreien. Es sei dringend, es sei enorm wichtig. So, denkt Hans, wenn die jetzt glaubt, ich schösse wie ein geölter Blitz aus der Küche, dann ist die schief gewickelt. Ruhig dreht er das warme Wasser auf und beginnt sich die Hände zu waschen mit grauem Sand.
Also von der Partei? Seit Wochen hat er nichts mehr
von der Partei gehört. Zwei Tage nach der Demonstration, die Bäuerles Fest gesprengt hatte, war er schriftlich vom SA.-Dienst dispensiert worden. Er hatte es erwartet. Und es war ihm nur angenehm gewesen — um so mehr Zeit hatte er für Irene und das Gut. Bäuerle war seit dem Zusammenstoß mit Dern kaum noch zu gebrauchen. Stundenlang schloss er sich in seine Bibliothek ein, ließ niemanden zu sich und grübelte. Wie eine schwere, dunkle Wölke stand die Trauer dieses Mannes über Weißenfels. Selbst Irene, die glückliche, litt. Henrici war auch voller Unruhe. Er hatte in Russland eine Stelle als Agronom bekommen, an einem Institut im Süden. Anfang Dezember reiste er ab. Da war es gut, dass Hans auf dem Hof war. Er sorgte dafür, dass die Arbeit vorwärtsging und dass das Notwendigste getan wurde. So eng fühlte er sich schon mit Weißenfels verwachsen, dass es ihm nicht absonderlich vorkam, wenn er, ohne Bäuerle zu fragen, selbständig Anweisungen gab, Verkäufe tätigte, Stall, Küche und Keller kontrollierte und in allem so tat, als verwalte er sein Eigentum. Er begriff die Erregung um ihn nur wie ein fernes Gewitter. Er selbst war sicher in sich. Er liebte und arbeitete.
Zwar wusste er, dass das Parteiverfahren gegen ihn lief, er gab sich wegen des Ausgangs keinen Zweifeln hin, mochten sie ihn ausschließen, immer wieder würde er so handeln wie damals, als Kilian unter dem wütenden Haufen lag. Lange hatte er sich überlegt, ob er Gerhard Träger schreiben solle, und schließlich hatte er es getan, obwohl er wusste, dass es zwecklos war. Aber Gerhard sollte wenigstens die
Wahrheit hören, bevor sie Dern verfälschte. Lange hatte er über den Brief nachgedacht — wenn er im Keller arbeitete, wo der Wein wie toll in den Fässern rumorte, oder wenn er droben im Wald stand zwischen den Nebelschwaden und mit den Knechten die Wurzeln sprengte —, immer war diese Zwiesprache mit Gerhard in ihm, ohne Groll, ohne Erregung, so wie es sich ziemt für ernste Gedanken. Dann hatte er sich hingesetzt nach einem Abend, da er sehr glücklich war mit Irene. Unter dem weißen Licht seines Zimmers hatte er an Gerhard geschrieben, draußen fiel der Regen, und aus den Ställen dampfte der Schlaf.
„... was er jedoch an Bäuerle und besonders an diesem Briefträger tat, indem er ihn von einer zwanzigfachen Übermacht zu Boden trampeln ließ, verletzt mein Gefühl von der Würde derart, dass ich gern die höchste Strafe für diese meine Humanitätsduselei in Kauf nehme. Kalahne hat einmal das Wort von der Drecklinie, durch die jede Revolution hindurch müsse, geprägt. Nie jedoch kann ein Ziel so erhaben sein, dass man sich, um es zu erreichen, der Feigheit und der Unritterlichkeit bedienen darf. Und wenn Du mir sagst, man dürfe in diesen Zeiten nicht an sich denken, nicht an seine persönliche Auffassung von Recht und Unrecht — so frage ich Dich, wonach, bei Gott, soll sich denn der Mensch noch richten, wenn nicht nach dem, was er für gut und anständig hält?"
Hans geht über den Hof. Der Regen nieselt. Die Traufen summen. Als er die Halle betritt, keucht die Degerloch die Wendeltreppe hoch und wirft ihm den
Brief wortlos auf das Tischchen in der Garderobe. Neugierig zieht sie sich zurück. Hans tut ihr nicht den Gefallen, das Schreiben zu öffnen, solange sie ihn sieht. Er benimmt sich, als gewahre er es nicht. Später erst, als er sich die Haare gebürstet hat, öffnet er den Umschlag.

