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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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IX. Metschik bei der Abteilung

Staschinskij erfuhr von dem Aufbruch durch den Gehilfen des Wirtschaftsleiters, der ins Lazarett gekommen war, um hier Lebensmittellager zu organisieren.
»Ein findiger Kopf, dieser Lewinsohn«, sagte der Gehilfe und setzte seinen gekrümmten Rücken in der verblichenen Bluse der Sonne aus. »Ohne ihn wären wir alle aufgeschmissen gewesen... urteile selbst, auch jetzt: den Weg zum Lazarett kennt niemand, im Fall man hinter uns her ist, verschwinden wir hier, hast du nicht gesehen, mit der ganzen Abteilung!... Finden hier schon Proviant und Fourage vor. Fein ausgetüftelt!...« Der Gehilfe blickte begeistert auf, und Staschinskij sah, dass er Lewinsohn nicht allein deshalb lobte, weil jener in der Tat ein »findiger Kopf« war, sondern auch noch des angenehmen Gefühls wegen, das der Gehilfe dabei empfand, einem anderen Menschen Vorzüge zuzuschreiben, die er selber nicht besaß.
An dem gleichen Tage war Metschik zum ersten Mal wieder auf den Beinen. Von rechts und links gestützt, spazierte er über die Wiese, setzte freudig erstaunt die Füße auf den weichen Rasen und lachte unvermittelt wie ein Kind. Als er später auf dem Feldbett lag, spürte er sein Herz rastlos klopfen, vielleicht vor Erschöpfung, vielleicht auch jener beglückenden Berührung mit der Erde wegen. Seine Beine zitterten noch vor Schwäche, und über seinen Körper huschten lustige Schauer wie von kribbelnden Ameisen.
Während Metschik spazierenging, folgte ihm Frolow mit neidvollen Blicken, und Metschik vermochte des Gefühls nicht Herr zu werden, irgendwie in dessen Schuld zu stehen. Frolow war schon so lange krank, dass er das Mitleid der ganzen Umgebung ausgeschöpft hatte. Aus ihrer ständigen Zärtlichkeit und Fürsorge hörte er die immer wiederkehrende Frage: »Wann endlich stirbst du nun?« Er aber wollte nicht sterben. Die sichtliche Unsinnigkeit, mit der er sich ans Leben klammerte, lastete wie ein Grabstein auf allen.
Sonderbare Fäden spannen sich bis zu dem Tag, an dem Metschik das Lazarett verließ, zwischen ihm und Warja, wie bei einem Spiel, bei dem jeder Spieler die Absicht seines Partners kennt und fürchtet, aber keiner sich getraut, einen kühnen, entscheidenden Schritt zu tun.
Während ihres mühevollen, mit Geduld getragenen Lebens, durch das so viele Männer gegangen, so viele, dass man sie weder an der Farbe der Augen noch an der Haarfarbe zu unterscheiden vermochte, und selbst ihre Namen nicht mehr auseinander zuhalten waren, hätte Warja keinem einzigen sagen können: »Mein Einziger, Geliebter!« Metschik war der erste, zu dem so zu sprechen sie das Recht hatte und es auch nutzte. Nur er, vermeinte sie, der Schöne, Bescheidene, Zärtliche, war imstande, ihre Sehnsucht nach Mutterschaft zu stillen, und sie glaubte, dass eben darum sie ihn so lieb gewonnen hatte. In beängstigender Stummheit rief sie nach ihm in den Nächten, folgte ihm am Tage unermüdlich, wohin er auch ging, bestrebt, ihn von den Menschen wegzubringen, um ihm ihre späte Liebe zu schenken. Jedoch aus unerklärlichen Gründen traute sie sich nie, dies offen zu bekennen.
