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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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X. Der Anfang

Moroska empfand zu seinem Erstaunen bei der Begegnung mit Metschik weder den Hass noch den Zorn von früher. Nur die Frage war geblieben, weshalb dieser schädliche Mensch von neuem seinen Weg kreuze, und im Unterbewusstsein die Überzeugung, dass er ja eigentlich auf ihn böse sein müsse. Immerhin hatte diese Begegnung doch so auf ihn gewirkt, dass er darüber unbedingt sogleich jemandem erzählen mußte.
»Geh' ich da eben durch ein Gässchen«, sagte er zu Dubow, »bin kaum um die Ecke 'rum, läuft mir, wie aus dem Boden gewachsen, dieser Bursche aus Schaldybas Abteilung entgegen, der, den ich mitgebracht habe, weißt du noch?«
»Na, und?...«
»Sonst nichts... ,Wie komm' ich da', fragt er, ,zum Stab?...' -,Hier', sagte ich, ,der zweite Hof rechts...'«
»Und was weiter?« forschte Dubow, der dabei nichts Außergewöhnliches finden konnte und dachte, dass es doch noch kommen würde.
»Das ist alles!... Was soll noch sein?...« antwortete Moroska mit unerklärlicher Gereiztheit.
Plötzlich ödete ihn alles an, und er verlor die Lust, mit irgend jemandem zu reden. Anstatt zum »Dorfbummel« zu gehen, wie er es sich vorgenommen hatte, kroch er in einen Heuschober, konnte aber keinen Schlaf finden. Unangenehme Erinnerungen bedrückten ihn schwer; es schien, als stelle sich ihm Metschik mit Absicht in die Quere, um ihn vom geraden Wege abzudrängen.
Den ganzen folgenden Tag irrte er planlos umher; nur mit Mühe unterdrückte er den Wunsch, Metschik wieder zu sehen.
»Warum sitzen wir so untätig herum?« lag er verärgert dem Zugführer in den Ohren. »Werden hier noch vor lauter Langeweile verschimmeln... Worüber grübelt er denn, unser Lewinsohn?«
»Eben gerade darüber, wie man Moroska zerstreuen könnte. Hat sich beim Nachgrübeln schon sämtliche Hosen durchgescheuert.«
Dubow ahnte auch nicht im entferntesten die komplizierten Vorgänge in der Seele Moroskas. Dieser aber, völlig sich selbst überlassen, verging in unheilvoller Sehnsucht und wusste, dass er sich bald dem Trunk ergeben würde, sollte es ihm nicht gelingen, im Kampfgewühl Ablenkung zu finden. Zum ersten Mal in seinem Leben kämpfte er gegen die eigenen Wünsche an, aber seine Kräfte waren nur gering. Ein Zufall bloß bewahrte ihn vor dem Sturz.
Seit sie sich in diese gottverlassene Gegend zurückgezogen, hatte Lewinsohn beinahe jegliche Verbindung mit den anderen Abteilungen verloren. Die wenigen Nachrichten, die es hier und da aufzuschnappen gelang, ergaben ein schauriges Bild des Zerfalls und qualvoller Auflösung. Der eiserne Tritt des Todes zerstampfte erbarmungslos die Ameisenhaufen, die toll gewordenen Ameisen aber rannten in ihrer sinnlosen Angst entweder in ihr Verderben oder stoben in ungeordneten Haufen in unbekannte Weiten, um in der eigenen Säure zu verfaulen. Der unheilschwangere Wind aus dem Ulachinsker Tal führte den rauchigen Geruch von Blut mit sich.
