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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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XVII. Die Neunzehn

Fünf Werst von der Stelle, wo der Übergang erfolgt war, war der Sumpf überbrückt, dort führte die Chaussee nach Tudo-Waki vorbei. In der Befürchtung, Lewinsohn würde nicht im Dorfe übernachten, hatten die Kosaken schon am Abend vorher an der Chaussee, ungefähr acht Werst von der Brücke, einen Hinterhalt gelegt.
Sie saßen dort die ganze Nacht in Erwartung der Abteilung und lauschten auf die fernen Geschützsalven. Am Morgen kam eine Ordonnanz angesprengt mit dem Befehl, weiter an Ort und Stelle zu bleiben, da der Feind sich durch den Sumpf geschlagen habe und in dieser Richtung vorgehe. Kaum zehn Minuten nach Ankunft der Ordonnanz erreichte auch die Abteilung Lewinsohns die Straße nach Tudo-Waki, nichts von dem Hinterhalt oder davon ahnend, dass diese soeben von einer feindlichen Ordonnanz passiert worden war.
Die Sonne ging schon über dem Walde auf. Der Reif war längst geschmolzen. Der Himmel hoch oben war durchsichtig, eisig und blau. Die Bäume neigten sich über die Straße mit ihrem nassen, glänzenden Gold. Ein warmer, gar nicht herbstlicher Tag brach an.
Lewinsohn überflog mit zerstreutem Blick diese ganze funkelnde, reine und helle Schönheit und empfand sie nicht. Er sah die auf ein Drittel zusammengeschmolzene, abgequälte Abteilung verzagt ihren Weg weiterziehen und begriff, dass er selbst tödlich ermüdet und gänzlich außerstande sei, irgend etwas für diese
Menschen zu tun, die sich mutlos hinter ihm herschleppten. Sie waren das einzige, was ihm nicht gleichgültig war, was ihm nahe stand, diese treuen, abgequälten Menschen, näher als alles andere, näher als er sich selbst war, weil er keinen Augenblick das Gefühl verlor, dass er in ihrer Schuld stand; doch schien es ihm, dass er jetzt nichts mehr für sie tun könne, er führte sie nicht mehr, nur wussten sie es noch nicht und trotteten gehorsam hinter ihm her, wie eine an seinen Hirten gewöhnte Herde. Und das war es gerade, was er am meisten befürchtete, als er am gestrigen Morgen an den Tod Metelizas dachte.
Er versuchte, die Herrschaft über sich selbst wiederzugewinnen, sich auf irgend etwas praktisch Unerlässliches zu konzentrieren, aber seine Gedanken verirrten und verirrten sich, die Augen fielen ihm zu, und sonderbare Bilder, Bruchstücke von Erinnerungen, unklare, nebelhafte und widerspruchsvolle Empfindungen der Umwelt wirbelten in seinem Bewusstsein als fortwährend wechselnder, laut- und körperloser Schwarm...Warum scheinen mir dieser lange endlose Weg und dieses nasse Laub und dieser Himmel jetzt so tot und überflüssig?...Was ist jetzt meine Pflicht?... Ja, ich habe das Tal von Tudo-Waki zu erreichen... Tu-do-Wa—ki — wie sonderbar — Tu-do-Wa-ki —. Ich bin so müde, so schläfrig! Was können diese Menschen noch von mir wollen, wo ich so schläfrig bin?... Er sagt - Patrouille... Ja, ja, auch Patrouille... Er hat einen so runden guten Kopf wie mein Sohn, man muss natürlich eine Patrouille vorschicken, und dann schlafen... schlafen... und er ist auch gar nicht so, wie bei meinem Sohn, wie... was denn?...
»Was hast du gesagt?« fragte er plötzlich, den Kopf hebend. Neben ihm ritt Baklanow.
»Ich sage, man sollte eine Patrouille vorschicken.« »Ja, ja, man muss eine schicken, bitte, mach das...« Einen Augenblick später holte ein müde trabender Reiter Lewinsohn ein. Dieser begleitete dessen gekrümmten Rücken mit dem Blick und erkannte Metschik. Es schien ihm nicht ganz in Ordnung zu sein, dass Metschik den Patrouillenritt machen sollte; er konnte sich aber nicht dazu bringen, sich mit dieser Unrichtigkeit auseinanderzusetzen, und vergaß die Sache sofort wieder. Dann kam noch jemand vorübergeritten.
»Moroska«, rief Baklanow dem zweiten Reiter nach. »Ihr sollt einander doch im Auge behalten...«
,Ist er denn am Leben geblieben?' dachte Lewinsohn. ,Dubow ist gefallen...Armer Dubow... Was war nur noch mit Moroska passiert?... Ach ja, die Sache gestern abend. Gut, dass ich ihn da nicht gesehen habe...'