Und obschon Metschik mit aller Leidenschaft und Phantasie seiner erwachenden Mannbarkeit dasselbe wollte, vermied er es doch hartnäckig, allein mit ihr zu bleiben, schleppte entweder Pika mit sich oder klagte über Unwohlsein. Er war äußerst schüchtern, da er noch nie eine Frau berührt hatte; er glaubte, für ihn müsste das sehr beschämend werden, nicht wie sonst bei Menschen. Gelang es ihm aber, seine Scheu zu überwinden, dann erstand vor ihm plötzlich Moroskas drohende Gestalt, wie er mit der Gerte fuchtelnd aus der Taiga kam, und Metschik empfand dann ein Gemisch von Furcht und dem Bewusstsein einer nie zu tilgenden Schuld vor diesem Menschen.
In diesem Hin und Her magerte er ab und wurde reifer, vermochte aber bis zur letzten Minute nicht, seiner Schwäche Herr zu werden. Pika und er machten sich auf den Weg, nachdem sie sich verlegen von allen, als ob es Fremde wären, verabschiedet hatten. Auf dem Fußpfad holte Warja sie ein.
»Komm, lass uns doch wenigstens richtig Abschied nehmen«, sagte sie; das Laufen und die Verlegenheit hatten ihr das Blut ins Gesicht getrieben. »Dort habe ich mich geschämt... das ist mir noch nie passiert, aber diesmal habe ich mich geschämt«, und steckte ihm schuldbewusst einen gestickten Tabaksbeutel zu, wie es Brauch war bei den jungen Mädchen im Bergwerk.
Ihre Verlegenheit und das Geschenk widersprachen so ganz ihrem Wesen. Sie tat Metschik leid, und da er sich vor Pika schämte, berührten seine Lippen kaum die ihren; sie aber umfing ihn mit einem letzten verschleierten Blick, und ihr Mund begann sich zu verzerren.
»Besuch mich, vergiss es nicht.'« rief sie, als er schon im Dickicht verschwunden war. Und da sie keine Antwort vernahm, sank sie schluchzend ins Gras.
Unterwegs, nachdem Metschik die düsteren Erinnerungen abgeschüttelt hatte, fing er an, sich als echter Partisan zu fühlen und krempelte, um braun zu werden, sogar die Ärmel hoch: er vermeinte, dass dies äußerst wichtig sei in dem neuen Leben, das er begonnen hatte nach dem denkwürdigen Gespräch mit der »Schwester«.
Die Mündung des Irochedsa war von japanischen Truppen und Koltschakleuten besetzt. Pika, furchtsam und nervös, jammerte die ganze Zeit über eingebildete Schmerzen. Metschik konnte Pika nicht überreden, zur Umgehung des Dorfes den Weg durchs Tal zu nehmen. Es blieb nichts anderes übrig, als an Felsen entlang, über unwegsame Ziegenpfade zu klettern. In der zweiten Nacht stiegen sie, bei jedem Schritt vom Tode bedroht, die felsigen Hügel zum Fluss hinab. Metschik war noch nicht fest auf den Beinen. Während es zu dämmern begann, erreichten sie eine koreanische Hütte; gierig würgten sie den ungesalzenen Maisbrei hinunter, und als Metschik die zerlumpte, klägliche Gestalt Pikas betrachtete, versuchte er sich vergebens, das Bild des stillen und lichten Greises am friedlichen schilfumstandenen See, das ihn einst so gefesselt, in Erinnerung zu bringen. Pika unterstrich durch sein klägliches Äußeres gleichsam die Unbeständigkeit und das Trügerische dieses Friedens, der weder Ruhe noch Rettung gewährte.
Dann kamen sie noch an vereinzelten Vorwerken vorüber, auf denen man nichts von den Japanern wusste. Auf die Frage, ob die Abteilung vorbeigekommen sei, wies man sie nach dem Oberlauf des Flusses, forschte nach Neuigkeiten, bewirtete sie mit Honigkwass, indessen die Mädels Metschik Blicke zuwarfen. Schon war die Erntezeit ins Land gekommen. Die Wege ertranken im dichten, körnigen Weizen, in den Morgenstunden glitzerte der Tau in den leeren Spinngeweben, und die Luft war erfüllt von dem herbstlich-klagenden Summen der Bienen.
