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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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VI. Lewinsohn

Die Abteilung Lewinsohns lag schon die fünfte Woche in Ruhestellung, allmählich hatte sie sich einen ganzen Train zugelegt mit Zugpferden, Wagen, Kochkesseln, mit allem Drum und Dran, um den sich zerlumpte Deserteure aus anderen Abteilungen drängten; die Leute waren faul geworden und schliefen mehr, als sie sollten, selbst wenn sie Posten standen.
Beunruhigende Nachrichten erlaubten es Lewinsohn nicht, diesen ganzen schwerfälligen Apparat an einen anderen Standort zu
verschieben: er fürchtete sich vor einem übereilten Schritt. Immer wieder neue Geschehnisse bestätigten einerseits seine Befürchtungen, machten sie dann aber wieder lächerlich. Nicht selten warf sich Lewinsohn übertriebene Vorsicht vor, besonders als es bekannt wurde, dass die Japaner Krylowka verlassen hätten und die Kundschafter auf Dutzende von Kilometern keine Spur vorn Feinde entdecken konnten.
Von diesem Schwanken Lewinsohns wusste jedoch außer Staschinskij niemand etwas. Ja, niemand in der Abteilung ahnte, dass Lewinsohn überhaupt schwanken könne; er vertraute keiner Menschenseele seine Gefühle und Gedanken an, sondern präsentierte immer ein fertiges »Ja« oder »Nein«. Daher schien er allen, ausgenommen Menschen wie Dubow, Staschmskij und Gontscharenko, die ihren Kommandeur wirklich zu schätzen wussten, als ein Mensch ganz besonderer Art. Alle Partisanen, zumal der jugendliche Baklanow, der sich in allem bemühte, seinem Kommandeur ähnlich zu sein und sogar dessen Manieren angenommen hatte, dachte etwa folgendes: ,Gewiss habe ich, sündiger Mensch, viele Schwächen; ich verstehe manches nicht, komme mit vielem nicht zurecht; zu Hause habe ich eine fürsorgliche liebe Frau oder Braut, nach der ich mich sehne; ich liebe süße Wassermelonen oder Milch mit Brot oder blankgeputzte Stiefel, um beim Tanz die Mädchenherzen zu erobern. Lewinsohn aber, das ist ganz was anderes. Ihm kann man so etwas nicht nachsagen, er versteht alles, er tut alles, wie es getan sein muss, geht nicht zu den Mädels wie Baklanow und stiehlt keine Wassermelonen wie Moroska; er kennt nur eines - die Sache. Man muss daher einem so unfehlbaren Menschen Vertrauen schenken und sich ihm unterordnen
Von jener Zeit an, da Lewinsohn zum Kommandeur gewählt worden war, konnte sich ihn niemand an einem anderen Posten denken; jedem erschien als seine hervorragendste Eigenschaft eben gerade die, dass er die Abteilung kommandierte. Wenn Lewinsohn davon erzählt hätte, wie er in seiner Kindheit dem Vater geholfen hatte, mit alten Möbeln zu handeln, wie sein Vater sein Leben lang reich werden wollte, sich aber vor Mäusen fürchtete und auf der Geige herumkratzte, so hätten das wohl alle für einen unpassenden Witz gehalten. Aber Lewinsohn erzählte derlei niemals. Nicht deshalb, weil er verschlossen gewesen wäre, sondern deshalb, v/eil er wusste, dass man ihn als einen Menschen »ganz besonderer Art« ansah; er kannte viele der eigenen Schwächen, auch die Schwächen anderer, und dachte, dass man die Menschen nur führen könne, wenn man sie auf ihre Schwächen hinweist, die eigenen aber vor ihnen verbirgt und unterdrückt. Deswegen spottete er auch niemals über den jugendlichen Baklanow, dass dieser ihn nachahmte. Als