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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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XV. Die drei Tode

Meteliza erwachte in einem großen, dunklen Schuppen. Er lag auf der nackten, feuchten Erde, und das erste, was er empfand, war das Gefühl einer mark- und beindurchdringenden Feuchtigkeit. Dann überkam ihn blitzartig die Erinnerung an das Vorgefallene. Die erlittenen Schläge dröhnten noch in seinem Schädel, die Haare klebten in blutigen Strähnen, er spürte das angetrocknete Blut auf Stirn und Wangen.
Ein Gedanke stieg in ihm auf - der erste, der feste Form annahm -, der Gedanke an Flucht. Meteliza konnte es einfach nicht glauben, dass er nach all dem, was er erlebt, nach all den kühnen Taten und dem Erfolg, der ihm noch bei jedem Unternehmen treu geblieben und seinen Namen unter die Leute getragen, dass er liegen und faulen werde zu guter Letzt wie jeder andere dieser Leute. Er ließ seine Blicke durch den Schuppen schweifen, betastete die Ritzen, versuchte sogar, die Türe aufzubrechen - nutzlose Mühe!... Überall stieß er auf totes, kaltes Holz, und die Ritzen waren so hoffnungslos schmal, dass selbst das Auge sie nicht zu durchdringen vermochte, kaum, dass das trübe Dämmerlicht des herbstlichen Morgens sich hindurchzwängte.
Aber immer und immer wieder wanderten seine Blicke umher, bis er schließlich mit auswegloser, unerbittlicher Exaktheit erkannte, dass es diesmal für ihn in der Tat kein Entrinnen gab. Dann, als er sich endgültig davon überzeugt hatte, interessierte ihn plötzlich die Frage seines eigenen Lebens und Todes nicht mehr. Die ganze Kraft des Körpers und der Seele konzentrierte er auf jene, vom Standpunkt seines eigenen Lebens und Todes gänzlich unbedeutende, jetzt aber für ihn zur wichtigsten gewordenen Frage, wie er, dem der Ruhm der Kühnheit voranging, jenen Leuten, die ihn töten würden, zeigen könne, dass er sich nicht fürchte und sie verachte.
Er hatte kaum zu überlegen begonnen, als vor der Tür Geräusche hörbar wurden, der Riegel aufkreischte und mit dem grauen, zitternden und bleichen Frühlicht zwei Kosaken mit umgehängtem Gewehr und Streifen an der Hosennaht in den Schuppen traten. Meteliza pflanzte sich mit gespreizten Beinen auf und betrachtete sie mit zusammengezogenen Brauen.
Als die zwei seiner ansichtig wurden, blieben sie verlegen an der Türe stehen, der hintere schnaubte unruhig.
»Komm mit, Landsmann«, sagte gutmütig, beinahe etwas schuldbewusst, der erste.
Meteliza trat, den Kopf starrsinnig gesenkt, heraus. Kurz darauf stand er vor einem ihm bekannten Menschen in schwarzer Fellmütze und kaukasischem Filzmantel in demselben Zimmer, das er nachts vom Garten des Popen aus beobachtet hatte. Hier saß auch aufrecht in einem Sessel, Meteliza verwundert, aber ohne Strenge betrachtend, jener schöne, wohlgenährte und gutmütige Offizier, den Meteliza gestern für den Chef der Eskadron gehalten hatte. Jetzt, nachdem er die beiden näher betrachtete, erkannte er an verschiedenen unfassbaren Anzeichen, dass nicht jener gutmütige Offizier der Chef war, sondern gerade der andere, im kaukasischen Filzmantel.
»Ihr könnt gehen«, sagte abgehackt dieser andere zu den beiden Kosaken gewandt, die an der Tür Halt gemacht hatten. Sie schoben sich gegenseitig verlegen aus dem Zimmer. »Was hast du gestern abend im Garten gemacht?« fragte er rasch, indem er vor Meteliza stehen blieb und ihn scharf und unverwandt ansah.
Meteliza starrte ihm schweigend und spöttisch ins Gesicht und hielt seinem Blick stand. Kaum merklich zuckte er mit seinen schwarzsamtnen Augenbrauen und zeigte durch seine ganze Haltung, dass, gleichviel, welche Fragen man ihm stellen und auf welche Weise man ihn auch zwingen wollte, auf diese Fragen zu antworten, er nichts sagen würde, was die Fragenden zufrieden stellen könnte.
»Lass den Unsinn«, fing der Eskadronchef wieder an, ohne Zorn und ohne die Stimme zu heben. Aber sein Ton verriet, dass er alles wohl begriff, was jetzt im Innern Metelizas vorging.
»Wozu ins Blaue hineinreden?« lächelte herablassend der Zugführer.
Der Eskadronchef studierte einige Sekunden sein unbewegliches pockennarbiges Gesicht, das mit geronnenem Blut beschmiert war.
»Wann hast du die Pocken gehabt?« fragte er unerwartet.
