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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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3. Kapitel

war Sommer geworden. Ein heißer, brennender Juli lag über dem Land. Seit Wochen war kein Regen gefallen. Die Erde riss, und der Staub der Dürre trieb über die Felder.
Irene stand im Dachzimmer des Verwalterhauses. Das Fenster war offen. Eine trockene Hitze brütete in der Stube. Unten im Garten schwangen unablässig die Wasserzerstäuber.
Jenseits der Mauer sah sie Henrici durch die Gemüsekulturen gehen. Schwärme von Frauen und Kindern schleppten aus angefahrenen Trögen das Wasser zwischen die Beete.
Irene hatte das Bett ausgelegt und begann es zu überziehen. Die Stube war gescheuert, der Schrank entlüftet, und in den Fächern lag frisches Papier.
Irene beeilte sich. In wenigen Minuten musste Frau von Berg kommen. Sie wollten zusammen zu den Heidelberger Festspielen fahren. Vorher musste sie noch das Zimmer für den jungen Eleven einrichten. Vor vierzehn Tagen hatte ihn Vater engagiert, bevor er auf seine landwirtschaftliche Studienreise nach Holland gegangen war.
Irene glättete die Kissen. Sie ordnete das Geschirr auf dem Waschtisch. Recht kahl war die Stube. Ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und ein Schrank. Ich werde ein paar Blumen hineinstellen, dachte Irene. Sie verließ das Zimmer. Im Garten schnitt sie von einer Wickenhecke einen Strauß Blüten. Der kleine Wagen der Frau von Berg rollte über den Hof. Irene erkannte die Hupe, ein heller Ton, fast wie ein Schrei.
„Annemarie", rief Irene. Sie packte den Strauß und lief zu dem Wagen.
„Natürlich noch nicht fertig", lächelte Frau von Berg, „um sechs Uhr sollen wir bei dem Intendanten zum Tee sein, und du spielst immer noch die Bauerndeern!"
Sie gingen die Freitreppe hinauf. „Herrliche Wicken hast du da", sagte Frau von Berg. „Die hab ich selbst gepflanzt", lachte Irene, „sie gefallen mir, weil sie so lustig wachsen." Sie legte den Strauß auf den Tisch in der Halle. Dann gingen sie nach oben in das Zimmer Irenes. Frau von Berg setzte sich aufs Bett. Irene entkleidete sich, zwang die Gummihaube über das Haar und lief nebenan ins Bad unter die Dusche. Durch die offene Tür sagte Frau von Berg: „Du kannst mir gratulieren, Irene, ich habe gestern mit Bringolf endgültig Schluss gemacht." „Bravo!" klang es aus dem Bad. „Er kämpfte zwar mit der unwürdigen Waffe der Tränen, aber ich war die Albernheit satt. Man soll
die Finger von schönen Männern lassen. So etwas Ödes!"
Gelangweilt nahm Frau von Berg ein Buch von dem Nachttisch.
Glanz und Elend der Kurtisanen, las sie auf dem goldgepressten Rücken.
„Wie findest du das", rief sie, „einfach groß, nicht wahr?"
Und bevor Irene antworten konnte, setzte sie hinzu: „Das waren noch Leidenschaften! Man sollte den Männern heute das Bändchen links und rechts um die Ohren hauen."
Durch den rauschenden Schleier des Wassers hörte sie Irene:
„Aber mir gefällt das gar nicht... ich meine, sich so völlig aufzugeben, das ist doch keine Liebe. Das ist doch einfach verrückt... Und dann noch sterben, nur weil so ein Junge am Geld und an anderen Frauen kaputt geht, das ist doch ungesund. Das ist ja eine Krankheit, Annemarie." Sie schüttelte sich. Hundertfach sprühten die Wasserperlen von der Bronze ihrer Haut. „Ich könnte das nie", lachte das Mädchen und warf das Frottiercape um, „puh, so einfach dahinsterben an einem Mann..."

Die beiden Frauen gingen durch die Kühle des Flurs. Unten in der Halle stand Fräulein Degerloch. Sie winkte geheimnisvoll.
„Was ist?" fragte Irene. Ein wenig pfiffig huschte das Fräulein die Treppe hinauf. „Der Eleve ist da", flüsterte es.
„Sonst nichts?" lachte Irene. Mit sicheren Schritten ging sie die Stufen hinab.
„Beeil dich", rief Frau von Berg, „ich tanke inzwischen."
Als Irene die Halle betrat, war niemand zu sehen. Auch der Jagdsaal war leer.
Sie ging nach der Garderobe zurück, wo die Degerloch sich mit dem Putzen der Messingstangen beschäftigte.
„Ich finde ihn nicht", sagte sie, „wohin haben Sie ihn denn versteckt, Ihren Eleven?" „In der Küche ist er", tuschelte das Fräulein, „seine Stiefel waren so schmutzig."
Sie stiegen klappernd die Metallstiegen nach dem Souterrain hinab. Eine mit Fettdunst gemischte Wärme schlug Irene entgegen. „Da ist also der junge Herr", sagte die Mamsell und öffnete die Tür.
In dem hellen, gekachelten Raum saß Hans. Vor seinen Füßen lag ein Rucksack aus grünem Segeltuch. Der Junge erhob sich. Er machte einige Schritte, dann stockte er.
„Fräulein Degerloch", rief Irene, „zeigen Sie dem Herrn Eleven sein Zimmer. Es ist alles gerichtet." Sie rannte die Wendeltreppe hoch. Sie kam in die Halle. „Nein, nein", schrie es in ihr, „das ist ja..." Da sah sie die Blumen.
Blau und rosa lagen die Wicken auf dem Tisch. Irene fasste den Strauß. Sie begann zu laufen. Sie rannte durch den westlichen Ausgang. Sie erreichte das Verwalterhaus.
„Hallo!" rief Frau von Berg an der Tankstelle.
Aber Irene hörte sie nicht. Sie polterte die Treppe hinauf. Sie riss den Rock bis ans Knie.
Mein Gott, dachte sie, bin ich verrückt?
Aber schon hatte sie die Tür aufgestoßen, das Glas auf dem Nachttisch gefasst und die Blumen in seine Rundung gezwängt.
Vom Hof drang die Hupe.
Irene sprang die Treppe hinunter.
Sie erreichte den Wagen. Sie warf sich aufs Polster.
„Was ist denn?" fragte Frau von Berg.
„Ach", seufzte Irene und schwieg.