Sie haben sich zwecks Entgegennahme einer Erklärung heute Nachmittag Punkt vier Uhr in der Wohnung des Pg. Dr. Kalahne einzufinden.
Heil Hitler!
Hungrich, Standartenführer.

Hans geht zu Tisch. Eine Stunde später verlässt er Weißenfels. Irene wollte ihn gern mit dem Wagen hinunterfahren, aber Hans meinte, das, was ihm bevorstehe, erledige sich besser zu Fuß. Es ist zwei Uhr, als er den Rathausplatz erreicht. Um den Brunnen der Marktgerechtigkeit werden die Stände abgeschlagen. Es riecht nach Astern und Flussfischen. Blutbeflecktes Papier treibt am Boden, zwischen zertretenen Rüben und Lauch. Seit Monaten war Hans nicht mehr in Siebenwasser gewesen. Das Gut hat mich aufgefressen, denkt er, während er den Markt verlässt und nach dem Cafe Adelmann geht. Über seiner SA.-Uniform trägt er einen von Bäuerles englischen Regenmänteln. Sein Kopf ist frei. Wenn es auch gegen das Reglement ist - er kann diese braunen Segeltuchmützen nicht mehr leiden, seitdem er es gewohnt ist, mit bloßem Haupt auf dem Felde zu arbeiten. Eigentlich verrückt — jetzt steh ich vor dem Cafe
Adelmann und linse durch die Scheiben wie früher, wenn ich hinter einem Theaterhasen her war. Dennoch geht er auf die Terrasse. Stühle und Tische sind weggeräumt, der Regen tropft von den Lampen, und auf den roten Steinplatten sammeln sich Pfützen. Das Cafe ist leer. Er sieht den roten Plüsch und die vergoldeten Spiegel, die grünen und gelben Schnapsflaschen auf dem Bord hinter dem Büfett und das weiße Zuckerzeug in den Schalen aus Nickel. Hans erschrickt. Er hat sich bei einem Gedanken ertappt. Wenn ich jetzt Kalahne träfe, der doch hier Stammgast ist? Vielleicht, wenn ich vorher mit ihm spräche? Sofort verlässt er die Terrasse und geht vom Platz aus die breiten Stufen hinunter, die nach der Neustadt führen. Angst? A, bah, ich hab doch keine Angst! Er öffnet den Mantel. Der Regen lässt nach. Hinter den Türmen von Sankt Andreas glänzt der Himmel in einem kleinen, metallhellen Streif. Hans biegt in die Bahnhofstraße. Fast abwesend betrachtet er die Geschäfte. Radioapparate oder ein Auto mit geöffneter Motorhaube, Papierfäden gehen von den einzelnen Teilen nach einer Tafel, auf der die Erklärung steht, aber bald fällt das Auge auf die Wurstberge hinter den Fenstern der Metzger, in die Postkartenflora der Papierhandlungen, in das Reklametalmi der Zigarettengeschäfte. Das öde Einmaleins des mittleren Lebens beherrscht die Straße, von der Okkasionstasse zu fünfundvierzig Pfennig bis zum Volkssmoking des Warenhauses Hansa im Werte von siebenundfünfzig Mark. Hans ist verärgert. Es war eine Dummheit, so früh nach Siebenwasser zu gehen. Zwei Stunden hat er noch Zeit, das ist für einen Bauer, wie er es jetzt ist, eine Ewigkeit. Ja, er spürt es genau, dass er ein Bauer geworden ist. Wie er die Gegenstände dort in den Läden ansieht, daran merkt er es. Wofür das viele Zeug, denkt er. Sind wir Neger? Am Bahnhofsplatz bleibt er stehen. Es beginnt wieder zu regnen, und die Leute, die an ihm vorbeigehen, stoßen mit den Schirmen aneinander. Hans sieht auf die Uhr. Noch eine Stunde und vierzig Minuten. Ich muss doch verdammt aufgeregt gewesen sein, dass ich so früh herunterlief. Er überlegt, was er tun soll. Das Beste ist, er setzt sich zu Mutter Döring und malt ein paar Männerchen auf ein Papier. Blöde Sache! Oben im Wald gibt es Wurzeln zu sprengen, und er trödelt hier herum... War das nicht der Kellenberger, der eben vorbeiging? Natürlich... tut gerade, als kenne er mich nicht. Dabei habe ich ihn in die SA. gebracht, vor zwei Jahren, kurz nach dem Abitur. „Hallo! Heinrich!"