»Was?« fragte verblüfft der Zugführer zurück. Er war verblüfft, weil in der Frage des Eskadronchefs kein Spott oder Hohn lag, sondern dass er sich einfach für das pockennarbige Gesicht interessiert hatte. Als er dies begriff, wurde Meteliza wütend, noch wütender, als wenn man ihn beschimpft und verhöhnt hätte. Die Frage des Eskadronchefs erweckte in ihm den Eindruck, als versuche dieser, einen menschlichen Kontakt zu ihm herzustellen.
»Bist du vom Ort oder bist du zugereist?«
»Lass doch, Euer Wohlgeboren!...« sagte Meteliza grimmig und entschlossen, ballte die Fäuste, errötete und mußte an sich halten, um sich nicht auf den Fragenden zu stürzen. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch der Gedanke, ,warum nicht wirklich diesen schwarzen Kerl mit dem widerlich-ruhigen, aufgedunsenen Gesicht, mit den unsauberen, rötlichen Haarborsten packen und erdrosseln?', dieser Gedanke nahm plötzlich so von ihm Besitz, dass er das Wort verschluckte und einen Schritt vorwärts tat. Seine Hände zitterten, auf sein pockennarbiges Gesicht trat Schweiß.
»Oho!« rief, zum ersten Mal erstaunt, laut der andere. Er wich jedoch keinen Schritt zurück und blickte Meteliza fest an.
Dieser blieb unentschlossen stehen, seine Augen blitzten auf. Da zog der andere den Revolver und fuchtelte damit vor Metelizas Nase herum. Der Zugführer gewann die Selbstbeherrschung wieder, wandte sich zum Fenster ab und erstarrte in verächtlichem Schweigen.
Man bedrohte ihn mit dem Revolver, mit den entsetzlichsten Strafen, wollte ihn überreden, alles wahrheitsgetreu zu erzählen und versprach ihm dafür die Freiheit. Er aber sagte kein Wort, blickte kein einziges Mal die Fragenden an.
Als das Verhör in vollem Gange war, öffnete sich leise die Türe, und im Spalt erschien ein behaarter Kopf mit großen, ängstlichen, blöden Augen.
»Aha«, sagte der Eskadronchef. »Seid ihr schon da? Nun gut, sag den Leuten, sie sollen diesen Kerl hier mitnehmen.«
Die beiden Kosaken von vorhin führten Meteliza auf den Hof und gingen, auf das offene Tor zeigend, hinter ihm her. Er sah sich nicht um, fühlte aber, dass die beiden Offiziere auch mitkamen. Man kam auf den Kirchplatz, wo die Dorfbewohner, von einer berittenen Kosakenkette umringt, neben dem Blockhaus des Kirchenvorstehers zu einem Haufen gedrängt standen.
Meteliza hatte immer gedacht, dass er die Menschen mit allen ihren langweiligen kleinen Alltagssorgen, mit allem, was sie umgibt, nicht liebe, sondern verachte. Er dachte, es sei ihm ganz und gar gleichgültig, wie sie sich zu ihm stellten und über ihn redeten. Er hatte nie Freunde gehabt und sich auch nie Mühe gegeben, welche zu haben. Trotzdem hatte er, ohne es selber zu merken, das Wichtigste und Wesentlichste in seinem Leben anderer Leute wegen und für andere Leute getan, damit sie auf ihn sehen, auf ihn stolz sein und ihn loben sollten. Und jetzt, als er den Kopf hochwarf, erfasste er plötzlich nicht nur mit dem Blick, sondern mit dem ganzen Herzen diese wogende, bunte, stille Menge von Bauern, jungen Burschen, erschrockenen Weibern in langen, farbigen Röcken, von Mädchen in weißen, geblümten Kopftüchern, von gewandten Reitern mit unter der Mütze hervorquellenden Haarschöpfen, schmuck, stramm und sauber, wie gemalt, mit langem, über das Gras tanzenden Schatten, und dazu diese alten Kirchenkuppeln, die, von einer blassen Sonne überstrahlt, in den kalten Himmel starrten. Fast hätte er aufgejauchzt: Ja, das ist schön!', so erfreut war er beim Anblick dieser ganzen lebendigen, bunten, armseligen Menge, die um ihn herum sich bewegte, atmete, leuchtete und in ihm pulsierte. Rascher und freier schritt er vorwärts, sich geschmeidig in den Hüften wiegend, mit leichtem Gang, unbeschwert wie der eines wilden Tieres, und alle Menschen auf dem Platz wandten sich ihm zu und empfanden mit verhaltenem Atem die tierisch unbeschwerte Kraft, die in diesem geschmeidigen und gierigen Körper wohnte.
Er schritt durch die Menge, blickte über ihre Köpfe hinweg, spürte ihre lautlose, gespannte Aufmerksamkeit und blieb an der Vortreppe beim Haus des Kirchenvorstehers stehen. Die Offiziere überholten ihn und gingen auf die Veranda hinauf.
»Hierher, hierher«, sagte der Eskadronchef und wies ihm einen Platz neben sich an. Die Treppenstufen mit einem Sprung nehmend, stellte sich Meteliza neben ihn.