Johann Kaspar war von seiner Reise in besonders glücklicher Stimmung zurückgekommen. Allein war er mit dem Wagen bis nach Amsterdam gefahren. Die drei Wochen in Holland waren ein erfreuliches Studium gewesen. Bepackt mit Plänen und neuen Kenntnissen traf er in Siebenwasser ein. „Der Ackerbau ist der Frieden", sagte er zu Schrader, „nicht vorzustellen, was wir aus unserem Land machen können, wenn wir einmal hundert Jahre Ruhe haben."
Der Oberbürgermeister hatte genickt. „Hundert Jahre Ruhe", hatte er gesagt, „welch ein Traum für die Deutschen."
Und er hatte Bäuerle sein neues Siedlungsprojekt vorgelegt. Nichts Geringeres sollte geschehen als der Abbruch jener muffigen Häuser, die sich im Schatten der alten Mauer befanden; Arbeiter und kleine Angestellte wohnten dort. Die engen Zimmer waren überfüllt. In die Höfe fiel keine Sonne. Die Keller waren vermodert. Überall wucherte der Schwamm.
Schrader wollte das ganze romantische Viertel niederreißen lassen, die Mauer schleifen und bis zur Bastion in eine Anlage verwandeln. Die Familien, die dort wohnten, sollten in eine moderne Siedlung ziehen, unten im Tal.
Es war ein alter Plan des Oberbürgermeisters, aber erst die amerikanische Anleihe brachte ihn der Verwirklichung nahe. Zunächst hatte er sich der Zustimmung des Magistrats vergewissert. Dann war er nach Frankfurt gefahren. Er beauftragte einen Architekten aus der Schule des Stadtrats May mit der Ausarbeitung der Modelle. Ende Juli wurden sie in der Halle des Rathauses ausgestellt. Unter dem Patronat von Schrader bildete sich ein Verein: Das neue Siebenwasser. Kalahne wurde Sekretär. Als die Handwerker die Modelle sahen, schüttelten sie die Köpfe. Da standen in Blocks weiße, würfelförmige Häuser, die Fronten aus durchlaufenden Fenstern, die Dächer flach. Kein Giebel, kein Erker, nicht einmal eine Wetterfahne war zu sehen. Aber sie schluckten ihre Bedenken, als sie die Höhe der Aufträge, die die Stadt zu vergeben hatte, vernahmen. Der Bau der Siedlung sollte noch in diesem Sommer beginnen, der erste Block bis zum Winter unter Dach sein.
Da erhob sich der erste Widerstand. Er kam vom Heimatverein, dessen Vorsitzender Rektor Allwohn war. In einem geharnischten Protestschreiben wurde dem Magistrat erklärt, dass die Niederlegung der ehrwürdigen Häuser an der Mauer einen Schlag in das Gesicht der heimatliebenden Bevölkerung bedeute. Eine Woche später griff in der Stadtverordnetenversammlung der Postsekretär Dern den Magistrat mit der Behauptung an, er wolle in Siebenwasser ein Denkmal der Negerkunst errichten. Kein deutscher Mann könne es mit seiner völkischen Würde vereinbaren, unter einem flachen Dach zu leben. Das sei jüdische Gleichmacherei, das sei eine marxistische Bauweise, Glaskästen für Untermenschen.
Ruhig hatte Schrader geantwortet. Die Modelle seien nach dem Plan entstanden, Licht und Sonne, Reinlichkeit und praktische Einteilung mit einem erschwinglichen Preis zu verbinden. Wenn das afrikanisch sei, dann sei er gern ein Neger, und wenn sich die völkische Würde nur unter einem Giebeldach erhalte, auch wenn der Schwamm das Haus verseuche, dann verzichte er auf diese Würde. Dern Heß nicht locker. Er rief eine Versammlung ein unter dem Titel: Das flache Dach — eine deutsche Kulturschande. Die Versammlung war überfüllt. Der Widerstand wuchs.
Die Billigung des Projekts hing von den Stadtverordneten ab. Zentrum und Sozialdemokraten hatten sich hinter Schrader gestellt, aber zur Mehrheitsbildung bedurfte es der Wirtschaftspartei, deren Vorsitzender der Bäckermeister Stählin war.