Gegen Abend erreichten sie Schibischi; das Dörfchen lag südwärts, am Fuß eines bewaldeten Hügels, von der untergehenden Sonne bestrahlt. Vor einer morschen, von Schwämmen überwucherten Kapelle tummelte sich eine Schar lustiger Schreihälse beim Wurfspiel, die Mützen mit roten Bändern geschmückt. Ein Männchen in hohen Stulpstiefeln, mit langem, keilförmigem, kupferfarbenem Bart, einem Gnomen ähnlich, wie sie in Kindermärchen vorkommen, hatte eben einen Wurf getan und schmählich danebengetroffen. Gelächter erschallte. Das Männchen grinste verlegen, aber offensichtlich war ihm das keineswegs peinlich, sondern kam ihm ebenfalls höchst belustigend vor.
»Das ist er, Lewinsohn«, sagte Pika.
»Wo?«
»Na, dort, der Rotbart...« Pika ließ den verblüfften Metschik stehen und trippelte unerwartet, mit teuflischer Behändigkeit, auf das kleine Männchen zu.
»Eh, Jungens, guckt mal, Pika!...«
»Ja, Pika selbst...«
»Hast dich hergeschleppt, kahlköpfiger Satan!...«
Die Burschen ließen das Spiel im Stich und umringten den Greis. Metschik hielt sich abseits, ohne recht zu wissen, ob er sich ihnen zugesellen oder warten sollte, bis man ihn ruft.
»Wen hast du da mitgebracht?« fragte endlich Lewinsohn.
»Einen Burschen aus dem Lazarett - ein guter Junge!...«
»Der Verwundete Moroskas«, warf einer dazwischen, der Metschik erkannt hatte, der, als er vernahm, dass von ihm die Rede war, näher herantrat.
Es stellte sich heraus, dass das Männchen, das sich so ungeschickt beim Wurfspiel angestellt hatte, große und schlaue Augen hatte. - Sie packten Metschik, krempelten sein Inneres nach außen und hielten es so einige Augenblicke fest, als wögen sie alles ab, was sie dort gefunden hatten.
»Bin also zu euch in die Abteilung gekommen«, begann Metschik und errötete, als er seine hochgestülpten Ärmel bemerkte, die er vergessen hatte herunterzukrempeln. »War bei Schaldyba, früher... bevor ich verwundet wurde«, setzte er des Nachdrucks wegen hinzu.
»Und bei Schaldyba seit wann?«
»So von Mitte Juni...«
Lewinsohn ließ abermals seinen forschenden, prüfenden Blick auf ihm ruhen und fragte:
»Schießen kannst du?«
»Ja...«, sagte Metschik unsicher.
»Jefimka... hol mal ein Gewehr...«
Während das Gewehr besorgt wurde, fühlte Metschik, wie ihn von allen Seiten Dutzende neugieriger Augen betasteten, deren stumme Hartnäckigkeit er als Feindschaft zu deuten begann.
»Na, also... auf was könntest du da schießen?« Lewinsohn suchte nach einem Ziel.
»Ins Kreuz!« schlug irgend jemand freudig vor.
»Nein ins Kreuz, das verlohnt sich nicht... Jefimka, stell mal einen Knüttel auf den Pfahl, ja dort, auf jenen...«
Metschik nahm das Gewehr und hätte vor Beklommenheit fast zu blinzeln begonnen. (Diese Beklommenheit hatte ihn ergriffen, nicht weil er schießen musste, sondern weil er meinte, alle wünschten ihm, dass er daneben träfe.)
»Die Linke etwas anziehen, 's ist leichter so«, riet einer. •
Diese mit sichtlicher Anteilnahme gesprochenen Worte machten Metschik die Sache leichter. Er drückte tapfer los, und im Krachen des Schusses - dabei kniff er trotzdem die Augen zu -gewahrte er noch, wie der Knüttel vom Pfahl herunterflog.