Der Kellenberger geht weiter, direkt auf den Bahnhof zu, schick sieht er aus in der Uniform, aber im Gelände, da bekommt er oft Herzweh. „Heinrich!"
Hans macht ein paar Schritte hinter dem Kellenberger drein und ruft nochmals. Der SA.-Mann geht schneller, man sieht es ordentlich, wie er sich eilt. Das wäre doch noch schöner... grüßt seinen Kameraden und Scharführer nicht, und jetzt tut er, als habe er Blei in den Ohren.
Hans läuft. Quer über den Bahnhofsplatz läuft er. Da, auf der Freitreppe holt er ihn ein.
„Heil Hitler!" sagt Hans und hält den Kellenberger am Arm. Der dreht sich kaum um und will weiter. Es gelingt ihm auch ein paar Stufen, dann aber ist Hans vor ihn getreten, dass er nicht mehr weiter kann. „Du bist wohl blind und taub?" sagt Hans, doch schon spürt er, dass sein Hals trocken ist und dass er mehr weiß, als er denkt.
Der Kellenberger hat ein blasses Gesicht und rötliche Haare. Die Augen hinter seiner Goldbrille sind wässerig.
„Kennst mich wohl gar nicht mehr? Wie?" Hans lacht, aber der Kellenberger bekommt plötzlich ein ganz unglückliches Gesicht. „Du", haucht er, „lass mich doch gehen... wenn es einer sieht... es tut mir ja leid... aber..."
„Wenn wer was sieht?" ruft Hans, sie sind von der Treppe unter den Bogen gelangt, der Kellenberger schaut sich scheu um. „Dass ich mit dir spreche", flüstert er im Halbdunkel der Fahrkartenschalter. Hans muss furchtbar blass geworden sein, denn jetzt hält ihn der Kellenberger am Arm. „Ich kann doch wirklich nichts dafür, Hans, und ich vergess es auch nicht, dass du in der Penne gut zu mir warst... und als Scharführer... aber das ist ja alles egal, was wir persönlich denken! Und wenn ich dir auch sage, dass viele von den Kameraden auf deiner Seite sind... das hilft dir ja gar nichts. Du... davon kannst du nicht leben... es ist halt vorbei mit dir... keiner von uns darf dich mehr kennen... gestern Abend beim Appell hat es Hungrich vorgelesen. Wer mit dir gesehen wird, du, der fliegt hinaus."
Der Kellenberger mit der Doubleebrille und den rötlichen Haaren, Sohn eines Rechtsanwalts und Student der Jurisprudenz an der Alma Mater in Heidelberg, erschrickt nicht, als Hans plötzlich vor ihm ausspuckt, gerade vor die Füße auf den Terrazzoboden, nein, er ist gar nicht empört darüber, o bewahre, er ist nur froh, dass Hans von ihm weggeht, heilfroh ist er, mein Gott, mag der Arme auch stolz tun. Nur nicht auffallen, denkt Kellenberger. Und er atmet erleichtert auf, als Hans hinter der Tür des Wartesaals verschwindet.