Ü ber verborgene Taigapfade, die seit Jahr und Tag keines Menschen Fuß mehr betreten, hatte sich Lewinsohn mit der Eisenbahn verbunden. Man benachrichtigte ihn, dass binnen kurzem ein Transport mit Waffen und Monturen vorbeikommen müsse. Die Eisenbahner hatten versprochen, den genauen Zeitpunkt mitzuteilen. Da Lewinsohn sehr wohl wusste, dass die Abteilung früher oder später entdeckt werden würde und es unmöglich sei, in der Taiga ohne Munition und warme Kleidung zu überwintern, entschloss er sich, den ersten Ausfall zu wagen. Gontscharenko lud in Eile die Sprengminen. Und in einer Nacht, nachdem sie sich unbemerkt im Nebel durch die feindliche Hölle geschlichen, tauchte plötzlich Dubows Zug an der Bahnlinie auf.
Die dem Postzug angehängten Güterwagen riss Dubow los, ohne dass Passagiere zu Schaden kamen. Im Krachen der Explosion, im Brandgeruch des Dynamits sprangen die Schienen hoch und stürzten dröhnend den Abhang hinunter. Der Verschluss der Sprengmine war mit einer Schnur an einem Telegraphendraht hängen geblieben und veranlasste später manch einen, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, auf welche Weise und wozu er da hinaufgekommen.
Während die Kavalleriepatrouillen umherstreiften, blieb Dubow abwartend mit den schwerbepackten Gäulen im Swiaginsker Blockhaus und entschlüpfte dann, als es dunkel geworden war, in die Schlucht. Einige Tage später erschien er in Schibischi, ohne auch nur einen Mann verloren zu haben.
»Na, Baklanow, jetzt nimm dich zusammen...«, sagte Lewinsohn, und sein unsteter Blick ließ nur schwer erkennen, ob er im Ernst oder Scherz sprach. An demselben Tage teilte er den ganzen Train auf, Mäntel, Patronen, Säbel, Zwieback, und behielt nur soviel zurück, wie die kräftigen Gäule zu tragen vermochten.
Das ganze Ulachinsker Tal bis zum Ussuri war vom Feinde besetzt. An der Mündung des Irochedsa sammelten sich neue Kräfte, die japanischen Kundschafter schwirrten in allen Windrichtungen durchs Land und stießen oft genug mit Lewinsohnschen Patrouillen zusammen. Ende August setzten sich die Japaner nach dem Oberlauf in Marsch. Sie bewegten sich langsam, mit langen Aufenthalten, von Gehöft zu Gehöft, vorsichtig jeden Schritt abtastend, während sie die Flanken durch ein dichtes Netz von Patrouillen deckten. In der eisernen Hartnäckigkeit ihrer Bewegung fühlte man, ungeachtet des schneckenhaften Tempos, eine selbstsichere, berechnende und gleichzeitig blinde Kraft.
Die Kundschafter Lewinsohns kehrten mit schreckerfüllten Augen zurück, ihre Nachrichten aber widersprachen einander.
»Wie ist denn das möglich?« forschte Lewinsohn kalt und sachlich. »Gestern, behauptest du, waren sie in Solomenaja, heute früh aber in Monakin, sie gehen also zurück?...«
»Das w-weiß ich nicht«, stotterte der Kundschafter. »Vielleicht waren's Vorposten in Solomenaja...«
»Und woraus schließt du, dass in Monakin die Hauptkräfte und nicht Vorposten stehen?«
»Die Bauern sagen's...«
»Hör auf mit deinen Bauern!... Was hat man dir befohlen?«
Da erfand der Kundschafter eine höchst verwickelte Geschichte, wieso und weshalb es ihm nicht gelungen war, tiefer in die Stellungen zu dringen. In Wahrheit verhielt sich die Sache so, dass der durch Weibergeschwätz verängstigte Bursche nur bis auf etwa zehn Werst Entfernung an den Feind herangekommen war und dann rauchend, im Gebüsche versteckt, die geeignete Zeit abwartete, um wieder umzukehren. ,Steck mal deine Nase selber vor', dachte er, während er zwinkernd, mit heimlichem Bauernblick, zu Lewinsohn herüberschielte.
