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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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3. Kapitel

Die „Braunschweig" hatte am 18. September New York verlassen. Sie war ein Schiff von mittlerer Größe, bequem in ihrer Einrichtung und von einer Schnelligkeit, die jener der Ozeanriesen nur wenig nachgab. Dafür war das Schiff frei von der Atmosphäre der schwimmenden Grandhotels. Der laute und respektlose Ton des Nachkriegsreichtums verirrte sich selten in seine Salons. Das Schiff war gesellschaftlich nicht in Mode und wurde gerade deshalb von jenen Menschen gewählt, denen an Ruhe und gediegener Bequemlichkeit gelegen war. Johann Kaspar Bäuerle verdankte die Empfehlung seinem Hausarzt, dem Doktor Baker. Dieser pflegte es bei seiner jährlichen Überfahrt nach Europa regelmäßig zu benutzen, und in allen seinen Erzählungen spielte die „Braunschweig" eine bedeutende Rolle. Baker war irischer Abstammung. Zwar hätte der Mann mit dem mächtigen Oberkörper und den kurzen Beinen eher als Südfranzose gelten können, auch sein Temperament, das im Fluss seiner Rede gerne überschäumte, ließ eher auf eine Mittelmeerabstammung schließen, aber er betonte mit besonderem Stolz, dass seine Großeltern arm und mittellos nach den Staaten gekommen wären und dass sie nichts mitgebracht hätten als ihre Freiheit und ihren Hass. Fünfundzwanzig Jahre war Baker Hausarzt bei Bäuerle. Die Freundschaft der beiden Männer hatte sich in allen Kurven ihres Lebens bewährt. Nur während des I. Weltkriegs prallten sie hart wider einander. Baker trieb irische Propaganda und erflehte den Sieg der Deutschen. Er stand mit Roger Casement in Verbindung und sammelte Geld für den Kampf der Insurgenten. Bäuerle befand sich während dieser Jahre in einem quälenden Zwiespalt. Von seinem Vater hatte er den Hass gegen das Preußentum und den Wilhelminismus geerbt, es war das einzige, was ihm sein Vater hinterlassen hatte, aber dieser Hass vermochte nicht, seine Liebe zu Württemberg, seine Träume an die Kindheit und an die Nussbäume von Siebenwasser zu tilgen. Deutschland war für ihn ein unbefreites Land, das unter die Herrschaft eines volksfremden Geistes gekommen war. Als Baker einmal abends beim Schachspiel erklärte, die Preußen seien das geborene Herrenvolk, das Europa brauche, hatte Bäuerle schweigend das Zimmer verlassen und sich lange geweigert, seinen Freund wiederzusehen.
Als die Staaten in den Krieg eintraten, feierte Bäuerle diesen Tag als den Beginn der Vernichtung des preußischen Geistes und der Befreiung Deutschlands. In allen seinen Reden sprach er von der kommenden Republik, deren Schwerpunkt in Süddeutschland liege. Er begrüßte Wilsons Entschluss als die Geburtsstunde eines neuen Deutschland, als die gerechte Sühne für 1848 und die Toten von Rastatt. Schon sah er die Fahne der bürgerlichen Freiheit über den Städten seiner Heimat wehen und aus den Trümmern des Reichs einen Staat entstehen, der dem deutschen Volk endlich jene Geltung in der Welt verschaffe, die seinem Ingenium gebühre. Irene hatte es erlebt, wie der Vater am Waffenstillstandstag erregt durch die Zimmer ging und den Doktor Baker, der gerade zum Schachspielen kam, umarmte und rief: „Endlich bin ich wieder ein Deutscher!"
Baker, der nach Casements Tod resignierte und den Wunsch nach einem deutschen Sieg seiner Freundschaft zu Bäuerle geopfert hatte, war die Nacht über bei ihm geblieben. Bis zum Morgen sprachen die Männer, und es schien dem Doktor Baker, als habe sein Freund keinen anderen Wunsch, als heimzufahren. Doch Bäuerle fuhr nicht heim. Er blieb bei seiner Fabrik. Abend für Abend saß er über neuen Projekten. Er organisierte Komitees, die Lebensmittel und Geld nach Deutschland sandten. Er sprach in den Klubs über die welthistorische Pflicht, Deutschland zu helfen. Er versuchte Einfluss auf die Zeitungen zu gewinnen und warb in Gartenfesten, die er veranstaltete, für jede moralische und finanzielle Unterstützung des neuen Deutschland. Helft der Republik! Seid großmütig in eurem Sieg! Denn ihr habt nicht Deutschland geschlagen, sondern sein Zerrbild!
Bäuerle fand wenig Echo. Man opferte ein paar Dollars für die hungernden Kinder in Deutschland, man applaudierte auch, wenn Bäuerle sprach, aber man interessierte sich wenig für diese europäischen Geschichten, jetzt, da der Krieg zu Ende war. Man wollte endlich wieder etwas vom Leben haben. Die Franzosen würden Europa schon in Ordnung bringen, und über die Deutschen hatte man sich lange genug aufgeregt. Sie sollten einen endlich in Ruhe lassen und froh sein, dass man ihnen nicht das Land und den Staat zerschlagen hatte, wie sie es eigentlich verdienten.
Bäuerle führte einen verzweifelten Kampf gegen den Versailler Vertrag. Er gründete eine Liga und kaufte eine Zeitung, in der er davor warnte, Deutschland als Besiegten zu behandeln. Jetzt sei endlich die Stunde gekommen, das Land zu pazifizieren, indem man ihm durch die Tat beweise, dass der Kampf nur dem preußischen Militarismus gegolten habe. Die Zeitung fallierte mit fünfzigtausend Dollars Verlust für Bäuerle. Der Klub ging ein. Es war langweilig, über Europa zu reden.
Auf den Bericht des deutschen Generalkonsuls an das Auswärtige Amt über Bäuerle schrieb der Sachreferent in Berlin: „Preußenhasser — utopistischer Demokrat — besitzt Eisfabriken in Baltimore — stammt aus achtundvierziger Familie — politisch bedeutungslos — kommt höchstens für Rotes Kreuz oder Kinderhilfswerk in Frage."