Hans war an jenem Abend früh in sein Zimmer gegangen. Henrici hatte ihm vorher noch rasch die Stallungen gezeigt, die Molkerei und das Pumpwerk, dann hatte er ihn mit dem Bescheid entlassen, er solle sich am nächsten Morgen wieder bei ihm melden. Lange hatte Hans auf dem Bett gelegen und zu schlafen versucht. Aber sobald sich sein Bewusstsein den Schatten zuzuneigen begann, riss ihn der Gedanke an Irene wieder ins Wache. Ruhig und gefestigt war er auf den Hof gekommen. Nach der Katastrophe im Odenwald hatte er viele Wochen bei Gerhard Träger gelebt. Unter der Obhut des Offiziers war langsam die schreckliche Lähmung, die ihn innerlich befallen hatte, gewichen. Die Abkehr der Mutter von ihm, der boshafte Verdacht Derns, das Attentat auf die Ehre seines Vaters hatten ihn, nach dem ersten Aufschrei, zunächst in ein untätiges Schweigen gestürzt. Aber in den späteren Wochen einer scharfen Selbstprüfung, eines rücksichtslosen Abschieds von allem, was sich mit dem Wort Kindheit verband, in den dunklen Stunden, wenn er noch wach lag und der ruhige Atem des Offiziers neben ihm die Nacht leise senkte und hob, in den Minuten jäh aufflammender Empörung über den Schimpf gegen seinen Vater, in der traurigen Verwirrung über die Anfälligkeit menschlicher Herzen zum Bösen und zum Gemeinen — in diesen Tagen wuchs in ihm mit unbeugsamer Schärfe der Gedanke, dass es sich nicht zieme, unter der Wucht eines privaten Schicksals zusammenzubrechen. Es ging um etwas Höheres in diesen Zeitläuften, in die er hineingeboren war, als um persönliches Glück, um persönliche Lebensgestaltung, um die Persönlichkeit überhaupt. Man durfte nicht, wie es Generationen vor ihm getan, die Welt aus dem Guckloch des Individuums betrachten, alle ihre Färbungen und Reizungen nur nach dem Widerschein auf der eigenen Haut bemessen, nein, man musste endlich aus diesem Käfig heraus, aus der Zwangsjacke des Individuellen, und vom Allgemeinen her das Einzelne, von der Gemeinschaft das Persönliche beurteilen. Was war aber dieses Allgemeine, diese Gemeinschaft? Es war das Volk, dem er angehörte durch Sprache und Blut. Vor ihm, vor seinem Gesetz, seiner Not, seinem Schicksal zerschmolz die private Sphäre zu einem schäbigen Rinnsal. Was bedeutete sein Leid vor dem Kalvarienberg, den dieses Volk seit tausend Jahren durchschritt? Was galt der Verlust seiner Kindheit vor den maßlosen Opfern, die dieses Volk seinem Traum vom Reich schon gebracht, diesem glückhaft-unseligen Traum, der, neu und alles überschattend, aus den Schützengräben gestiegen, gerade heute wieder die Jugend in seine berauschenden Kreise riss? Nächtelang hatte Hans mit dem Offizier über den Karten gesessen. Aus dem Gewirr der europäischen Staaten hatten sie den lebendigen Leib des deutschen Volkes herausgeschält. Neunzig Millionen Herzen schlugen in diesem Leib, gebunden und gefesselt lag er zwischen den Staaten, verblutet an den übermütigen Träumen der Staufer, zusammengestürzt in der Volkspest des Dreißigjährigen Krieges. Knapp und einfach waren die Worte des Offiziers. Er erzählte, wie schon vor dem Krieg in der Jugendbewegung die Sehnsucht nach dem heiligen Reich mächtig aufgelodert sei, wie sich diese Sehnsucht in den offenen Särgen der Gräben von Flandern gehärtet habe, und wie sie dann nach der Niederlage, nach dem Verrat, nach der Knebelung, nach der Unehre zu einer Flamme gewachsen sei, vor der jeder private Wunsch und Wille verlösche. Das Reich — das war die Gemeinschaft aller Deutschen, der große Tempel vom Südfuß der Alpen bis zum nördlichen Meer; das Reich, das war mehr als ein Staat, mehr als äußere Macht — es war die Erfüllung eines tausendjährigen Traums. Und dieser Traum von der endlichen Herrlichkeit brannte auch in den Augen des Offiziers. Er härtete die Blässe seines Gesichts. Er traf den Knaben mit der Gewalt einer überpersönlichen Botschaft. Bis zum frühen Morgen saß er über den Büchern. Er las mit dem Offizier die Predigten des Meisters Eckehart, er las Fichte, Lagarde, Möller van den Bruck und die Reden des Führers. Er erglühte in der Gewissheit, dass es seiner Generation vorbehalten sei, das kommende Reich zu bauen, den Schutt und Aberwitz der Geschichte abzutragen und Deutschland aus dem Verhängnis der inneren Fremdherrschaft zu lösen. Der Glaube des Knaben war echt. Er war die Rettung seiner Seele vor der Verfinsterung. Er war die Flucht in jenen Mythos, der Deutschland seit tausend Jahren durchzieht, eine zärtlich-jünglinghafte Melodie, der immer der Tod den Takt schlug, von der Suche nach dem Gral bis zum Tag von Langemarck.
Der Offizier nährte diesen Traum durch seine Liebe. Es waren verzauberte Tage. Gemeinsam fuhren sie in die Dörfer und organisierten die Jungstürme. Gemeinsam mit Jürgen Winkler entwarfen sie den Operationsplan für den Winter. Endlich sollte der Kampf in die Stadt getragen werden. Das flache Land war restlos erfasst. Der Offizier, nüchtern und sachlich in der Arbeit, ergab sich in den Stunden, die er mit Hans allein war, dennoch der Schwärmerei. Im verschwebenden Blau des Abends gingen sie oft hinauf nach der Fichtenschonung, von wo sich der Blick über das Land wölbte, weithin bis zum Schleier der Ebene. Ihre Worte waren von einer keuschen Gläubigkeit, wenn sie von Deutschland sprachen, von dem kommenden Reich der Ehre, der Güte und Würde, von jenen unseligen tausend Jahren, die aufgeräumt werden mussten, ausgestrichen, weggedacht. Und während die Verzückung noch ihre Augen bewegte, brach ein furchtbarer Hass in ihre Stimmen, gedachten sie ihrer Gegner. Das waren keine Gegner, das waren Reptilien. Siegfrieds Kampf gegen den Mammon — dafür stand heute der Liberalismus. Siegfrieds Kampf gegen den Drachen — dafür stand heute Frankreich. Siegfrieds Kampf gegen Alb und Troll — dafür stand der Marxismus, das Reich der Unterwelt, des Dunkels, der Verkrüppelten, der Schlechtweggekommenen, der neidischen Seelen.
Diese Abende, erfüllt von träumerischer Güte und bewusstem Hass, hatten Hans immer mehr von allen Zweifeln gelöst. Es war eine Erleuchtung, wie er glaubte, ein österlicher Strahl, der ihn durchdrang. Deutschland war alles, es gab nichts ohne es. Der Offizier jedoch, erschüttert von dem Aufbruch des Glaubens, vergaß nicht die Realität. Immer wieder zwang er Hans zu dem Gedanken, dass nur durch Kleinarbeit, nur durch eiserne, blinde Disziplin, nur durch völlige Unterwerfung unter den Willen des Führers die gewaltige Aufgabe gelänge. Dabei verhehlte er nicht, dass die Bauern mehr an die Beseitigung der Steuern dachten als an das tausendjährige Reich, dass in der Bewegung eine breite Schicht rachsüchtiger Kleinbürger sich eingefilzt hatte und dass hinter dem Kampf um Ehre und Würde sich gar oft die Hoffnung der Unternehmer auf die Zerschlagung der Tarifverträge verstecke. Man war kein Narr. Man war auch nicht mehr achtzehn Jahre alt. Man wusste, diese Generation von 1880 bis 1900 musste abgehalftert werden. Sie musste sich im Kampf erschöpfen. Ihre Instinkte reichten nicht aus für das Neue, höchstens bis zur Eroberung der Macht. Und diese galt es mit allen Mitteln zu erringen, durch Kampf jeder Art, durch Tücke, durch Verrat, durch jedes Gift, das nur greifbar war. Denn ohne die Macht blieb das Reich nur ein Traum. Ohne die Macht war es ein schaler Traum, der nicht stand hielt. Mit der Macht aber war es ein Traum, den niemand mehr hindern konnte, dass er Wirklichkeit werde. Und er sollte Wirklichkeit werden. Diese Jugend sollte ihn von den Himmeln herunterreißen auf die kampfmüde Erde. Und derweil die Alten sich ihre Wunden wuschen, sollte sie einziehen mit Gesang in das neue Reich. Frei vom paulinischen Gift, prachtvoll irdisch, ein unverwüstliches Ja auf den Lippen, heiter in ihrer Stärke, grausam gegen das Schwache, ohne den Staub einer Elendsmoral, unvergiftet durch die Wunden des Juden am Kreuz. Hellas in Deutschland! So sah er Hans. So sah er sie alle, die Scharen von Knaben. Ein Frühlingsgewitter über der verlotterten Welt.

