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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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III. Der sechste Sinn

Moroska und Warja kehrten mittags zurück, ohne einander anzusehen, müde und faul.
Moroska trat in die Lichtung hinaus, und zwei Finger in den Mund legend, pfiff er dreimal gellend auf Banditenart. Als dann, wie im Märchen, ein zottiger, hellhufiger Hengst aus dem Gestrüpp schnellte, erinnerte sich Metschik, wo er die beiden schon einmal gesehen hatte.
»Mischka-a... Hundesohn... hast's wohl nicht erwarten können? ... « brummte die Ordonnanz zärtlich.
An Metschik vorbeireitend, streifte er diesen mit einem pfiffigen Lächeln.
Als Moroska später an den Abhängen in das schattige Grün der Waldschluchten tauchte, beschäftigten sich seine Gedanken noch öfters mit Metschik. ,Wozu nur solche Leute zu uns kommen?' dachte er ärgerlich und verständnislos. ,Als wir die Geschichte angefangen haben, war keiner da, und jetzt, an den »gedeckten Tisch«, da setzen sie sich...' Es schien ihm, dass sich Metschik tatsächlich an den »gedeckten Tisch« gesetzt hatte, obwohl in Wirklichkeit der schwere Leidensweg noch bevorstand. ,Kommt da so ein Muttersöhnchen, macht schlapp, richtet den Schaden an, und wir müssen's dann ausbaden... Was nur meine Närrin an ihm gefunden hat?'
Er dachte auch daran, dass das Leben komplizierter wird, die alten Sutschaner Pfade sich verlieren und man gezwungen sei, selbst seinen Weg zu wählen.
In so ungewohnt schweres Sinnen vertieft, bemerkte Moroska nicht, dass er ins Tal hinausgeritten war. Dort, im duftigen Unkraut, im wilden, gelockten Klee klangen die Sensen, lag über den Menschen der emsige Werktag. Die Leute hatten Bärte, lockig wie der Klee, und trugen lange, bis zu den Knien reichende, schweißdurchtränkte Kittel. Mit gemessenem, schwerem Schritt stapften sie durch die Mahd, und die Gräser sanken geräuschvoll zu ihren Füßen, duftend und träge.
Als die Menschen den bewaffneten Reiter bemerkten, hielten sie gemächlich in der Arbeit inne, legten die schwieligen Hände über die Augen und folgten lange seiner Spur.
»Wie eine Kerze!...« staunten sie begeistert über Moroskas Haltung, als er, in den Steigbügeln aufgerichtet, ein wenig nach vorn gebeugt, in ebenmäßigem Trab dahinritt, leicht schwankend wie die Flamme einer Kerze.
An der Flussbiegung, bei den Melonenfeldern des Dorfvorstehers Choma Rjabez, hielt Moroska sein Pferd an. Die Felder waren völlig verwahrlost. Wenn der Herr mit öffentlichen Angelegenheiten beschäftigt ist, überwuchert Unkraut die Felder, verkommen die väterlichen Gehöfte, die gedunsenen Wassermelonen reifen nur mühsam im duftenden Wermut, und selbst die Vogelscheuche über den Feldern scheint zu verenden.
Sich wie ein Dieb nach allen Seiten umschauend, ritt Moroska zu dem baufälligen Gehöft. Behutsam blickte er hinein. Kein Mensch war zu sehen. Lumpen, ein Teil einer verrosteten Sense und vertrocknete Gurken- und Melonenschalen lagen herum. Den Sack loslösend, sprang Moroska vom Pferd und kroch über
die Beete. Die Melonen in fieberhafter Eile vom Stengel reißend, packte er sie in den Sack, einige davon zerbrach er über dem Knie und verzehrte sie auf der Stelle.
Mischka wedelte mit dem Schweif und betrachtete seinen Herrn mit schlauem, verständnisvollem Blick. Doch plötzlich vernahm er ein Geräusch, spitzte die zottigen Ohren und wandte seinen mähnigen Kopf dem Fluss zu. Durch das Gebüsch arbeitete sich ein langbärtiger, breitknochiger Alter in Leinenhosen und braunem Filzhut ans Ufer. Er schleppte mühsam ein Netz, in dem ein riesiger, flachkiemiger Lachs in ohnmächtiger Todesqual zappelte. Von dem Netz rieselte über die Leinenhosen und über die kräftigen nackten Füße mit Wasser verdünntes, himbeerfarbenes Blut.
In der hohen Gestalt des Choma Rjabez erkannte Mischka den Herrn der kräftig gebauten, braunen Stute, mit der er, durch den Bretterverschlag geschieden, in ein und demselben Stalle »Tisch und Bett« teilte, sich in ständiger Sehnsucht nach ihr verzehrend. Bewillkommnend spreizte Mischka die Ohren und wieherte, den Kopf hochwerfend, blöd und freudig los.
Moroska stürzte erschrocken vor und erstarb in halb gebückter Haltung, mit beiden Händen den Sack umklammernd.