Kalahne geht den Kai entlang. Der Regen treibt quer über den Fluss, und die Kuppen der Hügel versinken hinter den Schleiern des Wetters. Von den Türmen des Sankt Andreas schlägt es drei. Zwei Stunden hatte der Doktor bei Fabrikant Weber verbracht. Aus der Umgegend waren zehn Industrielle gekommen, um sich Kalahnes Vortrag anzuhören. „Vertraulich und im engsten Kreis", hatte es auf den Einladungskarten geheißen. Es war eine Art Konzilium, das Kalahne veranstaltete. Weber hatte alles arrangiert. Seit der Septemberwahl war der Fabrikant Weber Mitglied der Partei, wenn er es auch nach außen hin nicht zeigte. Oh, es war nicht schwer gewesen, mit den Herren fertig zu werden. Zuerst hatten sie sich zwar lebhaft nach der Brechung der Zinsknechtschaft erkundigt und besonders, was es mit der Nationalisierung auf sich habe, die doch im Programm stehe. Als ihnen Kalahne aber erklärte, dass diese Schlagworte nur Auffanghürden für die Rudel der Kleinbürger darstellten, da waren sie plötzlich sehr aufmerksam geworden und waren seinen Sätzen gefolgt. Klipp und klar hatte ihnen der Doktor erklärt, dass er als Nationalsozialist überhaupt kein Gefühl mehr habe für Worte wie Kapitalismus, Proletariat, Mehrwert und Profit, ja, dass er lachen müsse über solche Gespenster einer erledigten Welt. Die Wirtschaft, dieser Popanz, habe lange genug die erste Rolle im Staate gespielt. Die Herren sollten es ihm nicht verübeln, wenn sich die neue Bewegung so weit wie möglich von der Wirtschaft abwende. Für sie gehe es nicht um materielle Dinge, sondern um eine geistige Umwandlung des deutschen Menschen. An Stelle des wirtschaftlichen Typs des letzten Jahrhunderts trete der soldatische Mensch, geformt nach den Gesetzen der Ehre und des Bluts, und nicht nach der Schablone des Besitzes. Mit aller Macht werde man den Deutschen den materialistischen Geist austreiben. Soziale Experimente lehne die Bewegung ab, sie fordere nichts weiter, als dass jeder seine Pflicht tue, ob Unternehmer oder Arbeiter. Die große Volksgemeinschaft, die sie schaffen werde, beruhe auf den Gesetzen des Soldatentums, auf den preußischen Tugenden der Ehre und des Gehorsams, und wenn die Herren bereit wären, ihre Kräfte in den Dienst des heranwachsenden Reichs zu stellen, so könne er ihnen versichern, dass die Bewegung sich dessen am Tag der Machtübernahme sehr wohl erinnern werde.
Zehntausend Mark beträgt der Scheck, den die Industriellen, wie Weber so sinnig bemerkte, auf dem Altar der deutschen Zukunft niedergelegt hatten.
Kalahne hat ihn in der Brieftasche. Es war wirklich höchste Zeit, dass etwas geschah. Von der letzten Wahlkampagne standen noch achttausend Mark Schulden zu Buch, und die Druckerei drohte mit der Klage. Kalahne lacht. Was kümmert es ihn, wenn die Herren jetzt bei Mokka und Schnäpsen sich in dem Gedanken wiegen, sie hätten die Bewegung durch diesen Geldwisch sich verpflichtet. Aus ihrer Angst vor dem Kommunismus hatten sie gezahlt. Oh, das war eine ausgezeichnete Geldquelle, dieser deutsche Kommunismus. Ein Glück, dass die Burschen in ihren Versammlungen den Mund so voll nahmen, ein Glück, dass sie bei den Wahlen stiegen. Jede Stimme für sie verdreifachte die Bedeutung der Partei, und die Fabrikanten zahlten, wie es früher die Stadtbürger zu tun pflegten, wenn sie Truppen zum Schutz ihrer Häuser warben. Mögen sie... oh, man soll sie noch bestärken in diesen Gedanken! Auf der Angst der Bürger lässt sich gut ruhen, und wenn sie glauben, ihre Batzen seien in Sicherheit, dann geben sie auch den Staat noch hin, die politische Macht, mit der sie nichts anzufangen wissen. „Keine sozialen Experimente! Keinen Eingriff in die Privatwirtschaft." „Gut, meine Herren, das können Sie haben — aber alles andere gehört dann uns, die staatliche Macht, die Exekutive, die Schule, ja, vor allem die Jugend." Kalahne bleibt stehen. Uber die Brücke scheppert eine Tram. Der Wagenführer nickt dem Doktor unauffällig zu. Einer von den geheimen Obleuten aus dem städtischen Depot. Kalahne geht hinüber in die alte Stadt. Er vergisst die Gesichter der Fabrikanten. Etwas anderes bedrängt ihn. In vierzig Minuten wird sich der Fall Diefenbach entscheiden. Schade um den Jungen, denkt Kalahne. Er erreicht sein Haus. Zwölfmal sei angerufen worden, sagt die Wirtin und schiebt ihm den Zettel mit den Namen auf den Tisch. Kalahne überfliegt die Notizen. Tagesarbeit, nichts Erschütterndes, notwendiger Kleinkram. Er legt den Mantel ab, setzt sich an den Tisch und holt das Aktenstück aus der Lade.