Es war Ende Juni gewesen, als Gerhard Träger nach München gerufen wurde. Als er zurückkam, strahlte sein Gesicht. „Ganz Westfalen soll ich organisieren", rief er. Aber als er Hans' Blässe bemerkte, hielt eiserne Freude zurück. „Ich fahre nicht ab, bevor ich weiß, wo du bist", hatte er gesagt. Doch Hans war unruhig neben ihm hergegangen. „Es ist ja nicht das", hatte er geantwortet, „es ist ja nur, dass du dann nicht mehr da bist." Am Abend noch waren Jürgen Winkler, Hungrich und Dern gekommen. Hans empfand, als er Dem sah, keinen Hass und keine Trauer. Alles, was ihn persönlich berührte, war vergangen, gründlich erledigt. Für ihn war Dem ein Pg., ein Soldat für das kommende Deutschland wie er. Nur Gerhard stand über diesen Gedanken. Ihn liebte er über Deutschland hinaus. Er war Mentor seines Lebens, Hüter seines Wegs, Vater und Freund und Geliebter zugleich. Die Leitung der SA. wurde Hungrich übergeben. Der Offizier tat das ohne Freude. Er kannte den sauren Hass dieses halbgebildeten Geometers, und mochte er hundertmal „Deutschland erwache" brüllen, er meinte ja doch nur sich selbst. Aber er war einer der ersten in der Partei, und Dem stützte ihn. Dennoch verlangte der Offizier, dass Jürgen die Leitung des Siebenwassersturms erhalte und dass ihm niemand in seinen Kampf und in seine Diskussion mit den Arbeitern hineinzureden habe. Drei Tage dauerte die Übergabe. Dann war Kalahne gekommen. Lange saßen sie zusammen, der Offizier und der Doktor. Sie sprachen über Dem und Hungrich, über die Versammlungswelle für den Winter und über den Zeitpunkt, wann sich Kalahne öffentlich bekennen solle. Der Doktor setzte den Termin für den Sommer des nächsten Jahres fest. „Wir stehen vor großen Erschütterungen", sagte er, „das Eis kracht. Der ganze Konjunkturschwindel ist bedenklich im Schwanken. Dann geht es los auf die Bürger. Dann bin ich da." Und zwei Tage später war er wiedergekommen und hatte die Stelle für Hans auf dem Gut. Frau von Berg hatte sich bei dem merkwürdigen Amerikaner verwendet. Ohne Hans zu sehen, hatte er sein Einverständnis gegeben. So war auch diese Frage gelöst. Dann war der Abschied gekommen. Eine Nacht voll ängstlicher Zärtlichkeit, ein zitterndes Leib-an-Leib und die flüsternde Stimme des Offiziers: „Bub... Bub..., dass du mir nur nicht irre wirst..." Und Hans hatte diese hagere Hand genommen, und er hatte seine Backen an diese schmalen Schläfen gelegt. „Nie", hatte er geantwortet, als der Morgen kam. Und der Offizier war gegangen. Uber den Bahnsteig war er gegangen, und Hans trug das Köfferchen neben ihm her. Und er hatte hinter dem Fenster gesessen, und Hans hatte wortlos davor gestanden, und der Offizier hatte ihn schweigend betrachtet, und seine Lippen waren ganz schmal. Doch als die Bremsen sich lösten und die Wagen in leise Bewegung gerieten, da hatte er gegrüßt mit seiner schmalen Hand, ernst und gut, der Offizier zu dem Knaben, der die Tränen zerbiss.

Hans sprang auf. Das Zimmer war erfüllt von dem dünnen, schleichenden Licht des Mondes. Er trat zum Fenster. Hochreif war die Nacht. Uber den Ställen glänzte das Dach. Vom Wald her wehte der Wind. Der Junge atmete tief. Da war sie wieder, die
Unruhe, dieses nagende Geräusch unter dem Herzen, der Wurm der Angst. Was war nur geschehen? Das Mädchen... Was ging ihn das Mädchen an? Deutschland ging ihn etwas an und nicht das Mädchen. Wie sie mit dem Fuß gestockt hatte auf der letzten Stiege. Hatte sie ihn erkannt? Wie sie weggelaufen war... Aber diese Sekunde ihrer Augen... das war geblieben trotz ihrer schnellen Füße... Hans ging zu seinem Koffer. In der linken Ecke stand eine kleine Kassette. Sie hatte Vater gehört. Die Mutter hatte sie ihm mit der Wäsche geschickt. Er stellte die Zahl auf das Stichwort ein. Platon hieß es. Wie war er nur darauf gekommen? Immer lief das Wort hinter ihm her. Der Deckel schlug hoch, und Hans nahm die Briefe. Es war einfaches Papier, kleingeschnittene Aktenbogen, auf denen Gerhard ihm stets geschrieben hatte. Wie schmucklos und ohne Schnörkel die Schrift war. Achtzehn Briefe waren es. Alle bis auf einen aus seiner Hanauer Zeit. Und dieser eine war heute gekommen. Das Fräulein Degerloch hatte ihn beim Nachtessen neben seinen Teller gelegt. „Aus Münster", hatte sie gesagt, und dort habe sie eine Tante in einem Stift. Mit nacktem Oberkörper kniete Hans vor dem Koffer. Er hielt den Brief in das weiche Licht. Deutlich hoben sich die Buchstaben von dem gelben Papier. Das dünne Geäder der Worte spannte sich vor seinem Auge. Leise ging er ans Fenster. Er stellte sich auf die Bank. Spitz fiel sein Schatten über das Dach.
„Ich schreibe Dir in einer abgesparten Minute. Dies ist ein schwieriger Gau. Die Macht der Pfaffen ist von einer unheimlichen Stärke. Sie hocken in den Seelen... aber davon ein anderes Mal. Heute will ich Dir nur sagen: Mache Dir keine Gedanken um den christlichen Gott Deiner Jugend. Es ist mir unterwegs eingefallen, dass Dich das vielleicht einmal in Konflikte bringt, und ich bin nicht da. Nun, dieser Gott ist bei Verdun gefallen. Versteh das, dort wurden alle seine Gebote in Fetzen geschossen. Er hat sich ja immer nur an den einzelnen gewandt, und der ist damals gestorben. Radikal, sag ich Dir. Aber aus den Schützengräben, aus den grauenvollen Stahlgewittern, da das Ich erstarb, aus der Vernichtung alles Persönlichen ist eine neue Religion entstanden. Der heilige Glaube an die Rasse und an die Suprematie der Gemeinschaft. Ihm dienen wir. Lass die Toten ihre toten Götter begraben!" Hans hob den Kopf. Seine Hand strich vorsichtig über das Papier. Dann las er weiter: „... und noch etwas. Du sollst Dir keine Skrupel über die Männerliebe machen. In allen starken Zeiten war sie das Vorrecht der Besten. Ich kann mir denken, dass Dich das quält, was zwischen uns ist. Es gibt auch in der Partei Einfaltspinsel, die darüber moralisch aufstoßen. Sie verstehen uns nicht. Kümmere Dich nicht um sie. Denn unsere Liebe beruht nicht wie die Liebe zum Weib auf dem Instinkt zur Erhaltung der Art — was sicher notwendig ist —, sie wächst aus der freien geistigen Gemeinschaft zwischen Jüngling und Mann, aus der Auswahl, aus der Überwindung der natürlichen Polarität. Verstehe das, ich will nicht das Weib schmähen, aber so notwendig es auch ist, es bleibt zweckgebunden, und das ist das Beleidigende. Unsere Liebe ist, gerade in ihrer Zwecklosigkeit gegenüber der Natur, frei von deren dumpfen Gesetzen. Sie ziemt jenen wenigen, die sich nicht in der Zeugung, sondern in der Herrschaft vollenden."
Hier brach der Brief ab. „Muss fort...", stand darunter. Und dann wie zum Scherz quer an die Seite gekritzelt: „Dass Du mir nicht nach Mädchen riechst, wenn ich zurückkomme!"
Hans hielt das Papier. Lange saß er ohne Gedanken. Die Nachtluft kühlte seine Haut. Er hob die Beine auf den Stuhl und umfasste sie mit den Händen.

