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Ernst Glaeser - Der letzte Zivilist (1935)
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6. Kapitel

In Siebenwasser, Topfengasse 11, ist die Wirtschaft „Zur neuen Welt". An die kleine Bierstube schließt sich ein mittelgroßer Saal mit einer Bühne. Vor dem Krieg gab es kaum einen Abend, an dem der Saal nicht vermietet war. Die sozialdemokratischen Organisationen, Freie Turner, Freie Sänger, Freie Radfahrer, der Verein für Feuerbestattung, die Mitglieder des Konsumvereins versammelten sich hier, und Herr Petermann, der Wirt, konnte zufrieden sein. Er selbst war seit seiner Lehrzeit begeisterter Sozialdemokrat, was ihn jedoch nicht hinderte, sein steigendes Bankkonto an jedem Monatsende mit Schmunzeln zu verfolgen. Er ließ seinen Sohn studieren, und als der Krieg mit dem Zusammenbruch der Monarchie endete und die Genossen einen Teil der Macht übernahmen, hatten Petermanns plötzlich einen Landrat in der Familie. Dieses Glück jedoch wurde durch einen Schlag, der tief in die Kasse Petermanns ging, sehr bald aufgehoben. Die Gewerkschaften bauten kurz nach der Inflation das Volkshaus, und die Organisationen verlegten ihre Abende in die neuen Räume. Der alte Petermann rannte zwar vom Gewerkschaftssekretär zum Parteisekretär, aber er erreichte nicht mehr als ein paar Theateraufführungen der Radfahrer und Feuerbestatter im Winter. Langsam sank das Lokal wieder zur Kneipe hinab. Über der Theke hing noch das Bild des alten Bebel mit der eigenhändigen Unterschrift, und im Saal stand hinter der Bühne eine Jungfrauenfigur aus Gips, einen Palmzweig in der Hand und das Wort „Freiheit" am Sockel. Einmal, als Frau Petermann dort putzte, war das Posamentierprodukt umgestürzt. Frau Petermann kehrte die staubigen Stücke zusammen, und während sie die Reste der Göttin in die Mülltonne schüttete, sagte sie: „Na, den Wilhelm hast du ja auch nicht lange überlebt."
Vor einem Jahr war Jürgen Winkler zum ersten Mal in die „Neue Welt" gekommen. Sie lag wenige Schritte von Marias Haus, und Maria trank sonntags hier gern ein Glas Bier. Zuerst hatte Petermann über diesen uniformierten Burschen gelacht, der es mit so einer Person hielt, aber eines Abends sagte er doch zu seiner Frau: „Emmi, ich glaube, es kommt wieder Leben in die Bude." Tatsächlich füllte sich jeden Samstagabend das Lokal. Zuerst waren es fünf, dann wurden es zwölf, und jetzt waren es gar manchmal zwanzig Arbeiter, mit denen der Braune sich da immer herumstritt. Sie tranken zwar nicht viel, auf zwei Mann kam gewöhnlich ein Glas Bier, sie waren erwerbslos, die Mehrzahl von ihnen gehörte zur Kommunistischen Partei. Das schnitt dem alten Petermann zwar ins Herz, dass diese Moskowiter in seinem Lokal sich breit machten, aber zehn Glas Bier und zwanzig Zigaretten am Abend mehr verkauft, das bedeutete schon etwas in dieser Zeit. Den Braunen verstand Petermann schon gar nicht. Nur wenn er auf die Bonzen schimpfte, tat es dem alten Budiker heimlich gut. Ach, wenn man die Reden hörte und die Gesichter sah von den Sekretären und Abgeordneten, da war nichts mehr vom alten Kampfesmut darin, und statt wie früher Feuer in die Herzen zu gießen, zogen sie heute Statistiken aus den Taschen und lasen sie vor. Oft sah Petermann nach dem Bebelbild. „Was die aus deiner Sach gemacht haben, August... Büros... lauter Büros", seufzte er, und er dachte voll Trauer an den Stolz und den Trotz der Maifeiern in den neunziger Jahren.

Es ist Abend. Maria steht vor dem Wandspiegel und kämmt sich. Eigentlich ist es gar nicht nötig. Sie tut es aus Langeweile. Jürgen ist fort. Und wenn Jürgen fort ist, langweilt sich Maria.
Draußen im Hof verstummen langsam die Spiele der Kinder. Durch das offene Fenster zieht in weichen Wellen der Abendwind. Er bringt Holunderduft mit und den späten Schmelz der Rosen aus den städtischen Anlagen. Maria atmet tief die Luft ein. Wie sich das alles gewandelt hat, denkt sie, früher hab ich das nie gerochen. Früher? Das war das Leben vor jenem Abend, da sie Jürgen getroffen hatte. Das war das Leben im Grau, im Einerlei. Heute? Maria nimmt ein kleines Parfümfläschchen und betupft sich ihr Haar. So weich ist alles in ihr, in dieser warmen Augustnacht. Sie glättet das Bett. Heute wird sie Jürgen gehören. Heute lässt sie keinen andern herein.
Maria sitzt auf dem Bett. Gefaltet liegen ihre Hände über dem Schoß. Das war ein langer Weg zu diesem Glück. Zwar ihr Beruf war noch der alte. Und die Leute regten sich auf. Sie halte ihn aus. Natürlich hält sie ihn aus. Wir müssen doch leben. Und er muss kämpfen und siegen. Das ist doch logisch, wie? Aber das verstehen die Bürger nicht. Die meinen immer, dass das Richtige aus ihren Gehirnen komme. Oh, es kommt ganz woanders her, das Neue, aus dem Dunkeln kommt es, Maria spürt es, es ist ein geheimnisvolles Warten in der Luft, unter dem Boden und in den Worten der Menschen. Sie weiß nicht, was es ist. Sie liebt. Viele Männer sind ihr begegnet, und keinen hat sie geliebt. Das ist das Wunder, das Maria erlebt. Hunderte können uns berühren, und wir erheben uns, als wäre nichts gewesen. Und dann kommt dieser eine, und du vergehst in seinem Arm.
Kaum noch, dass Maria an die kleine Resi denkt und überhaupt nicht mehr an ihren Bräutigam. Dem Kind schickt sie süße Paketchen, und dem Jakob hat sie abgeschrieben. Nicht grob, nein, Maria konnte nicht mehr grob sein, sie hat ihm nur gesagt, er solle sich eine andere Braut suchen. So lange könne er gar nicht warten, bis sie heiraten würden. Er hatte nicht geantwortet. Das war gut so.
Maria hört einen Schritt. Hinten im Hof. Wird die alte Brumshagen sein. Die spioniert immer herum. Was ist das? Es klopft? Tatsächlich, zweimal hat es geklopft. Vielleicht ein Gymnasiast. Maria macht
Licht. Sie geht durch den Gang.
„Wer ist da?" fragt Maria.
„Ich bin's. Mach auf, bitte, mach auf."
„Wer ist das, ich?" fragt Maria.
„Der Jakob aus Eßlingen, der ist es."
Maria spürt einen Schwindel. Sie steht im Gang, und die Wände schieben sich auf sie zu.
„Ich bin nämlich arbeitslos. Ich hab nichts zu fressen."
Wie dünn seine Stimme ist, wie abgemagert. Blitzschnell rasen die Gedanken durch Maria. Was soll sie tun? Wenn Jürgen ihn findet, soll sie sagen, das ist mein Bräutigam oder ein Kunde? Oder überhaupt nicht aufmachen? Er schweigt da draußen. Er steht in der Nacht. Er hat Hunger. In der Küche ist Brot und Speck.
Sie öffnet. Gewaltsam presst sie ihre Stimme. „Grüß dich Gott, Jakob." Er tritt ein. Sie sitzen in der Küche. Jakob hat drei Tassen Kaffee getrunken und vier Schmalzbrote gegessen. Jetzt kann er erzählen. „Ja", sagt Maria nach jedem Satz, „ja... ja..."
Wie abgerissen er aussieht. Was war das für ein schicker Sportsmann vor einem Jahr. Vom Fuß bis zur Mütze aus Leder.
„... und als du mir damals schriebst, dass es mit der Heirat und mit der Wirtschaft in Wimpfen nichts wäre und dass wir uns nicht wiedersehen wollten, es ginge nicht, es ginge wirklich nicht, da hab ich mir gar nichts daraus gemacht, Maria. Ich hatte nämlich eine feine Stellung. So etwas Wunderbares hatte
ich noch nie gehabt. Eine Staubsaugervertretung, Bezirk Franken."
Jetzt lacht er wie ein Junge.
„Und denk dir, ein Auto hab ich gehabt. Mit dem gondelte ich im Land herum. Jeden Tag woanders. Und dabei feste Provision, Vertrauensspesen. Und es waren nur bessere Leute, die ich besuchte." Er leckte sich den Schmalzrest von der Oberlippe und schielte nach dem Eierschränkchen. Maria gab ihm ein Ei. Er schlürfte es aus. Und dann noch ein zweites.
„Mit den Staubsaugern ist das nämlich so. Das kann nicht jeder. Da muss man Fachkenntnisse haben. Und vor allem gute Manieren. Ein Glück, sag ich dir, dass ich auf der Oberrealschule war, schon wegen der vielen Fremdwörter."
Er sieht Maria überlegen an, denn Maria war nicht auf der Oberrealschule. Und sie hat auch immer konzentrierte Milch gesagt statt kondensierte. „Das war ein Leben, Maria. Einmal da, einmal dort, und Geld wie Heu." Er wölbt die Hände.
„Und wo ist jetzt das Geld, ich meine, was hast du damit gemacht?" sagt Maria.
Erstaunt guckt sie der Jakob an. „Ausgegeben...
Was sonst?" Er schüttelt den Kopf. Gedanken haben die Weiber...
„Und dann?" fragt Maria.
„Und dann war es plötzlich aus."
Lange schweigen sie. Wenn er nur ginge, denkt
Maria. Jürgen darf ihn nicht sehen. Nein, das darf
Jürgen nicht. Jetzt greift er auch noch nach ihrer
Hand. Jetzt streichelt er sie. Jetzt kommt er ganz nahe an sie heran.
„Wir waren uns doch gut... nicht wahr... wir hatten's doch miteinander... nicht wahr... wir wollten doch zusammen einen Gasthof pachten, nicht wahr... Und wie mir so elend wurde, da spürte ich auf einmal wieder das Gefühl zu dir, Maria, und da hab ich mir gedacht, du gehst einmal zu deiner alten Braut, die hat doch etwas gespart, und wenn's auch nicht für den Gasthof langt — für einen kleinen Zigarrenladen wird's immer noch langen." Sie sieht ihn an. Da hockt er, der Jakob, er reißt sich an den Fingern, er zieht die Schultern zusammen, er zwinkert mit den Augen, und er grinst und flüstert: „Du weißt doch, ich drück alle Augen zu. Solange die Herren zahlen, soll's mir recht sein... ich verkauf Zigarren und du..." „Hör auf!" schreit Maria. Sie steht vor ihm. Sie hat ihn an der Schulter gepackt. Sie schüttelt ihn. „Du sollst den Mund halten!" brüllt sie ihn an. Der Staubsaugerjakob bekommt große Augen. Was hat denn das Weib? Ist sie verrückt geworden? Die weint ja plötzlich. Vielleicht auch arbeitslos, wie?
Langsam fallen die Minuten zwischen den beiden Menschen. Keiner sieht den andern an. Auf Marias Gesicht trocknen die Tränen. Jakob schiebt sich Brotstücke in den Mund.
Plötzlich steht die Frau auf. Sie geht in das Zimmer und holt ihre Tasche. Wie von fern sieht sie den Mann an. „Du kannst nicht hierbleiben", sagt Maria. „Ich habe einen reichen Liebhaber. Er ist eifersüchtig", sagt Maria. „Da... mehr kann ich dir nicht geben."
Jakob sieht den Fünfzigmarkschein. Er nimmt ihn mechanisch. „Soso", sagt er, „aber wo soll ich nur hingehen?" Er steht vor ihr, in der abgewetzten Eleganz seines Anzugs, und betrachtet den Riss in dem Oberleder seines Schuhs.
„Hast du denn keine Mutter mehr?" fragt Maria, und sie spürt, wie er ihr leid tut. Da lächelt der Mann, als erinnere er sich plötzlich an etwas Gutes. Er schüttelt den Kopf. „Nein... keine mehr", antwortet der Staubsaugerjakob.