Unangenehme Geschichte. Lieber zehn Marxistenversammlungen sprengen, lieber zwei Stunden lang Fabrikanten beruhigen, als diese Affäre. Hätte man sie doch im Sand verlaufen lassen und dem Jungen schlicht den Abschied gegeben. Er gehört ja sowieso nicht mehr zur Bewegung. Das Mädchen hat ihn aufgefressen. Sollte er ruhig verschwinden im Geschichtslosen. Aber nein, Dern verlangte das Haupt auf der Schüssel. Und diese Mutter, dreimal war sie bei Kalahne gewesen. Gewütet hat sie gegen ihr eigenes Blut. Eine kleinbürgerliche Medea. Zum Speien war es, aber was sollte Kalahne tun? Er konnte den Jungen nicht retten. Allzusehr war Derns Prestige gefährdet, und für die Masse war Dern die Partei. So war der Fall nach München gegangen, und jetzt lag der Bescheid da. Wie zu erwarten, schimpflicher Ausschluss. Kalahne wendet die Blätter, er spürt kein Mitleid mit Diefenbach, es ist ihm auch gleichgültig, was aus dem Jungen wird. Die Partei ist keine psychologisch-therapeutische Anstalt, und der menschliche Hintergrund der Affäre ist für die Bewegung völlig uninteressant. Dennoch hatte Kalahne die Tage immer noch gehofft, dass die Entscheidung weniger hart ausfalle. Eine merkwürdige Stimme war das in ihm, er fühlte sich manchmal, wenn er ganz ruhig nachdachte, mit diesem Pg. Diefenbach solidarisch. Natürlich, humanitäre Restbestände aus der Studentenzeit. Er trat auf diesen Gedanken herum wie auf lästigen Mücken. Aber immer wieder quälten sie ihn, und gerade jetzt, da er wieder die harte Sprache des Parteigerichtes las und dann diesen Brief, den ihm Gerhard Träger geschrieben, bedrängte ihn die Vorstellung, dass es notwendig sei, den Jungen zu opfern. Hatte er nicht aus einem anständigen Gefühl gehandelt? Nein, schreit sich Kalahne an, er hat die Partei geschädigt, also hat er unanständig gehandelt. Schluss, dummes Zeug, humanitärer Quatsch! Er greift zu dem Brief des Offiziers. Da steht es, schmerzlich und tragisch, aber es ist das richtige Denken. „Glauben Sie mir, dass ich lange daran gedacht habe, für Hans Diefenbach zu intervenieren, aber ich habe es im Interesse unseres Ziels unterlassen. Die Zusammenschweißung des Volkes zu einem Block verträgt nicht den geringsten Riss. An jeder Krümmung der preußischen Geschichte liegen die Leichen von Hunderten solcher Knaben. Aber, Kalahne, der Feldwebel ist wichtiger. Ohne den Feldwebel gibt es keinen Sieg. Es ist abscheulich, und Sie können mir glauben, dass ich erschüttert bin von diesem Gesetz." Kalahne legte den Brief fort. Ich werde ihn vernichten. Er ist eine private Spur. Wir haben kein Recht mehr auf private Spuren. Denn der heroische Mensch erwürgt sein Herz, damit sein Arm stark werde und sein Hirn eisklar und nüchtern.
Hans war durch den Wartesaal gegangen. Vor Wut und Ekel war er bis auf den Bahnsteig gelaufen, dann war er durch die Unterführung hindurch auf die linke Stadtseite gelangt. Immer noch sah er des Kellenbergers Gesicht. Das ließ ihn nicht los. In Mutter Dörings Weinstube hatte er einen Schnaps verlangt, der Kellner hatte die Bestellung entgegengenommen, aber dann war er nicht mehr gekommen. Nach zehn Minuten hatte Hans das Lokal verlassen. Er begriff. Am Hafen hatte er sich auf eine Bank gesetzt, der Wind schmiss den Regen um sein Gesicht, es war kalt, und alles war entsetzlich böse. Hans war allein, ganz allein saß er da auf der eisernen Bank, er dachte nicht an Irene, weit, weit weg waren die Äcker von Weißenfels, er sah nur auf die Fähre, wie sie dort grau durch den Dunst zog, ein Totenschiff. Und mit ihr kam die Angst. Es war eine fürchterliche Angst. Eigentlich ganz gegenstandslos. Was konnten sie ihm schon tun? Er hatte Arbeit, er wurde geliebt, und Bäuerle war gut zu ihm. Aber das half ja alles nicht. Es genügt ja nicht, zu arbeiten und zu lieben. Man bleibt ja doch nur ein einzelner Mann. Die andern aber, täglich werden es mehr, die sind nicht mehr allein mit sich, die haben alle ein riesiges Dach über sich, die singen die Lieder, und wenn sie marschieren, dann ist das wie ein großer Leib.