»Was... was... treibst du hier?...« rief mit gekränkter und zittriger Stimme Rjabez, einen unerträglichen, strengen und schmerzlichen Blick auf Moroska werfend. Er hielt das Netz fest zwischen den Fingern, und zu seinen Füßen zuckte der Fisch wie ein Herz von der Qual unausgesprochener, heftiger Worte.
Moroska ließ den Sack fallen und lief, den Kopf furchtsam zwischen den Schultern gesenkt, zum Pferd. Als er schon im Sattel saß, überlegte er, dass es eigentlich gut wäre, die Melonen auszuschütten und den Sack mitzunehmen, um kein Beweisstück zu hinterlassen. Aber es war ihm klar, dass das jetzt schon keine Rolle mehr spielte. Er gab also seinem Pferd die Sporen und sprengte, Staub aufwirbelnd, in wahnsinnigem Galopp davon.
»Na warte, die Strafe wird noch kommen, wird noch kommen!« rief Rjabez, sich auf die letzten Worte versteifend. Übrigens konnte er noch immer nicht glauben, dass ein Mensch, für den er einen ganzen Monat lang wie für einen Sohn gesorgt hatte, seine Melonen stahl, noch dazu in einer Zeit, wo das Unkraut in den Feldern wucherte, weil ihr Herr für das Allgemeinwohl arbeitete.
In einem schattigen Winkel im Gärtchen des Rjabez verhörte an einem mit einer abgenutzten Landkarte bedeckten Tisch Lewinsohn einen eben erst angekommenen Kundschafter.
Der Kundschafter, in gestrickter Bauernjacke und Bastschuhen, war im Zentrum der japanischen Stellungen gewesen. Sein rundes, von der Sonne gebräuntes Gesicht brannte noch von der freudigen Erregung eben überstandener Gefahren.
Den Worten des Kundschafters zufolge befand sich der Hauptstab der Japaner in Jakowlewka. Zwei Kompanien aus Spassk-Primorsk waren nach Sandagou gekommen, dafür aber war die Swiaginsker Zweigbahn gesäubert worden, und bis zur Station Schabanowsk-Klutsch saß der Kundschafter im Zuge zusammen mit zwei bewaffneten Partisanen der Abteilung Schaldybas.
»Wohin hat sich denn Schaldyba zurückgezogen?«
»Auf die koreanischen Gehöfte...«
Der Kundschafter versuchte, sie auf der Karte zu finden, aber das war nicht so leicht, und er tippte, um nicht als Ignorant zu erscheinen, unbestimmt mit dem Finger in den Nachbarkreis.
»Bei Krylowka hat man ihnen mächtig eine aufs Dach gegeben«, fuhr er lebhaft, die Luft durch die Nase ziehend, fort. »Jetzt hat sich die Hälfte der Jungens in den Dörfern verstreut, und Schaldyba sitzt im koreanischen Nest und frisst Maisbrei. Man erzählt sich, dass er mächtig säuft. Scheint ganz aus dem Geleis geraten zu sein.«
Lewinsohn verglich die neuen Nachrichten mit denen, die gestern der Deibichinskijsche Schnapsschmuggler Strykscha mitgeteilt hatte, und mit denjenigen, die ihm aus der Stadt überbracht worden waren. Man spürte, dass da irgend etwas nicht stimmte. In solchen Dingen hatte Lewinsohn eine ganz besonders feine Nase - einen sechsten Sinn, wie die Fledermaus.
Diese Unstimmigkeit lag erstens darin, dass der Vorsitzende der Genossenschaft, der nach Spasskoje gereist war, schon die zweite Woche auf sich warten ließ, ferner darin, dass vor drei Tagen einige Sandagouer Bauern, von plötzlichem Heimweh ergriffen, aus der Abteilung fortgelaufen waren, und überdies in der Tatsache, dass der hinkende Tschunguse Li-Fu, der bis dahin mit der Abteilung auf Uborka marschierte, sich aus unbekannten Gründen nach dem Oberlauf des Fudsina gewandt hatte.
Lewinsohn stellte dem Kundschafter unausgesetzt Fragen und vertiefte sich immer wieder von neuem in die Karte. Er war überaus geduldig und beharrlich wie ein alter Taiga-Wolf, der vielleicht keine Zähne mehr hat, aber das Rudel hinter sich herzieht mit der sieghaften Klugheit vieler Geschlechter.
»Na, und so irgend etwas Besonderes... war da nicht zu bemerken?«
Der Kundschafter blickte verständnislos drein.
»Nichts gewittert, nichts gewittert...«, meinte Lewinsohn, indem er die Finger wie mit einer Prise hastig zur Nase führte.
»Nein, nichts gewittert... so ist's...«, antwortete schuldbewusst der Kundschafter. ,Bin ich etwa ein Hund?' dachte er ärgerlich, und sein Gesicht wurde plötzlich rot und dumm wie das einer Hökerin auf dem Sandagouer Markt.