»Wirst schon selber hinfahren müssen«, sagte Lewinsohn zu Baklanow. »Sonst klatscht man uns hier wie Fliegen an die Wand. Mit diesem Volk ist nichts anzufangen. Nimm dir jemanden mit, und brich in aller Frühe auf.«
»Wen nehm' ich da mit?« fragte Baklanow, bemüht, sich ein ernstes und besorgtes Aussehen zu geben, obgleich in seinem Innern alles vor Kampfesfreude bebte: wie Lewinsohn, so glaubte auch er, seine wahren Gefühle verbergen zu müssen.
»Wen du willst... meinetwegen den Neuen, der bei Kubrak ist, den Metschik vielleicht? Kannst ihn bei der Gelegenheit auf die Probe stellen. Man spricht nichts Gutes von ihm, vielleicht mit Unrecht...«
Metschik kam dieser Kundschafterritt äußerst gelegen. Während der kurzen Zeit, die er in der Abteilung verbrachte, hatte er eine solche Fülle unerledigter Angelegenheiten, ungehaltener Versprechen und unverwirklichter Absichten aufgespeichert, dass alles im einzelnen, selbst geordnet, schon allen Sinn und alle Bedeutung verloren haben würde. Zusammengenommen aber lasteten sie immer schwerer, dumpfer und schmerzlicher auf ihm und ließen ihn nicht aus ihrem engen, unsinnigen Bann entkommen. Nun aber meinte er, diesen sinnlosen Kreis mit kühnem Griff sprengen zu können.
Noch vor Sonnenaufgang brachen sie auf. Blassrosa schimmerten am Abhang die Baumwipfel der Taiga, und im Dorfe, am Fuß des Berges, krähten zum zweiten Mal die Hähne. Es war kalt, dunkel und etwas unheimlich. Das Ungewohnte ihrer Lage, die Vorahnung von Gefahren, die Hoffnung auf Erfolg erzeugten in den beiden Reitern jene gehobene Kampfstimmung, in der alles andere verblasste. In den Gliedern ein leichtes Wallen des Blutes, die Muskeln federn, und die Luft scheint kalt und brennend, klirrend fast.
»Mensch, hast du aber eine grindige Stute«, sagte Baklanow. »Pflegst sie wohl nicht, was?... Das ist nicht gut... Kubrak, dieser Dummkopf, hat's dir, scheint's, nicht gezeigt, was du mit ihr zu machen hast?« Baklanow hätte es niemals für möglich gehalten, dass ein Mensch, der mit einem Pferde umzugehen weiß, so gewissenlos sein könnte, um es derart verwahrlosen zu lassen. »Hat's dir nicht gezeigt, was?«
»Wie soll ich sagen«, erwiderte Metschik verlegen, »er hilft überhaupt nicht viel. Man weiß nicht, an wen man sich wenden
soll.«
Er schämte sich seiner Lüge und rutschte, mit abgewandtem Blick, verlegen auf dem Sattel hin und her.
»Frage nur ruhig bei allen. Wir haben dort viele, die mit Pferden umzugehen wissen. Sind schneidige Kerle darunter...«
Entgegen der Ansicht von Tschish, die Metschik beinahe geteilt hatte, fing er an, Gefallen an Baklanow zu finden. Er war so stämmig und rundlich und saß wie angewachsen im Sattel. Seine Augen, braun und gescheit, fingen alles im Fluge auf, im selben Moment auch schon das Wichtige vom Unwichtigen scheidend, dann folgten praktische Schlussfolgerungen:
»He, Freundchen, ich schau' schon immer, warum dein Sattel rutscht! Hast ja den hinteren Sattelgurt so fest angezogen und der vordere hängt. Umgekehrt muß's sein... Zeig mal her...«
Ehe sich's Metschik recht versah, war Baklanow schon vom Pferd gesprungen und machte sich an den Gurten zu schaffen.