Jetzt konnten ihn alle gut sehen - straff und schlank mit schwarzen Haaren, in weichen Wildlederstiefeln, im offenen Hemd, das von einer Schnur mit grünen, aus dem Ausschnitt des Lederwamses heraushängenden Troddeln umgürtet war, einen fernen, raubgierigen Glanz in dem fliegenden Blick, der dorthin gerichtet war, wo im grauen Morgennebel die majestätischen Bergrücken emporragten.
»Wer kennt diesen Mann?« fragte der Eskadronchef und blickte mit scharfprüfenden, durchdringenden Augen um sich, bald bei dem einen, bald bei dem andern Gesicht einen Augenblick lang verweilend.
Und jeder, bei dem dieser Blick sich aufhielt, senkte unruhig blinzelnd den Kopf; nur die Frauen, die keine Kraft fanden, die Augen abzuwenden, begegneten ihm schweigend, stumpfsinnig, mit feiger und hungriger Neugierde.
»Keiner kennt ihn?« fragte noch einmal der Eskadronchef, das Wort »keiner« spöttisch betonend, als ob er genau wüsste, dass im Gegenteil alle »diesen Menschen« kannten oder kennen mussten. »Wir werden die Sache gleich klären... Netschitailo!« rief er, mit der Hand nach der Richtung hinwinkend, wo ein hochgewachsener Offizier in langem Kosakenmantel seinen Fuchshengst tanzen ließ.
Eine dumpfe Erregung ergriff die Menge, die vorne Stehenden wandten sich um - ein Mann in schwarzer Weste drängte sich entschlossen durch die Menge vor, den Kopf so nach vorne neigend, dass nur eine dicke Pelzmütze zu sehen war.
»Lasst mich durch!« sagte er schnell, mit der einen Hand sich den Weg bahnend und mit der andern jemanden hinter sich herziehend.
Endlich erreichte er die Treppe. Nun sah man, dass er ein mageres schwarzhaariges Bürschlein in langem Rock mit sich führte, das sich ängstlich sträubte und mit seinen schwarzen Augen abwechselnd Meteliza und den Eskadronchef anglotzte. Die Unruhe der Menge wuchs, Seufzer und verhaltenes Gemurmel der Frauen wurde hörbar. Meteliza blickte hinunter und erkannte plötzlich in dem schwarzhaarigen Burschen den Hirtenjungen mit den schüchternen Augen und dem dünnen, komischen Kinderhals, bei dem er gestern sein Pferd zurückgelassen hatte.
Der Bauer nahm, den Knaben mit einer Hand festhaltend, die Mütze ab, entblößte den angeplatteten, fleckenweise ergrauten blonden Kopf (es sah aus, als ob man ihn ungleichmäßig mit Salz bestreut hätte), verbeugte sich vor dem Eskadronchef und begann:
»Hier, dieser mein Hirtenjunge...«
Dann beugte er sich, offenbar befürchtend, dass man ihn nicht anhören würde, zu dem Burschen nieder und fragte, mit dem Finger auf Meteliza zeigend:
»War es dieser?«
Einige Sekunden lang schauten sich der Hirtenjunge und Meteliza fest in die Augen: Meteliza mit gespieltem Gleichmut, der Hirtenjunge mit Entsetzen und Mitleid. Dann wandte der Junge den Blick zum Eskadronchef, starrte ihn einen Augenblick wie versteinert an, sah dann auf den Bauern, der ihn noch immer festhielt und sich gespannt zu ihm niederbeugte, seufzte schließlich tief und schwer auf und schüttelte verneinend den Kopf... Die Menge, die sich bisher so still verhalten hatte, dass man das Kalb im Stall des Kirchenvorstehers sich regen hörte, erbebte kaum merklich und erstarrte wieder.
»Fürchte dich nicht, Dummkopf, fürchte dich doch nicht«, redete der Bauer mit einem einschmeichelnden Vibrieren in der Stimme auf den Burschen ein, selber erschrocken und geschäftig mit dem Finger auf Meteliza weisend. »Wer sonst sollte es denn sein, wenn nicht er?... Gib es doch zu, hab keine Angst... ah, Lumpenpack!...« - Wütend zerrte er plötzlich den Burschen aus ganzer Kraft am Arm. »Er ist es, Euer Wohlgeboren, wer könnte es sonst sein«, sagte er laut, sich gleichsam entschuldigend und untertänig die Mütze in der Hand knetend. »Der Junge hat bloß Angst, aber wer ist es denn, wenn das Pferd gesattelt und in der Satteltasche das Futteral... Gestern kam er ans Feuer geritten. ,Hüte mein Pferd', sagte er, und er selbst ging ins Dorf, der Junge konnte auf ihn nicht warten, es tagte schon, er wartet nicht, treibt das Pferd nach Hause, und das Pferd ist gesattelt und das Futteral in der Satteltasche - wer könnte es sonst sein?...«
»Wer kam angeritten? Was für ein Futteral?« fragte der Eskadronchef, vergeblich die wirre Rede zu verstehen suchend. Der Bauer drehte noch verlegener die Mütze in der Hand und erzählte, abschweifend und verwirrt, wie sein Hirte am Morgen ein fremdes Pferd heimgetrieben hatte, das gesattelt war und in dessen Satteltasche ein Pistolenfutteral steckte.