Lewinsohn in seinem Alter war, hatte er die Menschen, die ihn unterrichteten, gleichfalls nachgeahmt, waren sie ihm doch ebenso vorbildlich wie er dem Baklanow erschienen. Später überzeugte er sich, dass dem nicht so sei, und war ihnen trotzdem sehr dankbar. Baklanow übernahm ja nicht nur seine Manieren, sondern auch die alte Lebenserfahrung, die Fertigkeiten im Kampfe, in der Arbeit und im Benehmen. Und Lewinsohn wusste, dass die Manieren sich im Laufe der Jahre verflüchtigen, die Fertigkeiten aber, bereichert durch eigene Erfahrung, auf neue Lewinsohns und Baklanows übergehen würden; dies aber war sehr wichtig und notwendig.... In feuchter Mitternacht, in den ersten Tagen des August, langte in der Abteilung eine berittene Stafette an. Der alte Suchowej-Kowtun hatte sie gesandt, der Stabschef der Partisanenabteilungen. Der alte Suchowej-Kowtun berichtete von dem Überfall der Japaner auf Anutschino, wo die Hauptkräfte der Partisanen konzentriert waren, über den Todeskampf bei Iswestka, über Hunderte zu Tode gequälter Menschen, und darüber, dass er selbst sich in einem Jägerblockhaus, von neun Kugeln verwundet, verborgen halte und allem Anschein nach seine Stunden gezählt seien...
Das Gerücht über die Niederlage lief mit unheildrohender Geschwindigkeit durch das Tal, und doch hatte die Stafette es noch überholt. Alle Ordonnanzen fühlten, dass dies die schrecklichste Stafette sei, die seit Beginn der Bewegung je ausgesandt worden war. Die Aufregung der Menschen übertrug sich auf die Gäule. Die zottigen Partisanenpferde jagten mit gebleckten Zähnen von Dorf zu Dorf, über düstere, aufgeweichte Feldwege, unter ihren Hufen schwere Klumpen Schmutzes aufwerfend...
Lewinsohn empfing die Stafette um halb ein Uhr nachts, und eine halbe Stunde später sprengte der berittene Zug des Hirten Meteliza, Krylowka hinter sich lassend, fächerförmig auseinanderstrebend, über die geheimen Pfade von Sichote-Alin und trug die Schreckensbotschaft in die Abteilung des Swiaginsker Kampfgebiets.
Vier Tage lang sammelte Lewinsohn die verschiedensten Nachrichten der Abteilungen. Sein Hirn arbeitete angestrengt, tastend, als lauschte es auf etwas. Aber er sprach mit den Menschen genau so ruhig wie immer, kniff wie immer seine blauen abwesenden Augen zusammen und neckte Baklanow wegen seines Techtelmechtels mit der schlampigen Marussja. Und als Tschish, durch die Furcht kühner geworden, ihn gelegentlich fragte, warum er nichts unternehme, schnippte Lewinsohn mit dem Zeigefinger gegen seine Stirn und erwiderte liebenswürdig, das sei nichts für Spatzenhirne. Äußerlich benahm sich Lewinsohn so, als wisse er ausgezeichnet, warum dies alles so geschehen und wohin es führe, dass darin nichts Außergewöhnliches oder Schreckliches liege und als habe er schon längst einen genauen, einwandfreien Rettungsplan vorbereitet. In Wirklichkeit hatte er nicht nur keinerlei Plan, sondern er war vollkommen ratlos, wie ein Schüler, den man ganz plötzlich zwingt, eine Aufgabe mit zahlreichen Unbekannten zu lösen. Er erwartete noch Nachrichten aus der Stadt, wohin eine Woche vor Ankunft der alarmierenden Stafette der Partisane Kanunnikow geritten war. Dieser kehrte am fünften Tage nach der Stafette zurück, mit langen Bartstoppeln, müde und hungrig, aber noch immer so fix und rothaarig wie vordem, in dieser Beziehung war er unverbesserlich.