»Na... auch die Satteldecke hat sich ja verschoben... steig ab, steig ab, machst das Pferd kaputt. Müssen umsatteln.«
Nach einigen Werst war Metschik schon fest davon überzeugt, dass Baklanow weit tüchtiger und klüger als er und außerdem ein sehr tapferer und starker Mensch war, und dass er, Metschik, sich ihm in allem widerspruchslos fügen müsse. Baklanow hingegen, der ganz unvoreingenommen an Metschik heranging, unterhielt sich, obgleich er sich der eigenen Überlegenheit sehr bald bewusst war, mit ihm wie mit seinesgleichen und bemühte sich, durch bloße Beobachtung dessen wahren Wert zu ergründen.
»Wer hat dich denn hergeschickt?«
»Eigentlich niemand, bin selbst hergekommen, und den Passierschein haben mir die Maximalisten gegeben...«
Metschik erinnerte sich an das sonderbare Benehmen Staschinskijs und versuchte, die Bedeutung der Organisation, von der er geschickt worden war, irgendwie zu verwischen.
»Die Maximalisten?... Solltest dich nicht mit ihnen herumtreiben, mit diesen Schwätzern...«
»Kümmere mich ja auch gar nicht um sie... Dort sind nur einfach einige meiner Freunde aus dem Gymnasium, und da bin ich...«
»Hast du das Gymnasium beendet?« unterbrach ihn Baklanow.
»Das Gymnasium - beendet?... Ja...«
»Das ist schön. Ich habe auch die Gewerbeschule besucht. Für Drechsler. Konnte nicht bis zu Ende machen. Hab' spät angefangen, siehst du«, erklärte er, wie zu seiner Rechtfertigung. »Solange war ich auf einer Werft, bis mein kleiner Bruder heranwuchs, und dann fing dieser Tanz hier an...«
Nachdenklich setzte er nach einer Weile hinzu:
»Ja, ja... das Gymnasium... hatte als ein kleiner Knirps auch Lust, aber so ist's nun mal...«
Metschiks Worte hatten, scheint's, manch unnütze Erinnerung in ihm wachgerufen. Mit plötzlicher Leidenschaftlichkeit begann Metschik ihm zu beweisen, dass es nicht nur nicht schlecht, sondern sogar von Vorteil wäre, dass Baklanow das Gymnasium nicht besucht habe. Ohne es selbst gewahr zu werden, bemühte er sich, ihm zu beweisen, wie rechtschaffen und klug er sei, ungeachtet seiner mangelhaften Bildung. Baklanow vermochte jedoch in seiner Unwissenheit keinerlei Vorteil zu entdecken, und die komplizierten Überlegungen Metschiks waren ihm überhaupt unverständlich. Eine herzliche Aussprache kam nicht zustande. Beide gaben ihrem Pferd die Sporen und ritten lange schweigend nebeneinander her.
Die vielen Kundschafter, die sie auf dem Wege trafen, logen wie immer. Baklanow schüttelte nur den Kopf. Auf einem Gehöft, drei Werst vom Dörfchen Solomenaja, stellten sie ihre Pferde unter und gingen zu Fuß weiter. Längst schon hatte die Sonne sich nach Westen gesenkt. In den müden Feldern leuchteten die bunten Kopftücher, und die fetten Garbenhaufen warfen dunkle, weiche Schatten. Ein Gespann kam ihnen entgegen, und Baklanow erkundigte sich, ob die Japaner in Solomenaja gewesen seien.
»In der Früh, sagt man, sollen Stücker fünf erschienen sein, jetzt ist's wieder still geworden... Wenn man wenigstens noch das Getreide hereinkriegte, dass sie die Hölle...«
Metschiks Herz schlug schneller, aber er hatte keine Angst.