Lange sitzt Maria allein in der Küche. Drei Äpfel hatte sie ihm noch geschenkt, als er ging. Und sie war auch noch in Jürgens Zimmer gelaufen und hatte Zigaretten geholt. Jetzt ist er weg. Wie ein Gespenst ging er durch die Tür. Ob er ihr schreiben dürfe? Oh, er würde die fünfzig Mark bestimmt zurückschicken, wenn er etwas fände. „Bei meiner Bildung und bei meinen Manieren", hatte er noch gesagt. Das sollte ein Hieb für Maria sein. Ach, wie ärmlich war er in seinem Trotz.
Sie überlegt, ob sie essen soll. Jürgen wird lange bleiben. Die ganze SA. ist alarmiert. Es geht etwas vor. Seit dieser Dr. Kalahne offen für die Bewegung eintritt, ist Schwung in der Bude. Einfälle hat der! Das mit dem Mantel vor Schraders Wohnung war toll. Der Oberbürgermeister ist bald verrückt geworden darüber. Geschieht ihm recht. Wer vom Juden frisst, stirbt daran. Maria lacht. Damals in
Darmstadt, ihre Herrschaft, das waren auch Juden. Seht ihr, denkt Maria, so geht es. Sie hat Jakob vergessen. Sie rührt sich zwei Eier in die Pfanne. Sie hat Hunger. Sie freut sich auf Jürgen, während sie isst. Es wird neun, es wird zehn. Maria sitzt allein in der Küche. Manchmal klopft es am Laden, aber Maria macht nicht auf. Heute ist Samstag. Sie wird mit Jürgen in Petermanns Lokal gehen. Sie wird Bier trinken und still zuhören, wie die Männer sich streiten. Ha, gegen Jürgen kommt keiner auf. Wenn der redet, dann blitzt's. Neulich hat einer von den Arbeitern ein Buch mitgebracht, das sei die Wahrheit, hat er gesagt, aber als er draus vorlas, da waren es nur Fremdworte und Sätze, manchmal so lang wie ein Bandwurm.
Fünf Minuten hatte sich Jürgen das angehört. Dann hat er gelacht. „Kinder", hat er gerufen, „was lauft ihr dem krummgescheiten Juden nach, den kein Aas versteht? Der wahre Sozialismus, der steht doch nicht in Büchern. Der sitzt im Herzen!" Da haben sie geguckt. Ganz kleinlaut sind sie geworden. Und einer hat sein Mitgliedsbuch herausgezogen und es dem Jürgen gegeben. Wie glücklich der ist, wenn ein Arbeiter herüberkommt. „Nur ihr könnt das Reich bauen", ruft er den Leuten ins Gesicht, „nur ihr und die Bauern. Der Bürger ist alt." In solchen Stunden liebt ihn Maria am meisten. Er glüht vor Begeisterung. Er ist so mutig. Vor keinem Menschen fürchtet er sich.
Maria horcht. Auf der Straße sind Schritte. Feste, genagelte Schritte. Jetzt hört sie die Stimmen. Ja... ja... er ist's... Unten schlägt schon die Tür. Er
rennt die Stiege hinauf. Er singt. Wahrhaftig, er singt. Deutsche Sozialisten — mutig Hand in Hand... „Maria!" ruft er. „Maria!" Sie springt auf. Sie läuft auf den Gang. Da steht er groß unter der Ampel. Er lacht. Er strahlt.
„Er kommt!" ruft er, „er kommt! In zwei Tagen ist er da!"
„Wer?" fragt Maria.
„Adolf Hitler!" jubelt Jürgen, und sie spürt, wie er sie hält.