»In der Stadt ist alles zusammengekracht, und Kreiselmann sitzt im Gefängnis...«, sagte Kanunnikow, während er mit der Geschicklichkeit eines Taschenspielers Briefe aus dem Ärmelfutter hervorzog, nur mit den Lippen lächelnd; es war ihm keineswegs fröhlich zumute, aber er konnte überhaupt nicht sprechen, ohne zu lächeln. »In Wladimiro-Alexandrowsk und in der Olgabucht sind japanische Truppen gelandet... ganz Sutschan ist zerstört. Übler Tabak!... da, rauch mal...« Er streckte Lewinsohn eine Zigarette hin, und es war nicht zu ersehen, ob er mit dem »rauch mal« die Zigarette oder die Angelegenheiten meinte, die übel seien wie »Tabak«.
Lewinsohn überflog die Adresse, einen Brief steckte er in die Tasche, den anderen brach er auf. Kanunnikows Wort bestätigte sich. Zwischen den offiziellen Zeilen voll gekünstelter Munterkeit war allzu deutlich die Bitterkeit der Niederlage und der Schwäche zu lesen.
»Schlecht, was?...« fragte teilnehmend Kanunnikow.
»Es geht... Wer hat den Brief geschrieben, Sedych?«
Kanunnikow nickte bejahend.
»Das merkt man: bei ihm ist immer alles nach Abschnitten geordnet...« Lewinsohn unterstrich belustigt mit dem Nagel »Abschnitt IV: Tagesaufgaben«, dann roch er an der Zigarette. »Übler Tabak, was? Gib mal Feuer... mach ja kein Gequatsch unter den Jungens, von wegen der Landungstruppen und anderem... hast mir die Pfeife gekauft?« und ohne auf die Erklärungen Kanunnikows, weshalb er die Pfeife nicht gekauft habe, zu hören, vertiefte sich Lewinsohn von neuem in den Brief.
Der Abschnitt »Tagesaufgaben« bestand aus fünf Punkten: vier davon schienen Lewinsohn töricht und unerfüllbar. (,Tja, verdammte Sache ohne Moissej', dachte er; erst jetzt empfand er schmerzlich die Verhaftung Kreiselmanns.) Der fünfte Punkt jedoch lautete:
»... Das Wichtigste, was jetzt von den Partisanenkommandeuren zu fordern ist, was um jeden Preis erreicht werden muss, ist die Bewahrung wenn auch kleiner, so doch starker und disziplinierter Kampfeinheiten, um die später...«
»Ruf Baklanow und den Wirtschaftsleiter«, sagte hastig Lewinsohn.
Er steckte den Brief in die Feldtasche, ohne zu Ende zu lesen, was später um die Kampfeinheiten sein sollte. Irgendwo zeichnete sich aus einer Anzahl von Aufgaben eine ab, »die wichtigste«. Lewinsohn warf die erloschene Zigarette fort und begann auf den Tisch zu trommeln... ,Die Kampfeinheiten bewahren Mit diesem Gedanken konnte er nicht fertig werden, er schwebte ihm vor Augen in Form dreier mit Tintenschrift auf liniertem Papier geschriebener Worte. Mechanisch tastete er nach dem zweiten Brief, prüfte den Umschlag und erinnerte sich, dass er von seiner Frau war. ,Dies nachher', dachte er und steckte ihn wieder weg: ,Die Kampfeinheiten bewahren...'
Als der Wirtschaftsleiter und Baklanow kamen, wusste Lewinsohn bereits, was er tun würde, er und die Leute, die unter seinem Kommando standen: sie würden alles tun, um die Abteilung als Kampfeinheit zu bewahren.
»Wir werden bald von hier abmarschieren müssen«, sagte Lewinsohn. »Ist alles bei uns in Ordnung?... Das Wort hat der Wirtschaftsleiter...«
»Der Wirtschaftsleiter«, wiederholte Baklanow wie ein Echo und zog mit so grimmiger und entschlossener Miene seinen Gürtel an, als wüsste er im voraus, worauf das alles hinauslief.
