2. Kapitel
So vergnügt wie in diesem Jahr hatten die Geschäftsleute der Stadt Siebenwasser schon lange nicht mehr in die Sonne geblinzelt. Besonders die kleinen Unternehmer und die Handwerker spürten wieder goldenen Boden unter den Füßen. Der Umbau des Gutes Weißenfels hatte den einheimischen Markt weit über den Reichsdurchschnitt belebt. Bäuerle hatte moderne Stallungen errichten lassen. Zwei Brunnen wurden gebohrt, ein Pumpwerk gebaut, und das Herrenhaus wurde völlig erneuert. Neben den Ställen stand eine neue Molkerei, rechter Hand am Eingang zum Hof eine Garage mit einer Tankstelle, dahinter die Maschinenhalle mit der Werkstatt, und in der Kuppe des Berges arbeitete man noch an den Gewölben der Weinkeller. Ende April waren die Handwerker abgezogen. In den Ställen stand das Vieh. Die Maschinen waren angeliefert, der Umbau des Wohnhauses war vollendet. Bei der Übersiedlung hatte sich Bäuerle jede Feier verbeten. Er konnte es jedoch nicht verhindern, dass Fräulein Degerloch, die Wirtschafterin, den Flur und die Pforte mit Girlanden schmückte und das Töchterlein des Dorflehrers beim Einzug ein Gedicht herunterstotterte. Nach der Begrüßung war Johann Kaspar sofort in das Haus gegangen und hatte sich mit Henrici in sein Arbeitszimmer zurückgezogen. Der Verwalter war ein Mann nach seinem Geschmack. Ruhig, sachlich, überlegt und gemessen in der Rede. Von seinem Privatleben sprach er nie. Bäuerle hatte ihn auf Schraders Empfehlung hin engagiert und dabei nur erfahren, dass Henrici vor dem Krieg als Farmer in Kanada gelebt hatte. Nach der Enteignung der Farm war er nach Siebenwasser zu seinem Bruder gekommen und hatte dort als kleiner Versicherungsagent ein bescheidenes Leben geführt.
Kurz nach dem Essen hatten die beiden Männer mit dem Rundgang über die Felder begonnen. Da lag noch vieles im argen. Die Äcker waren voller Steine und seit Jahren ohne Dung. Die Weinberge waren verwildert. Schlinggewächse hielten die Rebstöcke umklammert. Kaninchen hatten den Boden unterminiert. Ein Teil der Wiesen war versumpft. Im Wald hatten die Bauern wahllos Holz geschlagen. Die Kulturen waren vernichtet, die Umfriedung der Pflanzgärten war eingestürzt, und aus den Baumschulen waren die kleinen Tannen gestohlen. Von Wild zeigte sich keine Spur. Alles hatten die Bauern niedergeknallt oder in Schlingen gefangen. „Wir müssen ganz von vorne anfangen", hatte Henrici gesagt, und Bäuerle hatte ihm in einer stillen Begeisterung zugenickt.
Bis zur Dämmerung schritten sie über die Felder.