„Du gehörst nicht mehr dazu... du bist tot für uns... aus ist's mit dir..." Da steht er wieder vor ihm, der Kellenberger, ach, es ist ja nicht der Kellenberger, es sind sie ja alle, und wenn es morgen das Volk ist? Hans zuckt. Mit dem Absatz haut er sich wider das Schienbein. Er spürt den Schmerz wie eine Wohltat, und er möchte weinen, wenn er nur könnte. Sein Hirn lacht. Lass die doch reden, was sie wollen, lacht es, es geht dir doch gut. Ja, gut... und jetzt sieht er Irene, und er spürt, dass bei ihr die Heimat ist, und sie wäre überall, wo Irene ist. Aber dann bäumt es sich wieder auf in ihm, das andere, lange hat es in ihm geschlafen, er hatte gedacht, es sei tot, doch jetzt steht es auf. Da sind sie plötzlich, die Lieder, die Fahnen, die Schwüre und der bittersüße Traum, den er geträumt hat, mit den Kameraden, mit Gerhard, ach, ich zerbreche... Er vergisst den Schmutz, er vergisst Dern, auch den Kilian sieht er nicht mehr, nur die Fahne ist da und der Wind und das große Licht in der Ferne, auf das sie alle marschieren. Hans hat die Augen geschlossen. Er spürt den Regen nicht, der sein Gesicht beschlägt. Mitten in einer Kolonne ist er, vorne geht Jürgen, und Tausende sind um ihn, und es fragt keiner nach ihm, er gehört einfach dazu, und wenn sie sich bewegen, dann bewegt er sich mit. Das ist es, das nehmen sie ihm, aus der Front stoßen sie ihn, nebenan im Kot steht er, und er hört, wie sie lautlos an ihm vorübermarschieren, als sei er gar nicht mehr da. Er springt auf. Er läuft über die Brücke. Er rennt durch die Straßen, und als er Kalahnes Haus betritt und die muffige Stiege hinaufeilt, ist es ihm, als habe er sie alle doch noch eingeholt.

Die Wirtin hatte den Auftrag, den jungen Diefenbach in die Küche zu setzen und ihn erst auf Kalahnes Zeichen in das Zimmer zu lassen. Als sie die
Schritte hörte, war sie auf den Vorplatz geeilt, sie hatte mit der Hand nach der Küche gewiesen, aber der junge Herr war an ihr vorübergestürzt, geradezu nach der Tür, hinter der sich die Führer befanden. Wie ein Irrer, wollte sie noch rufen, aber dann war plötzlich drinnen der Aufschrei geschehen, und sie war rasch in die Küche gelaufen. Hinter der halboffenen Tür saß sie, ihre Halsmuskeln schwollen, doch plötzlich war Ruhe.
Dann klang scharf die Stimme des Doktors. Wenn nur kein Unglück geschieht, dachte die Wirtin, so ein junges Blut, wäre doch schade drum, o Gott, was für Zeiten!
Hans Diefenbach war, als er die Tür aufriss, mit einem Schrei zurückgeprallt. Vor ihm, am Tisch zwischen Kalahne und Dem, saß die Mutter. Sie hatte sich erhoben, wachsbleich war ihr Gesicht, alles andere, was sonst noch im Raum war, verflimmerte. „Ich bin da", hatte Hans geschrien, und er hatte einen Schritt nach dem Tisch zu gemacht. „Und ich bin gekommen, um die Schande deines Lebens zu sehen." Langsam war Herta Diefenbach hinter dem Tisch hervorgegangen, war das nicht Vater Allwohn, der sie stützte, jetzt stand sie vor ihm, das waren die Augen noch wie vor vielen Jahren, aber grau waren sie, eisgrau, und der Mund, in dem war kein Blut.