»Sie sind also wirklich in Monakin?«, bemerkte Baklanow. »Das da waren Kundschafter. Also los...«
Als sie ins Dorf kamen, empfing sie träges Hundegebell. In einer Herberge, mit einem an einer Stange befestigten Heubüschel und einem Wagen vor der Tür, tranken sie auf »Baklanowsche Art« Milch: mit eingebrocktem Brot aus einem Schüsselchen. Späterhin - mit Grausen nur gedachte Metschik dieses Ritts - sah er immer wieder Baklanow vor sich, wie er mit glückstrahlendem Gesicht, die Oberlippe mit Milch beschmiert, auf die Straße gegangen war. Sie hatten kaum einige Schritte gemacht, als aus einem Gässchen ein dickes Weib mit geschürzten Röcken gelaufen kam, das bei ihrem Anblick beinahe zur Salzsäule erstarrte. Ihre Augen verkrochen sich unter das Kopftuch, und ihr Mund schnappte nach Luft wie ein Fisch auf dem Trockenen. Plötzlich aber begann das Weib mit durchdringender, spitzer Stimme zu kreischen:
»Kinderchen, meine Kinderchen, wohin geht ihr denn? Ungeheure japanische Kräfte stehen an der Schule. Sie kommen hierher, macht euch aus dem Staub, sie kommen hierher!...«
Kaum hatte Metschik ihre Worte erfasst, als im Gleichschritt aus demselben Gässchen heraus vier japanische Soldaten mit geschultertem Gewehr marschierten. Baklanow schrie auf, packte seine Pistole und feuerte zweimal aus nächster Nähe in sie hinein. Metschik sah, wie aus dem Rücken des Getroffenen blutige Fetzen flogen und zwei von ihnen niederstürzten. Die dritte Patrone stellte sich quer, und die Pistole versagte. Einer der übrig gebliebenen Japaner rannte davon, der vierte aber riss sein Gewehr herunter, während Metschik im selben Augenblick, einer neuen Kraft gehorchend, die ihn mehr regierte als die Furcht, einige Male seinen Revolver auf ihn abdrückte. Die letzten Kugeln trafen den Japaner, als er sich zuckend im Staube wälzte.
»Laufen wir!...« rief Baklanow. »Zum Wagen!...«
Einige Minuten später, nachdem sie das Pferd vom Pflock losgebunden hatten, jagten sie, eine Wolke dichten Staubes aufwirbelnd, über die Straße dahin. Baklanow stand aufrecht im Gefährt, schlug aus Leibeskräften mit den Zügelenden auf das Pferd ein, fast ständig rückwärts gewandt, nach dem Feinde spähend. Mindestens fünf Hornisten bliesen irgendwo im Zentrum Alarm.
»Da sind sie... alle!...« brüllte Baklanow im triumphierenden Zorn. »Alle!... Das Gros! Hörst du sie spielen?...«
Metschik hörte nichts. Er warf sich zu Boden und empfand rasende Freude, weil er gerettet war und weil der von ihm getötete Japaner sich in letzter Todesqual im heißen Staube wälzte.
Und als sein Blick auf Baklanow fiel, erschien ihm dessen verzerrtes Gesicht widerlich und furchterregend.
Kurz darauf lachte Baklanow schon.
»Das haben wir fein gedeichselt! Nicht? Sie ins Dorf und wir ins Dorf, gleichzeitig. Aber du, Freundchen, bist ein Prachtkerl! Hätt's gar nicht erwartet von dir, wahrhaftig! Ohne dich hätten sie uns wie ein Sieb durchlöchert!«
Metschik, der sich von ihm abgewandt hatte, lag, den Kopf vergraben, gelb und bleich, das Gesicht mit dunklen Flecken gesprenkelt, im Wagen, ein Halm mit angefaulten Wurzeln.
So waren sie ungefähr zwei Werst gefahren, als Baklanow, der nichts von den Verfolgern hörte, das Pferd an einem einsamen, über den Weg gewachsenen Baum anhielt.