Henrici nahm Ackerproben mit, die er später untersuchen wollte, um die Kapazität des Bodens festzustellen. Wo sie einen Sumpf fanden, steckten sie einen Stab in die Erde und banden ein rotes Tuch daran. Sie wateten durch den Morast. Es war Mai, und die Sonne besaß schon zeugende Kraft. In der Woche darauf wurden fünfunddreißig Tagelöhner in Dienst gestellt. Sie entsteinten die Äcker, sie entwässerten die Wiesen, sie begannen, den Wald aufzuforsten. Jeden Morgen, kurz nach Sonnenaufgang, erhob sich Bäuerle. Er ging mit Henrici nach dem Vorwerk hinaus, wo eine große Wiese trockengelegt wurde, sie prüften das Gefäll der kleinen Kanäle, dann gingen sie in den Wald, der völlig verwildert war. Sie ordneten die Sprengung alter Wurzeln an, sie ließen Wege durch das Gestrüpp schlagen und Futterplätze für die Tiere bauen, die im kommenden Monat ausgesetzt werden sollten. Am liebsten jedoch half Bäuerle bei der Rettung der Reben. Hier war zwar die Verwüstung auch nicht gering, aber die Stöcke hatten doch in der Mehrzahl dem Verfall getrotzt. Man konnte sogar auf einen mittleren Weinherbst hoffen, wenn es rechtzeitig gelang, der zahllosen Schädlinge Herr zu werden. Johann Kaspar war in den Rheingau gefahren und hatte neue Schösslinge gekauft. Er pflanzte sie am südlichen Hang, wo der Hügel der Sonne besonders zugeneigt und der Boden mit Schiefer durchwachsen war. Das Rebstück nannte er Irene. „Frieden", hatte Henrici gelächelt, und als Johann Kaspar, über des Verwalters griechische Kenntnisse erstaunt, ihn fragte, warum er lächle und den Kopf schüttle, da hatte Henrici geantwortet, er glaube nicht an dieses Wort.
Allein war Johann Kaspar zwischen den Reben stehengeblieben, betroffen über die Sprache des Verwalters. Lange hatte er in die Sonne geblinzelt. Rötliche Schatten flimmerten vor seinem Auge. Der Satz, hingeworfen wie ein nebensächlicher Gedanke, wollte ihm nicht aus dem Sinn. Aber dann hatte er sich gebückt, hatte die Harke zur Seite gelegt und begonnen, mit den Händen die Erde zu häufeln.
Weit über Siebenwasser hinaus wurde der Aufbau des Guts durch Johann Kaspar als eine Tat gepriesen. Aus Stuttgart und Heidelberg schickten die Zeitungen Reporter, aber Bäuerle verweigerte jedes Interview. Er verwies sie an Henrici. Was sie dort erfuhren, waren nüchterne Zahlen über den Stand des Gutes, ein paar sarkastische Sätze über die Agrarpolitik der Regierung und am Schluss einen ironischen Abschied. Die Reporter gingen in die Stadt und horchten dort in den Kneipen die Handwerker über den Amerikaner aus. Hier fanden sie den Stoff, der dem Geschmack ihrer Leser entsprach. Die Legende hatte sich in Siebenwasser bereits Johann Kaspars bemächtigt. Die Ziffern, die man sich über sein Vermögen zuflüsterte, hatten die Fünfmillionengrenze längst überschritten. Die Fabriken, die er in Baltimore besaß, machten ganze Stadtviertel aus. Die Anleihe, um die sich Siebenwasser schon seit Monaten bei einem New Yorker Bankhaus bewarb, war durch ein Telegramm Bäuerles an den Präsidenten im Handumdrehen erledigt worden.
Seine Tochter stamme mütterlicherseits aus einem alten spanischen Fürstengeschlecht, das in Mexiko riesige Ländereien besäße. Während des Krieges habe Johann Kaspar in einem Konzentrationslager für seine deutsche Gesinnung geschmachtet. Aber nach Friedensschluss habe sich der Präsident der Vereinigten Staaten persönlich bei ihm entschuldigt. Es habe ihn jedoch seitdem nicht mehr in Amerika gelitten. Er sei nach Hause zurückgekommen mit der Absicht, sein gewaltiges Vermögen dem deutschen Wiederaufbau zur Verfügung zu stellen, ja, man spreche davon, dass er seine Fabriken nach Siebenwasser legen wolle. Er sei ein richtiger Volksheld, ein großer deutscher Pionier, ein Vorbild für die Jugend. Dieses und ähnliches war in den Zeitungen angedeutet, oft aber auch plump und breit wiedergegeben. Bäuerle hatte dafür nur ein Lächeln. Als ihm jedoch eines Morgens Irene ein Zeitungsblatt auf den Tisch legte, in dem zu lesen war, dass sein Vater, ein urwüchsiger Schwabe, nach den Staaten gegangen sei, um dort deutsche Tüchtigkeit, deutsche Gesittung und deutschen Werkfleiß zu verbreiten, ja, dass er als geachteter und vermögender Mann, stolz auf die Erfüllung seiner deutschen Pflicht, in New York gestorben sei — da hatte den Johann Kaspar doch die Wut gepackt, und er hatte sich hingesetzt und der Redaktion einen Brief geschrieben: „Sehr geehrte Herren", hatte er geschrieben, „Sie können ja über mich zusammenfaseln, was sie nur wollen. Das schiert mich nicht. Wenn Sie aber den Tod meines Vaters patriotisch auszuschlachten versuchen, dann habe ich Ihnen folgendes zu erklären: Mein Vater ist in den USA. elend gestorben. Er hatte seine Heimat verlassen, weil er den preußischen Geist, der sich ihrer bemächtigt hatte, nicht mehr ertrug. Er hasste ihn mehr als die Pest, und er hat recht gehabt damit, denn es hat sich gezeigt, dass dieser Geist noch größere Opfer verschlang als zehn Pestilenzen. Ich bin zurückgekommen, weil ich glaube, dass diesem Geist inzwischen der Garaus gemacht wurde. Hochachtungsvoll! J. K. B."