»Hast's 'raus...«, lachte Lewinsohn. »Verstehst auch mit Pferden umzugehen?«
»Nein«, bekannte Metschik, der nach diesem Erfolg bereit war, sogar fremde Sünden auf sich zu nehmen.
»Schade«, sagte Lewinsohn, und man merkte ihm an, dass er es tatsächlich bedauerte. »Baklanow, gibst ihm die ,Sütschicha«,
er kniff verschmitzt die Augen zusammen, »'s ist ein braves Tier, halt's gut. Der Zugführer wird's dich lehren... in welchen Zug stecken wir ihn?«
»Zu Kubrak, denk' ich, dem fehlen welche«, sagte Baklanow, »wird mit Pika zusammen sein.«
»Auch gut...«, erwiderte Lewinsohn. »Also, dann troll dich...«
...Der erste Blick, den Metschik auf die »Sütschicha« warf, machte ihn seinen Erfolg und die durch diesen hervorgerufenen knabenhaft-stolzen Hoffnungen vergessen. Vor ihm stand eine tränende, wehmütig dreinschauende Stute von schmutzigweißer Farbe, mit durchgedrücktem Rücken und geblähtem Bauch, ein sanft ergebenes Bauernpferdchen, das in seinem Dasein gar manche Deßjatine umgeackert hatte.
»Für mich, was?« fragte Metschik mit tonloser Stimme.
»'s ist kein ansehnliches Pferd«, bemerkte Kubrak, während er ihm auf die Kruppe klopfte. »Hat schwache Hufe, dürfte vielleicht von der Behandlung kommen oder auch von schlechter Veranlagung... Immerhin, zum Reiten geht's...« Er wandte seinen quadratischen, grauborstigen Schädel Metschik zu und wiederholte mit stumpfsinniger Überzeugtheit: »Zum Reiten geht's...«
»Habt ihr denn keine andern?« erwiderte Metschik, plötzlich voll ohnmächtigen Hasses gegen die »Sütschicha« und darüber, dass man auf ihr reiten könne.
Ohne seine Frage zu beantworten, begann Kubrak langweilig und monoton zu erzählen, was Metschik am Morgen, am Mittag und am Abend zu tun habe, um diese schäbige Stute vor den unzähligen Gefahren und Krankheiten zu schützen.
»Kehrst vom Ritt zurück, nicht gleich absatteln«, belehrte ihn der Zugführer. »Erst mal stehen lassen, dass sie abkühlt. Hast den Sattel abgenommen, wisch ihr den Rücken ab; so mit der Handfläche oder mit Stroh, auch ehe du sie sattelst, wisch sie ebenfalls ab...«
Metschik stierte mit zitternden Lippen über das Pferd hinweg, ohne zu hören. Ihm war ums Herz, als hätte man ihm diese klägliche Stute mit den flachgetretenen Hufen nur gegeben, um ihn gleich von Anfang an zu erniedrigen. In der letzten Zeit betrachtete Metschik jede seiner Handlungen von dem Gesichtspunkt jenes neuen Lebens, das er beginnen sollte. Und nun schien es ihm, dass mit diesem abscheulichen Pferd gar keine Rede sein könne von irgendeinem Leben; keiner würde bemerken, dass er schon ein ganz anderer, starker, selbstsicherer Mensch geworden sei, sondern man würde in ihm noch immer den alten komischen Metschik sehen, dem man nicht einmal ein gutes Pferd anvertrauen dürfe.
»Die Stute da hat außerdem noch die Maulseuche...«, fuhr der Zugführer in wenig eindringlichem Tone fort, ohne sich im mindesten um Metschiks Gekränktsein zu kümmern, noch darum, ob seine Worte ihr Ziel erreichten. »Eigentlich müsste sie mit Vitriol behandelt werden, aber wir haben keins. Wir nehmen hier Hühnerdreck, ist auch ein sehr herzhaftes Mittel. Auf ein Läppchen gestrichen und um die Trense gewickelt, ehe man aufzäumt, leistet's gute Dienste.«
,Bin ich ein Schulbub oder was?' dachte Metschik, ohne auf den Zugführer zu achten. ,Nein, ich gehe zu Lewinsohn und sage ihm, dass ich nicht gewillt bin, auf einem solchen Klepper zu reiten... Ich bin keineswegs verpflichtet, für andere zu leiden (die Einbildung, das Opfer an Stelle eines anderen geworden zu sein, tat ihm wohl). Nein, ich werde es ihm offen ins Gesicht sagen, er soll nicht glauben...'