Johann Kaspar hatte in diesen Wochen das Gut nicht verlassen. Spät war der Regen gefallen. Die Wiesen hatten sich erholt. Die Getreideernte gab einen mittleren Ertrag. Zwei Drittel der Gemüsekulturen waren verdorrt. Doch die Reben hingen voll praller Trauben.
Sie waren Bäuerles Hoffnung. Endlich musste doch etwas gedeihen nach diesem elenden Sommer. Es war wie verhext. Jetzt hatte auch noch die Siedlungs-AG. Pleite gemacht. Mit achtzigtausend Mark hing Johann Kaspar in der Affäre. Er konnte die Summe getrost in den Rauchfang schreiben. Es ärgerte ihn, aber es traf ihn nicht empfindlich. Schlimmer war schon die Sache mit Schrader. Der Skandal war zwar äußerlich abgewehrt, aber es war der Schwamm des Misstrauens, des Neids und der latenten Verdächtigung hängengeblieben. Das war ja auch wohl der Zweck der Intrige. Ich hätte die Kerle anders angepackt. Aber dieser Schrader gibt diesem Kalahne auch noch den regulären Abschied, anstatt ihn kopfüber die Treppe hinunterzuwerfen.
Dabei war es offensichtlich, dass alle Fäden bei ihm zusammenliefen. Schiebt diesen Schickedanz vor, der so lange das zweite Dienstmädchen von Schrader umgirrte, bis sie ihm die Quittung stahl. Wütend geht Johann Kaspar durch die Weinberge. Er berührt eine Traube. Sie ist warm von Sonne. Wenigstens etwas Echtes, denkt der Amerikaner, und zerdrückt sie zwischen den Fingern. Er mag überhaupt nicht mehr nachdenken über den Wirrwarr. Was dieser Kalahne in seinem „Alarm" täglich schreibt, geht schon über die Hutschnur. Sozialismus sei eine Frage der Gesinnung. Er sei übermateriell und nicht zweckgebunden. Soso. Hab Sozialismus im Herzen... es ist zum Verzweifeln. Johann Kaspar ist kein Sozialist. Aber er weiß, was es mit dieser Sache auf sich hat. Es geht dabei um verdammt praktische Dinge. Um die planmäßige Bewirtschaftung der Erde. Um Kohle und Eisen, um Elektrizität und Kreditwesen, um Fabriken und Schiffe — um lauter praktische Dinge geht es. Da muss man anpacken, wenn man Sozialismus machen will. Das ist eine Frage des Hirns und der Fäuste. Aber mit dem Herzen... Bäuerle flucht. Diese Begriffsverwirrung erregt ihn. Dieses unreine Denken, dabei überheblich und anmaßend wie jedes unreine Denken. Wie diese Preußen es verstehen, ihre wahren Absichten zu vernebeln. Ein A biegen die zu einem O. Jetzt haben sie den Sozialismus an den Haaren. Jetzt machen sie das neunzehnte Jahrhundert verächtlich. Haha, meine Herren, das ist euch gefährlich. Damals wurde noch klar gedacht. Er ist sehr böse, der Johann Kaspar. Da steht er nun in seiner geliebten Heimat, mitten in seinem Weinberg, kräftig, gesund, gutwillig... und wieder muss er es erleben, wie die Deutschen sich heillos verwirren. Ja, man hatte sie schlecht angepackt, viele Jahre hindurch nach dem Krieg, sie haben lange in einer Unterwertigkeit gelebt — aber dann war doch die große Wandlung geschehen. Und waren nicht gerade sie dazu berufen, diesen Nationalitätenwahn, der seit hundertfünfzig Jahren Europa ruiniert, zu überwinden, gerade weil sie so sehr an ihm gelitten hatten? Bäuerle ist traurig. Er liebt sein Volk. Deshalb ist er traurig.
Vom Gut läutet es Mittag. Langsam stapft Bäuerle den Weinberg hinauf. Seine Augen weiden sich am Glanz der Trauben, und das herrliche, reine Gotteslicht über den Hügeln umflutet auch den unruhig eifernden Mann.
Hammelbraten mit Teltower Rübchen, dazu den leicht säuerlichen Landwein. Bäuerle vergisst. Er dehnt sich wohlig am Tisch. Er streckt die Füße mit den schweren Stiefeln weit von sich weg. Und während der Dampf des Fleisches in nahrhaften Ringen über den Tellern schwebt und der Wein in den Bechern in sanfte Schwingung gerät, während unten der Fluss durch die Rebgärten treibt und weit hinten am Horizont das Silber der Ebene erglänzt, hebt Bäuerle die Arme, er faltet sie hinter dem Kopf, und er ruft: „Ach, Kinder, wie gut und wie herrlich könnte das alles sein!"
Still sitzen Irene und Hans an dem Tisch. Sie sehen den Vater. Sie nicken ihm zu. Dann verlieren sich wieder ihre Augen ineinander. Irene schält Hans eine Birne. Sie schneidet das weiche Fleisch in vier gleiche Teile, der Saft läuft über ihre Hände, und die schwarzen Kerne schimmern dunkel auf ihrer Haut.
„Warum redet ihr denn nichts?" fragt Bäuerle nach einer Weile.
Erstaunt hebt Irene den Kopf. „Warum sollen wir reden?" antwortet sie, und ihre Augen werden ganz rund.
Schweigend nimmt Bäuerle eine Nuss und zerschlägt sie mit der flachen Hand.
Am Nachmittag fährt er nach Siebenwasser. Er hat auf der Bank zu tun. Weißenfels ist ein teurer Traum. Die Baltimorer Fabriken werfen nur noch wenig ab. Bäuerle muss vorsichtig sein. Bei Henri Jockel vespert er. Die halbe Flasche Macon stimmt ihn froh. Die Weinstube ist leer. Frau Minchen kommt für eine Weile an den Tisch. „Der Henri ist mal snell nach Frankfurt ges—pritzt. Dort s—pricht der Herr Hitler." „Lassen Sie mich mit dem Zeug in Ruh", ruft Bäuerle, „gibt's denn sonst gar nichts mehr in diesem Land?" „Öh", sagt Frau Minchen, „dös ist momentan die größte Attraktion. Denken Sie, der Herr Hitler, der will alles anders machen." „Und dann?" fragt Bäuerle.
„No... und dann", antwortet Frau Minchen, „dann wird's eben besser." Bäuerle trinkt.
„Ich hab's ja immer dem Henri gesagt. Du mit deiner Demokratie, hab ich gesagt, das gibt nur S—treit. Jeder zieht an einem andern S—trick.
Aber er hat immer gleich gebrüllt. Davon ver-s—tände ich nichts. Das wär eben Freiheit. Denken Sie, Freiheit. Das passt doch nicht für uns Deutsche, wo drei immer gleich einen Verein machen. Nöch? Einer muss da sein und kommandieren. Das ist doch logisch, nöch?"
Frau Minchen ist im Zug. Schon lange hat sie heimlich die Zeitung aus München gelesen. Am Bahnhof hat sie sie gekauft, und einen Umweg über das Feld hat sie gemacht, und wenn sie die Zeitung fertig hatte, da hat sie sie auf einen Acker geworfen, damit nur der Henri nichts merkt. Denn er konnte fuchsteufelswild werden, der liebe Demokrat. Auch der Bäuerle ist so einer von dieser Sorte. Freiheit, denkt Minchen, was haben wir schon von dieser merkwürdigen Freiheit? Geschäftsrückgang. Nichts als Sorgen.
Und sie legt Bäuerle eine Zeitung auf den Tisch. Sie will ihn foppen. Sie kann ihn so gut leiden. „Der Herr Hitler kommt auch hierher. Sehen Sie, da steht's. Am Freitag. Das müssen Sie sich aber ansehen!"
Bäuerle brummt. Die Person flötet so nett Hamburger Deutsch. Mag sie reden, was sie will. „Und was hier Herr Dern geschrieben hat! Ich mag ihn ja nicht so recht, und das mit den Juden ist wohl auch übertrieben. Wie ich im Pensionat war, kannte ich ein Fräulein Goldschmidt, das war ein herziges Püppchen. Pfft... aber was da Herr Dern schreibt..."
Sie liest aus dem „Alarm".
„Wir sind keine Partei. Wir sind keine Interessengruppe. Wir reißen das Rad der deutschen Geschichte herum. Der nordische Mensch..." „Hören Sie auf!" schreit Bäuerle, „wenn ich an diesem Dern seine Visage denke..." „Ach", sagt Frau Minchen, „der ist nur ein bisken ostisch überlagert."
Da steht Bäuerle auf. Er nimmt seinen Hut. Er läuft hinaus. Sogar zu zahlen hat er vergessen.

