II. Metschik
Um die Wahrheit zu sagen, der Gerettete missfiel Moroska auf den ersten Blick.
Moroska waren solche geschniegelten Menschen zuwider. Nach seiner Lebenserfahrung waren sie unbeständige, nichtsnutzige Leute, denen man keinen Glauben schenken durfte. Außerdem erwies sich der Verwundete gleich bei der ersten Begegnung als ein wenig tapferer Mensch..
»Gelbschnabel...«, zischte die Ordonnanz höhnisch durch die Zähne, als man den bewusstlosen Burschen auf ein Feldbett in der Hütte des Rjabez legte. »Ein bisschen verschrammt, und schon ist der Kerl mürbe.«
Moroska wollte etwas sehr Beleidigendes sagen, aber er fand nicht die passenden Worte.
»Man kennt das, so'n Rotznäsiger...«, brummelte er unzufrieden.
»Halt den Mund«, unterbrach ihn Lewinsohn streng. »Baklanow! ... Bringt den Burschen nachts ins Lazarett.«
Der Verwundete wurde verbunden. In der Seitentasche des Jacketts fand man etwas Geld, Dokumente (und zwar auf den Namen Pawel Metschik), ein Bündel Briefe und die Photographie eines Mädchens.
An die zwei Dutzend grimmiger, unrasierter, von der Sonne schwarzgebrannter Menschen prüften der Reihe nach das zarte, von blonden Locken umrahmte Mädchenantlitz, dann wurde die Photographie etwas betreten wieder an ihren Platz befördert. Der Verwundete lag ohne Besinnung mit kalten, blutleeren Lippen, die Hände leblos über der Decke ausgestreckt.
Er fühlte nicht, wie man ihn an einem schwülen, tiefblauen Abend auf holperndem Gefährt aus dem Dorfe führte, und kam erst auf der Tragbahre zu sich. Die erste leise Empfindung des gleichmäßigen Schaukelns floss mit einer ebenso leisen Ahnung von dem über ihm schwebenden blauen Sternenhimmel zusammen. Ringsum umgab ihn weiche, undurchsichtige Finsternis, und ein frischer, kräftiger Duft von Nadelhölzern und moderndem Laub umwogte ihn.
Eine stille Dankbarkeit gegen jene Unbekannten, die ihn so geschickt und behutsam dahintrugen, erfüllte ihn. Er wollte mit ihnen sprechen, bewegte die Lippen und fiel, ohne etwas gesagt zu haben, von neuem in tiefe Bewusstlosigkeit.
Als er zum zweiten Mal erwachte, war es schon Tag. In den nebelumhüllten Zweigen des Nadelwaldes schmolz die lodernde, träge Sonne. Metschik lag auf einem Feldbett im Schatten. Rechts stand dürr, groß und steif in grauem Spitalkittel ein Mann, links aber neigte sich eine weibliche Gestalt ruhig und sanft über das Feldbett; schwere goldrote Zöpfe fielen ihr über die Schultern.
Der erste Eindruck, den Metschik von dieser Ruhe atmenden Erscheinung, den großen, verschleierten Augen, den buschigen Zöpfen, den warmen, runden Händen empfing, war das Gefühl einer ziellosen und doch alles umfassenden, beinahe grenzenlosen Güte und Sanftheit.
»Wo bin ich?« fragte leise Metschik.
Der große, steife Mann streckte irgendwo von oben herab eine knochige, harte Hand aus, um den Puls zu fühlen.
»Er wird schon durchkommen«, sagte er gelassen. »Warja, legen Sie das Verbandzeug zurecht und rufen Sie Chartschenko...«, er hielt inne, dann fügte er, unklar weshalb, hinzu: »... es wäre dann alles auf einmal erledigt.«
Metschik hob mit schmerzhafter Anstrengung seine Lider und blickte auf den Sprecher. Dieser hatte ein langes gelbes Gesicht, in dem tief eingefallene Augen glänzten. Gleichgültig waren sie auf den Verwundeten gerichtet, eines zuckte überraschend und traurig.
Es tat sehr weh, als man die raue Gaze in die verkrusteten Wunden stopfte, aber Metschik empfand die ganze Zeit die linde Berührung zärtlicher weiblicher Hände und schrie nicht.
»Nun, jetzt ist's gut«, sagte der große Mann, nachdem er den Verband angelegt hatte. »Drei richtige Löcher und am Kopf eine Schramme. In einem Monat verheilt das, oder ich bin nicht Staschinskij.« Er schien etwas lebhafter zu werden, die Finger bewegten sich rascher, nur die Augen blickten mit dem gleichen sehnsüchtigen Glanz, und das rechte zuckte eintönig.