Wenn Irene an Baltimore dachte, stand immer wieder das grässliche Erlebnis jener Nacht vor ihren Augen. Alles andere war wie hinter einem Schleier, die Kindheit, die Schule, das Leben im Haus des Vaters, die Reisen durch das Land, die Freundinnen und die Tennisspiele am Nachmittag. Nur dies eine stand in grässlicher Deutlichkeit immer wieder vor ihr auf. Niemals war zwischen ihr und dem Vater noch ein Wort über jene Nacht gefallen, aber es schien Irene, sie habe damals schon die Heimat verlassen, als sie durch den Regen nach Hause ging. Der Schuss, mit dem sie sich der Griffe des Jungen erwehrt hatte, war mehr gewesen als der letzte Versuch, sich zu retten. Unter ihm war nicht nur die Schutzscheibe des Wagens zersplittert. Sie hatte damit auch die selbstsichere Ruhe ihrer Kindheit in Scherben geschossen.
Von diesem Tag an war alles für sie anders geworden. Nicht nur, dass sie die Heimat verlassen und hier in dieses geheimnisvolle Deutschland gekommen war, auch ihre Art, die Menschen zu fühlen, ihre Worte zu wägen, ihr Schweigen zu deuten, hatte sich gewandelt. Wo früher manchmal ein kühles Erstaunen war oder höchstens ein Schreck, da wuchs jetzt eine leidenschaftliche Freude, eine quälende Neugier, eine beklemmende Ungeduld nach den Erscheinungen dieser Welt. Es war Irene, als sei sie plötzlich in Bewegung geraten, und sie wisse nicht, wohin das alles ziele. Sie konnte nicht mehr wie früher, still und einfach über die Arbeit des Tages gebeugt, den Abend erwarten. Die Bäume, die sie sah, die Menschen, die sie vernahm, der Wind, der sie berührte, die Tiere, die sie erblickte, die Sonne, der Regen, die Nacht — alles besaß plötzlich einen neuen Klang, einen anderen Duft, einen näheren Atem. Auch der Vater hatte sich verwandelt. Wenn er in Baltimore abends von der Fabrik nach Hause kam, war er von einer distanzierten Ruhe erfüllt. Er sprach nie von Geschäften, nie von jener Welt, in der er sich den Tag über bewegte. Jetzt aber sah sie ihn an der Arbeit, ja, sie wurde dieser Arbeit teilhaftig.