Pünktlich um fünf Uhr hatte sich Hans bei Henrici gemeldet. Es war ein Morgen von einer stahlblauen Frische. An dem Brunnen, wo die Knechte das Wasser für die Tiere holten, klirrten die Eimer. Aus den Ställen drang der Dunst des überwundenen Schlafs. Schlohweiß stieg der Rauch aus den Kaminen. Henrici saß an einem langen, hölzernen Tisch neben dem Stall. Aus breiten, buchtigen Kannen gossen die Mägde Kaffee in die Tassen. Auf einem Teller, der in der Mitte stand, lag Brot. „Nehmen Sie", sagte Henrici und tauchte das Messer in einen Napf mit weißem Fett. Hans aß. Die heiße Kaffeebrühe vertrieb die Kühle aus den Gliedern. Das Brot war schrotig und fest. „Schmeckt's?" fragte Henrici. Hans nickte. Und während schon die Pferde an die Wagen geschirrt wurden, die Knechte die Mähmaschine aus der Halle schoben, die Mägde die Blechtassen von dem Tische räumten, bohrte sich in das Gestampf der Tiere, das Gerassel der Geräte und das Lachen und Fluchen der Menschen ein heller spitzer Ton. Durch das weitgeöffnete Tor rollte ein Auto. Wenige Meter von dem Tisch hielt es an. Henrici war aufgesprungen und zu dem Wagen gegangen, aber bevor er noch zur Rede kam, war die Tür zum Herrenhaus aufgeflogen, und mit wehender Schürze und flatterndem Häubchen war Fräulein Degerloch die Freitreppe herunter gesaust. Kreischend war ihre Stimme, die Tauben vor dem Stall flogen hoch, und die Tiere wurden unruhig vor den Wagen. „Irene, Fräulein Irene", schrie sie und breitete die Arme aus, als wolle sie fliegen, „ach, Fräulein Irene..." Das Mädchen hatte den Wagen verlassen und ließ es geschehen, dass sich das Fräulein um seinen Hals warf.
Lächelnd stand Frau von Berg neben der Gruppe. „Aber was ist denn nur? Aber was haben Sie denn?" fragte sie und zupfte Fräulein Degerloch am Arm. Ein Schluchzen war die Antwort. Henrici winkte den Mägden. „Auf!" rief er, und der neugierige Schwarm bestieg die Wagen. Und während die Gespanne das Tor erreichten und die Pferde ihre Eisen in den taufeuchten Basaltschotter schlugen, während über dem Wald die Sonne den violetten Schleier des Morgens durchbrach und das Licht jetzt mit Wärme und funkelnder Fülle sich über den Hof ergoss und die Gräser und Sträucher im Garten, die zackigen Blätter der Platanen neben dem Tor und die hellweiße Front des Hauses zu leuchten begannen und vom Tal her, von den Hügeln, von den Äckern und Wiesen, von den Weinbergen und sogar aus dem Wald die ersten Takte menschlicher Arbeit erklangen — hob das Fräulein sein verweintes Gesicht und sagte, schmerzlich lächelnd das Haar des Mädchens berührend: „Ich hatte so Angst um Sie. Wo waren Sie denn die ganze Nacht?" „Im Sommernachtstraum", hatte Hans noch gehört, aber da hatte ihn der Verwalter schon angeschuppst. „Was starren Sie so? Los!" und sie waren hinter den Wagen her hinausgegangen auf das Feld, wo die Arbeit sie aufnahm.