»Du bleib mal hier, ich klettere rasch hinauf, woll'n mal sehen, was los ist...«
»Wozu?...« fragte Metschik mit stockender Stimme. »Beeilen wir uns. Man muss schleunigst alles melden... es ist klar, dass hier die Hauptkräfte stehen...« Er zwang sich selbst vergeblich zu glauben, was er sagte. Jetzt war es ihm unheimlich, in der Nähe des Feindes zu bleiben.
»Nein, es ist schon besser, wenn wir warten. Wir sind doch nicht bloß hergekommen, um drei dieser Dummköpfe über den Haufen zu schießen. Die Sache müssen wir genau beschnuppern.«
Aus Solomenaja ritten eine halbe Stunde später im Schritt einige zwanzig Kavalleristen. ,Was, wenn sie uns bemerken?' dachte Baklanow mit geheimem Schauder, ,auf dem Wagen entwischen wir nicht.' Aber er überwand sich und beschloss, bis zum Äußersten auszuharren. Die Metschiks Blick durch einen Hügel verborgene Reiterei befand sich schon auf halbem Wege, als Baklanow von der Höhe seines Beobachtungspostens aus Infanterie bemerkte; mit matt funkelnden Waffen marschierte sie in dichten Kolonnen gerade aus dem Dorf... Fast hätten sie auf ihrer rasenden Fahrt nach dem Gehöft den Gaul zuschanden gehetzt; dort angekommen, schwangen sie sich auf ihre Pferde, und einige Minuten später galoppierten sie schon in der Richtung nach Schibischi.
Lewinsohn hatte vorsorglicherweise noch vor ihrer Ankunft (sie kehrten in der Nacht zurück) verstärkte Posten aufgestellt, Reiter zu Fuß aus Kubraks Zug. Ein Drittel des Zuges war bei den Pferden geblieben, während der Rest in der Nähe des Dorfes, hinter dem Wall einer alten mongolischen Festung, Wache schob. Metschik hatte Baklanow seine Stute übergeben und blieb beim Zug zurück.
Ungeachtet der starken Übermüdung konnte Metschik keinen Schlaf finden. Es war kalt, und ein dichter Nebel lag über dem Fluss. Pika wälzte sich unruhig auf seinem Platz und stöhnte im Traum, unter den Füßen der Wachen raschelten geheimnisvoll die Gräser. Metschik lag auf dem Rücken, tastend glitten seine Blicke zu den Sternen. Kaum merklich funkelten sie aus der schwarzen Leere, hinter dem Nebelschleier; und eben diese Leere, dumpfer noch und dunkler, da kein Stern sie unterbrach, fühlte Metschik in seinem Innern. Er dachte daran, dass Frolow immerfort eine solche Leere empfinden müsse, und es ward ihm unheimlich zumute bei dem unerwarteten Gedanken, dass auch ihn vielleicht ein gleiches Schicksal wie diesen Menschen erwartete. Er war bemüht, den schrecklichen Gedanken zu verscheuchen, aber Frolows Bild kam ihm nicht aus dem Sinn. Er sah ihn auf dem Feldbett liegen, mit leblos ausgestreckten Armen und welkem Antlitz, und leise rauschte der Ahorn über ihm. ,Er ist ja tot!...' dachte Metschik entsetzt. Aber Frolow bewegte einen Finger und sagte mit knöchernem Lächeln zu Metschik gewandt: ,Die Jungens... treiben Unfug...' Plötzlich krampfte er sich im Bett zusammen, Fetzen flogen von ihm ab, und Metschik sah, dass es gar nicht Frolow, sondern ein Japaner war. ,Das ist schrecklich...' dachte er von neuem, am ganzen Körper zitternd, aber Warja beugte sich zu ihm und flüsterte: ,Du, fürchte dich nicht.' Sie war kühl und weich. Metschik wurde es auf einmal leichter ums Herz. ,Sei nicht böse, dass ich mich so kurz von dir verabschiedet habe', sagte er zärtlich. ,Ich liebe dich.' Sie schmiegte sich an ihn, und im Nu verflog alles, versank in Nichts; einige Sekunden später aber saß er schon auf der Erde, zwinkerte mit den Augen, tastete nach dem Karabiner, und es war lichter Tag. Ringsherum rollten die Leute geschäftig ihre Mäntel zusammen; Kubrak hockte, durch den Feldstecher spähend, im Gebüsch, und alle umdrängten ihn und fragten:
»Wo?... Wo?...«
Metschik, der sein Gewehr endlich gefunden hatte, kroch den Wald hinauf und begriff, dass vom Feinde die Rede war, konnte ihn aber nirgends entdecken und begann ebenfalls zu fragen.