Ein fremdes Land mit all seinen Rätseln lag um sie. Neue Menschen drangen mit Fragen, Bitten und Wünschen auf sie ein. Sie trug die Verantwortung für das Leben im Haus. Es gab keine Stunde ohne Veränderung. Alles gedieh durch den Wechsel. Irene bewunderte den Vater. Wie unverdrossen sein Eifer war, mit dem er den Aufbau des Gutes betrieb. Bis tief in die Nächte saß er mit Henrici zusammen. Vor ihnen auf dem Tisch lagen Tabellen, Zeitschriften, Getreideproben, Obstsorten, chemische Pulver und Erde. Nie hatte Irene geglaubt, dass der Gewinn der menschlichen Nahrung mit soviel Überlegungen und
Anstrengungen verbunden sei. Erstaunt hörte sie auf die Gespräche der Männer. Sie vernahm ihre Berechnungen über die Arbeitskraft eines Tagelöhners, eines Knechts und einer Magd. Sie erfuhr die Entwicklung des Korns von der Aussaat bis zur Ernte. Sie lernte die merkwürdigen Verbrennungsprozesse innerhalb der Erdkrume kennen. Henrici und Bäuerle arbeiteten nach einem Plan. Lange hatten sie den Markt studiert. Sie waren beide zu der Auffassung gekommen, dass sich der getreideproduzierende Bauer in Deutschland unmöglich halten könne, es müsse denn sein, die Regierung griffe zu Zwangsmaßnahmen und würge jede ausländische Konkurrenz rücksichtslos ab. Da dies jedoch ohne eine katastrophale Erschütterung des gesamten Weltmarkts nicht zu erreichen wäre, was für Deutschland als Exportland unübersehbare Folgen nach sich ziehen müsse, hatte Henrici Bäuerle vorgeschlagen, sich völlig umzustellen. Aus Weißenfels sollte ein Obst- und Gemüsegut werden. Bei intensiver Bewirtschaftung habe man in zwei Jahren den rentablen Anfang erreicht.
So kam es, dass die Arbeiten plötzlich in anderen Bahnen verliefen. Ein Drittel der Äcker wurde für den Gemüsebau angelegt. Ausgedehnte Spargelkulturen entstanden. Eine große Obstplantage wurde geschaffen. Die Weinberge wurden vergrößert. In langen, unübersehbaren Reihen standen die Himbeerstöcke über dem Feld. Kleine Wälder von Johannisbeersträuchern wuchsen aus dem Boden. Eine Berieselungsanlage wurde gebaut. Rechts hinter dem Hof zimmerten sie eine Geflügelfarm. Gurken, Kürbisse und Tomaten, Rüben, Bohnen und Salate zogen sich in breiten Flächen bis nach dem Wald zu. Bäuerle verdoppelte die Herde, Bäuerle erweiterte die Molkerei. Morgens ging er als erster über den Hof und weckte die Knechte. Er sprühte von Gesundheit und Eifer. Die Erde klebte an seinen Sohlen. Doch seine Füße wurden nicht schwer.
Hans Diefenbach hatte das Abitur bestanden. Von der mündlichen Prüfung war er befreit, trotz seiner mangelhaften Leistungen in Mathematik. Es waren aufregende Wochen gewesen, denn die Kommission hatte lange geschwankt, ob sie Hans überhaupt zulassen solle. Es gab da Bestimmungen über den Wechsel in die preußischen Schulen, die es eigentlich verlangten, dass Hans noch ein Semester länger in Hanau bleibe. Aber durch eine Eingabe des Lehrerkollegiums war die Sache günstig erledigt worden. Hans war in der Schule beliebt. Der Glanz eines Märtyrers umgab den sympathischen Jungen. Zwar wusste man nicht genau, was vorgefallen war, aber die schweigsame Abneigung der Lehrerschaft gegen den Staat und diese schwache Republik genügte, um Hans jede Unterstützung zu sichern. Das Gros der Lehrer war monarchistisch. Das zeigte sich auch in den Aufsatzthemen, die sie zum Abitur zur Auswahl vorlegten. „Der Konflikt des Prinzen von Homburg" — „Friedrich der Große und der kategorische Imperativ" — „Der Sturm auf Langemarck" oder „Der heilige Opfergang einer Generation."