In Petermanns Lokal geht es hoch her. Spät, gegen elf Uhr erst, ist der Braune gekommen. Und hinter ihm mindestens zehn Mann in der gleichen Uniform.
Nanu, denkt Petermann, den kenn ich doch, der da neben dem Winkler steht. Der war doch vorige Woche noch in Zivil. Und der dort auch. Das waren doch wilde Kommunisten. Und jetzt? Petermann kratzt sich hinter dem Ohr. Er weiß überhaupt nicht mehr recht, was er denken soll. Der Sozialismus ist wie ein Vexierbild für ihn. Früher war alles klar. Da gab es nur die Partei. Aber seit sie in der Regierung sitzt und Volkshäuser baut, ist der Sozialismus anscheinend auf Wanderschaft gegangen. Da sagen die Braunen, sie hätten ihn, da rufen die ganz Roten, sie hätten ihn, und die Sozialdemokraten, die sagen schon gar nichts mehr. Wo so viel Köche sind, denkt Petermann, steht's schlimm um den Brei. Außer den Uniformierten ist niemand in der Bierstube. Doch, hinten in der Ecke sitzt ein Mann. Seit zwei Stunden sitzt er schon da. Sechs Biere und sechs Schnäpse hat er getrunken. Wenn der nur auch zahlt. Vater Petermann füllt die Biere, streicht den Schaum von den Gläsern und bringt die Runde an den Tisch, wo die Braunen sitzen.
„Na", sagt er, „heute abend keine Diskussion? Alles gleicher Meinung?"
Sie lachen und nicken. „Komisch", sagt Petermann, „gibt es denn so etwas überhaupt?" Er stellt die Biere auf die Filze.
„Das ist ja das Wunder", hört er den Winkler sagen, „das kann man nicht begreifen. Das musst du erleben."
Wie feierlich die sind, denkt Petermann. Und er schlurft nach der Theke zurück. Es war Jürgen auch wirklich feierlich zu Mute. Bald wird er den Führer sehen, er wird ihm die jungen Proleten vorstellen, die er aus dem materialistischen Sumpf gerettet hat, feste, harte Burschen, nicht leicht umzubiegen, aber jeder einzelne mehr wert als zehn rückenmarkweiche Bürger. Stolz sieht Jürgen auf die neuen Uniformen. Diese zehn Mann werden vor der Front mit ihm stehen, wenn der Führer am Morgen nach der Versammlung die Standarte weiht, draußen auf der Erlenbacher Höhe. Lange hat er mit Hungrich darum gekämpft, mit diesem Arbeiterfresser, der am liebsten aus der SA. einen bewaffneten Bürgerverein machen würde. Jürgen hat gesiegt. Kalahne hat sich auf seine Seite gestellt. So verschlagen dieser Doktor ist, er weiß, dass es um den Sozialismus geht, um nichts anderes. Sie wechseln wenig Worte, wie sie da an dem Tisch sitzen. Sie trinken Bier, das Maria gestiftet hat. Die Diskussionen sind vorüber. Jetzt sind sie Soldaten. Jetzt denkt nur noch einer für sie.
Jürgen betrachtet Maria. Adrett sieht sie aus in der weißen Bluse und in dem blauen Rock. Aber was hat sie nur heute Abend? Rutscht auf dem Stuhl herum wie 'ne hitzige Jungfrau. Jürgen ist keiner, der lange zuwartet, besonders nicht, wenn es Maria angeht. „Also jetzt sag, warum zitterst du?" „Ach", antwortet sie, „das geht vorüber." Jürgen folgt ihrem Blick. Wirklich unverschämt, wie der Kerl in der Ecke herüber grinst. Dem werd ich mal! Er steht auf. Maria hält ihn fest. „Nein", sagt sie, „lass ihn gehen..."
„Was ist denn los?" fragen zwei SA.-Männer. Jetzt nur nicht sentimental werden, denkt Maria, so etwas verstehen die nicht. Sie stützt die hellen Arme auf den Tisch. Sie zieht den Mund kraus und hebt ein wenig die Nase.
„Kinder", sagt sie, „wisst ihr, was eine Vergangenheitsleiche ist? Dort sitzt mein abgelegter Bräutigam." Die SA.-Leute lachen. So muss Maria sein, frech und zackig, das gefällt ihnen. „Wollte wohl seine vergessene Badehose holen?" ruft einer, und alle grinsen den Jakob an. Der kippt gerade den vierten doppelten Kirsch. Er tut, als hätte er nichts gehört, und feixt weiter. „Schauen Sie gefälligst in Ihr Schnapsglas oder auf Ihre Fingernägel!" schreit Jürgen. Der ganze Kerl ist ihm unsympathisch. Als ihm Maria vorhin das mit dem Zigarrenladen erzählt hat, wusste Jürgen sofort Bescheid.
„Ich kann hinschauen, wohin ich will." Der Jakob formt beide Hände zu Röhren und setzt sie wie ein Fernglas an die Augen.
„Das ist also der reiche Liebhaber, Mariechen?" Er kichert. „Mit solchem Indianer vertust du dein Geld... und deine alten Freunde jagst du mit einem Fünfziger weg. Na, schön... Huren und Rowdies gehören ja immer zusammen." „Lass ihn!" schreit Maria, „er ist betrunken!" Sie hält Jürgen am Ärmel, aber er reißt sich los und steht schon an Jakobs Tisch. Die SA.-Leute sind aufgesprungen, sie lockern die Ledergürtel, ihre Gesichter werden ganz ernst wie bei einer Zeremonie. Jürgen hat Jakob an der Schulter gefasst und deutet wortlos nach der Tür.
„Einen doppelten Kirsch!" ruft Jakob nach der Theke, dann dreht er Jürgen den Rücken zu, verschränkt die Arme und sagt: „Ich bin ein gebildeter Mensch. Mit Ihnen unterhalte ich mich gar nicht." Ein Schlag ins Genick wirft ihn über den Tisch. Doch er kommt wieder hoch. Er packt einen Stuhl. Er hebt ihn in die Luft. „Du Sparkassenbuchjäger!" schreit er, „du Hurengeneral!" Da springen sie ihn an. Mit lautem Krach schlägt der Stuhl auf den Boden, Jakob fühlt sich gepackt, er stürzt, Fußtritte und Schläge prasseln auf seinen Bauch, an Armen und Beinen halten sie ihn fest, er kann sich nicht wehren. Aber schreien kann er. Bis es ihm schwarz vor den Augen wird. Feige Hunde! Feige Hunde! Feige Hun...
Als er erwacht, kniet Petermann neben ihm. Er hat Kognak in einer Tasse. „Um Gottes willen", sagt der Wirt, „Mann, geben Sie Ruhe. Alle sind weg. So etwas... so etwas..." Er geht zur Theke, um einen neuen Kognak zu holen. Jakob richtet sich hoch. Er kniet. Er tastet sich die Rippen ab. Das Kreuz tut ihm verdammt weh. Solch ein Lügenweib, hält den Kerl aus und tut, als sei er der Schah von Persien.
Kniend klopft er sich den Staub von dem Rock, und während er traurig der verblichenen Schönheit seines Anzugs gedenkt und dabei leise vor sich hinflucht, sieht er plötzlich neben dem Tischbein auf dem Boden ein schwarzblaues Ding. Er nimmt es, zögert ein paar Sekunden, dann steckt er blitzschnell den Browning in die Tasche und steht auf. An der Theke trinkt er noch drei Bier und drei Schnäpse. Er lädt Petermann ein. Den hat der Schrecken durstig gemacht. Ängstlich fleht er Jakob an, nichts der Polizei zu melden. Jakob ist in großer Fahrt. Der Schnaps steigt in glasigen Wölkchen bis in die letzte Windung seines Hirns. „Ich und Polizei!" sagt er verächtlich, „ein Mann in meiner Stellung verteidigt seine Ehre selbst."
Er wirft den Fünfzigmarkschein auf den Tisch, Petermann wechselt erschrocken, der Herr sieht ja ziemlich heruntergekommen aus, aber wer weiß, was dahinter steckt, die Zeiten sind verdammt undurchsichtig. Da setzt der Jakob seinen Hut auf, wankt ein paar Schritte, und als er schließlich die Tür erreicht und die warme Nachtluft von der Straße her die Wirtsstube durchflutet, brüllt er Petermann an: „In Zukunft werde ich nur in standesgemäßen Lokalen verkehren, verstanden?" und geht.