»'s ist gut, geh schon...«, winkte Lewinsohn mit der Hand ab, hinter seinem Rücken die blauen Augen verschmitzt zusammenkneifend.
Als er allein war, ging er, in Nachdenken versunken, durch den Garten. An einem Apfelbaum beobachtete er lange, wie ein großköpfiger, sandfarbener Käfer in der Rinde wühlte, und gelangte plötzlich auf irgendwelchen Umwegen zu dem Ergebnis, dass die Abteilung bald von den Japanern zersprengt werden würde, wenn man nicht besondere Vorkehrungen träfe.
An der Gartenpforte stieß Lewinsohn mit Rjabez und seinem Gehilfen Baklanow zusammen, einem vierschrötigen neunzehnjährigen Burschen in khakifarbener Militärbluse und mit einem stets lockeren Revolver im Gürtel.
»Was macht man bloß mit Moroska?...« platzte dieser ganz unvermittelt heraus, die Brauen runzelnd und darunter Zorn aus feurigen Kohlenaugen sprühend. »Wassermelonen hat er bei Rjabez gestohlen... da habt ihr die Bescherung!...« Mit einer Verbeugung machte er eine Geste vom Kommandeur zu Rjabez hin, als wollte er sie einander vorstellen. Lewinsohn hatte seinen Gehilfen seit langem nicht so aufgeregt gesehen.
»Schrei nur nicht so«, sagte er ruhig und mit Nachdruck, »das Schreien hat keinen Zweck. Um was handelt's sich?...«
Rjabez hielt ihm mit zitternden Händen den verhängnisvollen Sack entgegen.
»Das halbe Feld hat er mir versaut, Genosse Kommandeur, bei Gott! Bin die Netze prüfen gegangen, hatte mich endlich einmal dazu aufgerafft, und wie ich da aus dem Weidengebüsch herauskrieche...«
Und umständlich trug er ihm das angetane Unrecht vor. Besonderen Nachdruck legte er darauf, dass er ja die Wirtschaft deshalb vernachlässige, weil er für das Allgemeinwohl arbeite.
»Meine Weibsbilder, musst du wissen, rackern sich mit dem Mähen ab, anstatt die Melonenfelder zu jäten, wie's bei anderen Leuten gemacht wird. Wie die Verfluchten!...«
Lewinsohn ließ ihn, aufmerksam und geduldig zuhörend, zu Ende reden und schickte nach Moroska. Dieser erschien mit nachlässig ins Genick geschobener Mütze und unnahbar-frecher Miene, die er immer aufsetzte, wenn er sich im Unrecht fühlte, hatte sich aber vorgenommen zu lügen und sich bis zum äußersten zu verteidigen.
»Dein Sack?« fragte der Kommandant, Moroska unmittelbar in den Bannkreis seiner immer klaren Augen reißend.
»Ja...«
»Baklanow, nimm ihm den ,Smith' ab.«
»Was heißt das, ,nimm'?... Hast du ihn mir etwa gegeben?« Moroska sprang zur Seite und knöpfte die Revolvertasche auf.
»Mach keine Faxen...«, sagte Baklanow mit rauer Beherrschtheit, die Falten über der Nasenwurzel fester zusammenziehend.
Moroska, entwaffnet, wurde plötzlich weich:
»Nun, wie viel dieser Wassermelonen hab' ich denn dort genommen?... Und überhaupt, Choma Rjabez, was wollen Sie eigentlich, 's ist doch wirklich nicht der Rede wert... tatsächlich!«
Rjabez neigte abwartend den Kopf und bewegte die nackten Zehen seiner verstaubten Füße.
Lewinsohn verfügte, dass die Dorfversammlung am Abend mit der Abteilung zusammentrete, um über den Diebstahl Moroskas zu beraten.
»Sollen es alle wissen...«
»Josif Abramytsch...«, begann Moroska mit belegter, verdunkelter Stimme. »Die Abteilung meinetwegen... das ist schon einerlei: aber wozu denn die Bauern?«
»Höre, mein Lieber«, sagte Lewinsohn zu Rjabez gewandt, ohne Moroska zu beachten, »ich habe mit dir zu reden... unter vier Augen.«
Er fasste den Vorsitzenden am Ellenbogen, nahm ihn zur Seite und bat ihn, innerhalb einer zweitägigen Frist im Dorfe Brot aufzutreiben und an die zwei Pud Zwieback zu trocknen.
»Nur sieh mir zu, dass niemand erfährt, wozu und für wen der Zwieback bestimmt ist...«
Moroska begriff, dass das Gespräch beendet sei, und schlich niedergeschlagen in die Wachtstube.
Als Lewinsohn mit Baklanow allein war, befahl er ihm, vom morgigen Tag an die Haferrationen der Pferde zu vergrößern.
»Sag dem Wirtschaftsleiter, er soll ein volles Maß aufschütten.«

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