Nach dem Souper war Irene schlafen gegangen. Die Vorbereitungen der Reise, der Abschied von Baltimore, die ersten Stunden in der Brise des Ozeans hatten sie müde gemacht. Der Vater brachte sie noch bis zu ihrer Kajüte, dort küsste er ihr die Stirn und sagte, er gehe noch für eine halbe Stunde in den Rauchsalon. Irene lächelte. Sie wusste, dass aus dieser halben Stunde die halbe Nacht werden würde, aber sie war beglückt über die Frische des Vaters und über die Munterkeit, mit der er den Abschied überwunden hatte. Irene mochte es nicht, wenn sich Männer küssten, aber als sich Baker und Bäuerle an der Pier umarmten und sich stotternd törichte Worte sagten, da hatte Irene sich still nach den Koffern gewandt und geschwiegen. Oh, sie wusste, was Vater aufgab, wenn er jetzt die Staaten verließ, um nach Deutschland zurückzukehren. Seit einem Jahr bastelte Bäuerle an diesem Plan, alle Freunde rieten ihm ab, aber er versteifte sich immer mehr in den Gedanken. Es war erschütternd, wie der siebenundfünfzigjährige Mann von seiner Jugend zu schwärmen begann. Er war allen Ernstes entschlossen, Baltimore zu verlassen, um, wie er sagte, nach seiner Heimat zurückzukehren. Bei dem Wort Heimat leuchteten seine Augen, und seine Sprache wurde leicht unverständlich. Seine Freunde schalten ihn einen Narren. Wie könne er den Abend seines Lebens mit dem Schicksal eines Landes verbinden, von dem er seit fünfundvierzig Jahren getrennt sei? Aber Bäuerle schlug jeden Einwand in den Wind. Er müsse nach Deutschland zurück, sagte er, jetzt endlich herrsche in seiner Heimat jener Geist, für den sein Vater gelitten habe, jetzt endlich sei die große Stunde des deutschen Volkes gekommen, und er wolle dabei sein. In aller
Stille bereitete er die Übersiedlung vor. Er verwandelte die Fabrik in eine Aktiengesellschaft und sicherte sich die Mehrheit der Anteilscheine. Er fand einen Direktor, dem er nach einer Probezeit von sechs Monaten Vertrauen schenkte, und zog sich von den aktiven Geschäften zurück. Er überprüfte sein Vermögen, und er fand, dass er trotz einiger Verluste noch sehr reich sei. Er ließ sich eine Karte von Siebenwasser kommen und suchte mit Irene gemeinsam Gelände aus, wo ihr Haus stehen sollte. Er studierte die neue Verfassung des Reichs und behauptete, es gäbe nirgends auf der Welt soviel Freiheit, und er sei stolz, ein Deutscher zu sein. Irene liebte den Vater in seiner Besessenheit. Nächte hindurch saß sie mit ihm zusammen und hörte auf seine Worte. Der nüchterne, kalte Geschäftsmann, in Baltimore berühmt wegen der Kühle seines Kopfes, erhitzte sich immer mehr, wenn er vom Neckar erzählte, von den Wäldern und den roten runden Dörfern in den Mulden, wenn er die Städte pries und die Hügel, auf denen der Wein wuchs. Er sang Irene Lieder vor, er spielte sie unbeholfen auf dem Harmonium, und wenn er von seiner Schulzeit erzählte, von der Botanisierbüchse, die er getragen hatte, und von dem Salamanderfang, dann standen Tränen in seinen Augen.
Irenes Glück war des Vaters Glück. Der Vater war der Mensch, an dem sie sich maß. Nie vergaß sie jene Nacht, da sie, vom Regen durchnässt, nach Hause gekommen war. Vater stand an der Tür, die ganze Nacht hatte der Mann an der Tür gestanden und auf das Kind gewartet. Nachmittags war sie von Florence abgeholt worden. Sie wollten eine kleine Tour in die Umgebung machen. Unterwegs waren der junge Taler und der junge Brand in den Buick eingestiegen, und sie waren losgefahren, weit hinaus, nach dem Meere zu. Ein Grammophon hatten die Jungens mitgebracht, und sie hatten gebadet und in den Dünen gelegen. Sie hatten mexikanischen Wein getrunken, und Florence hatte gesagt, einmal müsse es doch sein. Dann war Florence mit Taler zwischen den Dünen verschwunden. Es dämmerte, und sie kamen nicht zurück. Irene saß mit Brand hinter einem Ginsterbusch. Das Grammophon spielte, und vom Meer her kam die Nacht. Irene sagte: „Wo nur Florence bleibt!" Da lachte Brand und meinte, sie habe es sicher nicht so eilig, mit dem Taler, das gefalle ihr. Irene schwieg, und als es dunkel wurde, stellte Brand das Grammophon ab. „Wir sind eigentlich dumm", sagte er. Irene bat ihn, sie heimzufahren. Ihr Vater erwarte sie. Brand ging mit ihr ein Stück durch die Dünen. Ob sie noch immer ein Mädchen sei, fragte er. Irene ging rascher. Das wäre doch dumm, meinte Brand, und was sie davon habe. Irene begann zu laufen. Brands heisere Stimme blieb neben ihr.
„Ich habe schon lange ein Auge auf dich, und mit mir kannst du es ruhig tun, ich bin nicht krank wie die meisten vom Tennisklub." Irene rannte.
„Nur einmal", bettelte Brand. Sie waren am Ende der Dünen. Irene sah schon die Lichter der breiten Autostraße. Brand riss sie nieder. „Vater!" schrie Irene, „Vater!"
Unter den breiten Scheinwerfern eines näherkommenden Wagens ließ Brand von ihr ab. „Dumme Katze", sagte er.
Sie gingen zu dem Wagen. Dort stand Florence.
Neben ihr der müde lächelnde Taler.
„War's schön, Darling?" fragte Florence.
Irene stieg in den Wagen. Neben ihr saß Florence.
Irene sagte kein Wort. Florence summte einen Schlager.
Unterwegs wurden sie von einem Gewitter überrascht. Taler hielt den Wagen an. Der Regen verhinderte jede Sicht.
Nachdem sie eine Weile gewartet hatten, meinte Florence, es wäre langweilig. Sie kroch nach vorn zu Taler und Brand setzte sich neben Irene. Taler löschte das Licht.
Starr saß Irene. Krampfhaft hielt sie die Augen auf die leuchtende Uhr am Armaturenbrett gerichtet. Sie sah Florence in der Umarmung Talers. Sie spürte Brand und sie hörte ihn sagen: „Sei doch nicht blöd."
Er begann ihre Schulter zu streicheln. Sie roch seinen Atem.
„Bin ich ein Tier?" dachte Irene. Und während die Hand des Mannes in ihrem Nacken lag und vor ihr Florence Taler umschlang, griff Irene in die Tasche, sie spürte den Perlmuttergriff, sie begann zu zählen, einundzwanzig, zweiundzwanzig, dreiundzwanzig... dann schoss sie. Es war ein spitzer Knall.
Irene spürte die Hand aus ihrem Nacken sinken. Sie schob die Waffe in die Tasche zurück. Sie war
völlig ruhig. Sie stieg aus dem Wagen. In schweren Schlossen fiel der Regen. Im Schein der Blitze sah sie den verchromten Kühler. „Hallo!" hörte sie Florence schreien. Dann rannte sie los. Niemand folgte ihr.
In einer kleinen Bar, die sie nach einer halben Stunde fand, trank sie Tee. Sie trank zwei Kognaks. Sie verlangte ein Auto. Nach einer Stunde stand sie durchnässt vor dem Hause ihres Vaters. Das Licht im Garten brannte. Immer noch fiel der Regen. Aber unter dem Licht stand der Vater. Irene ging über die Kieswege. Alles in ihr war kalt. „Kind!" rief Bäuerle und lief die Stufen hinab. „Ich bin kein Tier!" antwortete Irene, dann sank sie zusammen. Der Vater trug sie ins Haus.