»Wo?...«
»Was habt ihr euch da zusammengerottet?« zischte plötzlich der Zugführer und stieß jemanden heftig zur Seite. »Marsch, in Schützenlinie ausgerichtet!«
Während sich die anderen über den Wall zerstreuten, reckte Metschik den Hals, immer noch bemüht, den Feind ausfindig zu machen.
»Aber wo ist er denn?« wandte er sich einige Male an seinen Nebenmann. Dieser lag auf dem Bauch, beachtete ihn nicht und fasste sich, unerklärlich weshalb, immer wieder ans Ohr, während ihm die Unterlippe schlaff herabhing. Plötzlich drehte er sich um und fluchte wütend los. Ehe noch Metschik Zeit gefunden hatte, ihm zu antworten, ertönte ein Kommando:
»Legt an...«
Er streckte seine Waffe vor, und noch immer nichts sehend und wütend, dass die anderen sahen und er nicht, drückte er bei dem Worte »Feuer« blindlings sein Gewehr ab. (Er wusste nicht, dass die gute Hälfte des Zuges ebenfalls nichts sah, es aber verschwieg, um sich nicht späterhin Hänseleien auszusetzen.)
»Feuer!...« kommandierte Kubrak von neuem, und Metschik schoss wieder.
»Oho, sie reißen aus!...« schallte es ringsumher. Alle fingen plötzlich an, laut und sinnlos durcheinanderzureden, ihre Gesichter wurden heiter und erregt.
»Genug, genug!...« schrie der Zugführer. »Wer schießt dort? Schade um die Patronen!...«
Metschik erfuhr nun auf seine Erkundigungen hin, dass es sich um eine japanische Patrouille gehandelt hatte. Manch einer, der ebenfalls nichts gesehen, lachte jetzt über Metschik und rühmte sich dessen, wie die Japaner, die er aufs Korn genommen, von den Pferden gestürzt seien. Zur selben Zeit erfüllte der dumpfe Donnerschlag eines Kanonenschusses das Tal mit lautschallendem Echo. Verschiedene Partisanen warfen sich erschreckt zu Boden; auch Metschik krümmte sich, wie vom Blitz getroffen; es war der erste Kanonenschuss, den er in seinem Leben vernahm. Die Granate platzte irgendwo hinter dem Dorf. Rasend kläfften die Maschinengewehre, die Karabinergeschosse pfiffen, aber die Partisanen antworteten nicht.
Eine Minute oder vielleicht auch eine Stunde später, die Zeit floh schmerzlich rasch, fühlte Metschik, dass die Zahl der Partisanen sich vermehrt hatte, und gewahrte Baklanow und Meteliza; sie stiegen den Wall herab. Baklanow trug den Feldstecher, bei Meteliza zuckte die eine Wange, und die Nasenflügel blähten sich mächtig.