Bis zum Mittag hatte Hans auf den Tomatenäckern gestanden. Ein Schwarm von Frauen und Taglöhnern wimmelte zwischen den Sträuchern. Sie sammelten die Früchte in breite Körbe, sie stapelten sie auf den Wagen. Zusammen mit einem Knecht fuhr sie Hans auf den Hof. Dort wurden sie gewogen und die Körbe mit Nummern versehen. Hans trug die Gewichte in ein blaues Buch, dann zottelte er mit dem kleinen Gaul wieder nach den Äckern zurück. Und wenn so der Wagen zwischen den Furchen dahin schaukelte und der Knecht blöd in die Hitze döste, da war immer dieser Gedanke in ihm: „So ein Theater dauert doch nicht bis morgens um fünf. Das ist doch unmöglich, so lange..." Er zwang sich zu einem Gespräch mit dem Knecht. Aber der fing auch gleich mit Irene an. „Die von Berg hat's hinter den Ohren", grinste er, „brauchst nur zu schütteln, und die Quetsch fällt herunter. Vorsehen soll sich das Fräulein. Ist kein Umgang für ein jung Blut."
„Was geht das mich an", lachte Hans, ganz laut lachte er, schallend und lang, bis der Knecht meinte, was es denn so Lustiges gäbe.
Wenige Minuten vor zwölf traf Hans den Verwalter im Stall. Er war in Begleitung eines Mannes, der einen weißen Kittel trug. Hans erkannte den Tierarzt Brettl, ein altes Mitglied der Partei. Hans hob die Hand zum Gruß, aber der Tierarzt bemühte sich um eine Kuh und sah nicht hin. Als sie den Stall verließen, sagte er zu Henrici: „In drei Tagen wahrscheinlich... man wird ja sehen." Er setzte sich in seinen kleinen Opel und fuhr davon, ohne Hans zu grüßen. Henrici nahm das Buch und prüfte die Eintragungen. „Ganz ordentlich", sagte er, „aber hören Sie, warum heben Sie den Arm hoch, wenn Sie einen Tierarzt sehen?" Und dann setzte er bissig hinzu: „Solche Indianermätzchen müssen Sie sich hier oben abgewöhnen. Sie haben es hier mit ernsten, ausgewachsenen Männern zu tun. Und so, jetzt gehen Sie sich waschen. Fräulein Irene erwartet uns in zehn Minuten zum Essen."
Der Tisch war in der Halle gedeckt. Als Hans eintrat, hatten Irene und der Verwalter schon Platz genommen. Hans verbeugte sich. „Also, das ist der Eleve", sagte Henrici.
Irene sah ihn an. Ruhig und gleichmäßig war ihr Auge. „Ich glaube, wir kennen uns", sagte sie und gab ihm die Hand. „Hier ist Ihr Platz."
Sie deutete auf den Stuhl ihr gegenüber. Hans setzte sich. Es wurde eine kalte Obstsuppe aufgetragen.
Henrici fragte: „Und nach dem Theater, da ging alles in den ,Europäischen Hof?"
„Ja", antwortete Irene, „es war herrlich, nach diesem berauschenden Spiel im Freien zu tanzen. Und alle die vielen Menschen, die ich noch nicht kannte. Ach, ich habe die Namen vergessen. Aber bis aus Berlin waren sie gekommen. Frau von Berg kennt so viele Leute. Von den Zeitungen und vom Theater. Zuerst kam ich mir schrecklich dumm vor bei so viel Gescheitheit. Aber nachher beim Tanzen da wurde mir leicht..."
„Das arme Fräulein Degerloch", lachte der Verwalter, „dreimal in der Nacht hat sie mich geweckt und gefragt, ob man nicht lieber bei der Polizei anrufen solle."
„Ach", antwortete Irene, „ich wollte ja um zwölf Uhr schon heim, aber da haben mich alle festgehalten und gerufen, das gäbe es nicht. Und nachher war ich auch froh, dass ich blieb. Frau von Berg hat mir nämlich einen jungen Schriftsteller vorgestellt. Er schreibt Novellen und Romane, und alle sagen, er hätte eine ganz große Zukunft. Und denken Sie, Henrici, bis zum Morgen hat er mit mir auf der Terrasse gesessen und hat mir erzählt vom Krieg hier in Europa. Schrecklich war das, was er von den Kindern sagte, wie sie aufwuchsen ohne Väter, und alle Gesetze seien durcheinander gewesen, besonders die inneren. Und der Tod, der sei durchs Volk gegangen, und man hätte an nichts anderes mehr gedacht, als am Leben zu bleiben... Ich konnte gar nicht aufhören zu fragen, so erschütternd war das, so traurig, so sinnlos. Und am Schluss, denken Sie, als ich ihn fragte, was man denn machen müsse, dass so etwas nicht wieder käme, da hat er mitten auf der schönen Terrasse geantwortet, das einzige Mittel sei der Kommunismus, und als ich erschrak und ihn fragte, wie er so etwas Schlimmes sagen könne, da meinte er, solange nicht in der ganzen Welt eine neue Ordnung sei, gäbe es keine Ruhe unter den Völkern. Dabei hat er gar nicht geschimpft, sondern sehr höflich gesprochen, als wäre das eine Wissenschaft, die er da triebe. Er kommt vielleicht her. Frau von Berg hat ihn eingeladen." Schweigend hatte Hans über seinem Teller gesessen. Er hatte sich bemüht, kein Wort zu verstehen. „Was geht mich das an", hatte er innerlich vor sich her gesagt. Aber er verstand jedes Wort nur zu genau. Und jetzt spürte er, wie Henrici ihn ansah, und er hörte ihn sagen: „Feine Bekanntschaften machen Sie, Fräulein Irene. So, so, Kommunist ist er, und er meint, das ginge nicht mehr so weiter in der Welt, und es ginge dem Ende zu, wenn es so weiter ginge. Das war ein gefährlicher Sommernachtstraum, muss ich sagen. Und heraufkommen will er. Soll sich aber vorsehen... ist verdammt mulmig hier oben." Da hatte Irene gelacht. „Aber was denken Sie denn?" „Unser junger Freund da", hatte der Verwalter geantwortet, „wird dann sofort zum Gewehrschrank stürzen und Ihren Untermenschen abschießen. Bums... Pardauz... da liegt er." Hans sah auf. Henrici grinste ihm ins Gesicht. Spöttisch sah ihn Irene an. Hans wollte aufstehen und wegrennen, allzu deutlich war des Verwalters Provokation. Aber er hielt sich zurück, um nicht feige zu scheinen. Er zwang seine Stimme zur Ruhe und sagte: „Der Herr Verwalter hat einen Scherz gemacht." „Der Herr Verwalter hat keinen Scherz gemacht", brüllte plötzlich Henrici, und alles Lachen war von seinem Gesicht, „oder wollen Sie vielleicht leugnen, dass ihr jeden Gegner als Untermenschen verschreit und ihn erledigt, wo ihr nur könnt?" „Aber was haben Sie denn?" rief Irene. „Und dass euer Vegetarianer da in München, der ein verkappter Menschenfresser ist, nur auf den Tag wartet, wo er das Hackbeil schwingen kann? He? Und wenn's Judenblut vom Messer spritzt und 's Kommunistenhirn an den Kellermauern klebt, geht's noch einmal so gut... Wie?"
Hans war aufgesprungen. Das Blut hämmerte in seinem Kopf. Er biss sich auf die Zunge. Ruhe! dachte er, Ruhe!
„Aber was ist nur? Ich verstehe das nicht..." Irene saß starr auf dem Stuhl. Vergeblich suchten ihre Augen nach einem Halt.
„Na, da bleibt Ihnen die Sprache weg, Sie Indianer!" Henrici stand vor Hans. Hochrot war sein Gesicht. „Seien Sie doch ehrlich!" schrie er und trommelte auf die Tischplatte.
Vor Hans flimmerte der Raum. Schließlich fing sich sein Bewusstsein.
„Sie zwingen mich durch Ihr rabiates Benehmen zu einer Erklärung, die mit meinem Aufenthalt hier nichts zu tun hat. Mögen Sie es denn hören." Hans hielt einen Atemzug inne, dann fuhr er fort: „Ein Mensch, der sich zum Kommunismus bekennt, steht für uns außerhalb des Gesetzes. Jawohl! Wer das Vaterland so mit Füßen tritt, wer sich damit brüstet, dass er keines habe, der richtet sich selbst. Der ist tot, bevor er stirbt."
Er hatte das mit jeder nur möglichen Ruhe gesagt. Aber da schrie der Verwalter schon wieder auf ihn ein.
„Das Vaterland... Wem gehört denn das Vaterland?" schrie er.
„Den Deutschen", antwortete Hans ruhig und ohne Zögern.
Da lachte der Verwalter los. Es war ein hartes, schallendes Lachen. „Ach Sie", lachte er, „Sie Kindskopf, Sie... Sie Meerwunder", und er trommelte mit beiden Händen auf den Tisch.
Irene war aufgestanden. Sie ging zu Hans. Leise sagte sie: „Bitte, seien Sie ruhig", und zu Henrici gewandt: „Warum sind Sie denn so hässlich zu ihm?" Der Verwalter hatte sich gesetzt. Er wischte sich mit dem Taschentuch die Stirn. „Ich weiß nicht", sagte er, „aber wenn ich einen von diesen Burschen sehe, wird mir immer rot vor den Augen." Mit einem scharfen Schluck trank er sein Weinglas leer. Wortlos stand Irene vor Hans. Im Hof läutete die Glocke zur Arbeit. Aus der Küche kam Fräulein Degerloch mit einer Kanne duftenden Kaffees. „So", sagte sie und stellte das Tablett schmunzelnd auf den Tisch, „jetzt beginnen die schönsten fünf Minuten." Dann aber, als alle schwiegen und von ihr wegsahen, stemmte sie die kurzen rötlichen Arme in die weichgepolsterten Hüften und sagte zu Hans: „Junger Mann", sagte sie, „Sie machen ja ein Gesicht, als wollten Sie die Pfalz vergiften..."