In der Kajüte, die Irene bewohnte, hing ein Bild. Es zeigte einen verwachsenen Wald, ineinander gewirrtes Geäst, wilde Baumwurzeln, die den Boden sprengten, und in der Mitte eine Quelle, behangen mit Moos. Unter dem Baum lag ein junger Mensch im Gewand der Scholaren. Er hob ein Horn an seinen Mund, und während um ihn das Gezweig sich in beängstigendem Geheimnis wand, lächelte sein Antlitz unter der spürbaren Kühle des Waldes. Irene kannte das Bild seit ihrer Jugend. Der gleiche Stich hing auch in Vaters Zimmer über dem kleinen Kamin. Wie oft hatte sie im Schein der Flammen nach dem bunten Stich geblickt und auf die Märchen gehört, die ihr der Vater vorlas. Die Geschichte von den sieben Geißlein konnte sie nicht satt werden zu hören, und immer, wenn sie den Vater fragte, wo all diese Geschichten sich ereigneten, wo der Froschkönig lebe und das wunderbare Pferd Fallada, da hatte der Vater nach dem Bild gedeutet und gesagt, in Deutschland, im Märchenwald. Und immer wieder hatte sich das Herz des Kindes an diesen Märchen entzündet. Fiebernd verfolgte es die Not und die Unterdrückung der einfachen Menschen, die nichts als das Gute tun wollten und daran von bösen Königen, Hexen und Zauberern gehindert wurden, und es schien seinem wachen Sinn, dass der Mensch nirgends so gut, aber auch nirgends so böse sein konnte wie in diesem Land, das Deutschland hieß. Oft, wenn der Vater die Erzählung schloss und der böse König verjagt, die böse Hexe verbrannt und der böse Zauberer in den Brunnen gestürzt war, wünschte Irene, der schöne Jüngling auf dem Bilde erhöbe sich und hole sie in den Wald. Es geschah nicht selten, dass sie der Vater vor dem Bild träumend versunken fand, und immer wieder versprach er dem Kind, es einmal nach Deutschland zu bringen, nach diesem Wald und zu dieser Quelle. Und als in jener Nacht, da Irene vor Florence und ihren Burschen geflüchtet war, er sie vor das Bild führte und ihr sagte, sie wollten nach Deutschland fahren, und er werde ein Gut kaufen mit vielen Äckern und Wald, und dort solle Irene, fern von Menschen wie Florence und den schlechten Millionärssöhnen des neuen Reichtums, leben und zur Frau werden, da war es Irene, als bewege sich der Jüngling in dem Bild und grüße sie durch ein Lächeln.
Irene legte sich zu Bett. Sie löschte das Licht und zündete die kleine Nachtlampe an. Es war ein rot gebundenes Buch, das Irene aufschlug. „Württemberg" stand in gepressten Goldbuchstaben auf dem Deckel. Irene las:
„Siebenwasser gehört zu den alten, freien Reichsstädten des Landes. Es liegt am Neckar, an Deutschlands zärtlichstem Strom. Umgeben von hohen Wäldern, in denen die lichte Buche vorherrscht, öffnet sich hier das Tal des Flusses nach Süden. Wein gedeiht, und der Sinn der Bewohner ist heiter und fleißig. Seit Beginn des Jahrhunderts erlebt die Stadt einen ständigen Aufstieg. Sie vereinigt in sich wichtige Industrien. Motorenbau, Chemie und Textil. Aber die Industrialisierung hat ihren Reizen und ihrem wahrhaft süddeutschen Charakter nicht geschadet. Der Ursprung der lebhaften Stadt reicht bis ins neunte Jahrhundert. Der Sage nach hielten hier in einem kleinen Seitental die sieben Söhne eines Ritters den Vormarsch der einbrechenden Hunnen in heldenmütigem Kampf so lange auf, bis sich die Landbevölkerung der verstreuten Dörfer in die nahegelegene, heute verschollene Veste gerettet hatte. Durch Verrat eines Schäfers fielen die Sieben nach zweitägigem Kampf. Die Hunnen jedoch, durch den Widerstand betroffen, zogen sich zurück. Als man die Leichen der Sieben fand, sollen aus ihnen viele Tage lang rote Blutbächlein geflossen sein. Und als man sie endlich bestattete, sollen aus ihren Gräbern sieben Quellen entsprungen sein. Dem Tod dieser Sieben zu Ehren erbaute man eine Stadt und nannte sie Siebenwasser." Irene schloss das Buch. Lächelnd grüßte sie das Bild an der Wand. Sie löschte das Licht. Kaum merklich zitterten die holzverschalten Wände unter der Kraft der Maschinen.

Die „Braunschweig" hatte die Zwanzigmeilenzone durchfahren, als Johann Kaspar den Rauchsalon betrat. In der linken Ecke, kurz vor der Bibliothek, fand er einen freien Tisch. Er setzte sich unter die Stehlampe und winkte dem Steward. „Ich möchte einen Wein trinken", sagte Bäuerle, „wissen Sie, einen Wein, der ganz deutsch ist. Ich war nämlich fünfundvierzig Jahre nicht drüben." Der Steward lächelte und legte die Weinkarte vor. Bäuerle setzte umständlich seine Brille auf und begann zu lesen. Seit Jahren hatte er keinen Wein mehr getrunken. Manchmal brachte Baker zum Schachspiel ein Fläschchen Mexikaner mit, aber dieses Getränk war Johann Kaspar zu schwer und zu ermüdend. Früher, als Juana noch lebte, da hatten sie oft abends auf der Terrasse weißen Bordeaux getrunken, den Juana über alles liebte. Sie aßen frische Nüsse dazu, und Juana erzählte Sagen und Märchen aus dem Volke der Indios, dem sie entstammte. Bäuerle kniff die Augen unter der Brille zusammen. Zu oft hatte er heute an Juana gedacht. Vor drei Tagen war er noch an ihrem Grab. Still hatte er auf der Bank gesessen und die japanischen Zwergbäumchen betrachtet, die zwischen den weißen Platten hervor wuchsen. Er hatte laut vor sich hingesprochen und sich nicht vor den vorübergehenden Menschen geschämt. Er hatte Juana erzählt, dass er zurückfahre nach Deutschland und
Irene mit ihm. Sie solle nicht zürnen, dass er sie verlasse, aber sie habe ja Ruhe, und er wolle sie finden, bevor er sterbe, in Siebenwasser, wo er geboren ist. Dort, in der Heimat des Vaters, werde Irene aufwachsen, in Deutschland, das endlich seine Freiheit gefunden habe, dort wollten sie leben, nach fünfundvierzig Jahren Heimweh ginge er endlich dahin zurück, wo er begonnen habe. Und Juana könne unbesorgt sein. Das Kind gedeihe, und des Vaters Auge stehe immer über seinem Leben. Als Bäuerle das Grab verließ, schrieb er mit einem Tintenstift unten in die Ecke des weißen, steinernen Kreuzes: „Leb wohl!" und am Ausgang des Friedhofs, in der Gärtnerhalle, bezahlte er die Grabpflege für fünf Jahre im voraus.