Der Sturm hatte sich außerhalb Siebenwassers in einer verlassenen Kiesgrube versammelt. Ab zehn
Uhr morgens rückten die Abteilungen heran. Bald war die Kiesgrube und das abgeerntete Feld ringsum mit Gruppen von SA.-Männern bedeckt. Weit über Land kamen sie anmarschiert, aus den Höhendörfern, den kleinen Städten am Fluss, aus den Weilern und den Marktflecken. Bald waren es über tausend Mann, die sich vor Siebenwasser zusammenzogen. Stolz steht Hungrich an der Böschung. Wie ein Feldherr steht er da. Was war in diesen Monaten aus der kleinen SA. des Oberleutnants Träger geworden? Hungrich muss lachen, wenn er noch an die Späße vom vorigen Jahr denkt. Jetzt sind sie eine Macht. Mag auch die Polizei mit einer Hundertschaft drüben am Rain stehen — diese Männer hier werden den Tag erleben, da Deutschland ihnen gehört. Jürgen kommt und meldet elfhundertachtzig Mann. Das ist Standartenstärke, denkt Hungrich. Bald werde ich Standartenführer sein. Er geht zu den Gruppen und begrüßt die Männer. Oft läuft er Gefahr, in den Feldwebelton seiner Militärzeit zu fallen. Kalahne und Winkler hatten ihm nachzuweisen versucht, dass es sich bei der SA. nicht um den alten Kommiss handle, sondern um eine revolutionäre Truppe, die nicht blindlings gehorche wie eine militärische Einheit. Hungrich richtete sich nach dieser, wie er sagte, nationalbolschewistischen Mode. Innerlich lehnte er sie aufs schärfste ab. Alles Proletarische war ihm zuwider. Wie hasste er die Mietskasernen, in denen er aufgewachsen war, mit ihrem Mief, ihrem Stunk und ihrem Weibergekläff. Sein Vater, ein einfacher Schlosser in einer Möbelfabrik, hatte alles getan, damit sein Sohn etwas Besseres werde. Er rauchte und trank nicht, und die Mutter war waschen gegangen, damit der Sohn aus dem geduckten Leben herauskomme. Es hatte zwar nur zum Geometer gereicht, und während des Krieges hatten sie ihn nicht zum Leutnant gemacht, obwohl er sich wie ein Teufel herumschlug, später war er zu den Freikorps gegangen und hatte im Baltikum, an der Ruhr und in Mitteldeutschland gekämpft. Hungrich war fest davon überzeugt, dass es keinen größeren Genuss als den der Macht gäbe, und dass diese Macht nur in den Händen weniger vereinigt sein dürfe. Seine geheime Genusssucht entsprach seinem kleinbürgerlichen Cäsarismus. Er hasste alles, was bestand, alles, was ihm nicht gehörte. Der Neid war seine einzige Eigenschaft. Aber er war schlau. Er verstand es zu warten. Er wusste, dass der Tag kommen wird, wo das ermattete Bürgertum sich ihnen ergibt, mit all seinem angehäuften Reichtum, mit seinen Villen, mit seinen Frauen und mit seinem schlechten Gewissen. Hungrich kannte den Preis genau, der dafür zu zahlen sein wird: die Abwürgung der proletarischen Revolution. Ein Spottpreis, dachte Hungrich. Wir vertreiben den Pöbel und erobern dafür den Staat. Langsam und lächelnd ging er zwischen den Gruppen hindurch. Dieser Winkler mit seinem proletarischen Getue muss weg. Tut sich da auf als Hurenbeschwörer, als Kommunistenmissionar, stößt die Bürger vor den Kopf, wo er nur kann, — dabei ist es doch ihr Staat, den wir haben wollen, und nicht den Hokuspokus, mit dem der Winkler den Proleten die Köpfe verdreht. Der Kerl ist in München gut angeschrieben. Die ganze nationalbolschewistische Clique steht hinter ihm. Ich werde lächeln, wenn ich ihn sehe, dachte Hungrich. Man muss lächeln, wenn man die Messer schleift. Am Rande der Kiesgrube stellte ihm Jürgen die zehn Kommunisten vor, von denen er sagte, er habe sie in die Volksgemeinschaft zurückgeführt. Hungrich wurde verlegen. Da standen sie vor ihm mit typisch proletarischen Gesichtern, hager, ein wenig spöttisch und merkwürdig selbstbewusst. Gummigaloschen hatten sie an, Manchesterhosen und darüber das braune Hemd. „Hören Sie, Pg. Winkler, Sie hätten die Leute wirklich ein wenig besser einkleiden können." Was ist das? Wie starren die ihn an? Der Winkler kriegt einen puterroten Kopf. Was sagt er? „Das sind keine Leute, das sind Parteigenossen, wie du und ich. Und einkleiden konnte ich sie auch nicht, sondern sie haben sich jeder das braune Hemd von ihrer Erwerbslosenunterstützung abgespart. Ich glaube, dass das mehr wert ist als eine tipptoppe Ausrüstung." Hungrich spürt, wie die Blicke der Proleten seine schönen weichen Gamaschenstiefel streifen, es wird ihm nicht wohl in den elegant geschnittenen Breeches — er stottert etwas von Missverständnis und Bewunderung, dann geht er weiter.

Hans hatte sich bald von den Gruppen getrennt und sich oberhalb der Kiesgrube auf die Wiese gelegt. Hier war es ruhig, man brauchte nicht zu reden, man war allein. Als er gestern Abend den Sturmbefehl bekam, hatte er pflichtgemäß seine Sachen geordnet, dann hatte er nicht mehr daran gedacht bis zum Morgen. Den Abend über hatte er mit Irene Schach gespielt. Es war merkwürdig gewesen, wie immer einer dem andern eine Chance bot, damit er gewann. Und nach dem Spiel waren sie noch im Garten gewesen. Irene wollte sehen, ob die Wasserrosen nachts ihre Kelche schließen, und siehe, sie taten es auch. Das war eine Stunde wie aus einem einzigen Hauch. Lautlos standen sie unter den Bäumen. Sie sprachen nichts. Oh, wieviel sprachen sie da... Später, als sie zurückkamen und Bäuerle fragte, wo sie gewesen seien, da antwortete Irene, Leuchtkäfern seien sie nachgeeilt und schließlich nach vieler Mühe hätten sie einen gefangen, aber wo vorher das schöne Licht war, da sei plötzlich ein garstiger Wurm gewesen. Da hatte sie Johann Kaspar lange angeschaut und hatte zu ihnen gesagt, sie sollten das mit dem Licht und dem garstigen Wurm nie vergessen. Sie begriffen nicht, was er meinte. Als Hans auf dem Flur dann Irene gute Nacht sagte, hatte sie ihm ins Ohr geflüstert, dass Vater morgen wegen der Versammlung in Siebenwasser über Nacht bleibe. Rasch war sie weggelaufen. Er hatte sie verstanden.
Hans liegt auf dem Rücken. Er spricht auf sich ein. Was ist nur mit dir? Wer bist du denn überhaupt? Hans Diefenbach, das war wohl einmal, das ist jetzt ein Toter? Hast du alles vergessen? Holzapfel, Gerhard, die Kameraden? Und jetzt kommt der Führer, und du liegst hier im Gras und schaust nach dem Himmel. Du freust dich nicht einmal, du gehst nicht auf und ab vor lauter Erwartung. Nein, eine Hummel betrachtest du, ein kleines, lächerliches, dummes Tier, wie es da in der Blüte wühlt und sich staubig macht. Und heute morgen wärst du am liebsten gar nicht weggegangen von Weißenfels, weil die Nüsse reif sind und Irene schon ganz gelbe Hände hat von den Schalen und weil du heute wieder auf den Baum steigen wolltest, hoch hinauf, wo er schwankt. Hans, ein Abtrünniger bist du, ein Weiberknecht, ein Verlorener.
Er liegt da und zieht einen Grashalm durch die Lippen. Er sieht die kleinen weißen Wolken am Horizont und oben auf dem Hügel die blendende Front des Guts. Sprich nur weiter, denkt er, sprich nur weiter. Aber es sprach nicht weiter. Es war plötzlich ganz ruhig. Hans schließt die Augen. Er hört die Hummel. Ameisen laufen über seine Hände. Der warme Wind bewegt seine Haare. Der Duft der Wiese, aus tausend Blumen zusammengeweht, streicht über ihn hin. Hans streckt sich. Er atmet tief. Lächelnd schläft er ein.

Die tausend Männer in der Kiesgrube sahen den Engel nicht. Hans aber sah ihn. Lange schon hatte er die Buchfinken gehört, wie sie ihm sirrend entgegenflogen, und die Hummeln und die Ameisen, alle hatten sie sich aufgemacht, die Libellen und die Grasmücken, die Falter und die goldgrünen Käfer, die Eidechsen, die Frösche und die Molche, und ganz zuletzt kamen im scharfen Schnitt eines blauen Halbmonds die Schwalben geflogen. Hans betrachtete den Engel. Sein Panzer war aus dem harten Stahl der Nacht, doch seine Beine schiente das Licht. Auf der linken Hand trug er Rebe und Hügel, auf der rechten nisteten die Buchfinken und die Meisen. Sie sangen und pfiffen, sie trillerten und putzten sich die Schnäbel an der Brust, und während zu seinen Füßen die Ameisen die Steine und Äste wegtrugen, schwebten hinter seinem Rücken die Libellen und webten ihm einen grünen Mantel aus Glas.
„Oh, seht doch!" rief Hans, „oh, seht doch den Engel!" Doch die Männer in der Kiesgrube sahen ihn nicht.
Jetzt sah Hans des Engels Gesicht. Es war von einer schmerzlichen Schönheit. Hans fürchtete sich nicht. „Wer bist du?" fragte er den Engel. „Ich weiß es nicht", antwortete der Engel. Er kniete nieder, und alle Blumen auf der Wiese wuchsen plötzlich um seinen Leib, damit der Engel nicht friere. Und wie die Blumen um ihn wuchsen, da kamen aus dem Wald Schwärme von Bienen, und sie gaben den Honig zurück, damit der Engel nicht hungre. Und als die Bienen den Honig zurückgaben, da begannen die goldgrünen Käfer die Flügel zu drehen, und es gab ein wunderbar zärtliches Licht, damit der Engel nicht strauchle. Und als die goldgrünen Käfer die Flügel drehten, da begannen die Falter über seinem Haar zu tanzen, und die Frösche hüpften und hopsten im Gras, damit der Engel nicht traurig werde. Und als die Falter über seinem Haupte tanzten, und die Frösche vor seinen Füßen hüpften, und die goldgrünen Käfer die Flügel drehten, und die Bienen den Honig zurückgaben, und die Blumen um seinen Panzer sich schlangen, da weinte der Engel doch. „Warum weinst du?" fragte Hans.
„Horch", antwortete der Engel. Und alle Tiere verstummten. Da bohrte sich durch die Luft ein Ton, ein Brausen war es, als käme ein schwarzer Wind. Der Himmel verfinsterte sich, die Wolken sanken ganz tief, und der Engel erblasste. „Halt!" schrie Hans, „halt!" Er wollte auf, aber er war gelähmt. Und er sah auf den Wolken in dichten Scharen Menschen, die weißen Leiber in Tücher gehüllt, sie rannten gegeneinander, sie hieben sich, sie würgten sich noch im Fallen, sie bissen sich in die Brüste, und ihr Blut floss in hellen Bächen zur Erde. „Halt!" schrie Hans, „seht doch den Engel!" Aber sie hörten ihn nicht. Und plötzlich sah Hans, wie die Falter zu Boden sanken, wie die Frösche die Libellen fraßen, wie die Bienen den Honig zurückschlürften und wie die Ameisen sich bekämpften. Unermesslich war das Geschrei zwischen Himmel und Erde. Da erlosch der Engel.
„Halt!" schrie Hans. „Haltet den Engel!" Er wurde gepackt. Sie rissen ihn hoch.
„Mensch!" schrie Jürgen Wach auf!" Hans öffnete die Augen. Die Kiesgrube war leer. Nach Abteilungen geordnet standen die Männer an der Straße. „Marsch! Marsch!" rief Jürgen. Als sie die Chaussee erreichten, erklang von Erlenbach her die dunkle Hupe des Autos.