Hans hatte sich für den Sturm auf Langemarck entschieden. Wie sich hier blinder Gehorsam hinaufhob in die sittliche Sphäre des freiwilligen Opfers, wie sich hier Tausende junger Menschen in den sicheren Tod warfen, um jenseits des militärischen Nutzens zu einem Symbol für jene zu werden, die nach ihnen kamen, wie hier zum ersten mal der Glaube an das kommende, heilige Reich der Deutschen aufbrach, aus Blut und Leid... das alles hatte Hans hingerissen und befeuert. Alle Skrupel, alle quälenden Gedanken, alle Zweifel an dem Führer und der Bewegung, die ihn seit seinem Hanauer Aufenthalt bedrängten, sie versanken vor dem gewaltigen Tod von Langemarck. Eine Stelle jedoch befand sich in dem Hymnus des Knaben, ein schmaler, plötzlich aufleuchtender Gedanke, bei dem der Ordinarius stockte „... so ist es doch merkwürdig, zu sehen, dass sich erst vor dem Tod die ganze sittliche Größe des deutschen Menschen erweist. Dies hat, trotz des beispiellos heroischen Vorgangs, recht eigentlich etwas Unnatürliches an sich. Wenn es uns einmal gelänge, so zu leben, wie wir zu sterben verstehen, dann erst, so scheint es mir, haben wir wahre sittliche Größe. Und der gefährliche Gedanke drängt sich auf, dass der Dämon des Sichopferns, der unser Wesen beherrscht, nur eine entsetzliche Umkehrung des Mangels ist: unser Leben nach den Gesetzen der Vernunft und der allgemeinen Ordnung zu gestalten." Hans Diefenbach hatte eine halbe Stunde über diesen Sätzen gesessen. Sie waren ihm unter die Feder gekommen, ganz im Gegensatz zu dem, was er vorher geschrieben hatte und was er noch plante zu schreiben. Er hatte gezögert, sie stehenzulassen.
Zum ersten Mal spürte er deutlich, dass etwas durch ihn hindurch dachte, eine fremde, ihm bisher unbekannte Macht, ein geheimer, quälender Zweifel. Aber zugleich erlebte er die Lust am eigenen Gedanken, die Freude am Protest gegen das Übliche, den Rausch am ersten selbständigen Schritt. Er hatte die Sätze nicht weggestrichen. Ein wenig furchtsam, aber dennoch getragen von dem Bewusstsein einer besonderen Überlegung war er zu dem Katheder gegangen und hatte die Arbeit abgeliefert. In der Spannung der nächsten Tage hatte er sie vergessen. Das Gefühl, endlich aus der Umklammerung der Schule herauszukommen, verschlang jede Nachdenklichkeit.
Erst auf der Exkneipe, draußen in einem kleinen Bauerngasthof am Main, waren sie ihm wieder lebendig geworden. Während des Gesangs und der übermütigen Späße hatte sich der Ordinarius zu ihm gesetzt und ihn leise an die Sätze erinnert. „Diefenbach", hatte er gesagt, „nicht soviel nachgrübeln. Frisch drauflos! Das ist heute die Parole." Mit diesem Satz hatte Hans die Schule verlassen. Er war von Hanau zunächst in ein Dorf im Odenwald gefahren, wo ein früheres Dienstmädchen seiner Mutter verheiratet war. Dort in der Ruhe und Pflege der dörflichen Einfalt wollte er sich klar darüber werden, was er zu tun gedenke in seinem Leben. Die Briefe der Mutter waren in den letzten drei Monaten immer einsilbiger und nüchterner geworden, kaum noch, dass Hans aus diesen flüchtig hingekritzelten Briefen ein Gefühl der Sorge und Liebe entgegenschlug. Er hatte sich zunächst um die Wandlung in der Art der Mutter kaum gekümmert. Die Vorbereitungen zum Abitur, der aufregende Briefwechsel mit Gerhard Träger, die Zweifel an sich selbst und an der absoluten Richtigkeit der Mission des Führers hatten die Beziehungen zur Mutter zurücktreten lassen.
Erst hier, in der Abgeschiedenheit des Dorfes, im Besitz einer Freiheit, die ihn unruhig machte, begann er sich wieder der Mutter zu nähern. Er hatte ihr geschrieben, dass er das Examen bestanden habe, und er hatte sie gefragt, was jetzt werden solle mit ihm.