»Liegst?« fragte Baklanow, die Stirne glättend. »Na, und wie geht's?«
Metschik lächelte gequält, und nach unsäglicher Überwindung presste er hervor: »Wo sind unsere Pferde?...«
»Unsere Pferde sind in der Taiga, bald werden auch wir dort sein, wenn es uns nur gelänge, sie etwas aufzuhalten... Uns können sie ja nichts anhaben«, fügte er hinzu, wohl in der Absicht, Metschik zu ermuntern, »aber Dubows Zug ist in der Ebene... Verdammt noch mal...«, fluchte er plötzlich zusammenfahrend. Eine Granate war in nächster Nähe explodiert. »Auch Lewinsohn ist dort...« Und lief, mit beiden Händen den Feldstecher umklammernd, die Schützenkette entlang.
Das nächstemal, als der Befehl »Feuer« kam, konnte Metschik die Japaner bereits sehen: sie griffen in Schützenketten ausgerichtet an, liefen von Gesträuch zu Gesträuch und waren so nahe, dass es Metschik schien, es wäre nicht mehr möglich, ihnen zu entgehen. Es war nicht Furcht, was er empfand, sondern eher quälende Erwartung, wann all das ein Ende nähme.
In einem solchen Augenblick tauchte plötzlich Kubrak auf und schrie:
»Wohin schießt du denn?...«
Metschik sah sich um und verstand, dass die Worte des Zugführers nicht ihm galten, sondern Pika, den er bis dahin gar nicht bemerkt hatte. Pika lag weiter unten, das Gesicht gegen die Erde gepresst und feuerte, ungeschickt am Gewehrverschluss hantierend, in einen gegenüberstehenden Baum. Er fuhr mit dieser Beschäftigung fort, auch nach dem Zuruf Kubraks, nur mit dem Unterschied, dass das Magazin jetzt leer war und der Verschluß unnütz knackte. Der Zugführer stieß ihn einige Male mit dem Stiefel an, aber Pika hob trotzdem nicht den Kopf.
Und nun begannen alle irgendwohin zu laufen, erst ungeordnet, dann in losem Gänsemarsch; auch Metschik lief mit, ohne zu verstehen, wozu und weshalb das alles geschehe. Doch fühlte er selbst in dem Augenblick des verzweifelten Wirrwarrs, dass dies alles nicht zufällig und sinnlos sei und dass eine ganze Reihe von Menschen, die die Dinge vielleicht anders empfanden als er, sein Handeln und das der anderen bestimmen. Er sah diese Leute nicht, fühlte aber ihren Willen in sich, und als er im Dorfe wieder zur Besinnung kam - jetzt gingen sie in langer Kette ausgerichtet im Schritt -, forschten seine Augen unwillkürlich nach jenen, die die Fäden seines Schicksals in der Hand hielten. Allen voran marschierte Lewinsohn, er sah aber so klein aus und fuchtelte so komisch mit der riesigen Mauserpistole herum, dass es schwer fiel, zu glauben, er sei die hauptsächliche, treibende Kraft. Während Metschik sich bemühte, diesen Widerspruch zu lösen, fingen die Kugeln von neuem an, in dichten, drohenden Schwärmen zu summen; es schien, als streiften sie die Haare, selbst den Flaum an den Ohren. Die Kette stürzte vorwärts, einige fielen zu Boden. Metschik war überzeugt, dass er, sollte er jetzt wieder schießen müssen, sich schon in nichts mehr von Pika unterscheiden werde.
Als verschwommener Eindruck dieses Tages war in Metschiks Erinnerung noch die Gestalt Moroskas geblieben, auf bleckendem Hengst mit feurig lodernder Mähne, der so pfeilgeschwind vorübersauste, dass man nicht zu unterscheiden vermochte, wo Moroska aufhörte und wo das Pferd begann. Bald darauf erfuhr er, dass Moroska einer der Reiter war, deren Aufgabe darin bestand, während des Kampfes die Verbindung mit den Zügen zu unterhalten.
Völlig zur Besinnung kam Metschik erst in der Taiga auf einem Bergpfad, den unlängst ein Zug vorüberziehender Pferde ausgetreten hatte. Da war es still und dunkel, und die ernsten Zedern spendeten Frieden und Schutz.

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