Bäuerle fand sich auf der Weinkarte nicht zurecht. Halblaut las er die Namen, um den Gedanken an Juana zu verscheuchen, doch außer dem Klang sagten sie ihm wenig.
„Schwarzer Herrgott", „Saumagen", „100 Morgen", „Schwarze Katze", „Eselspfad", „Törichte Jungfrau"... Johann Kaspar sah sich verlegen nach dem Steward um.
„Wenn ich raten darf", sagte der Steward, „nehmen Sie Ürziger Schwarzlay."
Bäuerle nickte. Der Steward brachte die Flasche. Gelb stand der Wein vor Johann Kaspar. Ruhig fuhr das Schiff. Glatt im weichen Licht des Mondes lag das Meer.
„Ich fahre heim", dachte Johann Kaspar Bäuerle.
Er schloss die Augen.
Die Kraft des Weins bewegte sein Blut.
Es war ein kalter Abend, als er damals in Princetown angekommen war. Vor dem Bahnhof trieb Regen mit Schnee vermischt. Johann Kaspar hatte den Koffer zwischen die Beine geklemmt und versuchte im dünnen Licht der Bahnhofslampen den Zettel zu lesen, den ihm der Onkel mitgegeben hatte. Miss Dorpfield stand darauf, Washingtonstreet 119. Johann Kaspar ging in den Regen und in die schlecht beleuchtete Stadt. Er musste Miss Dorpfield finden. Dort sollte er wohnen. Für einen Monat waren Zimmer und Essen bezahlt. Das war alles, was ihm der Onkel nach der Missernte geben konnte. Und die Mutter war tot. Sie hatte ihm dreißig Dollar hinterlassen. Johann Kaspar trug sie in einem Säckchen auf der Brust. Das Haus lag zwischen den Fabriken. Es war eine Baracke. Miss Dorpfield hatte daraus vier Räume gemacht, indem sie den Raum durch Holzwände geteilt hatte. Als Johann Kaspar eintrat, roch es nach Salbei und Kamillen. Miss Dorpfield saß mit einer geschwollenen Backe in der Küche. Sie hatte sich das Gesicht wie eine Witwe verhängt. Unter den schwarzen Schleiern brütete die Nässe der Umschläge.
Johann Kaspar bekam einen Verschlag zugewiesen, in dem eine Matratze lag, ein Stuhl stand und auf dem Stuhl eine Blechschüssel zum Waschen. Das Zimmer maß acht Schritte in der Länge und vier Schritte in der Breite. Es besaß ein zerbrochenes Fenster, dessen Hälfte mit Pappdeckel zugesteckt war.
Drei Arbeiter vom nahen Walzwerk wohnten noch in der Baracke. Die Witwe Dorpfield kochte, aß und schlief in der Küche. Ihre kleine, bucklige Nichte, ein rothaariges Mädchen mit entzündeten Augen, besorgte die Zimmer. Johann Kaspar überraschte sie oft, wenn sie an den Bettlaken der Männer roch.

Nach drei Tagen hatte Bäuerle Arbeit im Walzwerk. Fünf Dollars die Woche, das reichte für das Logis und das wenige Essen. Achtzehn Jahre war der Junge alt. Bei den Arbeitern war er unbeliebt. Er ging nicht in ihre Kneipen. Er rauchte und trank nicht. Nach Feierabend saß er in seinem Verschlag und las. Zweimal hatte Witwe Dorpfield versucht, ihn zum Tee in die Küche einzuladen, aber Johann Kaspar war in seinem Verschlag geblieben beim Studium der Wärmetechnik, auf deren Probleme er im Walzwerk gekommen war.
Zwei Monate nach dem Eintritt meldete sich Johann Kaspar beim Boss. Das war ein gewalttätiger Irländer, der wegen seines Antreibertums bei der Direktion besonders beliebt war. Dreimal schon während des letzten Winters war auf ihn während seines Nachhauseweges geschossen worden. Der Boss beantwortete diese kleinen Zwischenfälle mit besonderer Brutalität in der Fabrik. Er schämte sich nicht, auf die Arbeiter dreinzuschlagen, und das tat er mit einem Eisenstück. Er war ständig unter Alkohol, und wenn er zur Direktion befohlen war, spülte er sich vorher den Mund mit Kreidewasser aus. Den Johann Kaspar mochte er gern. Er nannte ihn „Kleiner", und wenn er betrunken war, sagte er immer, Johann Kaspar sei wie sein Sohn, der ihm vor drei Jahren an der Schwindsucht weggestorben war.
„Ich muss etwas Besonderes tun", hatte sich Johann Kaspar gesagt, als er in das Walzwerk eingetreten war. Obwohl er arm war, fühlte er sich gar nicht mit seinen Kollegen solidarisch. Es schauderte ihn bei dem Gedanken, jahraus jahrein in diese Fabrik zu trotten und schließlich beim Branntwein zu landen. Auch wenn er es bis zum Boss brächte, es bliebe die gleiche Öde um ihn. Ob zwanzig oder fünfzig Dollars die Woche, das Leben fing erst dort an, wo man die Dollars nicht mehr zählt. Zum ersten Mal ging Johann Kaspar an jenem Abend mit dem Boss in die Kneipe. Er trank das Bier und den Schnaps. Er legte vor den Boss die Pläne. Er sprach auf den Irländer ein. Fünfzig Prozent bot er ihm. Der Boss betrank sich und schaukelte den Kopf. „Kleiner", sagte er, „ich will dein Geld nicht, und ich verstehe von dem, was du sagst, überhaupt nichts. Aber wenn einer aus dieser Galeere hier herauskommt und viele Dollars macht, ohne ein Gauner zu werden, dann setz ich drei Whisky drauf und halte zwei Tage die ganze Bude hier frei!" „Ich komme heraus", hatte Johann Kaspar gesagt, und der Boss lachte und rief: „Dann vergiss uns arme Seelen nicht, kleiner Doktor!" Sie betranken sich fürchterlich, und am Ende hat der Boss den Johann Kaspar geküsst. Sie sind noch zu den Mädchen gegangen, die in der vierten Baracke wohnten, und dort bekam der Boss einen Weinkrampf und lag blau wie eine Strandhaubitze über dem Bett und lallte. Johann Kaspar hob den trunkenen Mann hoch und nahm ihn mit in seinen Verschlag. Mit Hilfe von Miss Dorpfields Tee gelang es, den Mann wieder ins Lot zu bringen. Er schlief die Nacht über bei Bäuerle, und am nächsten Morgen führte er Johann Kaspar zur Direktion.