Man hatte Metschik gewaschen. Er stützte sich auf den Ellenbogen hoch und sah um sich.
Verschiedene Menschen liefen geschäftig bei der Holzbaracke hin und her, aus dem Kamin schlängelte sich eine dünne, bläuliche Rauchfahne, auf den Dachbalken bildete sich Harz. Ein riesiger, schwarzgeschnäbelter Specht klopfte eifrig am Waldrand. Auf all dies blickte gutmütig, auf einen Krückstock gestützt, ein hellbärtiger, stiller Greis in weißem Kittel.
Ü ber dem Greis, über der Baracke, über Metschik lagerte, von Harzdüften geschwängert, die satte Stille der Taiga.
Als er vor etwa drei Wochen, einen Passierschein im Stiefel und einen Revolver in der Tasche, aus der Stadt geschritten war, hatte sich Metschik nur ganz dunkel vorgestellt, was ihn erwartete. Er pfiff frohgemut eine lustige städtische Melodie, in seinen Adern pulsierte heftig das Blut, er wollte Kampf und Bewegung.
Diese Leute aus den Bergen, ihm bisher nur aus den Zeitungen bekannt, sah er, als seien sie lebendig, vor sich von Pulverdampf umhüllt und im Glorienschein heroischer Taten. Der Kopf schwoll ihm vor Neugierde, kühnen Einbildungen und qualvoll süßen Erinnerungen an das Mädchen mit den lichten Locken...
Sicherlich trinkt sie wie früher am Morgen Kaffee mit Gebäck und geht mit ihren blau eingeschlagenen, in Riemen verschnürten Büchern zum Unterricht...
Als er Krylowka erreicht hatte, sprangen plötzlich einige Personen, die Flinten im Anschlag, aus dem Gebüsch.
»Wer da?« fragte ein Bursche mit spitzem Gesicht in einer Matrosenmütze.
»Ich... ich bin aus der Stadt geschickt...«
»Die Papiere?«
Er musste sich den Stiefel ausziehen, um den Passierschein hervorzuholen.
»Kü... Küstengebiet... Be... zirksko-mi-tee... der So-zial-revo-lu-tio-näre«, buchstabierte der Matrose, von Zeit zu Zeit einen Blick aus seinen wie Disteln stechenden Augen auf Metschik werfend. »... So-so«, brummte er gedehnt.
Und plötzlich, während ihm das Blut ins Gesicht schoss, packte er Metschik am Rockkragen und schrie mit gepresster, pfeifender Stimme:
»Du Schurke, du elender!...«
»Was? Was?...« fragte verwirrt Metschik. »Aber das ist doch von den ,Maximalisten'... lesen Sie, Genossen!...«
»Durchsuchen!«
Einige Minuten später stand Metschik, verprügelt und entwaffnet, vor einem Menschen mit spitzer Dachsfellmütze und schwarzen durchdringenden Augen.
»Die haben nicht richtig gelesen...«, stotterte Metschik, nervös schluckend, »denn dort steht doch geschrieben ,der Maximalisten'... bitte, sehen Sie selbst...«
»Na, zeig mal das Papier her.«
Der Mann mit der Dachsfeilmütze musterte den Passierschein.
Unter seinem Blick schien das zerknüllte Papier Feuer zu fangen. Dann sah er den Matrosen an.
»Dummkopf«, sagte er rau, »kannst du nicht sehen: die Maximalisten, die gehen doch jetzt mit uns!«
»Nun ja, nun ja doch!« rief Metschik freudig. »Ich sagte ja schon - der Maximalisten!... Das ist doch ganz was anderes...«
»Also haben wir ihn umsonst geschlagen...«, sagte enttäuscht der Matrose. »Ein wahres Wunder!«
Am selben Tag wurde Metschik ein gleichberechtigtes Mitglied der Abteilung.
Die Menschen, die um ihn waren, glichen in keiner Weise denen seiner lebhaften Phantasie. Sie waren schmutziger, verlauster, roher und ungehemmter. Sie stahlen sich gegenseitig die Patronen weg, zankten bei jeder Kleinigkeit, warfen mit Flüchen nur so um sich und konnten sich um ein Stück Speck bis aufs Blut raufen. Sie machten sich über Metschik bei jeder Gelegenheit lustig - über sein städtisches Jackett, seine fehlerfreie Sprache, weil er sein Gewehr nicht zu putzen verstand und sogar deshalb, weil er beim Mittagessen keine 400 Gramm Brot vertilgen konnte.