Auf seinem Zimmer begann Hans sofort die Koffer zu packen. Es war ihm klar, dass er keinen Tag länger auf dem Gut bleiben konnte. Dieser Henrici war ein übler Provokateur, und Irene ließ sich von einem Buchschreiber imponieren, der sich noch dazu brüstete, ein Kommunist zu sein. Natürlich, das ist was Besonderes. Aber für Deutschland zu kämpfen, nur an Deutschland zu denken, das ist unfein! Und die Schmach dieses Schandfriedens auslöschen, wenn es sein muss durch Blut, und dann das Reich bauen — das klingt gar nicht modern. Moskau, das ist modern. Wütend warf er die Wäsche in die Koffer. Er riss die Wicken aus dem Glas und schmiss sie in die Dachrinne. Nur fort! Einerlei wohin. Er zählte sein Geld. Achtzehn Mark. Sollte er zu Jürgen gehen? Zu Kalahne? Oder gar zur Mutter? Er setzte sich. Wenn ich nur schon fort wäre, dachte er. Unten im Hof wurde sein Name gerufen. Er ging ans Fenster. Da stand, breit in der Sonne, Henrici. „Machen Sie keine Faxen", rief er, „kommen Sie 'runter!" Hans schmiss das Fenster zu. „Also komm ich 'rauf", hörte er den Verwalter. Und schon tapsten seine Schritte die enge Stiege hoch. Hans warf die Koffer zu. Er stellte sich mit dem Rücken zur Tür. Henrici stand im Zimmer. „So... also man packt schon... läuft weg wie eine Jungfer, der der Herr einmal unter den Rock gegriffen hat. Allerhand Mut nenn ich das." Er ging zu Hans und packte ihn an der Schulter. „He, Sie junger, deutscher Mann, machen Sie keine Dummheiten. Sie können natürlich sofort gehen... lasse Ihnen noch die Koffer abfahren, aber machen Sie keine Dummheiten... verstanden?" Er hieb sich mit einer Gerte auf die Gamaschen. Dann schritt er im Zimmer auf und ab. „Aber, Mensch, ich weiß doch Bescheid über Sie. Meinen wohl, ich lasse mir da einen Eleven vorbinden wie ein weißes Tuch? He? Aber das ist alles nicht so tragisch... verstanden? Habe die Nacht über kaum geschlafen wegen dieser blöden, gestopften Gans, der Degerloch, alle Stunde kam sie heulend zu mir und jammerte nach dem Fräulein... und da hab ich mir halt mal den Kirsch hergenommen, nach einer halben Flasche hört man so ein Weib nicht mehr... also, das ist doch menschlich, nicht wahr? Sie Indianer!" Er blieb vor Hans stehen, der ihm den Rücken zeigte.
„Ich kann halt nix dafür, wenn ich mich immer aufrege, hebt einer so das Händchen. Gewöhnlich schluck ich's herunter, aber heute ist mir einmal der Papierkragen geplatzt. Also, damit Sie es wissen, ich gehe leicht hoch, wenn ich etwas aus dieser Windrichtung merke, von dem vegetarischen Heiland in München... sachte, sachte, Junge, nicht gleich schlagen! Ich will ja Frieden machen mit dir... glaub, was du willst, meinetwegen an all die braunen Indianer. Aber lass das Händchen schön unten, auch wenn du einen Tierarzt siehst. Ich lauf ja auch nicht über den Hof und brüll Heil Moskau! vor jedem Ochsenschwanz, obwohl mir das vernünftiger klingt, weil ich mir dabei wenigstens etwas denken kann. Aber das geht Sie nichts an, wenn mir der Fünfjahresplan besser gefällt als euer Indianertum. Bin halt in der Welt gewesen und kenn das Elend. Heil Indien, Heil Kanada — das hilft gar nichts, mein Lieber. Deswegen hüpft kein Fisch freiwillig aus dem Wasser. Mit so einem Vaterlandsrummel lässt sich
gar nichts ändern, das bläst eine Weile durch die Straßen, tschinderada bumm, dann ist's aus, und die Menschen glotzen sich an."
Mit einem scharfen Griff zwang er Hans auf den Stuhl.
„So, jetzt sehen Sie mich einmal an. Jetzt lassen Sie einmal einen Untermenschen etwas sagen. Also, Vater tot — Mutter futsch — Freund weg. Stimmt's? Gut, aber was nun? Auf und davon? Ins Vaterland? Ist schon mancher krepiert daran! Leben muss der Knabe. Hübsch ist er auch. Also muss er doppelt leben. Will er das? Oder ist ihm das zu materialistisch, zu untermenschlich? He? Wenn er das will, bleibt er hier... lässt das Händchen fein säuberlich in der Tasche... tut seine Arbeit... und der böse Henrici lässt ihm dafür seinen Vegetarianer in Ruh. Gemacht?"
Hans sah hoch. Der Verwalter lächelte ihn an. Er wippte sich in den Knien und sang:

„Vater, Mutter, Elternhaus,
Dreimal guckt der Tod heraus,
Eia, du armselig Kind..."


„Das ist ein Schwarzwälder Lied, Junge. Hab's oft gesungen, im Konzentrationslager auf der Insel Man und nachher im teuren Vaterland, ha, Vaterland, wo sie mir das letzte Stücklein noch abnahmen in der heiligen Inflation, das gute Vaterland, die teure Heimaterde, eia, du armselig Kind..." Er spuckte aus. Er lachte nicht mehr. „Hab's oft gesungen, so über Land, drunten im Rheingau, wo der heilige Schwerenot sich Häuschen baute, der Herr Generaldirektor, weißt du, der den Ruhrkrieg gewann. Hab's oft gesungen, im Regen, auf dem Rad:

Nasse Strümpf der Bettelmann,
Sieh dir aber den Krupp mal an,
Eia, du glücklich Kind...


Und so kam es denn, husch, husch, in meine Seele, das böse Gift.

Dort ist des Mannes Vaterland,
Wo er wirken kann mit freier Hand.
Dort ist des Mannes Qual,
Wo ihn betrügt das Kapital..."