»So, so«, meinte der Eskadronchef in schleppendem Ton, »er kennt ihn also nicht?« sagte er, mit dem Kinn auf den Burschen weisend. »Übrigens, gib ihn mal her, wir werden ihn auf unsere Art verhören...«
Der Bursche kam, von hinten gestoßen, an die Treppe heran, wagte jedoch nicht hinaufzugehen. Der Offizier lief die Stufen hinunter, ergriff ihn an den mageren, zitternden Schultern, zog ihn an sich heran und starrte mit durchdringendem entsetzenerregendem Blick in seine vor Schreck weit aufgerissenen Augen.
»A-a... a!...« heulte der Bursche plötzlich auf und verdrehte die Pupillen.
»Was soll denn da werden?« seufzte eines von den Weibern, die Spannung nicht mehr aushaltend.
Im selben Augenblick schoss ein geschmeidiger Körper auf den Eskadronchef los. Die Menge prallte zurück. Der Eskadronchef fiel hin, von einem starken Stoß zu Boden geschleudert...
»Schießt doch!... Was ist denn das?« schrie der schöne Offizier. Er streckte hilflos die flache Hand aus, in seiner Verwirrung ganz vergessend, dass er selbst ja auch schießen könnte.
Einige Berittene sprengten in die Menge, die Leute mit ihren Pferden auseinanderdrängend. Meteliza lag mit dem ganzen Körper auf seinem Feind und versuchte, dessen Kehle zu packen, der aber wand sich gleich einer Fledermaus, den kaukasischen Mantel wie schwarze Flügel auseinanderschlagend und sich mit der Hand krampfhaft an den Gürtel klammernd, um den Revolver zu ziehen. Endlich gelang es ihm, die Pistolentasche aufzuknöpfen, und fast im selben Augenblick, als ihn Meteliza an der Kehle packte, schoss er einige Male hintereinander auf ihn...
Als die herbeieilenden Kosaken Meteliza an den Beinen zerrten, klammerte dieser sich noch ans Gras, knirschte mit den Zähnen und versuchte, den Kopf zu heben, doch dieser fiel kraftlos zurück und schleifte am Boden.
»Netschitailo«, schrie der schöne Offizier. »Die Eskadron sammeln!... Reiten Sie auch mit?« fragte er höflich den Eskadronchef, ohne ihn anzusehen. »Ja.« »Das Pferd für den Kommandeur!...«
Eine halbe Stunde später ritt die Kosakeneskadron in voller Kampfbereitschaft aus dem Dorfe und sprengte aufwärts denselben Weg entlang, den Meteliza nachts vorher geritten war.
Baklanow, der wie alle anderen stark beunruhigt war, hielt es endlich nicht mehr aus.
»Hör mal, lass mich vorreiten«, sagte er zu Lewinsohn. »Weiß der Teufel, am Ende...«
Er gab dem Pferd die Sporen und erreichte, schneller noch als er gedacht hatte, den Waldrand und die moosbewachsene Hütte. Er brauchte gar nicht auf das Dach zu klettern, in einer Entfernung von kaum einer halben Werst ritten fünfzig Reiter den Hügel hinunter. An ihrer gelbfleckigen Uniform sah er, dass es Reguläre waren. Er unterdrückte den ungeduldigen Wunsch, möglichst schnell zurückzureiten, um Lewinsohn vor der Gefahr zu warnen (dieser konnte ja jeden Augenblick da sein), und verbarg sich im Gebüsch, um abzuwarten., ob hinter dem Hügel nicht noch weitere Abteilungen auftauchen würden. Es kam aber niemand mehr; die Eskadron ritt im Schritt, in aufgelösten Reihen; nach dem Sitz der Reiter und dem Verhalten der Pferde zu urteilen, waren sie erst gerade in Trab gekommen.
Baklanow kehrte um und stieß fast mit Lewinsohn zusammen, der an den Waldrand heranritt. Er machte ihm ein Zeichen stehenzubleiben.
»Viele?« fragte Lewinsohn, nachdem er ihn angehört hatte.
»Ungefähr fünfzig.«
»Infanterie?«
»Nein, Berittene...«
»Kubrak, Dubow, absitzen!« kommandierte leise Lewinsohn. »Kubrak an den rechten Flügel, Dubow an den linken. Du kannst was erleben«, zischte er plötzlich, als er sah, dass ein Partisane mit verbundener Backe sich seitwärts in die Büsche schlug und auch den anderen Zeichen machte, seinem Beispiel zu folgen. »Zurück!« und er drohte mit der Reitgerte.
Er übergab Baklanow den Befehl über den Zug Metelizas und befahl ihm dazubleiben; dann saß er ab und ging selber zur Schützenkette hin, ein wenig hinkend und die Mauserpistole schwingend.
Sich im Gebüsch haltend, ließ er die Kette sich hinlegen und kroch, von einem Partisanen begleitet, zur Hütte. Die Eskadron war ganz nahe. An den gelben Mützenrändern und Lampassen sah Lewinsohn, dass es Kosaken waren. Er konnte auch den Kommandeur im kaukasischen Mantel unterscheiden.