Dafür waren es aber auch keine Bücherhelden, sondern echte, lebendige Menschen.
Während er jetzt an der stillen Taigalichtung lag, durchlebte Metschik dies alles von neuem. Es tat ihm leid um das gute, naive, aber aufrichtige Gefühl, mit dem er zur Abteilung gegangen war. Mit besonders krankhafter Empfindsamkeit nahm er daher jetzt die Fürsorge und Liebe seiner Umgebung und die schlummernde Stille der Taiga auf.
Das Lazarett stand an einem Platz, wo zwei Bäche zusammenflossen. Am Waldrand klopfte der Specht, flüsterte der dunkelrote mandschurische Ahorn, und unten, am Fuß des Abhangs, sangen, in silbernes Zittergras gehüllt, die Wasserquellen. Es waren nur wenige Kranke und Verwundete da. Zwei schwere Fälle: der Sutschaner Partisan Frolow, mit Bauchschuss, und Metschik.
Jeden Morgen, wenn man sie aus der dumpfen Baracke heraustrug, trat der hellbärtige und bedächtige Greis Pika an Metschik heran. Er gemahnte irgendwie an ein sehr altes, von allen vergessenes Bild: in tiefer Stille, vor einer uralten, moosbewachsenen Klause sitzt über einem See an türkisblauem Ufer ein freundlicher Greis mit einem Mützchen auf dem Haupt und angelt. Über ihm ein stiller Himmel, von der Hitze erschlaffte Tannen, friedliche, schilfumsponnene Ufer eines Sees. Ringsum Friede, Schlaf, Ruhe.
Ist es dieser Traum, nach dem sich Metschiks Seele sehnt?
Mit einer Singsangstimme wie ein Dorfküster erzählte Pika von seinem Sohn - einem ehemaligen Rotgardisten.
»Ja, ja... tritt er da vor mich hin. Ich sitze natürlich in der Imkerei. Nun, hatten uns lange nicht gesehen, umarmten uns also - selbstverständlich. Merke nur: er ist irgendwie traurig... ,Ich', sagt er, Vater, fahre nach Tschita.' ,Warum denn?...' ,Dort sind, Vater', sagte er, ,die Tschechoslowaken aufgetaucht.' ,Nun, was hat's mit den Tschechoslowaken auf sich?... Bleib hier; schau, ruht hier nicht Gottes Segen, sag' ich...' Und wirklich: in meiner Imkerei ist es grad wie im Paradies: Birken, weißt du, blühende Linden, Bienen... ws... ws...«
Pika nahm das weiche schwarze Mützchen vom Kopf und verjagte damit, heiter lächelnd, die Bienen.
»Und was sagst du dazu?... Er ist doch weg! Ist nicht dageblieben... Weggefahren... Jetzt haben die Weißen auch die Bienenkörbe zerstört, und der Sohn ist nicht mehr da. Das ist ein Leben!...«
Metschik hörte ihm gerne zu. Der monotone Singsang des Alten und seine geruhsamen, von innen kommenden Gebärden gefielen ihm.
Aber noch mehr liebte er es, wenn die »barmherzige Schwester« kam. Sie nähte und wusch für das ganze Lazarett. Man fühlte, dass sie von großer Liebe zu den Menschen beseelt war; Metschik gegenüber jedoch war sie von besonderer Zärtlichkeit und Fürsorge. Mehr und mehr gesundend, begann er, sie mit irdischen Augen zu betrachten. Sie hielt sich schlecht, war sehr blass und die Hände waren allzu groß für eine Frau. Sie ging einen seltsamen, unregelmäßig kräftigen Gang, und ihre Stimme schien immer etwas zu versprechen.
Und wenn sie sich zu Metschik ans Bett setzte, so vermochte er nicht ruhig zu bleiben. (Er hätte das dem Mädchen mit den hellen Locken niemals gestanden.)
»Ein lockeres Ding ist diese Warjka«, sagte einmal Pika. »Moroska, ihr Mann, ist in der Abteilung, und sie treibt sich herum...«
Metschik blickte nach der Richtung, in die der Alte zwinkernd gewiesen hatte. Die »Schwester« wusch an der Lichtung Wäsche, und um sie herum scharwenzelte der Sanitäter Chartschenko. Er neigte sich ständig zu ihr und erzählte ihr lustige Dinge, wobei sie immer öfter die Arbeit unterbrach und ihn mit sonderbar verschleiertem Blick betrachtete. Das Wort »locker« hatte in Metschik brennende Neugierde erweckt.