„Sind Sie betrunken?" fragte Hans. „Wahrscheinlich", lachte Henrici, „das kommt bei mir alle drei Monate einmal vor, und diesmal hatten Sie das Pech!" Er knickte in die Knie und hatte ein gutes Gesicht. „Also bleib da", sagte er zu dem Knaben, „das Fräulein Irene will's auch, und ich soll's Ihnen sagen."
Hans zuckte die Schulter. „Na ja", sagte Henrici, „wer wird denn so sein." Dann strich er Hans über die Haare, ging zur Tür und säuselte vor sich hin:

„Vater, Mutter, Elternhaus,
Dreimal guckt der Tod heraus.
Hitler, Krupp ist einerlei,
Und die Kirch' ist auch dabei.
Eia, du armselig Kind..."


Hans stand starr im Zimmer. Der Verwalter war offensichtlich betrunken. Ein armer Teufel, gewiss, dem das Schicksal alles aus der Hand geschlagen hatte. Aber was war das für eine Generation! Wütete gegen das Vaterland, weil ihre Bankkonten in der Notzeit eingeschmolzen waren. Aber war es nicht herrlich, das Vaterland zu lieben, gerade weil man nichts mehr hatte? Weil das Vaterland der einzige Besitz noch war? Ja, aus der Armut kommt das Reich, aus dem Nichtshaben kommt der Glauben. Hunger macht stark, wenn er weiß, was er will. Erst müssen unsere Herzen satt sein, dachte Hans, was liegt an dem Magen? Ein Ruf schreckte ihn auf. „Herr Diefenbach", rief es von unten. Er beugte sich aus dem Fenster. „Sie Gallenschnut", lachte Fräulein Degerloch, „dalli, dalli, unser Fräulein wartet auf Sie." „Wo?" rief Hans.
„Im Garte, hinnerm Gewächshaus, wo's Brunnekresse hat... Sie chaiber Kerle, würde mein Schwager sage, der wo in Zürich e Delikateßgeschäft hat." Sie wandte sich um. Hans lief über den Hof und verschwand im Garten.
„Damit ihr es wisset", sagte Fräulein Degerloch zu den pickenden Hühnern, „der hat sei Sach noch wie vor dem Krieg. Der is en Vernünftiger, mei Schwager, neutral is er, ihr Hinkel, ihr blödsinnigen Sakramenter."

Unter dem hellen Dach der Bäume war Hans nach dem Gewächshaus gelaufen. Es lag weit hinten im
Garten, von allen Seiten dem Licht preisgegeben. In der Glasfront fing sich die Sonne zu einem grellen Signal. Weiß und blendend schnitt der eingefangene und verstärkte Strahl durch die Hecken und das reglose Laub.
Hans blieb vor der Tür des Gewächshauses stehen. Ein paar Stufen aus festgetretenem Lehm führten nach unten. Ein trockener Geruch aus Erde, Blütenstaub und verdunstetem Wasser schlug ihm entgegen. Hans bewegte sich nicht. Wenige Meter vor ihm, an einem kleinen eisernen Tisch, stand Irene. Sie hatte die Arme gehoben, um von einem Regal ein grünes, merkwürdig geformtes Gewächs herunterzunehmen. Es stak in einem Topf, eine bizarre, fleischige Wucherung mit spitzen, aufragenden Dornen. Hans hatte sich nie um Blumen gekümmert. Das war ein Weiberspaß, eine kleine, freundliche Närrischkeit unernster Stunden. Jetzt aber, hier im eingefangenen Licht der Sonne, sah er das Mädchen sich vorsichtig über das traumartige Gewächs beugen und durch die gewölbten Hände eine scharlachrote Blüte mit dem Atem berühren. Er stand vor diesem Bild, schweigend, ohne Bewegung. Fünf Schritte trennten ihn nur von Irene, aber dieser Abstand dünkte ihm von einer gefährlichen Tiefe. Er vergaß Henrici. Er vergaß seinen trotzigen Entschluss, das Gut zu verlassen. Das Herz schlug ihm bis zum Hals. Er sah nur diese Blüte und das Mädchen vor ihr. Er sah nur diese braunglänzenden Arme, den weichen Ansatz des Nackens, die dunkle Wucht des Haares über der mattweißen Stirn. Er wusste, dass sie ihn spürte. Sie drehte sich um. Jetzt blickte sie ihn an. Hinter ihr sprühte das Licht in den Fenstern. Ihre linke Hand hielt die Blüte umfasst, als wollte sie sie schützen. Groß und dunkel waren ihre Augen, suchend und mit der Furcht der Schönheit begnadet. Jetzt musste er sprechen. Aber seine Zunge war trocken und hart, und sein Atem riss sich am Gaumen. Jetzt, das fühlte er, war wieder das Staunen zwischen ihnen wie damals auf der Straße nach Erlenbach. Er senkte den Kopf. Er wollte sie nicht sehen. Wie oft hatte er dieses Gesicht weggezwungen aus seinen Gedanken, wie oft hatte ihn der Traum übermannt, die Lust nach diesen Lippen, nach diesen Haaren, nach dieser Hand, die jetzt schützend die Blüte umspannte. Und wie er auf den Boden starrte, da sah er sie doch. Und wie er durch das Fenster hindurch auf die sich nach Süden hin stufenden Reben sah, da stand sie mitten im Wingert. Er riss den Kopf zurück. Er sah sie an. Er wusste, jetzt war er verloren. Irene hatte die Hand von der Blüte gezogen. Sie hielt sich am Tisch, auf dem braun und feucht die Erde schimmerte. Ihr Kopf neigte sich, als sie sprach. Ganz weit klangen die Worte. Als kämen sie von jenseits der Mauer, aus einem Traum, weit hinter dem Licht.
„Ich wollte Sie um Entschuldigung bitten. Ich wusste nicht, dass Sie das verletzen könnte, was ich heute Mittag erzählte. Ich wollte Ihnen nicht weh tun. Nein, wirklich nicht."
Vor Hans schwankte der Raum. Nur die Blüte sah er dort. Rot und flammend wie ein Herz.
„Es ist ja so schrecklich, wenn die Menschen sich quälen. Oft wissen sie es gar nicht. Ich wusste es auch nicht. Was soll ich tun, damit Sie mir glauben? Ach..."
Und da war sie vor ihm, einen halben Schritt nur von seinem Leib, und er spürte ihren Atem, und er roch diese Haut, und aus der Blüte schlug plötzlich ein loderndes Feuer.
„Ach", rief das Mädchen, „Sie sollen dableiben! Bitte, bleiben Sie da..."
Er sah nicht, wie sie sich umwandte und ihre Augen mit dem Arm bedeckte. Er spürte nur, dass sie an ihm vorüberging, hinaus in den Garten, wo ihr Schritt immer leiser wurde auf dem gelben, unruhigen Sand zwischen den Beeten.

 
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