»Was denn, an mir wird's nicht liegen, ich bin immer bereit... Nur, wie wird das mit dem Hafer werden, der...« - und der Wirtschaftsleiter begann lang und breit von dem durchnässten Hafer zu reden, von den zerrissenen Packtaschen, den kranken Pferden, und dass sie »den ganzen Hafer nicht fortbringen können«, mit einem Wort, von Dingen, die zeigten, dass er noch zu gar nichts bereit war und im Grunde die Verlegung der Abteilung für ein schädliches Beginnen hielt. Er vermied es, Lewinsohn anzusehen, verzog krankhaft das Gesicht, zwinkerte mit den Augen und räusperte sich verlegen, weil er schon im voraus von seiner Niederlage überzeugt war.
Lewinsohn fasste ihn an einem Knopf und sagte:
»Du redest Unsinn...«
»Ja, wahrhaftig, Ossip Abramytsch, besser ist's, wenn wir uns hier befestigen ... «
»Befestigen?... hier?!...« Lewinsohn schüttelte den Kopf, als ob er die Dummheit des Wirtschaftsleiters bemitleide. »Und dabei hat er schon ganz graues Haar. Sag mal, denkst du eigentlich mit dem Kopf?...«
»Ich...«
»Keine Redensarten!« Lewinsohn zerrte ihn vielsagend am Knopf. »Jeden Augenblick bereit sein. Ist das klar?... Baklanow, du passt darauf auf... « Er ließ den Knopf los... »Schäm dich!... Deine Packtaschen, das ist doch nicht der Rede wert... Lappalien!« Seine Augen wurden kalt und unter ihrem scharfen Blick überzeugte sich der Wirtschaftsleiter endgültig davon, dass die Packtaschen wirklich Lappalien waren.
»Nun, selbstverständlich... klar... das ist nicht die Hauptsache...« murmelte er, jetzt sogar bereit, den Hafer auf dem eigenen Buckel zu schleppen, wenn es der Kommandeur für nötig hielte. »Was kann uns da hindern? Das ist doch schnell gemacht! Heute noch, im Handumdrehen...«
»Na, also...«, lachte Lewinsohn auf, »ist schon gut, schon gut, geh schon!« Er versetzte ihm einen kleinen Stoß in den Rücken. »Dass du mir jeden Augenblick...«
,Schlaues Aas', dachte ärgerlich und entzückt der Wirtschaftsleiter, als er das Zimmer verließ.
Gegen Abend versammelte Lewinsohn den Abteilungsrat und die Zugführer.
Zu dem Bericht Lewinsohns verhielt man sich verschieden. Dubow schwieg und zupfte den ganzen Abend an seinem dicht herabhängenden Schnurrbart. Man sah, dass er schon im vornherein mit Lewinsohn einverstanden war. Besonderen Widerspruch gegen die Verlegung der Abteilung erhob der Kommandeur des zweiten Zuges, Kubrak. Es war dies der älteste, verdienteste und allerdümmste Kommandeur des ganzen Kreises. Er wurde von niemandem unterstützt. Kubrak war aus Krylowka gebürtig, und jeder begriff, dass es nur Sehnsucht nach der Scholle und nicht sachliche Erwägung war, die ihm die Worte eingab.
»Nun aber Schluss!...« unterbrach ihn der Hirt Meteliza. »Es ist schon Zeit, sich die Weiberröcke aus dem Kopf zu schlagen, Onkel Kubrak!« Er entzündete sich wie immer an seinen eigenen Worten, schlug mit der Faust auf den Tisch, und sein pockennarbiges Gesicht bedeckte sich mit Schweiß. »Hier wird man uns wie die Hühner - aus - Feierabend!...« Er begann schlürfenden Schrittes im Zimmer hin und her zu rennen und stieß, mit einer Gerte um sich schlagend, die Hocker um.