»Sag ihnen, sie sollen hierher kriechen«, flüsterte er dem Partisanen zu, »aber nicht aufstehen, sonst... Nun, was gaffst du? Mach rasch!...« und stieß ihn, die Stirn runzelnd, fort.
Obwohl die Zahl der Kosaken gering war, war Lewinsohn plötzlich heftig erregt, wie in der ersten, weit zurückliegenden Zeit seiner militärischen Tätigkeit.
In seiner Kampflaufbahn unterschied er zwei Abschnitte, die zwar durch keinen scharfen Trennungsstrich abgegrenzt, aber für ihn durch die eigenen Empfindungen unterschieden waren, die er in ihnen erlebt hatte.
In der ersten Zeit, als er ohne jede militärische Ausbildung, sogar ohne schießen zu können, über viele Menschen Befehl führen mußte, hatte er das Gefühl, dass in Wirklichkeit nicht er es sei, der kommandiere, sondern die Ereignisse sich unabhängig von ihm und von seinem Willen entwickelten. Und dies rührte nicht daher, weil er seine Pflicht nicht ehrlich erfüllte (er strengte sich an, alles zu geben, was er geben konnte), und auch nicht, weil er meinte, ein einzelner könne überhaupt nicht Ereignisse beeinflussen, an denen die Masse beteiligt ist (er betrachtete sogar eine solche Ansicht als die schlimmste Äußerung menschlicher Heuchelei, die die eigene Schwäche, das heißt den Mangel an Tatwillen decken sollte), sondern weil in dieser erregten kurzen Periode seiner militärischen Tätigkeit fast seine ganze seelische Kraft darauf verwandt werden mußte, die Angst um das eigene Leben, die er im Kampf unwillkürlich empfand, zu überwinden und vor den anderen zu verbergen.
Er gewöhnte sich jedoch sehr schnell an die Verhältnisse und brachte es dahin, dass die Angst um das eigene Leben ihn bei der Verfügung über das Leben anderer nicht mehr störte. In dieser zweiten Periode wurde es ihm auch möglich, die Ereignisse zu lenken - und zwar um so vollständiger und erfolgreicher, je klarer und richtiger er ihren wirklichen Gang und das Verhältnis der Kräfte und Menschen in ihnen erfassen konnte.
Jetzt empfand er aber wieder eine starke Erregung und fühlte, dass diese Erregung irgendwie mit seinem neuen Zustand, mit allen seinen Gedanken über sich selbst und über den Tod Metelizas verbunden sei.
Während die Schützenkette sich zwischen dem Gebüsch weiterschob, gewann er die Selbstbeherrschung wieder, und seine kleine, straffe Gestalt mit den sicheren knappen Bewegungen stand wieder vor den Leuten wie die Verkörperung eines unfehlbaren Planes an den sie aus Gewohnheit und aus innerem Drang glaubten. Die Eskadron war schon so nahe herangekommen, dass man das Getrampel der Pferde und das leise Sprechen der Reiter hören und sogar einzelne Gesichter unterscheiden konnte. Lewinsohn sah ihren Ausdruck, besonders den eines schönen korpulenten Offiziers, der, die Pfeife zwischen den Zähnen, gerade vorgeritten war und sich sehr schlecht im Sattel hielt.
,Muss das ein Unmensch sein', dachte Lewinsohn, ihn anblickend und diesem schönen Offizier unwillkürlich alle furchtbaren Eigenschaften zuschreibend, die gewöhnlich dem Feind zugeschrieben werden. ,Wie mein Herz klopft!... Sollte man schon schießen?... schießen?... Nein, bei der Birke mit abgezogener Rinde... Aber warum hält er sich so schlecht?... Das ist ja geradezu...'
»Zu-u-g...«, schrie Lewinsohn plötzlich mit hoher, lang gezogener Stimme (gerade in diesem Augenblick hatte die Eskadron die Birke mit abgezogener Rinde erreicht, »Feuer!...«
Der schöne Offizier hob, als er die ersten Laute vernahm, erstaunt den Kopf. Aber im selben Augenblick flog seine Mütze vom Kopf, und sein Gesicht nahm einen unwahrscheinlich erschrockenen und hilflosen Ausdruck an.
»Feuer!...« rief Lewinsohn noch einmal und schoss. Er zielte auf den schönen Offizier.
Die Eskadron geriet in Unordnung; viele fielen vom Pferd, jedoch der schöne Offizier blieb aufrecht im Sattel sitzen. Mit aufgerissenem Maul brach sein Pferd unter ihm zusammen. Einige Sekunden lang drängten sich kopflos gewordene Menschen und sich bäumende Pferde auf einem Fleck und schrieen etwas im Lärm der Schüsse Unverständliches durcheinander. Endlich riss sich ein einzelner Reiter im kaukasischen Mantel mit schwarzer Pelzmütze aus dem Knäuel los und schwenkte den Pallasch, sein Pferd mit einer gespannten Geste zurückhaltend. Die übrigen gehorchten ihm offensichtlich nicht, einige sprengten schon davon, ihre Pferde mit der Nagaika antreibend, und bald jagte die ganze Eskadron ihnen nach. Die Partisanen sprangen auf, die Wagemutigsten liefen den Fliehenden nach und schossen im Laufen.