Was jetzt geschah, war wie ein Taumel. Die Mutter, auf Allwohn gestützt, trat zur Seite, da war plötzlich ein großer brauner Boden, und er bewegte sich, als wäre ein Meer unter ihm, und hinter dem Meer, dort, wo es fest wurde, dort stand der Doktor, und
er las etwas vor, und als er vorgelesen hatte, da lief über das Meer ein Mann, wie eine Ratte sah er aus, einen Zwicker hatte er auf der Nase, und die Zähne, die ragten ihm über die Lippen. Jetzt sprang sie ihn an, o Gott, warum schickst du die Ratte? Jetzt griff sie nach ihm... der Hals... der Hals... Ritsch... ratsch... ritsch... sie reißt mir die Haut ab... Ritsch... ratsch... nein! Ritsch... nein!... nein! ... Ihr Schufte! ... Ihr... Schuf... Donnernd flog die Tür hinter ihm zu. Das Haus bebte, und die Treppe zerrann in einem Abgrund. Er stürzte hinein. Es war ihm, als fliege er. Oben in dem Zimmer legte der Standartenführer Hungrich die Abzeichen des Scharführers Diefenbach auf den Tisch, dann knallte er die Absätze zusammen und sagte zu der reglosen Frau: „Parteigenossin, ich bewundere Ihre spartanische Haltung." Es war fünf Uhr, als Henri Jockel nach Weißenfels telefonierte. Man solle sofort den Wagen schicken. Er habe den Jungen hier im Kontor. Er antworte auf keine Frage. Selbst Kognak schlage er aus. Als Johann Kaspar den „Blauen Bären" betrat, schwieg er. Er nahm Hans an der Hand, er führte ihn hinaus in den Regen — als sie in die erste Kurve einbogen, zerriss das Gewölk, und über Weißenfels stand der Himmel offen wie eine purpurne Schale. Eine Stunde hatte Irene im Regen gestanden. Sie hatte gewartet. Die Minuten hatte sie gezählt. Und oft hatte sie zu sich gesagt: Wenn jetzt dieser Nebelstreif auf der Wiese dort nach rechts zieht, dann kommen sie. Es waren aber viele Nebelstreifen nach rechts gezogen, und immer noch stand Irene vor dem Tor, und die Unruhe in ihr, die schwankte auf und ab wie ein weißes ängstliches Licht. Es hatte ihr wenig geholfen, dass sie gearbeitet hatte, in der Bügelstube zwei Stunden lang und später mit der Degerloch in der Meierei — immer war es ihr gewesen, als bereite sich hinter dem Nebel da draußen ein garstiges Schicksal. Oh, sie hatte sich gescholten, albern hatte sie sich genannt, sie wiederholte sich die Worte von Hans, als er am Mittag lachend nach Siebenwasser ging, eine Formalität sei das bei Kalahne, natürlich, was denn auch sonst, sie glaubte es ja... wie sollte sie denn zweifeln, wenn Hans etwas sagte... nein, nein, sie war dumm, eine richtige Frauenangst hatte sie gepackt, oder kam das nur daher, weil sie allein war?
Lange hatte sie dieser Gedanke getröstet. Sie beruhigte sich, dass es nur die Entfernung des Geliebten sei, die sie unstet und zaghaft mache, ja, sie war sogar glücklich über diesen neuen Beweis ihrer Verbundenheit — aber dann war es immer merkwürdiger geworden in ihr, sie konnte nicht im Zimmer bleiben, die Luft wurde so eng, und manchmal wurde ihr schwindlig.
Sie war zum Vater gegangen, die kleine Treppe hoch nach der Bibliothek, und sie hatte sich nahe zu ihm gesetzt und ihn gefragt, was das denn sei, sie fürchte sich so. Und dann hatte sie erzählt, wie sehr sie Hans liebe, das kam einfach aus ihr heraus, ohne Bedenken, ja wie eine Befreiung war das, nichts verschwieg sie, der Vater war gut zu ihr, und als sie sagte, dass sie ein Kind in sich wachsen spüre, da hat er sie geküsst. Was hatte sie alles geredet, keine Stunde des Glücks ließ sie aus, er sollte es wissen, jetzt, da ihr so elend war. Er antwortete ihr ruhig und vorsichtig, wie es seine Art war, aber auch ohne Umschweife und mit praktischem Sinn. Als er ihr vorschlug, sie solle, wenn das Kind da sei, mit Hans zusammen von Weißenfels weggehen, in eine Stadt, wo Hans studieren könne, da hatte sie gelacht und gerufen: „Nein, nein, er will ja nichts als ein Bauer sein", und als der Vater begriff, da war sie