»Nicht so stürmisch, lieber Freund, sonst wirst du schnell müde werden«, riet ihm Lewinsohn. Aber im stillen freute er sich der explosiven Bewegungen dieses biegsamen Körpers, muskulös und fest wie eine geflochtene Reitpeitsche. Dieser Mensch konnte nicht einen Augenblick ruhig sitzen, war ganz Feuer und Bewegung, und seine Raubtieraugen brannten ständig in der unersättlichen Begier, jemandem nachzujagen und sich zu schlagen.
Meteliza schlug einen eigenen Rückzugsplan vor, aus dem ersichtlich war, dass dieser Hitzkopf die großen Entfernungen nicht scheute und es ihm an militärischem Scharfblick nicht fehlte.
»Richtig!... der ist nicht auf den Kopf gefallen«, rief Baklanow aus, entzückt und ein wenig ärgerlich über den allzu kühnen Flug des selbständigen Denkens des Meteliza. »Hat noch vor kurzem die Pferde gehütet... aber so in zwei Jährchen, eh man sich versieht, wird er uns alle kommandieren...«
»Meteliza?... Höh, oh... Ja, das ist unser Kleinod!« bestätigte Lewinsohn. »Nur pass auf, dass dir nicht der Kamm schwillt...«
Indem er sich aber die heißen Debatten, in denen jeder sich für klüger als den anderen hielt und auf keinen hörte, zunutze machte, vertauschte Lewinsohn den Plan Metelizas mit dem seinen, einem unkomplizierteren und vorsichtigeren. Er machte das derart geschickt und unmerklich, dass sein neuer Vorschlag, über den abgestimmt wurde, als wäre es der Plan Metelizas, einstimmig angenommen wurde.
In seinem nach der Stadt und an Staschinskij gesandten Antwortschreiben teilte Lewinsohn mit, dass er die Abteilung in den nächsten Tagen in das Dorf Schibischi am Oberlauf des Irochedsa überführen werde; das Lazarett jedoch wollte er bis zum Eintreffen besonderer Anordnungen an Ort und Stelle belassen. Lewinsohn kannte Staschinskij noch von der Stadt her, und dies war der zweite alarmierende Brief, den er ihm schrieb.
Erst spätnachts hörte Lewinsohn zu arbeiten auf, das Petroleum in der Lampe ging zur Neige. Durchs offene Fenster strömten Feuchtigkeit und Modergeruch. Man horte, wie hinter dem Ofen die Schwaben raschelten und Rjabez in der Nachbarhütte schnarchte. Lewinsohn erinnerte sich an den Brief seiner Frau und las ihn durch, als er die Lampe nachgefüllt hatte. Nichts Neues und nichts Freudiges. Wie früher findet sie nirgends Arbeit, alles, was nur verkäuflich, ist schon verkauft, es bleibt nichts übrig, als auf Kosten des »Arbeiter-Roten-Kreuzes« zu leben. Die Kinder sind skrofulös und blutarm. Und zwischen den Zeilen klingt die unendliche Sorge um den Mann. Lewinsohn zupfte sich nachdenklich am Bart und begann, eine Antwort zu schreiben. Anfangs scheute er sich, den Kreis der Gedanken, der mit dieser Seite seines Lebens verknüpft war, in Bewegung zu setzen, aber nach und nach geriet er in Eifer, seine Gesichtszüge verloren die Schärfe, zwei volle Bogen füllte er mit kleinen, unleserlichen Schriftzügen, und in ihnen stand gar manches Wort, von dem niemand vermutet hätte, dass es Lewinsohn bekannt sei.
Dann streckte er seine steif gewordenen Glieder und trat auf den Hof hinaus. Im Stall stampften die Pferde mit den Hufen, knirschend zermahlten sie das saftige Gras. Der Posten schlief fest unter dem Wetterdach, das Gewehr an sich gepresst. Lewinsohn dachte: ,Was, wenn auch die anderen Posten so schlafen?...' Er stand eine Weile, kämpfte gegen die eigene Müdigkeit und führte den Hengst aus dem Stall. Er sattelte ihn. Der Posten schlief noch immer. ,Sieh mal einer an, der Hundesohn', dachte Lewinsohn. Behutsam nahm er dem Posten die Mütze ab, versteckte sie unter dem Heu, schwang sich aufs Pferd und ritt fort, um die Posten zu kontrollieren.