Metschik, der schon ziemlich weit vorgeritten war, sah sich um: Moroska ritt ungefähr hundert Meter hinter ihm her, die Abteilung war auch noch sichtbar. Dann verschwanden die Abteilung und Moroska hinter einer Biegung. Niwka wollte nicht traben, und Metschik trieb das Tier mechanisch an: er begriff nicht, warum man ihn voraussandte, aber man hatte ihm befohlen, im Trab zu reiten, und er gehorchte.
Die Straße schlängelte sich die nassen Abhänge entlang, die mit Eichen und Ahornbäumen dicht bewachsen waren und noch rotes Herbstlaub trugen. Niwka zuckte furchtsam zusammen und drückte sich an den Büschen entlang. Im Anstieg ging sie im Schritt. Metschik war im Sattel eingedöst und trieb sie nicht mehr an. Von Zeit zu Zeit wachte er auf und sah verwundert immer dasselbe undurchdringliche Dickicht um sich herum. Es hatte weder Anfang noch Ende, wie auch der mit der Umwelt in keinem Zusammenhang stehende Zustand der dumpfen Betäubung, in dem er sich befand, keinen Anfang und kein Ende hatte...
Plötzlich schnaubte Niwka angstvoll und sprang seitwärts in die Büsche, Metschik gegen irgendwelche biegsamen Zweige drückend... Dieser warf den Kopf hoch, und im Nu war seine Betäubung verschwunden, einem Gefühl unvergleichlichen, tierischen Entsetzens Platz machend: auf dem Wege, einige Schritte von ihm entfernt, standen Kosaken.
»Steig ab!...« sagte einer von ihnen im gedämpften, zischenden Flüsterton.
Jemand packte Niwka am Zügel. Metschik schrie leise auf, rutschte aus dem Sattel, machte einige erniedrigende Bewegungen und fiel dann plötzlich die Böschung hinunter. Er schlug sich die Hände schmerzhaft an einem nassen Baumstamm wund, sprang auf, glitt aus, einige Augenblicke zappelte er, schreckensstumm, auf allen vieren, richtete sich dann endlich auf und lief die Schlucht entlang. Er fühlte den eigenen Körper nicht, griff mit
den Händen nach allem, was ihm in den Weg kam, und machte unwahrscheinliche Sprünge. Man verfolgte ihn, hinter ihm knackte das Gehölz, jemand fluchte wütend in gedämpftem Ton...
Moroska, der wusste, dass vor ihm noch ein Kundschafter ritt, achtete nur wenig darauf, was um ihn vorging. Er war im Zustand äußerster Ermüdung, in dem alle, auch die wichtigsten menschlichen Gedanken vollständig verschwinden und nur der einzige unmittelbare Wunsch nach Ruhe, Ruhe um jeden Preis, übrig bleibt. Er dachte weder an sein Leben noch an Warja, noch daran, wie sich Gontscharenko zu ihm verhalten würde; er hatte nicht einmal die Kraft, den Tod Dubows zu bedauern, obwohl Dubow einer der Menschen war, die ihm am nächsten standen; er dachte einzig und allein daran, wann sich ihm endlich das gelobte Land eröffnen würde, wo man sich niederlassen könne. Dieses gelobte Land stellte er sich als großes, friedliches, im Sonnenglanz daliegendes Dorf vor, mit kauenden Kühen und guten, nach Heu und Vieh riechenden Menschen. Er malte es sich aus, wie er das Pferd anbinden, sich mit Milch volltrinken und an wohlriechendem Roggenbrot satt essen, dann auf den Heuboden klettern würde, um dort, in den warmen Mantel eingewickelt, fest einzuschlafen...
Und als plötzlich vor ihm die gelben Ränder der Kosakenmützen auftauchten und »Judas« zurückfuhr und ihn in die vor seinen Augen blutig aufflimmernden Büsche trug, verschmolz diese freudige Vision des großen, im Sonnenglanz liegenden Dorfes mit dem plötzlichen Empfinden eines soeben hier begangenen, ungeheuerlichen, niederträchtigen Verrats...
»Er ist davongelaufen, der Dreckkerl...«, sagte Moroska, plötzlich mit außerordentlicher Klarheit, sich die widerlichen, reinen Augen Metschiks vorstellend und zugleich ein beklemmendes Mitleid mit sich selbst und den hinter ihm reitenden Menschen empfindend.
Er bedauerte nicht, dass er sogleich sterben würde, das heißt aufhören würde, zu fühlen, zu leiden und sich zu bewegen; es war ihm unmöglich, sich in eine so ungewöhnliche Lage hineinzuversetzen, da er ja jetzt noch lebte, litt und sich bewegte, aber es war ihm klar, dass er nun nie dieses im Sonnenglanz liegende Dorf, nie wieder die lieben, teuren Menschen sehen sollte, die hinter ihm ritten. Aber er empfand diese müden, ahnungslosen, sich auf ihn verlassenden Menschen so klar als einen Teil seiner selbst, dass der Gedanke an irgendeine andere Möglichkeit für sich als die, sie noch vor dieser Gefahr zu warnen, in ihm gar nicht auftauchte... Er zog den Revolver, hob ihn, damit die Schüsse besser hörbar seien, hoch über den Kopf und gab drei Schüsse ab, wie verabredet war...