Frau Dern steht in der Küche. Sie schüttelt den Kopf. Sie sagt gar nichts mehr. Seit drei Tagen ist das Haus in Aufregung. Das kommt und geht, vom Morgen bis tief in die Nacht. Otto ist überhaupt nicht mehr zu sprechen. Am vernünftigsten ist noch der Doktor.
Der hat ihr wenigstens verraten, was sie kochen soll. Eierkuchen mit Apfelbrei. Zuerst war Frau Dern sprachlos. Sie hatte sich schon ein feines Menü ausgedacht, wie damals bei ihrer Hochzeit. Ochsenschwanzsuppe, Bodenseefelchen, ein Entrecote mit diversen Gemüsen. Dann Eis und Käse. Und Mosel zum Fisch, roten Pfälzer zum Fleisch und am Schluss einen deftigen Kaffee mit Kirsch. Frau Dern rührt den Eierkuchen an. Sie streut eine Messerspitze Vanillezucker über die Masse, dann stellt sie die Schüssel zur Seite und geht auf den Flur. Sie geht ins Gastzimmer. Sie hat es selbst geputzt, und das Bett hat sie selbst gerichtet. Zwei hohe Kissen schichten sich am Kopf. Von der Großmutter stammen die noch. Mit Eiderdaunen sind sie gefüllt, auch das Unterbett. Das waren noch solide Zeiten, denkt Frau Dern. Sie probiert die Nachttischlampe. Wie schön die roten Glasperlen leuchten und die grünen. Am Abend wird sie noch einen Apfel hinstellen und einen kleinen Kognak mit einem Stück Zucker dazu, so einen echten französischen. Den hat sie noch von der silbernen Hochzeit gerettet und vor Otto im Wäscheschrank versteckt. Aber da wird sie traurig. Auch Kognak darf sie nicht anbieten, ach, das Beste, was sie hat. Mutter Dern möchte so gern etwas Gutes tun. Nachdenklich streicht sie über das Federbett. Da fällt ein erlösendes Lächeln über ihr Gesicht. „Wenn er auch nur Eierkuchen isst, dann soll er wenigstens weich schlafen", sagte sie leise und mild.
Als sie in die Küche zurückkommt, ist Herta Diefenbach da. Freundlich sagt Mutter Dern guten Tag.
O nein, sie ist nicht mehr eifersüchtig auf die Seelenfreundin, wie Otto die Frau Hauptmann nennt. Sie begreift Otto sehr gut. Achtundvierzig Jahre ist Mutter Dern, drei Kinder und zwei Fehlgeburten, und mit der Bildung ist es auch nicht weit her — das soll man einem Mann wie Otto verübeln? Ja, solange Otto noch bei der Post war und abends verärgert vom Dienst nach Hause kam, da war sie die richtige Frau. Aber jetzt steht Ottos Name in der Zeitung, viele Menschen jubeln ihm zu, viele hassen ihn, aber die wird Otto schon besiegen. Zertreten, sagt er immer. Und lacht grimmig dabei. Mutter Dern kann da nicht mit. Sie hat den Otto liebgehabt, vor vielen Jahren, und jetzt ist er halt über sie hinausgewachsen. Sie ist in der Küche geblieben. Dort sitzt sie am liebsten und denkt an die Zeit, da Otto ein lustiger Bursch war und so ergreifend das Waldhorn blies. Eins jedoch nagt an Mutter Dern. Oh, sie sagt es niemand. Sie wird sich hüten. Otto glaubt nicht mehr an Gott. Unsern Herrn Jesus nennt er einen Juden und die Apostel Tagediebe. Dafür redet er immer von der Sonne, als sei sie der liebe Gott. Wie die Wilden, denkt Mutter Dern, und sie geht oft heimlich zur Messe und betet für die Seele von Otto. „Sie kommen", ruft Herta Diefenbach, „eben hat's von Erlenbach telefoniert." Wie die zittert! Trockene Lippen hat sie und Augen wie glühende Kugeln.
„Gut", antwortet Mutter Dern, „da werd ich eben mal schnell die Eierkuchen..." Aber da ist die Diefenbach schon weg. Sie rennt in den Garten. In der Stadt ist plötzlich ein Geschrei. Heil! Heil! Polizei reitet vor dem Haus. Heil! Wie das wächst. Schon hört man keine Stimme mehr. Ein Brausen ist das. Jetzt ist es auf dem Marktplatz. Jetzt wälzt es sich durch die Altstadt. Jetzt ist es da. Der Wind hört auf. Die Sonne steht still. Heeeiiil!!! Kopfschüttelnd setzt Mutter Dern die Pfanne aufs Feuer. Lautlos zischt das Fett. Als die Männer das Haus betreten, ist der erste Eierkuchen goldgelb.

Bäuerle sitzt in der tobenden Halle. Er hat den Kopf auf den Knauf seines Stockes gestützt. Er sieht nicht nach links, er sieht nicht nach rechts — er sieht auf den Boden. Mit allen Mitteln seines Verstands sucht er sich klarzumachen, was geschieht. Es gelingt ihm nicht. Dieser Mann auf der Bühne braucht nur ein Wort zu sprechen, und schon toben die Leute. Da, jetzt... Ein Brausen geht über die Galerie, es erfasst den Saal, schon ist die Woge über alle Köpfe hinweg. Wer soll da standhalten! Bäuerle hört genau hin. Eine barbarische Stimme. Raffiniert, wie er moduliert. Wie er Suggestivfragen stellt. Wie er die Pausen dehnt und dann die Spannung überrennt. Noch nie hat Bäuerle einen Menschen so sprechen gehört. Das bricht wie ein Gewitter über einen. Der Mann ist... Hahaha... Ha... Heil!... eine böse Naturkraft. Ich werde... Aufhängen! Auf hängen!... Jetzt spricht er plötzlich wie ein Kind. Wie? Deutschland... Vaterland... Volk... Liebe... Da schluchzt eine Frau... ganz laut... hemmungslos... unsere Toten... wofür? wofür? ... welch ein Schrei! ... der Saal ist zum Zerreißen gespannt. Für diesen Staat! Für diese Juden! Für diesen Kapitalismus!! Bäuerle
zittert. So gewaltig ist das Echo. Aus tausend Kehlen dröhnt die Antwort, brüllt die Verzweiflung vor diesem einen Mann. Da ist es, Stählins Blut, da ist es, Anheggers Blut, er hat es in den Händen, er gießt es über die Köpfe, heillos züngeln die Flammen empor. Bäuerle beißt in den Elfenbeingriff seines Stocks. Er spürt den zuckenden Leib der Massen, fassungslos sitzt er vor dieser ungeheuerlichen Beschwörung. Und plötzlich beginnt es wie Schläge auf den zuckenden Leib zu prasseln. Uns gehört die Macht! Uns gebührt die Macht! Uns! Und sie springen auf, und sie jubeln, und sie werfen die Hände, und sein Wille reißt sie zu sich heran, bis sie nichts mehr sehen, bis sie nichts mehr denken, bis sie sind, wie er sie haben will. Inmitten des Aufruhrs, der Raserei, des Tumults der Begeisterung prüft Bäuerle kalten Auges den Mann. Er sieht seine Bewegungen, dieses Außersichsein der Hände, dieses Toben der Faust, diese herrische Geste des nach unten weisenden Daumens. Und er sieht, wie die Menschen diesen hypnotisierenden Gesten folgen, wie sie sich beugen, sich erheben, wie sie hassen und sich verneigen und wie sie außer sich werden, wenn er ihre Wunden berührt. Das ist es, jetzt begreift es Bäuerle. Hier steht ein Mann, der rücksichtslos auf die Wunden weist. Ja, er ätzt sie noch, er legt sie hemmungslos frei. Wie sie brüllen, wie sie aufspringen und toben. Was sagt er da? Wir sind arm. Wir haben nichts mehr. Du und du und das ganze ehrliche deutsche Volk... ja, ja, ja... schreien sie zurück. Das Wundfieber hat sie gepackt. Alles, was schmerzt, hier können sie es herausschreien, zu Hause nicht, im Geschäft nicht, vor den Behörden nicht, aber vor diesem Mann! Scharfäugig sitzt der Amerikaner auf dem Stuhl. Er spürt das Grausen, das aufsteigt. Die Insassen eines Millionenlazaretts sind aufgesprungen, sie zeigen ihre Schwären, sie brauchen nicht mehr zu lächeln wie bei den Visiten der amtlichen Ärzte. Hier steht der neue. Schonungslos deutet er auf das Blut und den Eiter. Gebt mir das Messer, ruft er, gebt mir die Macht!
Die Menge ist aufgesprungen. Ein Heil aus tausend Kehlen dröhnt wider die Kuppel. Wortlos geht der Mann von der Bühne nach unten. Sie bilden Spalier. Sie reißen sich an den Kleidern, sie springen auf die Stühle, fliegende Haare, fliegende Hände, ein Kreißsaal von Männern und Frauen. Und während er so durch die Reihen schreitet und seine Augen in starrer Ruhe die Schritte abmessen und die jungen Männer vor ihm den Weg bahnen, erhebt sich auf der Galerie der Dr. Kalahne. Hell klingt seine Stimme. „Volksgenossen", ruft er, „die andern Nationen haben den Unbekannten Soldaten begraben. In Deutschland ist er auferstanden! Sieg Heil! Sieg Heil! Sieg Heil!"