»Und warum ist sie... so eine?« fragte er Pika, bemüht, seine Verwirrung zu verbergen.
»Der Teufel mag das wissen, warum sie eine so liebevolle ist. Kann keinem nein sagen - und alle hier...«
Metschik gedachte des ersten Eindrucks, den er von der »Schwester« hatte, und wurde von dem unbegreiflichen Gefühl ergriffen, eine Kränkung erlitten zu haben.
Von diesem Augenblick an begann er sie aufmerksamer zu beobachten. Tatsächlich, sie »äugelte« zuviel mit den Männern, mit jedem, der nur irgendwie ohne fremde Hilfe auskommen konnte. Und es gab ja im Lazarett sonst keine Frauen.
Eines Morgens, nach Erneuerung des Verbandes, blieb die »Schwester« noch etwas länger als gewöhnlich, während sie Metschiks Bett in Ordnung brachte.
»Setz dich doch ein bisschen zu mir...«, sagte er errötend. Sie sah ihn lange und aufmerksam an, so wie sie an jenem Tag, als sie Wäsche wusch, Chartschenko angeblickt hatte. »Sieh mal an...«, entfuhr es ihr mit einigem Erstaunen. Als sie das Bett gemacht hatte, setzte sie sich zu ihm. »Gefällt dir Chartschenko?« fragte Metschik. Sie überhörte diese Frage, sprach von etwas anderem, Metschik mit ihren großen, verschleierten Augen an sich fesselnd.
»Und ist doch noch so jung...«, und zusammenfahrend: »Chartschenko?... Na ja, es geht. Alle seid ihr dasselbe Kaliber.«
Metschik streckte seine Hand unter das Kissen und holte ein kleines in Zeitungspapier gewickeltes Bündelchen hervor. Aus einer vergilbten Photographie blickte ihn ein bekanntes Mädchengesicht an, aber es erschien ihm nicht mehr so vertraut wie früher - es starrte mit fremder, gekünstelter Fröhlichkeit -, und obschon Metschik zögerte, sich dies einzugestehen, wollte es ihm sonderbar scheinen, dass er früher so viel an dieses Mädchen hatte denken müssen. Er wusste noch nicht, wozu er es tat, und ob es gut sei, als er der »Schwester« das Bild des Mädchens mit den hellen Locken reichte.
Die »Schwester« betrachtete die Photographie erst von nahem, dann in der ausgestreckten Hand, ließ dann plötzlich das Bild fallen, schrie auf, sprang vom Bett hoch und wandte sich um.
»Eine hübsche Hure!« rief hinter dem Gebüsch hervor eine höhnische, heisere Stimme.
Metschik schielte nach jener Seite und sah ein ihm merkwürdig bekanntes Gesicht mit einem widerspenstigen rötlichen Haarschopf, der unter der Mütze hervorquoll, und hämischen, grünlichbraunen Augen, die früher einmal einen anderen Ausdruck gehabt hatten.
»Na, hast du dich erschreckt?« fuhr ruhig die heisere Stimme fort. »Das galt nicht dir, sondern dem Bild... Mit vielen Weibern habe ich's zu tun gehabt, aber solche Bilder besitze ich nicht. Vielleicht schenkst du mir mal eins?...«
Warja war zu sich gekommen und lachte auf.
»Na, hast mir einen ordentlichen Schreck eingejagt«, sagte sie, nicht mit der ihr eigenen, so singenden und fraulichen Stimme. »Wo kommst du her, du zottiger Teufel?...« Und zu Metschik gewandt: »Das ist Moroska, mein Mann. Immer muss er irgendwelche Zicken machen...«
»Wir kennen uns ja ein wenig«, sagte die Ordonnanz mit spöttischem Lachen, das »ein wenig« nachdrücklich betonend. Metschik lag wie zerschmettert, sprachlos vor Scham und Demütigung. Warja hatte das Bild - sie war unversehens mit dem Fuß darauf getreten - schon ganz vergessen und unterhielt sich mit ihrem Mann. Metschik schämte sich sogar, darum zu bitten, dass man das Bild aufhebe.
Und als sie in die Taiga gegangen waren, langte er mit vor Schmerzen zusammengepressten Zähnen nach dem zerknitterten Bild am Boden und riss es in Stücke. |
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