Fünf Tage hatte er auf Antwort gewartet. Dann war der Brief gekommen. Zwei mit Bleistift überkritzelte Bogen.
Frau Diefenbach schrieb, Hans müsse sich klar darüber sein, dass es mit der Universität nichts werde. Sein Aufenthalt in Hanau habe sie so tief in Schulden gestürzt, dass sie fast ein Jahr daran zu tragen habe. Er könne natürlich nach Hause kommen. Aber vielleicht wäre es besser, er bemühe sich sofort um eine Elevenstelle auf einem Gut. In ihrem Leben habe sich so viel geändert, was sicher für Hans schwer zu begreifen sei. Es wäre besser, sie sähen sich eine Zeitlang nicht. Später ergäbe sich schon eine Aussprache, die alles kläre. „Sorge Dich nicht um mich, mein Leben ist in guter Hand. Ich arbeite täglich mit Pg. Dern für die herrliche Bewegung und finde mein Glück. Wie Schuppen ist es mir in diesen Monaten von den Augen gefallen. Was waren wir für Narren, jahrelang in die Kirche zu laufen, wo doch der Mensch lebt, der uns erlöst. Heil Hitler! Deine
Mutter... PS. Es ist wirklich besser, Du bleibst eine Weile in dem Dorf. Etwas Geld und Wäsche schicke ich Dir."
Eine halbe Stunde nach Empfang des Briefes war Hans fest entschlossen gewesen, sofort nach Siebenwasser zu fahren. Beim Packen der Koffer jedoch war er zusammengebrochen. Die Bäuerin Berta, das frühere Dienstmädchen, legte ihn aufs Bett. Sie kochte ihm Tee, und ihr Mann holte Schnaps aus dem Wirtshaus. Einen Tag und eine Nacht hatte Hans ohne ein Wort verbracht, dann hatte er sich erhoben und an Gerhard Träger geschrieben. Der Offizier war sofort mit dem Wagen gekommen. Sie gingen durch die Wiesen. Es war ein klarer Tag. Das Gras duftete, und am Himmel stand keine Wolke.
Sie erreichten den Rand des Waldes. In der Mulde lag das Dorf. Schmal und weiß stieg der Rauch aus den Kaminen. Von der Kirche schlug es eins. Sonst war es still, nur der Schrei eines Hähers warf sich zweimal kurz über das Tal.
Der Offizier hatte den Arm um die Schulter des Knaben gelegt.
„Was ich von dir verlange, ist unbedingte Disziplin." „Hätte ich dich sonst gerufen?" antwortete Hans. „Gut", sagte Gerhard Träger, „ich habe mit deiner Mutter gesprochen. Es ist nicht möglich, dass du nach Hause fährst. Ein Kompromiss würde nur schaden und die Atmosphäre noch mehr vergiften. Du bist doch auch für klare Lösungen?" „Zuerst muss ich wissen, was geschehen ist", sagte Hans. „Red doch endlich offen!" schrie er und warf den Arm des Offiziers von seiner Schulter. Unbeherrscht sah er Gerhard Träger an. Mit seinen Händen riss er an einem Ginsterbusch und zerfetzte die Blüten.