»Pferde her!...« schrie Lewinsohn. »Baklanow, hierher! ... Aufsitzen!...«
Baklanow stürzte mit grimmigem, wutverzerrtem Gesicht an ihm vorbei, den ganzen Körper reckend. In seiner zurückgeworfenen Hand glänzte der gekrümmte Säbel wie Glimmer. Hinter ihm her stürmte waffenstarrend, klirrend und unter Hurrarufen, der Zug Metelizas.
Metschik jagte, vom Strom fortgerissen, mitten in der Lawine mit. Er empfand keine Angst, ja, er verlor sogar die Fähigkeit, die eigenen Gedanken und Taten zu beobachten und von außen zu bewerten, die ihn sonst nie verließ. Er sah nichts vor sich als einen wohlbekannten Rücken und einen beschopften Kopf, fühlte, dass Niwka nicht zurückblieb, dass der Feind vor ihnen floh, und bemühte sich nach bestem Gewissen, mit allen anderen zusammen den Feind einzuholen und hinter dem wohlbekannten Rücken nicht zurückzubleiben.
Die Kosakeneskadron verschwand im Birkenhain. Kurz darauf knatterten Gewehrschüsse der Abteilung entgegen, doch diese stürmte weiter, ohne den Lauf zu mäßigen, ja, durch die Schüsse wurde sie noch ungestümer und erregter.
Plötzlich stürzte der vor Metschik herjagende zottige Hengst zu Boden, und der wohlbekannte Rücken mit dem beschopften Kopf flog mit ausgestreckten Armen nach vorne. Metschik wich mit allen anderen einer großen schwarzen Masse aus, die sich auf der Erde wälzte.
Jetzt sah er den wohlbekannten Rücken nicht mehr und richtete den Blick auf den rasch näher kommenden Birkenhain... Eine kleine bärtige Gestalt auf einem Rappenhengst, die etwas schrie und mit dem Säbel auf etwas hinwies, tauchte für einen Augenblick vor seinen Augen auf. Einige Reiter, die neben ihm galoppierten, bogen plötzlich nach links ab. Metschik aber jagte, den Vorgang nicht begreifend, in der früheren Richtung weiter, bis er den Birkenhain erreichte. In der Heftigkeit seines Tempos schlug er fast gegen die Baumstämme und zerkratzte sich das Gesicht an den nackten Zweigen. Mit Mühe gelang es ihm, Niwka zurückzuhalten, die, wild geworden, durch das Gebüsch raste.
Er war allein - in der sanften Stille der Birken, im Gold der Blätter und Gräser...
Im selben Augenblick schien es ihm, als ob der Hain von Kosaken wimmelte. Er schrie auf und stürzte zurück, vor Schreck nicht beachtend, wie die spitzen, stechenden Zweige sein Gesicht peitschten...
Als er das freie Feld wieder erreicht hatte, war die Abteilung nicht mehr zu sehen. Zweihundert Schritte von ihm lag ein totes Pferd mit zur Seite gerutschtem Sattel. Daneben saß reglos ein Mensch mit angezogenen Beinen, die an die Brust gedrückten Knie mit den Händen umklammernd. Es war Moroska.
Metschik ritt, sich der ausgestandenen Angst schämend, im Schritt an ihn heran.
Mischka lag auf der Seite mit aufgerissenem Maul, seine großen starren Augen quollen hervor; die Vorderfüße mit den scharfen Hufen waren eingebogen, als ob das Pferd auch im Tode noch galoppieren wollte. Moroska schaute an ihm vorbei, seine Augen glänzten trocken und sahen nichts.
»Moroska...«, rief ihn Metschik leise, sein Pferd anhaltend. Ein tränenseliges, gutes Mitleid mit Moroska und dem toten Pferd ergriff ihn plötzlich.
Moroska rührte sich nicht. Einige Minuten blieben sie so, ohne ein Wort zu sprechen, ohne die Haltung zu ändern. Dann seufzte Moroska auf, löste langsam die Hände von den Knien, kniete neben das Pferd hin und begann den Sattel loszumachen, alles, ohne Metschik anzublicken. Metschik beobachtete ihn schweigend, er wagte nicht, ihn wieder anzusprechen.
Moroska löste die Sattelgurte - einer war zerrissen -, er betrachtete aufmerksam den abgerissenen, blutbefleckten Riemen, drehte ihn in der Hand und warf ihn weg. Dann hob er ächzend den Sattel auf den Rücken und setzte sich in der Richtung des Birkenhains in Bewegung, niedergedrückt von der Last und mit seinen krummen Beinen ungeschickt ausschreitend.
»Gib her, ich bringe es hin, oder wenn du willst, sitz selbst auf, ich gehe zu Fuß!« rief Metschik.
Moroska sah sich nicht um, beugte sich nur tiefer unter der Last des Sattels.
Aus irgendeinem Grunde wollte Metschik ihm nicht mehr unter die Augen kommen; er machte einen großen Umweg nach links um den Hain herum und erblickte in kurzer Entfernung das Dorf, quer über das Tal ausgedehnt. In der weiten Niederung rechts lag Wald, an den ganzen, sich in nebliggrauer Ferne verlierenden Bergrücken heranreichend. Der am Morgen noch so klare Himmel war jetzt drückend und finster, die Sonne drang nur mühsam durch.