Bis zum Nachmittag hatte der Staubsaugerjakob im Bahnhofshotel geschlafen. Mit verklebten Augen, wehen Gliedern und einem gärigen Magen war er erwacht. Blinzelnd gewahrt er, dass die Teile seines Anzugs verstreut auf dem Boden liegen. Er steht auf, spült sich am Waschtisch den Mund, lässt sich Wasser über die Haare laufen, säubert die Schuhe mit der Diwandecke, dann geht er zum Fenster und gähnt. Der Blick aus der Höhe des Stocks macht ihn schwindlig. Er geht zurück, zieht die Hosen an und hebt den Rock vom Boden. In der Seitentasche klimpert Geld. Jakob greift hinein und legt die Münzen auf den Tisch. Zweiundvierzig Mark. Blöd starrt er die Geldstücke an. Er holt die Brieftasche aus dem Sakko. Richtig, da waren sie noch, die zwei Zwanzigerscheine von der Arbeitslosenunterstützung. Er legt sie neben das Silber. Verdammt, wo kommt nur das andere Geld her? Er denkt und denkt. Aber auf der Landkarte seiner Erinnerung ist plötzlich ein weißer Fleck, groß und rund, wie die Wüste Sahara. Er klingelt und bestellt eine Flasche Fachinger. Und wie er so trinkt, da hört er plötzlich auf der Straße ein Gelaufe, Musik und genagelte Stiefel. Er zwingt sich zum Fenster, in der Herzgrube sticht es erbärmlich. Ach Gott! denkt er, immer diese Nazis. Radau, nichts als Radau. Doch wie er dasteht und den vorbeiziehenden Kolonnen nachschaut, da wird die Wüste Sahara immer kleiner, vor seinen Augen steigt ein Sparkassenbuch auf, ein Mann stürzt zu Boden, fünfzig Mark... er geht zurück, auf dem Nachttisch liegt ein Bierdeckel. „Rache" hatte der Jakob daraufgeschrieben, und daneben liegt der Browning. Rasch packt Jakob den Koffer. Als er auf die Straße tritt, ist es sechs Uhr am Nachmittag.
Zunächst geht der Jakob in ein Restaurant. Er isst eine illustrierte Gurke und trinkt zwei Glas Bamberger Rauchbier. Danach steigt er die Bahnhofstraße hoch und biegt in eine Seitengasse. Dort liegt der Laden. Jakob kauft eine große Schachtel Königin von Saba. Der Besitzer äugt ihn an. „Na, haben Sie sich entschlossen?" Jakob brummt etwas, kauft noch eine Schachtel, dazu Scherls Magazin und geht in die Anlagen. Schicke Weiber sind in dem Heft. So etwas hat der Jakob gern. Halbnackte Weiber auf Tigerfellen oder vor einer Orchidee stehend. Verdammt, denkt er, so einen Laden und noch hinter der Theke einen kleinen Handel mit unanständigen Bildern, natürlich saftiger als die hier, das ernährt seinen Mann. Er hat eine böse Wut im Bauch. Dieser Nazi sitzt ihm vor der Nase und hat das Sparkassenbuch an der Angel. Um sich zu beruhigen, geht er in eine Weinstube. Überall reden die Leute von den Kerlen. Jakob kann sie schon lange nicht leiden. Als er noch ein anständiger Mensch war und in Staubsaugern reiste, hat er mal in Rothenburg bei einem Tierarzt vorgesprochen. Der war auch von der braunen Sorte. Vierzehn Tage hat er ihm den Staubsauger zur Probe gelassen, und als er ihn abholen wollte, war der Staubsauger kaputt. Das sei Bruch, hat der Tierarzt geschrien. „Meine Staubsauger Bruch?" hat der Jakob höflich geantwortet, „mein Herr, Sie vergreifen sich an einer Weltmarke." „Ich scheiße auf Ihre Welt...", hatte der Braune geschrien, und plötzlich stand der Jakob vor der Tür und neben ihm der Staubsauger. Das hat der Jakob nie vergessen, dass ein Akademiker sich so benehmen kann, aber das kommt von der Bräune. Frisst alle Politur weg. Futsch sind die guten Manieren.
Der Jakob trinkt. Der Wein ist sauer. Wie das Volk hier. Nach dem dritten Viertel fängt der Jakob an, mit sich selbst zu maulen. „Ich Dussel", sagt er laut.
Er rechnet vor sich hin. Also um acht spricht ihr Oberdada im Saalbau, das dauert sicher bis neun. Na, und heimgehen tun die nach so einem Klamauk bestimmt nicht so rasch. Die werden noch saufen und gebildete Menschen verprügeln. Das kann bis Mitternacht dauern. Und sie, na, wenn die heut daheim bleibt, fress ich 'nen Besen. Was wär auch dabei, mit der werd ich fertig. Also um halb neun bin ich dort. Den Schlüssel hat sie ja immer unter der Matte liegen. Im Wohnzimmer steht der Sekretär. Linkes Fach oben. Das weiß der Jakob von früher her noch genau. Er lässt sich einen Fahrplan geben. Halt, verdammt, wann lös ich das Sparbüchlein ein. Vor morgens um neun ist's nicht möglich. Blöd! Aber wenn die heut Nacht so spät nach Hause kommen, haben die anderes zu tun als in die Schubkasten zu gucken. Und bis die dann aufwachen, hab ich schon längst das Geld und sitz um zehn Uhr im Kölner Schnellzug. Der Jakob trinkt Kognak, Wein, Wermut — alles durcheinander. Auf die Tischdecke malt er mit Bleistift Amsterdam, daneben eine Tulpe. Oh, er weiß Bescheid mit den Ländern. Dreitausendsechshundert — damit kann er bestimmt etwas anfangen. Und wenn er auch nichts findet. Dann wird drauflos gelebt, jawohl, gelebt, bis es alle ist. Besser kurz, aber oho! Verfluchtes Deutschland, Elendsland. Kannst mich...
Der Jakob winkt dem Kellner. „Haben Sie vielleicht einen Draht?" „Einen Draht?"
„Ja, einen dünnen Draht, mir ist nämlich der Koffer zugeschnappt und ich hab die Schlüssel verloren."
Fünf Minuten später hat der Jakob seinen Draht. Wozu hat er Schlosser gelernt! Kurz vor halb neun verlässt er die Weinstube und geht nach der Topfengasse.