Der Offizier bewegte sich nicht. Hart war der Ernst seines Gesichts. „Der Tatbestand ist einfach, Hans", sagte er, „aber damit allein können wir wenig anfangen. Deine Mutter befindet sich seit Wochen in dem Zustand der Schwärmerei. Aber es ist eine sehr irdische Schwärmerei. Sie ist hörig, verstehst du mich. Sie ist einem Mann vollkommen hörig, und dieser Mann ist der Pg. Dern." „Es wäre ja nichts Besonderes", fuhr Träger fort, „wenn sie den Mann einfach liebte. Nicht wahr, das ließe sich ertragen, aber was mit ihr vorging, reicht viel tiefer. Das geht bis zur radikalen Verleugnung ihres früheren Lebens. Ich sage es dir schonungslos: deine Mutter hat jede Erinnerung an deinen Vater radikal ausgetilgt. Sie behauptet, seit sie Dern kennt, hätte sie erst zu leben begonnen. Sie ist ihm völlig verfallen, und alles, was sie an früher erinnert, stößt sie von sich. Auch dich, Hans." Gerhard Träger schwieg. Der Junge antwortete nicht. „Wie das alles im Einzelnen kam", sagte der Offizier nach einer Weile, „vermag ich nicht zu ergründen. Aber zu der ganzen Verwirrung, die jetzt in dein Leben kommt, tritt noch eine Perfidie. Wir müssen beide versuchen, sie zu überwinden. Deshalb bin ich hier, Hans. Ich werde dich nicht allein lassen." Das Gesicht des Offiziers war blass geworden, seine Lippen schmal. In gebändigter Erregung betrachtete er den Jungen.
„Du weißt", sagte er, „welche Rolle der Pg. Dern in der Partei spielt. Er war einer der ersten, die sich hinter den Führer stellten. Daran ist nicht zu rütteln. Das genügt, um ihn gegen jeden Angriff zu sichern. Aber wir wollen ganz offen reden. Ich halte diesen Postsekretär für ein von Hass und Größenwahn besessenes Geschöpf. Die Parteidisziplin verbietet mir, das offen zu sagen. Wenn ich sie vor dir breche, so widerspricht das eigentlich meinem Gelöbnis, aber ich kann nicht anders, Hans. Ich muss zu dir stehen, gerade weil dein Fall kein privater mehr ist, sondern bereits eine Angelegenheit der Partei. Doch davon später. Man muss Dern verstehen. Im Krieg war er Feldwebelleutnant, hatte das zweifelhafte Glück, in der Etappe zu sitzen, wo das Offizierskorps noch sehr exklusiv war. Man ließ diesen Postsekretär, den sein Pech zu einem feudalen Regiment verschlagen hatte, bei jeder Gelegenheit spüren, dass man ihn nicht für voll nehme. Im Kasino saß er unten am Tisch mit einem Zahlmeister zusammen. Er hat es mir selbst einmal erzählt, wie sie ihn gehänselt haben, die Herren. Ich kenne den Spuk leider zu genau. Bei der Revolution erlebte er dann, wie diese Herren es zum größten Teil vorzogen, Zivil anzuziehen. Damals, als es an Männern fehlte, die sich aufrafften, roch er seine große Chance. Auf dem Umweg über die Freikorps kam er nach München. Er war wirklich einer der ersten, die zum Führer stießen. Er prügelte sich in Versammlungen herum, sein berserkerhafter Mut machte ihn bald gefürchtet, im November 23 marschierte er mit. Allein ihm ist es zu verdanken, dass die Partei sich hier in unserem
Gau so rasch wieder erholte. Er verzichtete auf Beförderung, er ließ sich verlachen — aber er gab nicht nach. Das ist ja das Fürchterliche, Hans, er ist ein Säufer, ein rachsüchtiger, ungebildeter Mensch, ein größenwahnsinniger Gauch, aber an dem Führer hängt er wie ein Hund. Er ließe sich in Stücke hauen für ihn. Aber es gibt da noch etwas anderes, was ihn toll, aber auch fast unangreifbar macht. Du weißt, wie er über die Juden spricht. Das ist schon kein Antisemitismus mehr, wie wir ihn pflegen müssen, das ist glatter Verfolgungswahn. Wenn er einen Juden sieht, fängt er tatsächlich an zu schäumen. Er nennt diese Rasse die Seelenpest. Er behauptet von ihr, dass sie systematisch das Volk und besonders die Frauen vergifte. Er glaubt an den Ritualmord. Und seit einigen Wochen predigt er, die Schmach des November 1918 sei weiter nichts gewesen als ein Lustmord des Juden am deutschen Volk. Nun kann man ja im Kampf um die Macht jedes Mittel benutzen, auch den Juden als geilen Satan. Das wirkt auf die Frauen. Und der Jude als Nachtmahr, das wirkt auf das ungebändigte Grauen in ihnen. Es ist tatsächlich so, was vor dreihundert Jahren die Hexen waren, das ist heute der Jude bei Pg. Dern. Wenn er in den Dörfern spricht, sind am Ende die Versammlungen wie eine Gemeinde Verzückter. Mit Politik hat das gar nichts mehr zu tun. Die Leute fallen einfach in sich zusammen, besonders die Frauen. Und so ist es auch deiner Mutter ergangen."