Zwei Tage später war der Hilfsarbeiter Johann Kaspar Bäuerle zum Leiter einer wärmetechnischen Versuchsabteilung bestellt. Sie arbeiteten zunächst an dem großen Zuleitungsrohr zwischen dem Maschinenhaus und der Halle eins. Glückte der Versuch, so war die Fabrik bereit, dem jungen Bäuerle die Erfindung abzukaufen. Es handelte sich um ein Isolierungsverfahren von Kesseln und Rohren, das, wie Bäuerle behauptete, den üblichen Wärmeverlust auf ganz wenige Prozente herabsetzte. Vierzehn Tage arbeitete die Abteilung. Die erste Probe übertraf alle Erwartungen. Die Fabrik kaufte schleunigst das Patent. Mit fünfhundert Dollars verließ Johann Kaspar Princetown. Er ging nach dem Süden und besuchte ein Technikum.

Das war 1890, dachte Bäuerle. Er nahm sein Glas und senkte den Blick. Vor ihm stiegen die Jahre hoch, die er gelebt hatte. Allein in der harten Einsamkeit der amerikanischen Städte, in kalten Buden und widerlich stinkenden Fischküchen, in den Hörsälen und Laboratorien. Fern jeder Freundschaft und Liebe hatte er gearbeitet, und es gab nur einen Gedanken, der ihn hielt: das Geld. Um ihn tobte der Kampf um den Dollar. Täglich, stündlich sah er das Gewühl von Leidenschaften,
Schlauheit und Berechnung durch die Städte, durch die Straßen, durch die Zimmer sich wälzen, und es schien ihm, jedes menschliche Gefühl ersticke unter dem Pesthauch dieses Rausches. Wenn wir reich sind, werden wir gut — das war die einzige Entschuldigung, die die Menschen vorzubringen hatten, wenn sie auf die Reihen zerbrochener Existenzen, geschändeter Herzen, maßlos vernichteter Kreaturen, die auf der Strecke lagen, zurückschauten. Ein Jahr hatte Johann Kaspar in den Quartieren der Armen von den fünfhundert Dollars gelebt. Zwanzig Jahre war er alt, und über die Menschen besaß er keine Illusionen mehr.

Zunächst hatte Herr Thompson gelacht, als der schlecht angezogene junge Mann, der sich Ingenieur nannte, zu ihm gekommen war. Es war auch eine verrückte Idee, mit Hilfe irgendwelcher Maschinen künstliches Eis herzustellen.
Herr Thompson hatte eine Sodawasserfabrik, und es war sein stärkster Wunsch, dass die Sonne möglichst lange und möglichst prall schien. Auch wenn die Straßen verstaubt waren und die Menschen vor Hitze in die Knie sanken, freute er sich. Aber da war ein verflixtes Problem. Eben das Eis! Zwar hatte er für den Sommer tiefe Gewölbe gemietet, um die Flaschen einigermaßen kühl zu halten, aber das reichte nicht aus. Und nun kam dieser Bursche mit seiner Idee, die allen Schwierigkeiten ein Ende bereitet hätte. Herr Thompson schaute Johann Kaspar an. Der Junge sah trotz seines Anzugs gar nicht unmanierlich aus.
„Wann können Sie die Maschine liefern?" fragte Thompson und blätterte in den Plänen, von denen er nichts verstand.
„In zwei Monaten kann sie arbeiten", antwortete Bäuerle.
Man schrieb März. Das wäre also gerade zur rechten Zeit, dachte Thompson. „Wie viel Geld brauchen Sie?" „Fünfzehnhundert Dollars", sagte Johann Kaspar. Thompson überlegte. Ein schönes Stück Geld und das auf einen dahergelaufenen Burschen setzen, der das Blaue vom Himmel herunter schwindeln konnte? Oder aber gab ihm der Zufall hier eine gewaltige Chance? Herr Thompson schwankte. Fünfzehnhundert Dollars, das war gerade soviel, wie er vorgestern seinem Herrn Sohn für Weiber- und Saufschulden bezahlt hatte. Einfach so in die Luft. Das Biest, dachte Herr Thompson. Der junge Mann da vor ihm war das glatte Gegenstück. Ein wenig fanatisch und unterernährt, aber ernst und bescheiden. Und da lag die Bestätigung des Walzwerks über die geglückte Isolation. Nicht übel. „Topp!" sagte Herr Thompson, „Sie können morgen beginnen. Ich kaufe das Projekt." Zwei Monate später fuhren die Thompsonschen Eiswagen weit über Land, und die Dollars hüpften zu Tausenden in Herrn Thompsons Kasse. Nach einem halben Jahr war Bäuerle entlassen. Die Eismaschinen gingen von selbst. Der Mann ist jetzt überflüssig, dachte Herr Thompson.

Johann Kaspar winkte dem Steward. Er bestellte eine zweite Flasche. Es war zehn Uhr abends, und die Menschen, die im Rauchsalon saßen, schwiegen. Das Schiff lief in hoher Fahrt. Bäuerle betrachtete sein Leben.
Es war ein harter Weg aus den Südstaaten hinauf nach dem Norden, damals im Herbst. Knapp hundert Dollars hatte er aus dem Geschäft mit Thompson gerettet. Er trug sie auf der Brust zusammen mit den dreißig, die er von der Mutter geerbt hatte. Johann Kaspar ging zu Fuß. Manchmal schlich er sich in einen Güterzug ein und fuhr ein Stück blind. Es wurde Winter, und die Wege waren verweht. Die Farmer hockten in ihren Häusern, soffen und überwachten ihre Weiber. Johann Kaspar verdiente sich das Essen, Obdach und die Wegzehrung, indem er in den kleinen Städten und in den Dörfern schadhafte Maschinen reparierte. Er war entschlossen, nach New York zu gehen. Er war entschlossen, jedes Mittel zu benutzen, um zu Geld zu kommen. Zweimal hatte man ihn übertölpelt, zweimal hatte man ihn um den Wert seiner Arbeit gebracht — er war entschlossen, zurückzuschlagen. Es war kurz vor Weihnachten, als er auf die Farm seines Onkels kam. Der Alte lag zu Bett. Ein Negerweib pflegte ihn. Sonst war niemand mehr auf dem Hof. Das Vieh war verkauft. In vielen Zimmern fehlte das Mobiliar. „Es geht zu Ende", hatte der Onkel gesagt und sich dabei unter Ächzen im Bett hochgesetzt, „mit mir und dem Hof. Die letzte Weizenernte hat alles über den Haufen geworfen, dazu kam die Seuche im Vieh, was du noch siehst, gehört Larousse." „Wer ist Larousse?" hatte Johann Kaspar gefragt. „Ein Geldverleiher in New York. Ein Gauner."
Acht Tage blieb Johann Kaspar auf der Farm. Bevor der Onkel starb, gab er ihm das Kreuz der Ehrenlegion.
„Das ist alles, was ich noch habe. Mein Vater hat es unter Napoleon getragen. Mehr ist von den Bäuerles nicht übriggeblieben."
Johann Kaspar begrub den Onkel im Garten unter der Blutbuche. Jetzt war er allein auf der Welt.