Über Jürgen ist an diesem Tag das Glück zusammengeschlagen. Schon am Nachmittag hat er den Führer gesprochen. Und jetzt nach der Versammlung steht er wieder vor ihm. Dern und Hungrich sind schon neidisch, dass er sich so lange mit ihm unterhält. Aber Gerhard Träger lächelt und greift immer ein, wenn Jürgen stockt. Da wird es Jürgen ganz leicht ums Herz. Er erzählt, er verschweigt nichts, er sagt, wie der Kampf hier ist, er schimpft auf die Bürger, er spricht von Maria und dem Geld, das sie geopfert hat, und die Arbeiter hier, da hinter ihm, das ist sein Werk, die hat er gerettet für den deutschen Sozialismus. Tief blickt ihm der Führer in die Augen. Er sagt, morgen wird die Standarte geweiht, und Jürgen soll sie tragen, wenn er sie mit der Blutfahne berührt. Und jetzt ist Jürgen auf der Straße, jetzt geht er zu Petermanns Lokal, dort sitzen die Besten vom Sturm und Maria, sie wartet. Jürgen pfeift. Jetzt singt er. Deutsche Sozialisten / einig Hand in Hand / zum letzten Kampf wir rüsten... Er biegt in die Topfengasse ein. Er steht vor Marias Haus. Er überlegt, soll ich ihr den Schal holen? Es wird spät werden heute Abend. Nein, sie soll nicht frieren. Er geht hinein.

Als Jakob in den Hof gekommen war, stand das Fenster zur Küche offen. Kein Licht brannte in den
Zimmern. Glück muss der Mensch haben, dachte Jakob und stieg ein. Rasch hatte er sich orientiert. Oh, er kennt die Wohnung von früher her ganz genau. Ohne Licht findet er den Sekretär. Verdammt, die Schublade ist zu. Na warte. Jakob holt den Draht aus der Tasche. Er bohrt. Wie das standhält. Kann doch kein Geheimfach sein. Huren haben keine Geheimfächer. Er reißt an dem Draht. Der Sekretär wackelt. Doch das Schloss ist zäh. Jakob arbeitet. Nach zehn Atemlängen horcht er. Manchmal hallt ein Schritt über die Straße. Da hält er ein. Dann reißt er wieder am Schloss. Da wird ihm heiß. Jetzt packt ihn die Wut. Hau doch die Lade ein! Aber das sehen sie, wenn sie heimkommen. Wenn ich nur Licht hätte. Er tastet sich vor. Er findet einen Kerzenstummel. Er steckt ihn an. Er ist rasend vor Eifer. Amsterdam, Amsterdam, Amsterdam... Als Jürgen den Flur betritt, sieht er unter der Türritze den Schein. Zuerst denkt er, es sei das Spiel der Laternen von draußen. Aber vor dem Haus sind gar keine Laternen.
Krach, macht es im Zimmer. Er hört etwas fallen. Dann ein Rascheln. Ein Lachen. Er reißt die Tür auf.
„Ach so", schreit er noch. Er springt auf den Burschen zu. Er packt ihn am Hals. Er tritt ihm wider den Bauch. Ein Schlag wider den Kopf. Peng! Ein Schuss zerreißt seine Brust. Es wird hell. Es wird ja furchtbar hell. Es wird ja entsetzlich hell. Alles in ihm fängt an zu brennen. Wo will das hin, ei, das Helle, wo will denn das hin... Das Haus brennt. Funken... Funken... Er stürzt auf die Straße.
„Maria!" schreit er, „ach, Maria, halte mich fest!", dann fällt er um.

Hans rennt den Weg nach Weißenfels hinauf. Es ist eine stockfinstere Nacht. Er stürzt über Wurzeln, er schrammt sich an den Steinen, aber er spürt es nicht. Allzu groß ist der Schreck dieses Abends. „Das ist doch alles vorbei", ruft er, „das ist doch alles vorüber!" Nein... nein... das darf nicht mehr sein... Er nimmt einen Stein und wirft ihn in die Schlucht. Ein leises Echo antwortet. Hans starrt in die Nacht. Der unsichtbare Wind rollt zwischen den Bäumen. Die Sträucher knarren. Über den Boden schleicht's. Wer schreit da? Ein Tier? Ein Mensch? Wie ein Kind war das, wie ein Kind... ist ja nur das Wasser, das schwätzt. Hans rennt weiter. Immer tiefer in den dunklen Vorhang, immer tiefer. Als er die Wiese erreicht, bleibt er stehen. Er sieht das Licht. Ganz allein hängt es in der Nacht und wartet auf ihn. Er läuft auf die Lampe zu. Er wirft Steine hinter sich. „Geh weg!" schreit er, „geh weg!"
Am Tor fasst er sich. Er holt Atem. Er trocknet den Schweiß von der Stirn. Nein, er wird es Irene nicht sagen, dass Gerhard Träger in Siebenwasser ist.

Lange hatte das Mädchen in die Nacht gehorcht. Da war nur immer das Sägen und Knarren in den Bäumen gewesen, ein unheimliches Wehen über dem Feld. Irene hatte die Nachttischlampe mit blauem Papier in der Form eines Trichters umwickelt und Signale zu werfen versucht. Es war ein zärtliches
Winken. Aber sein Schritt kam nicht aus der Dunkelheit.
Eine Stunde verschlang die andere. Die Hände um die Knie geschlungen, wartete das Mädchen hinter dem Licht. Und der dunkle Wind wehte über den Wald. Immerfort... immerfort... Jetzt ist sie aufgestanden. Jetzt hört sie den Schritt. Er kommt über den Kies. Sie bewegt die Lampe. Da steht er unter dem Fenster. Sie sieht ihn nicht. Sie spürt ihn.
Irene löscht das Licht. Sie hört die Tür gehen. Im Dunkeln umarmen sie sich.

Die Bluttransfusion ist beendet. Schwester Marianne sieht nach dem Chef. Jetzt hat er wieder diese harten Augen, immer, wenn er den Tod sieht, hat er sie. Sie kennen sich gut, die beiden. „Kampfer", sagt Wachtel. Er führt die Nadel ein. Der Kranke wird unruhig. Er bewegt den Mund. „Maria", flüstert er. Er lächelt, seine Augen glänzen. Schweiß tritt auf seine Stirn. Jetzt spricht er laut. „Morgen... Maria... die Stan... darte..." Dann singt er leise. „Die Straße frei... den braunen Bataillonen..." Rötlicher Schaum tritt auf seinen Mund.
„Verloren", sagt Wachtel, „Euphorie." Er steht auf. „Sind Verwandte da?" fragt er Schwester Marianne. „Nein, nur diese Person..." „Unmöglich", sagt Wachtel.
„Ich möchte aufstehen... Ich bin doch gesund." Jürgen richtet sich hoch. Er lacht Wachtel an. „Was wollen Sie eigentlich von mir?"
„Ein bisschen Ruhe, mein Lieber, so schnell geht's doch nicht. Morgen, vielleicht, nach dem Essen, im Garten..." Wachtel drückt ihn sanft zurück. Da wird Jürgen sehr aufgeregt. „Das geht nicht, Herr Doktor, das geht auf keinen Fall... Morgen wird doch die Standarte... unsere Standarte... der Führer... Was denken Sie? ... Nach dem Mittagessen... Sie sind wohl verrückt?" Er schlägt die Decke zurück und will aus dem Bett. „Sehen Sie doch, sehen Sie doch, ich kann ja stehen, ich kann ja laufen..."
Er fällt ins Kissen zurück. Bleich liegt er im Linnen. Er röchelt. Immer größer wird das Weiß seiner Augen.
Wachtel gibt ihm eine neue Spritze. Bald haben ihn die Schatten eingeholt, denkt er. Da leuchtet die kleine Birne am Telefon. Wachtel nimmt den Hörer auf. „Bitte", sagt er, „wenn den Herren meine Anwesenheit nicht unangenehm ist..." Er beugt sich über Jürgen. „Sie bekommen Besuch", sagt er, „hohen Besuch." Jürgen lächelt. Wächsern sind seine Lippen. „Ich wusste es", flüstert er. Und er legt die Hände vorsichtig auf die Decke. Als sie das Zimmer betreten, blickt Kalahne den Dr. Wachtel fragend an. Wachtel nickt. Sie treten zum Bett. In Jürgens Augen kämpft das Licht.
„Mut", sagt Kalahnes Begleiter. „Mut, Standartenführer Winkler!"
Da geht ein Zucken über das Gesicht des Sterbenden. Wie die letzten Lichter des Lebens rinnen die Tränen über sein Gesicht.
„Kalahne", flüstert der Sterbende, er versucht zu winken, „Kalah..."
Kalahne beugt sein Ohr hinab zu Jürgens Mund. Dann hebt er den Kopf. Ungeduldig laufen die Finger des Sterbenden auf der Bettdecke hin und her. „Er will etwas sagen", spricht Kalahne. Der Sterbende nickt, furchtbar hastig nickt er. Ja... ja... Schnell... Sie stützen ihn hoch. Sein Atem fliegt. Seine Hände fassen den Kragen Adolf Hitlers, der sich zu ihm herab neigt. Sein Schweiß nässt des Lebenden Stirn.
„Du", sagt mit versinkender Stimme der Standartenführer Jürgen Winkler, „du... mach... den Sozialismus..."
Als sie ihn betteten, lächelte er wie im Traum.

 
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