Der Offizier schwieg. Er zitterte vor Erregung. Er wandte Hans den Rücken.
„Wie dieser Postsekretär privat lebt, will ich dir nicht sagen. Er ist ein Schwein. Das weiß man auch in München. Aber man kennt dort seinen Einfluss auf bestimmte Kreise. Man ist dort nicht zimperlich. Denn wir brauchen die Massen, selbst wenn sie ein Schwein hypnotisiert. Ich würde auch nie etwas über Dern gesagt haben, wenn er nicht in dein Leben, Hans, eingegriffen hätte. Unser Führer hat allerhand Kostgänger, und nur er allein weiß, was nötig ist. Wir haben nur zu gehorchen. Siehst du, Hans, das wollte ich dir sagen. Du musst über dein privates Schicksal hinaus immer nur nach dem Führer sehen. Du darfst nicht irre werden, Hans, wenn ein Dern deine Mutter versklavt, wenn deine Mutter alles aus sich herausreißt, deinen Vater, dich... Hans! Hans!" — der Offizier flehte — „dass du mir nicht irre wirst! Nie!"
Er hielt den Jungen an den Schultern. Hans sah ihn an.
„Schlägt er auch die Mutter, so wie er andere Frauen
geschlagen hat?" frug er den Offizier.
„Das weiß ich nicht. Sie ist Wachs in seiner Hand",
antwortete Gerhard Träger.
„Spricht sie noch von meinem Vater?"
„Ja..." Gerhard Träger stockte.
„Was spricht sie von meinem Vater?"
„Ich weiß es nicht genau..."
„Ich will wissen, was sie von meinem Vater spricht!" Hans hatte den Offizier am Arm gepackt. Blutleer war sein Gesicht. Seine Augen quollen. „Sag mir die Wahrheit!" schrie er, „du sollst mir die Wahrheit sagen!"
„Es ist nicht die Wahrheit", antwortete Gerhard Träger, „es ist eine furchtbare Vergiftung, eine Lüge, die sie spricht. Es ist ein verruchtes Mittel, sich innerlich auch von dir zu lösen. Dern hat es ihr gegeben. Sie sagt, in der Familie deines Vaters sei jüdisches Blut, und nur dein Tod für die Bewegung könne die Schande..."
Mit einem Schrei hatte Hans den Arm des Offiziers losgelassen. Er raste den Abhang hinab. Wirr rannte er durch die Wiesen. Hinter ihm lief der Offizier. Er schwang einen Zettel. „Es stimmt ja nicht", schrie er, „ich habe doch... das Rassenamt... Hans..."
Aber Hans hörte ihn nicht. Er lief und lief. Er stürzte. Er kam wieder hoch. Er rannte nach der Mühle.
Der Offizier sah das Wehr. Mit eisiger Ruhe maß er die Distanz zwischen sich und dem Fliehenden. Er übersprang eine Hecke. In jähem Lauf schlug er einen Bogen. Er erreichte die Kreisstraße. Blitzschnell ließ er sich am Geländer der Brücke hinab. Bis zur Brust stieg ihm das Wasser. Er packte den Jungen, der ihm wütend in die Finger biss. Er riss ihn ans Ufer. Sie rangen in keuchendem Schweigen. Endlich hob er die Faust und schlug ihn zu Boden.
Lange hatte der Offizier neben dem Knaben gesessen. Er hielt seinen Kopf und strich ihm das Heu aus den Haaren.
Doch die Tränen wagte er nicht zu berühren. |
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