Zwei Tage und zwei Nächte ging Bäuerle zu Fuß. Er suchte keine Arbeit in den Dörfern. Er stahl sich in Scheunen und Schuppen, um ein paar Stunden zu schlafen. Er kaufte sich Brot und Käse für einen Dollar. Davon lebte er. In der Silvesternacht des Jahres 1899 erreichte er New York. Die Stadt befand sich in einem Taumel. In den Kirchen, die Johann Kaspar besuchte, um sich zu wärmen, priesen die Pfarrer das neue Jahrhundert. Auf den Straßen krachten die Schüsse, von den Dächern stiegen die Raketen und warfen über die Stadt paradiesische Feuer. In das Geheul der Schiffssirenen vom Hudson her mischte sich das Geläut der Glocken. In den Restaurants, den Kneipen umarmten sich fremde Menschen und tanzten miteinander, es grölten die Betrunkenen, es wirbelten die Trommeln der Heilsarmee, und aus den Bekehrungslokalen drang das Reuegewinsel geretteter Gauner. Johann Kaspar hatte sich mit seinem Koffer in ein kleines Hotel durchgeschlagen. Er bestellte sich Kaffee, eine hohe Kanne für die Nacht, dann legte er auf den Tisch das kleine Reißbrett, die Tabellen, die alten Pläne, Lineal und Zirkel. Er hörte nicht das Poltern auf den Stiegen, er hörte nicht das Fluchen der Betrunkenen, nicht das Flüstern der Pärchen in den Zimmern — er arbeitete. Acht Tage und acht Nächte saß er über den Plänen. Kaffee und Brot nährten ihn. Kaum ein Wort kam über seine Lippen.
Als er das Hotel verließ, kaufte er eine Zeitung. Er las sie im Stehen. Auf der vordersten Seite prangte ein Inserat.
Thompsons Eismaschinen überwinden die Natur! Es lebe das zwanzigste Jahrhundert! Bäuerle schmiss die Zeitung weg. Er lachte. In seiner Tasche trug er den Plan einer Anlage, die jener, welche Thompson ihm abgeschwindelt hatte, an Kapazität fünffach überlegen war. Dann ging er zu Larousse.
Johann Kaspar traf Herrn Larousse beim Morgengebet. Er stand im Kreise seiner Angestellten in dem kleinen Kontor und las aus der Bibel einen Psalm. Auf den Schreibtischen lagen die Formulare für Zahlungsbefehle und Zinsberechnungen, die Briefe mit den Klageandrohungen und die rechtskräftigen Urteile.
Unbemerkt stand Bäuerle hinter Larousse. Als die Andacht beendet war, verschwand der alte Mann, ohne sich umzusehen, hinter einer Tür, auf der Privatkontor zu lesen war. Bäuerle gab einem Boten das Kreuz der Ehrenlegion. Er bäte Herrn Larousse um ein Gespräch. Die Tür sprang auf, und der alte Mann mit dem grauen Krätzchen auf dem Kopf breitete die Arme aus.
„Sohn meiner Erde!" rief er und zog Johann Kaspar emphatisch an die Brust. Im Privatbüro sagte Bäuerle,
wer er sei. Larousse biss sich auf die Lippen. „Ich konnte Ihren Onkel nicht halten — die Weizenpreise sind entsetzlich gefallen, und einmal musste ich mein Geld sehen."
Johann Kaspar sagte, er verstehe das. Dann legte er die Pläne auf den Tisch. Er erzählte von Thompson. Larousse läutete und befahl, ihn für eine Stunde nicht zu stören. Aus dieser einen Stunde wurde ein Vormittag. Gegen Abend trafen sich Larousse und Bäuerle in einem Restaurant in einer stillen Gegend. Mit Larousse kam ein Mann, der sich als Ingenieur vorstellte. Er prüfte lange die Pläne. Nach Mitternacht trennten sie sich.
Am nächsten Morgen war die Firma Larousse und Bäuerle, Eisfabriken und Herstellung wärmetechnischer Apparate, gegründet. Bäuerle reiste nach Baltimore. Er kaufte zwei leerstehende Hallen. Nach einem Monat begann der Betrieb zu arbeiten. Im Mai rollten die ersten Eiswagen durch die Stadt. Bäuerle erfand witterungssichere Waggons. Bereits im Herbst beschäftigte er vierhundert Arbeiter. Bäuerle lebte einfach wie zuvor. Er sparte jeden Cent. Nach dem Vertrag, den er mit Larousse geschlossen hatte, konnte er ihn zwei Jahre später mit der dreifachen Summe, die Larousse eingeschossen hatte, auslösen. Im Juni 1902 war Johann Kaspar Bäuerle Alleinbesitzer der Fabrik. Larousse ging nach Frankreich zurück. In der Nähe von Orleans kaufte er sich eine Ferme. Als er starb, hinterließ er der Kirche zweihundertfünfzigtausend Goldfrancs.
Bäuerle wurde reich. 1905 kaufte er die Fabriken von
Thompson auf. Er ließ den alten Namen bestehen, er begnügte sich mit den Dollars. Als sein Vermögen die Million überschritten hatte, ging er zum ersten Mal in die Ferien. Er fuhr nach Mexiko. Er war jung und voller Energien. Jede Konkurrenz brach er nieder. Er scheute kein Mittel. Im Kampf um den Dollar unterlag, wer sich Skrupel machte.
Er hatte in all diesen Jahren nicht an Deutschland gedacht. Manchmal nur, wenn er bei amtlichen Anfragen ein Formular ausfüllen musste, fiel ihm ein, dass er in Siebenwasser geboren sei. Das erheiterte ihn jedesmal. Mein Gott, diese engen Gassen und diese rückständigen Leute.