zu ihm gegangen und hatte ihn gefragt, ob er zürne, weil Hans und sie so einfältig seien. Er hatte ihr keine Antwort gegeben, aber sie wusste, dass er sie verstand. Sie begann zu schwelgen, ja, glücklich sei sie, und sie wolle nichts weiter als lieben und arbeiten, und auch Hans wolle das, und er mache jetzt Schluss unten in Siebenwasser mit Kalahne, und wenn er zurück wäre, dann sei alles gut. Gelächelt hatte der Vater. Du bist wie Juana, hatte er gesagt, und er war mit ihr vor das Bild der Mutter gegangen, das im Esszimmer hing an der dunkel getäfelten Wand. Und um die Mutter herum, da hingen die Bäuerles, harte, scharfe Gesichter, Männer mit ernsten Augen und einem unbeugsamen Mund, und der Vater erzählte von ihnen, und er sagte, nie hätte ein Bäuerle wider sein Gewissen gehandelt, das sei ihr Vermächtnis, und Irene solle es pflegen und danach leben. Und während sie vor den Bildern standen und Irene den Arm des Vaters um ihre Schulter spürte, da kam plötzlich die Degerloch gerannt. Am Telefon sei Herr Jockel, und es drehe sich um Hans. Sie waren hinuntergelaufen, zitternd hatte sie neben dem Vater gesessen, da war es, jetzt kam es aus dem Hörer gekrochen — „Lebt er? lebt er?" hatte sie geschrien. Der Vater hatte genickt. Sie hatte es noch gehört, wie er mit dem Wagen nach Siebenwasser fuhr, dann wurde ihr schwach. Kalte Wellen zogen durch ihren Leib. Sie lief in ihr Zimmer, und dort auf dem Bett, wo sie lag, hatte sie zum ersten Mal ihr Kind gespürt, wie ein Herz, das sich zusammenzieht.

Irene denkt: Später ging ich hinunter, elend und grün sah ich aus. Ob ich Tee wolle, fragte die Degerloch, aber das war alles wie hinter einem Schleier, die Menschen, das Haus, der Hof und die Ställe. Und den Regen am Tor, den hab ich auch nicht gespürt. Ich stand nur da. Eine Stunde vielleicht. Ach, viel länger. Eine ewige Minute.
Sie sind gekommen, und ich bin zur Seite getreten. Ich habe nur Hans gesehen. Kalkweiß war er, und mit der Hand verdeckte er seinen Hals. Schweigend gingen wir über den Hof, und ich bin zweimal gestolpert, so schwer war mein Fuß. Als wir oben waren, da haben wir lange auf den Stühlen gesessen. Draußen ist es dunkel geworden, aber der Nebel, der blieb weiß.
So haben wir gewartet, bis er sprach. Und als er sprach — er flüsterte und seine Stimme war ganz trocken —, da fror uns das Blut. Ich habe nur auf ihn gesehen, aber ich weiß noch, wie der Vater plötzlich aufschrie, durch das Zimmer rannte und weiter nichts sagte als: „O Gott!" Der Hans jedoch, der saß auf seinem Stuhl und riss sich an den Fingern, als wolle er sich zerstückeln. Da habe ich es nicht mehr ausgehalten, da bin ich einfach zu ihm gelaufen, da hab ich ihn festgehalten, und gerufen hab ich, ach, ich weiß es nicht mehr was, aber ich glaube: „Du..." Lange war es, als ob er mich gar nicht bemerkte, so kalt war alles in ihm. Aber auf einmal, da war es wie ein Wunder, ich spürte, wie seine Hand über meine Haut ging, wie zum ersten Mal war das... ja, und endlich sah er mich an. Oh, so glücklich wie in diesem Schmerz war ich noch nie, und als wir dann gingen und der Vater uns die Tür öffnete und wir oben waren in meinem Zimmer, da hab ich immer nur rufen können: „Ich bin bei dir... du... Ich bin bei dir!"
Irene liegt wach. Wie eine Glocke hat sich die Dunkelheit über das Zimmer gesenkt. Irene hört den Regen nicht, auch den Wind nicht über dem Wald und die klatschenden Schläge des Nussbaums wider das Dach. Der Atem des Schlafenden, der neben ihr ruht, ist das einzige Geräusch, das sie empfängt. Unten jedoch in seinem Zimmer steht Johann Kaspar. Jetzt löscht er die Lampen. Er geht hinaus in den Hof. Es ist eine dumpfe, gestirnlose Nacht. Eine pfeifende Dunkelheit jagt über den Berg. Es ist gut so. Denn ein Mann, der um sein Volk weint, meidet das Licht.

 
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