Fünfzig Schritte vom Wege lagen einige zusammengehauene Kosaken. Einer lebte noch, mühsam stützte er sich auf die Arme, fiel wieder hin und stöhnte. Metschik machte einen weiten Bogen um ihn herum und bemühte sich, das Stöhnen zu überhören. Aus dem Dorfe kamen einige berittene Partisanen ihm entgegen.
»Dem Moroska hat man sein Pferd getötet...«, sagte Metschik, als sie ihn erreicht hatten.
Keiner antwortete. Einer maß ihn mit misstrauischem Blick, als ob er fragen wollte: ,Wo bist du denn geblieben, als wir uns hier schlugen?' Metschik ritt bedrückt weiter, von bösen Vorahnungen erfüllt...
Als er ins Dorf hereinritt, hatten viele Partisanen bereits ihre Quartiere aufgesucht - die übrigen drängten sich um eine große fünfwandige Hütte mit hohen geschnitzten Fenstern. Lewinsohn, verschwitzt und staubbedeckt, die Mütze schief auf dem Kopf, gab von der Veranda aus Befehle. Metschik saß neben dem Zaun ab, wo die Pferde standen.
»Woher des Wegs?« fragte spöttisch sein Gruppenführer. »Warst du Pilze sammeln?«
»Nein, ich habe mich verirrt«, sagte Metschik. Es war ihm jetzt ganz gleich, was man von ihm denken würde, aber aus alter Gewohnheit versuchte er, sich zu rechtfertigen. »Ich geriet in den Hain, ihr seid, glaub' ich, dort links abgebogen?«
»Ja, ja, links!« bestätigte freudig ein flachshaariger kleiner Partisane mit naiven Grübchen im Gesicht und einem kecken Haarwirbel auf dem Scheitel. »Ich rief dich, du hörtest aber wohl nicht...« Er blickte Metschik entzückt an, mit offenbarem Vergnügen sich alle Einzelheiten der Sache ins Gedächtnis rufend.
Metschik band das Pferd an und setzte sich neben ihn.
Aus einer Seitengasse kam Kubrak, begleitet von einem Haufen Bauern. Sie führten zwei Männer, denen die Hände auf den Rücken gebunden waren. Der eine trug eine schwarze Weste, er hatte einen plumpen, abgeplatteten, ungleichmäßig ergrauten Kopf, zitterte stark und flehte die Leute an, die ihn führten. Der andere war ein schmächtiger Pope im zerrissenen Talar, durch dessen Risse seine abgetragenen Hosen sichtbar waren. Metschik bemerkte, dass Kubrak am Gürtel eine offenbar vom Brustkreuz stammende silberne Kette trug.
»Dieser da?« fragte Lewinsohn erblassend und zeigte, als der Zug an die Treppe herankam, mit dem Finger auf den Mann mit der Weste.
»Er ist es, er selbst!...« bezeugten die Bauern.
»So ein Schweinehund!« sagte Lewinsohn zu Staschinskij, der neben ihm saß, »... aber Meteliza machst du schon nicht mehr lebendig...« - seine Lider zuckten plötzlich ein paar Mal; er wandte sich ab und sah einige Sekunden schweigend in die Ferne, um sich von der Erinnerung an Meteliza loszumachen.
»Genossen! Meine Lieben!...« greinte der Verhaftete, bald die Bauern, bald Lewinsohn mit hündisch ergebenen Augen anblickend. »Hab' ich denn aus freien Stücken?... Mein Gott... liebe Genossen...«
Keiner hörte ihn an. Die Bauern wandten sich ab.
»Wozu das Gerede, das ganze Dorf hat es gesehen, wie du den Hirtenjungen genötigt hast«, sagte einer finster, dem Verhafteten einen gleichgültigen Blick zuwerfend.
»Bist selbst schuld...«, bestätigte ein zweiter und wandte sich dann verlegen ab.
»Erschießen«, sagte Lewinsohn kalt, »aber führt ihn weiter abseits!«
»Und der Pope?« fragte Kubrak. »Auch ein Hundsfott, hat's mit den Offizieren gehalten...«
»Lasst ihn laufen, hol ihn der Teufel!...«
Die Menge, der sich auch viele Partisanen anschlossen, strömte Kubrak nach, der den Mann mit der Weste fortschleppte. Dieser sträubte sich, schlenkerte mit den Füßen und weinte, sein Unterkiefer zitterte.
Tschish näherte sich Metschik. Er trug eine unverhohlene Siegesfreude zur Schau, auf seinem Kopfe saß eine schmierige Mütze.
»Hier bist du also!« sagte er freudig und stolz. »Mensch, wie siehst denn du aus? Gehen wir irgendwohin etwas fressen... Jetzt erledigen sie ihn...«, er zog die Worte vielsagend in die Länge und pfiff dazu.