Damals, als er nach Mexiko fuhr, saß er gelangweilt im Zug. Der Arzt hatte ihm jede Beschäftigung mit geschäftlichen Dingen auf vier Wochen untersagt und ihm geraten, sich mit irgendwelchen Liebhabereien abzugeben, oder, wenn er diese nicht habe, einfach vor sich hinzuleben und alles der Laune zu überlassen. Bäuerle hatte sich zuerst gesträubt, aber die leichten Herzanfälle nachts zwangen ihn zum Nachgeben. Sie sind das in vierzehn Tagen bei Ihrer Gesundheit los, wenn Sie einmal nichts tun, hatte der Medizinmann gesagt, und Bäuerle war nach Mexiko gefahren. Das war 1908, dachte der Mann auf der „Braunschweig".
Nach einer Fahrt durch den Golf war Johann Kaspar Bäuerle gegen Abend in Vera Cruz an Land gegangen. Es war eine jener gewaltigen Sommernächte, in denen das Gewölbe des Himmels überstreut ist von Sternen, und die Bäume und Sträucher erstarren unter der Ruhe des Lichts. Johann Kaspar saß auf der Terrasse des Hotels. Er hatte nichts zu tun. Er hatte nichts zu denken. Leicht war der Wein, den er trank, und der Lärm, der von der Stadt kam, verlor sich zwischen den Palmen. Bäuerle wollte am nächsten Morgen in das Innere des Landes reisen. Einer seiner Agenten hatte ihm eine Hazienda empfohlen, die unweit der Stadt Mexiko lag und zahlende Gäste aufnahm. Johann Kaspar schwankte, ob er fahren sollte. Er wäre am liebsten nach Baltimore zurückgegangen, das hätte jedoch dem widersprochen, was er sich vorgenommen hatte. Aber er könnte ja die Route ändern. Er könnte ja zum Beispiel hier bleiben und jeden Abend auf der Terrasse sitzen. Es war doch gleichgültig, wo er seine Zeit vergeudete. Er lehnte sich zurück. Er betrachtete den Himmel. Er sah das Kreuz des Südens. Er war allein auf der Terrasse.
Es war wohl gegen neun Uhr, dachte Bäuerle, als ich damals aufstand und hinunter nach dem Hafen gehen wollte. In meinem Zimmer holte ich mir den Mantel, denn es war kühl, und als ich die Treppe hinunterging, fiel mir ein, dass ich mein Zigarrenetui auf der Terrasse vergessen hatte. Es war die einzige Erinnerung an meinen Vater. Ein einfaches Ding aus Juchten, keinen halben Dollar mehr wert. Aber ich trug es, weil es das Monogramm meines Vaters enthielt und ein Geschenk meiner Mutter zu ihrer Verlobung war. Ich war gewiss nicht sentimental. Besonders damals nicht, wo ich wusste, wie hinderlich das sein kann. Aber ich ging zurück.
Der Mann auf der „Braunschweig" lächelte. Er sah den jungen Johann Kaspar Bäuerle ärgerlich durch die Halle des Hotels in Vera Cruz gehen, er sah ihn die Stufen zur Terrasse hinauf eilen, den Tisch suchen und stocken. Der Tisch war besetzt. Er wollte schon umkehren, als er das Etui sah. An dem Tisch saß ein Mann von unverfälschtem mexikanischem Typus und neben ihm eine junge Frau. Sie hielt das Etui in der Hand. Sie hatte es aufgeschlagen. Sie las dem Mann etwas vor. Siebenwasser... Meinem Bräutigam... hörte er. Es war ein entzückendes Radebrechen. Aber Bäuerle spürte in diesem Augenblick mehr als den Reiz einer zufälligen Begegnung. Das Wort Siebenwasser hatte sich mit der Stimme des Mädchens vermählt. Wie sie das aussprach! Welch ein Klang! In dem Blitz einer Sekunde sah Johann Kaspar das Haus seines Vaters, die dunkle Werkstatt, den Dachboden mit den Spinneweben und der Uniform, er sah die Mutter in der Waschküche, die Nussbäume über dem Hof, und er sah den Fluss und die Bastion und den Wald an den Hügeln, das Karussell auf dem Marktplatz, den Kirchturm und an Pfingsten die Birken vor den offenen Türen, er sah die Wiesen, die vielen grünen Wiesen und dahinter die Weinberge. Stotternd stand er vor dem Tisch. Sein Blut sauste in den Ohren. Er verbeugte sich. Juana hielt das Etui in der Hand.
Der Mann auf der „Braunschweig" saß starr. Kein Nerv rührte sich in ihm. Fest hielt er das Bild. Er durchdrang es mit all dem Licht, das sein Auge in sich trug. Da saß Juana, verwirrt und schön wie die
Nacht des Sommers in Vera Cruz, da saß der Vater, lächelnd und höflich reserviert, und da stand er, stammelnd, ein Verrückter. Und der Vater erhob sich. Er sprach ein sorgsames Englisch. Und Juana hob das Etui. Und der Vater sagte, er solle doch Platz nehmen, ihn interessiere die Stadt mit dem Namen Siebenwasser. Und Johann Kaspar nahm Platz.
Der Mann auf der „Braunschweig" füllte sein Glas. Unverwandt sah er vor sich hin. Wie der Johann Kaspar da auf einmal erzählen konnte. Von Siebenwasser und Württemberg, von seinem Vater und den Preußen, von der Auswanderung und den Jahren auf der Farm, von dem Tod der Mutter während der Wäscheausgabe im Hotel, von dem Walzwerk und dem Boss, von der Isolation und den ersten Maschinen, und welch ein Gauner Thompson war, und wie der Larousse alles hinschmiss und nach Frankreich heimging und für die kleine Ferme bei Orleans ihm alle Chancen überließ, wie er die Fabrik aufgebaut hatte und dass er jetzt in Mexiko sei und nicht wisse, was er tun wolle — ei, das war eine Suada, so gar nicht in der Art der Bäuerles, die sich gern jedes Wort abkaufen ließen, aber Juana sah ihn an, und er musste reden, sonst wäre er zerplatzt. Dann sind wir nach der Stadt Mexiko gefahren am andern Tag, und der Vater Juanas, ein Professor für Geologie, hat mich mitgenommen auf eine Studienfahrt. Auch Juana war dabei. Vierzehn Tage haben wir uns kaum angesehen und wenig miteinander gesprochen, aber das Etui hab ich ihr geschenkt und jetzt hat es Irene.
Der Mann auf der „Braunschweig" saß still vor dem Wein. Das Schiff verlangsamte die Fahrt. „Damals erst begann mein Leben", dachte Johann Kaspar Bäuerle.