An den Büschen entlang erreichte er die Umzäunung.
»Wer da?« rief ein Posten rau, mit dem Verschluss knackend.
»Einer von uns...«
»Lewinsohn?... Was treibt dich durch die Nacht?«
»War die Streife da?«
»Vor fünfzehn Minuten.«
»Nichts Neues?«
»Einstweilen ist alles ruhig... Gibt's was zu rauchen?...«
Lewinsohn gab ihm etwas Tabak und ritt, nachdem er den Fluss überquert hatte, ins Feld hinein.
Der matte Mond brach hervor, aus dem Dunkel hoben sich die bleichen, taubedeckten Sträucher ab. Der Fluss rauschte über eine Sandbank und ließ die Steinchen klirrend gegeneinander schlagen. Vorn am Hügel tänzelten verschwommen vier Reitergestalten. Lewinsohn ritt auf das Gebüsch zu, um sich zu verbergen. Die Stimmen kamen aus nächster Nähe. Lewinsohn erkannte zwei davon: die Streife.
»Wart mal«, sagte Lewinsohn, auf die Straße sprengend. Die Pferde schnauften und bäumten sich seitwärts. Eines hatte den Hengst Lewinsohns erkannt und wieherte leise auf.
»So kann man's mit der Angst kriegen«, sagte der vordere mit erregt-munterer Stimme. »Trrr, Hexe!...«
»Mit wem seid ihr?« fragte, mitten in sie hineinreitend, Lewinsohn.
»Mit der Ossokinschen Streife... die Japaner sind in Marjanowka...«
»In Marjanowka?« fuhr Lewinsohn auf. »Und wo ist Ossokin mit seiner Abteilung?«
»In Krylowka«, antwortete einer der Kundschafter. »Wir haben uns zurückgezogen: der Kampf war mörderisch, konnten uns nicht halten. Jetzt hat man uns zu euch geschickt, um die Verbindung herzustellen. Morgen gehen wir nach den koreanischen Gehöften...« Er beugte sich im Sattel, als drückte ihn die grausame Last seiner eigenen Worte nieder. »Alles ist in Trümmer gegangen. Vierzig Mann haben wir verloren. Im ganzen Sommer hatten wir keine solchen Verluste.«
»Brecht ihr früh von Krylowka auf?« fragte Lewinsohn. »Kehrt um, ich komme mit...«
Es war schon fast Tag geworden, als er zur Abteilung zurückkehrte, abgezehrt, mit entzündeten Augen und einem vom Wachen schweren Kopf.
Die Unterredung mit Ossokin erhärtete endgültig die Richtigkeit des von Lewinsohn gefassten Beschlusses, zeitig aufzubrechen und die Spuren zu verwischen. Noch beredter sprach davon der Zustand der Ossokinschen Abteilung: sie war aus allen Fugen geraten, wie ein altes Fass mit verfaulten Dauben und verrosteten Reifen, gegen das man einen kräftigen Hammerschlag geführt. Die Leute gehorchten ihrem Kommandeur nicht mehr und zerstreuten sich ziellos über die Höfe, viele waren betrunken. Einer fiel besonders auf, ein Dürrer, Struppiger, er saß auf einem Platz am Wege, mit trüben Augen in die Erde stierend, und jagte in blindem Entsetzen einen Schuss nach dem anderen in den fahlschimmernden Morgennebel.
Als Lewinsohn zurückgekehrt war, sandte er die Briefe unverzüglich an ihren Bestimmungsort, ließ aber niemanden wissen, dass er den Aufbruch auf die kommende Nacht festgesetzt habe.

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