Erst als der Zugführer geendet hatte und das Pferd gänzlich Metschiks Obhut anvertraut worden war, tat es ihm leid, nicht aufgepasst zu haben. »Sütschicha« bewegte träge, mit gesenktem Kopf die weißen Lippen, und Metschik begriff, dass ihr ganzes Leben nun in seinen Händen lag. Aber er wusste ebenso wenig wie früher, wie mit diesem einfachen Pferdeleben umzugehen! Er war nicht einmal imstande, diese sanfte Stute richtig anzubinden, sie irrte in den Ställen herum, machte sich an fremdes Heu heran und beunruhigte Pferde und Wachen.
»Verdammt noch mal, wo ist denn dieser Neue?... Was bindet er seine Stute nicht fest?...« rief jemand in der Baracke. Gleich darauf hörte man eine Peitsche sausen. »Hau ab, hau ab, Aas verdammtes!... He, Wache! Nimm die Stute weg, zum Donnerwetter...«
Metschik, den das schnelle Gehen und ein inneres Fieber in Schweiß gebracht hatten, schritt, auf der Suche nach dem Stab, durch die dunklen, schlummernden Straßen und stieß, während er wütend alle Schimpfwörter zusammenklaubte, bald hier, bald dort gegen stachliges Dorngebüsch. An einer Stelle wäre er beinahe mitten in einen Dorfbummel hineingeraten; eine heisere Ziehharmonika spielte »Saratower Weisen«, die Zigaretten glommen, Säbel und Sporen klirrten, die Mädchen quietschten, und die Erde erzitterte von dem tollen Tanz. Metschik schämte sich, nach dem Wege zu fragen, und bog seitwärts ab. Die ganze Nacht wäre er umhergeirrt, wenn ihm nicht plötzlich um die Ecke eine einsame Gestalt entgegengekommen wäre.
»Genosse! Wie komme ich zum Stab?« rief Metschik, näher tretend. Und er erkannte Moroska. »Guten Abend...«, sagte er höchst verlegen.
Moroska blieb bestürzt stehen und brummelte etwas vor sich hin.
»Der zweite Hof rechts«, antwortete er schließlich, ohne dass ihm sonst was eingefallen wäre. Ein sonderbar flackerndes Licht sprang aus seinen Augen, dann ging er weiter, ohne sich umzusehen...
»Moroska... ja doch... der ist ja hier...', dachte Metschik und fühlte sich plötzlich wie ehedem verlassen und von Gefahren umlauert in Gestalt Moroskas, dunkler, unbekannter Straßen und einer sanftmütigen Stute, mit der er nicht umzugehen wusste. Als er den Stab erreicht hatte, war seine Entschlusskraft endgültig gelähmt, und schon wusste er nicht mehr, weshalb er gekommen, was er tun und was er sagen werde.