Sie hatten im Frühjahr geheiratet. Bäuerle war den Winter über in Baltimore geblieben. Die Fabrik ging gut. Er kümmerte sich nur um das Notwendigste. Ein großer Teil des Tages war mit Briefen an Juana erfüllt oder mit der Erwartung ihrer Antworten. Es war, als seien alle Schleusen geöffnet. Johann Kaspar verzehrte sich nach dem Mädchen. Er hasste Baltimore, weil Juana nicht da war. Er ging kaum aus dem Zimmer, wo ihr Bild hing, vor dem er oft Stunden verbrachte. Und Juana schrieb, und ihre Schrift war so zierlich wie ihre Wimpern. Sie liebe ihn, schrieb sie, und nichts ersehne sie mehr, als ihm zu gehören.
Die Hochzeit war in Mexiko. Als sie vor dem Altar knieten und der helle Gesang der Kinder erklang, hatte Johann Kaspar Juana noch nicht geküsst. Der reiche Mann beugte sich den Gesetzen einer Konvention mit der Demut eines Jünglings. Er empfing Juana aus den Händen des Priesters und den Händen ihrer Eltern in der taubenhaften Reinheit einer Braut. Dann schlug der Rausch über ihnen zusammen. Sechs Wochen lebten sie auf einer Hazienda im Innern. Wie öffnete sich das Land! Johann Kaspar spürte bald die Leere seines Lebens vor diesem Geschöpf Juana. Er hatte Dollars gejagt und seine Beute an den Gütern der Erde reichlich eingebracht, aber unter der Stimme Juanas wandelte sich die Welt.
Das tiefe, dunkle Auge der Frau weckte Ströme des Lebens in ihm, die er in dem flachen Optimismus seiner amerikanischen Erfolge noch nie gespürt hatte. Er sah in das Leben der Indios, Juana führte ihn in die Ruinen einer zerschmetterten Kultur, sie zeigte ihm die Spuren der brutalen Eroberer, und das Gras, das über den Tempeln wuchs, wurde bald für den Mann zum Gleichnis aller menschlichen Schuld und Ohnmacht vor der Sünde. Sie liebten sich, aber es war Schmerz in ihrer Liebe. Aus jeder Umarmung Juanas sprach die Trauer um das Vergängliche, um das Ewig-Unfertige des Menschen, wie sie es nannte. Sie weinte stets, wenn die Verzückung über sie kam. Sie zogen nach Baltimore. Johann Kaspar baute ein Haus.
Alles wurde gemeinsam. Sie gaben sich hin mit jedem Wort. Johann Kaspar begann zu denken. Er vergaß die Dollars, die von selbst einliefen. Er durchforschte mit Juana die Bibliotheken. Die ewige Welt des Geistes blühte vor ihm auf. Juana hatte durch ihren Vater eine Erziehung genossen, die in vorsichtiger Abwägung des gedanklichen und des sinnlichen Eindrucks bestand. Sie führte den Geliebten durch die Räume der Kulturen, und sie zeigte ihm das Land, das über den Dollars lag. Johann Kaspar war ein eifriger Schüler. Er wuchs an Juana. Der Mann auf der „Braunschweig" bewegte sich nicht. Erbarmungslos zogen die Bilder über ihn weg. Offenen Auges, gebannt in den empirischen Raum, sah er sein Leben. Und er sah jenen Mittag, da Juana im Garten zusammenbrach, dort, wo die japanischen Zwergbäumchen standen, die sie über alles liebte — er sah ihr weißes geschlossenes Gesicht und das Blut zwischen den Schenkeln auf die Erde sickern. Er sah den Wagen, der die Schwangere fortfuhr, er sah sich im Auto hinterdrein, er sah die Gänge der Klinik, die nickenden Hauben der Schwestern, die Nummern an den Türen und das brutale Weiß des Operationssaals. Und er sah den Arzt herbeirennen, und er sah sich auf der Bank in dem Wartezimmer, sinnlos ein Glas Wässer nach dem andern trinkend. Als sie ihn holten, schwiegen sie. Er ging allein in das Zimmer, wo Juana lag. Er küsste den geliebten Mund. Er küsste den Schweiß der letzten Stunde von der Stirn. Er tat das alles sehr mechanisch. Niemand störte ihn, als er Juanas Brust entblößte und über die Kühle der Wölbung mit den Händen fuhr. Niemand störte ihn, als er den gebrochenen Mund der Toten zu öffnen suchte und seinen Atem hineinpresste in das geliebte Fleisch.
Als sie ihn holten, kniete er stumm neben der Toten. Er hielt ihren Arm und streichelte ihn. Mit sanfter Mühe zogen sie ihn hinweg. Er habe ein Kind, sagten sie, ein Mädchen.
Da blieb er stehen und schüttelte den Kopf.
„Das Leben ist gestorben", antwortete er und ging.

Der Mann auf der „Braunschweig" hob sein Glas. Salute, Freund Baker! Ohne dich hätte ich damals nicht weitergelebt. Du hast mir das Kind nachgebracht, ins Haus bist du zu mir gekommen. In der schwersten Nacht meines Lebens bist du keinen Schritt von mir gegangen. Und dann am Morgen hast du mir das Kind gezeigt, und du hast mir gesagt, es sei die
Pflicht der Männer, das Leben gegen den Tod zu ertrotzen. Salute, Freund Baker! Mit der zärtlichen Trauer eines Menschen, dem viel gegönnt, wenig erspart war, dachte er an jene Monate und Jahre, da Irene aufwuchs und er, der Vater, wie ihm schien, erst wahrhaft zum Manne wurde. Juana hatte er geliebt, und aus dieser Liebe war Irene geworden. Fern jedem Überschwang wuchs sein Gefühl für das Kind, das immer mehr Juana ähnelte, zu einer breiten, stillen Bejahung menschlicher Dinge. Er sah über die Fackel des Todes, die ihn beinahe mitverbrannt hätte, in dem Kind das unablässige Gesetz der ewigen Veränderung, und er glaubte, dass vor ihm jeder Schmerz unziemend sei. Ernst ging er seinen Geschäften nach. Er tat das, was ihm aufgetragen war, und er tat es mit Anstand. Er las viele Bücher in diesen Jahren, und er fand, dass seine Klage gering sei vor der strengen Würde des Schicksals, mit der die Menschen seit Jahrtausenden das Unfassbare zu tragen bereit sind.
1914 kam der Krieg, und die Welt stand plötzlich unter einem anderen Licht. Der einzelne versank in diesem Sturm. An seine Stelle traten die Völker. Nie wie damals hatte sich Johann Kaspar so stark als Deutscher gefühlt. Da standen sie wieder vor ihm, der Vater und die Mutter und die Häuser von Siebenwasser. Da brach aus der Schale seines Lebens der Kern seiner Jugend. Aus dem Erbe seines väterlichen Bluts schoss der Hass gegen Preußen und die grenzenlose Liebe zu seiner Heimat. Württemberg und Siebenwasser — lag nicht die festeste Wurzel, die er je geschlagen hatte, in diesem Land?
Und in jener Nacht, als das Kind durchnässt nach Haus kam, bis ins Innere bleich, da hatte er ihm von seiner Jugend in Deutschland erzählt, und er hatte ihm gesagt, auch er wolle zurück, jetzt, da sein Volk sich gereinigt habe von dem Gift des vergangenen Jahrhunderts, jetzt, da es sich die freieste Verfassung der Welt gegeben habe, ernst und groß in ihrer Würde und Zucht. Er hatte das kleine Büchlein der Verfassung lange studiert, und es war ihm, als erfülle sich der Traum jener Männer, die gestorben und verdorben waren auf den Wegen der Verfolgung und der Emigration, es war, als seien sie wieder auferstanden, die Toten von Rastatt, die wahren Patrioten des neu geeinigten Volkes. Johann Kaspar Bäuerle saß in der „Braunschweig". Es war ein gutes Schiff. Vor ihm stand der Wein, und die Trunkenheit, die in sanfter Überredung zu ihm kam, vergoldete seine Sinne. Gleichmütig lag der Mond über dem Meer. Fröhlich und heiter war Johann Kaspar. Schon sah er die Nussbäume von Siebenwasser. Und die Weinberge. Und die Wiesen ...

 
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