In der Hütte, wohin sie essen gingen, war es schmutzig, die Luft war stickig, es roch nach Brot und Sauerkohl. Die Ofenecke lag voller dreckiger Kohlstrünke; Tschish stopfte Brot und Kohlsuppe in sich hinein und erzählte ununterbrochen von seinen Heldentaten, dabei blickte er das schlanke Mädchen mit den langen Zöpfen, das ihnen das Essen brachte, fortwährend verstohlen an. Sie wurde verlegen und freute sich. Metschik bemühte sich zuzuhören, horchte aber unaufhörlich auf und fuhr bei jedem Geräusch zusammen.
»... Plötzlich dreht er sich um, geht auf mich los...«, schwatzte Tschish, mit vollem Munde schmatzend, »und ich versetzte ihm eins...!«
In diesem Augenblick erklirrten die Fenster, und eine ferne Salve knatterte. Metschik zuckte zusammen, ließ seinen Löffel fallen und erbleichte.
»Wann wird das alles ein Ende nehmen...«, rief er verzweifelt aus und lief, das Gesicht in die Hände vergraben, aus der Hütte hinaus...
,... Sie haben ihn umgebracht, diesen Menschen mit der Weste', dachte er. Er lag irgendwo im Gebüsch, den Mantelkragen hochgeschlagen und wusste sogar nicht einmal, wie er dahingekommen war. »Früher oder später werden sie auch mich umbringen... Aber ich habe ja schon sowieso nichts mehr, mir ist's, als wär' ich gestorben. Ich werde die Menschen, die ich lieb habe, nie mehr sehen, und auch nicht dieses liebe Mädchen mit den hellen Locken, deren Bild ich in kleine Stücke zerrissen habe... Er hat sicher geweint, der arme Kerl mit der Weste...Mein Gott, warum habe ich es denn zerrissen? Werde ich wirklich nie mehr zu ihr zurückkehren? Ich Unglückseliger!...'
Es dämmerte schon, als er aus dem Gebüsch herauskam, mit trockenen Augen, einen leidenden Ausdruck im Gesicht. Irgendwo ganz in der Nähe grölten betrunkene Stimmen, eine Ziehharmonika spielte. Er traf das schlanke Mädchen mit den langen Zöpfen am Tor; sie trug Wasser auf einem Tragjoch und bog sich schwankend wie eine Weidengerte.
»Da bummelt einer von den Eurigen mit unseren Burschen«, sagte sie, hob die dunkeln Wimpern und lächelte. »Hören Sie, wie er...?« und sie wiegte den hübschen Kopf im Takt der ausgelassenen Musik, die von der Straßenecke zu ihr drang. Die Eimer schwangen mit, Wasser verschüttend, das Mädchen wurde verlegen und verschwand im Tor.
»Und wir se-elbst, die Zuchthausbrüder, Haben's a-abgewa-artet...«
sang eine sehr betrunkene und Metschik recht bekannte Stimme. Er blickte um die Ecke und sah Moroska, die Ziehharmonika in den Händen. Der zerzauste Schopf hing ihm ins Gesicht und klebte an seinem roten, verschwitzten Gesicht.
Er ging mitten auf der Straße, den Körper unanständig schaukelnd und die Ziehharmonika mit einem solchen Ausdruck der Hingabe vor sich herschiebend und auseinander ziehend, als ob er seine Schamlosigkeit auch zugleich bereute. Ihm folgte eine Menge ebenso betrunkener Burschen, ohne Mützen und Gürtel. An beiden Seiten des Zuges liefen schreiend und große Staubwolken aufwirbelnd barfüßige Bauernjungen, ausgelassen und unerbittlich wie kleine Teufel.
»A-ah... mein Freund?...« schrie Moroska, Metschik erblickend, in heuchlerischer, besoffener Verzückung. »Wohin gehst du? Wohin? Hab keine Angst, wir werden nicht schlagen... Trink mit uns... Hol's der Teufel - werden sowieso zugrunde gehen!...«
Die ganze Rotte umringte Metschik, sie umarmten ihn, beugten ihre gutmütig-betrunkenen Gesichter zu ihm, hauchten ihn mit nach Schnaps riechendem Atem an. Jemand drückte ihm eine Flasche und eine angebissene Gurke in die Hand.
»Nein, ich trinke nicht«, sagte Metschik, sich losreißend, »ich will nicht trinken...«
»Trink, hol dich der Teufel!« schrie Moroska, vor Übermut fast weinend. »Zusammen zugrunde gehen!...« und er schimpfte unflätig.
»Nur ein wenig, bitte, ich trinke ja nicht«, sagte Metschik, sich fügend.
Er trank einige Schluck. Moroska zog die Ziehharmonika auseinander und fing mit heiserer Stimme zu singen an. Die Burschen sangen mit.
»Komm mit uns«, sagte einer, Metschik unterfassend. »Ich wohne hi-i-er... «, brummte er durch die Nase eine zufällig aufgeschnappte Zeile und schmiegte sich mit der unrasierten Wange an Metschik.
Sie gingen die Straße entlang, scherzend und stolpernd, die Hunde auseinanderjagend und sich selbst, ihre Verwandten und Angehörigen, die ganze unsichere schwere Erde und den sich als Sternenlose finstere Kuppel wölbenden Himmel verfluchend.

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