Einige zwanzig Partisanen lagen um ein Feuer herum, das sie inmitten eines öden, riesigen Hofes entfacht hatten. Dicht am Feuer saß Lewinsohn, koreanischer Sitte gemäß mit untergeschlagenen Beinen, wie in einem Zauberkreis von Rauch und zischenden Flammen, und erinnerte Metschik mehr noch als sonst an einen Gnomen, wie sie durch Kindermärchen gehen. Metschik trat näher und stellte sich hinter die Partisanen, niemand wandte den Kopf. Sie erzählten der Reihe nach zotige Geschichtchen, in denen immer wieder ein einfältiger Pope mit seiner lasterhaften Ehehälfte und ein durchtriebener Bursche, der den Popen an der Nase herumführte, um von der Popin Zärtlichkeiten einzuheimsen, eine Rolle spielten. Metschik schien es, als erzähle man diese Sachen nicht, weil sie in der Tat komisch waren, sondern einfach, weil man sonst nichts zu reden hatte, auch lachte man nur, um einer Pflicht zu genügen. Lewinsohn aber hörte die ganze Zeit über aufmerksam zu und brach des öfteren in schallendes und scheinbar herzliches Gelächter aus. Auch er erzählte, als er darum gebeten wurde, einige drollige Schnurren. Und da er von allen Versammelten der am meisten gebildete war, ergab es sich, dass es die verzwicktesten und zotigsten waren. Aber Lewinsohn war keineswegs verlegen, sondern redete ironisch-gelassen, und die gemeinen Worte kamen über seine Lippen, ohne ihn zu berühren, als ob es fremde wären.
Als er ihn so betrachtete, bekam Metschik unwillkürlich Lust, selber etwas zum besten zu geben, denn im Grunde genommen liebte er es, wenn von solchen Dingen erzählt wurde, obschon er sie für schimpflich hielt und sich das Ansehen gab, als stehe er über ihnen. Nur fürchtete er, dass ihn alle erstaunt ansehen würden und dass es nicht gut herauskommen würde.
So entfernte er sich denn, ohne sich zu ihnen gesellt zu haben, im Herzen verdrossen über sich selbst und ärgerlich auf alle Welt, am meisten auf Lewinsohn. ,Hol's der Kuckuck', dachte Metschik, gekränkt den Mund verziehend, ,werd' sie sowieso nicht pflegen, von mir aus mag sie verrecken. Woll'n mal hören, was er krähen wird, ich hab' keine Angst...'
In den folgenden Tagen vernachlässigte er das Pferd tatsächlich, holte es bloß zum Reitunterricht und nur selten zur Tränke. Wäre er zu einem fürsorglicheren Kommandeur gekommen, möglich, dass man ihn da rasch eines Besseren belehrt haben würde, aber Kubrak kümmerte sich nie darum, was in seinem Zuge vorging, und ließ alles laufen, wie es gerade kam. »Sütschicha« war grindig geworden, trottete durstig und mit leerem Magen herum, nur selten nahm sich jemand mitleidig ihrer an, während Metschik sich den Ruf eines »Taugenichts« und »Aufschneiders« zugezogen hatte, den niemand leiden konnte.
In dem ganzen Zug gab es nur zwei Menschen, die ihm mehr oder weniger nahe standen, Pika und Tschish. Aber er hatte sich ihnen nicht angeschlossen, weil sie seinen Ansprüchen genügten, sondern deshalb, weil er sonst zu keinem andern den Weg fand. Tschish war selbst zu ihm gekommen, bemüht, sich seine Geneigtheit zu sichern. Er fing den Moment ab, als Metschik, nach einem Streit mit seinem Gruppenführer des ungeputzten. Karabiners wegen, sich allein, mit stumpfem Blick nach der Decke starrend, unter einem Wetterdach hingestreckt hatte. — Tschish näherte sich ihm schlendernden Ganges mit den Worten:
»Sind Sie verärgert? Pah, das lohnt sich nicht! So ein dummer ungebildeter Mensch, der ist doch nicht ernst zu nehmen.«
»Ich bin auch nicht ärgerlich«, antwortete Metschik mit einem Seufzer.
»Sie langweilen sich also? Das ist was anderes, das kann ich verstehen... « Tschish setzte sich auf einen losgeschraubten Vorderwagen und zog mit der ihm eigenen Bewegung die stark gewichsten Stiefel hoch. »Tja, wissen Sie, auch ich langweile mich, intelligente Menschen gibt's nur wenige hier. Der einzige vielleicht Lewinsohn, aber der ist auch...«, Tschish machte eine wegwerfende Handbewegung und schaute bedeutungsvoll auf seine Füße.
»Was denn?« fragte Metschik neugierig.
»Na ja, mit seiner Bildung ist's auch nicht weit her. Schlau ist er, weiter nichts. Hamstert sich seinen Ruhm auf unserem Buckel zusammen. Sie glauben's nicht?« Tschish lächelte bitter. »Sie sind natürlich überzeugt, dass er ein äußerst tapferer und talentvoller Heerführer ist«, das Wort »Heerführer« sprach er mit besonderem Nachdruck aus, »ach was, Unsinn! Diese Fabel haben wir selber in die Welt gesetzt! Ich versichere Sie... aber, nehmen wir doch bloß mal den konkreten Fall unseres Aufbruchs: anstatt mit ungestümem Vorstoß den Feind zu überrennen, haben wir uns in so ein Nest verkrochen. Natürlich, aus höheren strategischen Erwägungen, Sie verstehen schon. Unsere Genossen dort gehen vielleicht zugrunde, aber wir lassen uns hier von strategischen Erwägungen leiten...« Tschish hatte, ohne es selbst zu merken, einen Bolzen aus dem Rad gelöst und steckte ihn ärgerlich wieder zurück.
Metschik konnte nicht glauben, dass Lewinsohn wirklich so sei, wie Tschish ihn darstellte, aber es war doch interessant; er hatte schon lange keine so wohlgesetzte Rede mehr gehört, und er wünschte aus irgendwelchem Grunde, dass sie zum mindesten ein Körnchen Wahrheit enthielte.
»Stimmt das wirklich?« sagte er, sich aufrichtend. »Und er schien mir so ein anständiger Mensch zu sein.«
»Anständig?!« entsetzte sich Tschish. Seine Stimme hatte den süßlichen Unterton verloren, und in ihr klang jetzt das Bewusstsein seiner Überlegenheit. »Welch ein Irrtum! Schaun Sie doch nur, was er sich für Leute aussucht?... Was ist denn dieser Baklanow? Ein dummer Junge!... Eingebildet bis dorthinaus, das soll ein stellvertretender Kommandeur sein? War's etwa nicht möglich, andere aufzutreiben? Gewiss, ich selbst bin krank, durchlöchert, ich habe sieben Schüsse im Leib und Quetschungen erhalten, ich reiße mich gar nicht nach einem so mühevollen Posten, aber wie dem auch sei, soviel wie er würde ich immer noch leisten, das kann ich sagen, ohne mich zu rühmen...«
»Vielleicht wusste er nicht, dass Sie das Kriegshandwerk so gut verstehen?«
»Mein Gott, wusste nicht! Das wissen doch alle, fragen Sie, wen Sie wollen. Manch einer missgönnt mir's natürlich und wird mich aus Ärger schlecht machen, aber Tatsache bleibt Tatsache!...«
Mit der Zeit wurde Metschik lebhafter und mitteilsamer. Den ganzen Tag verbrachten sie zusammen. Und obgleich Metschik nach einigen solchen Unterhaltungen einfach einen Widerwillen gegen Tschish empfand, konnte er doch nicht von ihm loskommen. Wenn er ihn lange nicht sah, suchte er sogar selbst nach ihm. Tschish hatte ihn gelehrt, sich von der Wache zu drücken und vom Küchendienst, denn längst schon hatte das den Reiz der Neuheit verloren, war zur öden Pflicht geworden.
Von dieser Zeit an zog das brodelnde Abteilungsleben unbemerkt an Metschik vorüber. Die wichtigsten Triebfedern des Abteilungsmechanismus blieben ihm verborgen, und er fühlte keineswegs die Notwendigkeit dessen, was dort vor sich ging. In dieser Entfremdung ertranken alle Hoffnungen, die er auf ein neues, kühnes Leben gesetzt, obgleich er gelernt hatte, die Zähne zu zeigen und die Menschen nicht zu fürchten, obgleich die Sonne ihn gebräunt hatte und er seine Kleidung vernachlässigte, so dass sein Äußeres sich nicht mehr von dem der anderen unterschied.

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