Im selben Augenblick blitzte und krachte etwas, die Welt barst gleichsam entzwei, und Moroska fiel mit »Judas« zusammen rücklings in die Büsche...
Als Lewinsohn die Schüsse hörte, krachten sie so unerwartet, passten so gar nicht in seinen jetzigen Zustand, dass er sie gar nicht begriff. Er verstand ihre Bedeutung erst, als die auf Moroska abgegebene Salve krachte und die Pferde wie angewurzelt stehen blieben, die Köpfe hochwarfen und die Ohren spitzten.
Er sah sich hilflos um, zum ersten Mal von anderwärts Hilfe suchend, doch in dem einen furchtbaren, stummfragenden Gesicht, zu dem für ihn die erblassten und eingefallenen Gesichter der Partisanen zusammenflossen, las er ein und denselben Ausdruck der Hilflosigkeit und der Angst. ,Da ist es, das, was ich befürchtete', dachte er und machte eine Bewegung mit der Hand, als ob er etwas suchte und nicht fand, woran man sich anklammern könnte...
Da sah er plötzlich klar das einfache, knabenhafte, fast ein wenig naive, rauchgeschwärzte und vor Müdigkeit derb gewordene Gesicht Baklanows vor sich. Baklanow hielt in der einen Hand den Revolver, mit der anderen klammerte er sich so fest an den Widerrist des Pferdes, dass seine kurzen kindlichen Finger Abdrücke hinterließen, und blickte gespannt in die Richtung, aus der die Salve gekommen war. Sein naives Gesicht mit den vorstehenden Backenknochen war ein wenig vorgebeugt in Erwartung eines Befehls und brannte in jener echten und größten aller Leidenschaften, in deren Namen die besten Leute der Abteilung ihr Leben gelassen hatten.
Lewinsohn fuhr zusammen, richtete sich auf, schmerzlich-süß erklang es in ihm. Plötzlich zog er den Säbel und beugte sich wie Baklanow mit glänzenden Augen vor.
»Durchbruch versuchen, ja?« fragte er heiser Baklanow und schwang unerwartet den Säbel über dem Kopf, dass er hell in der Sonne erglänzte. Bei diesem Anblick fuhren auch alle Partisanen zusammen und richteten sich in den Steigbügeln auf.
Baklanow warf einen grimmigen Blick auf den Säbel, wandte sich schroff zur Abteilung und schrie durchdringend und scharf etwas, was Lewinsohn nicht mehr verstehen konnte, weil er in diesem Augenblick von derselben inneren Gewalt fortgerissen wurde, die Baklanow beherrschte und ihn selbst vorhin den Säbel hochheben ließ. Und er stürmte auf der Straße vorwärts, fühlend, dass die ganze Abteilung sofort ihm nachstürzen müsse...
Als er sich nach einigen Minuten umsah, sprengten die Leute hinter ihm her, vorgebeugt in den Sätteln sitzend, das Kinn vorgestreckt, mit jenem gespannten und leidenschaftlichen Ausdruck in den Augen, den er bei Baklanow gesehen hatte.
Es war dies der letzte zusammenhängende Eindruck, den Lewinsohn im Gedächtnis behielt, denn im gleichen Augenblick brach blendend und dröhnend irgend etwas über ihn herein, schlug, wirbelte und erdrückte ihn, und er flog, seiner selbst nicht mehr bewusst, doch im Gefühl, dass er noch lebte, über einem brodelnden, orangefarbenen Abgrund dahin...
Metschik sah sich nicht um und vernahm nichts von Verfolgern, wusste aber, dass man ihn verfolgte. Als die drei Schüsse, einer nach dem anderen, und darauf eine Salve krachten, war es ihm, als ob man auf ihn schösse, und er lief noch schneller. Plötzlich erweiterte sich die Schlucht zu einem schmalen kleinen Waldtal. Metschik wandte sich bald nach rechts, bald nach links, bis er wieder einen Abhang hinunterrollte. In diesem Augenblick krachte eine neue Salve, eine viel stärkere und vollere, dann noch eine und noch eine, ununterbrochen, der ganze Wald dröhnte und war voller Leben.
»Ach, mein Gott, mein Gott... o weh... mein Gott...«, flüsterte Metschik, bei jeder neuen betäubenden Salve zusammenfahrend und sein zerkratztes Gesicht absichtlich zu kläglichen Grimmassen verziehend, wie es Kinder tun, wenn sie Tränen hervorrufen wollen. Aber seine Augen blieben widerlich, schändlich trocken. Er lief und lief die ganze Zeit, die letzten Kräfte anspannend.
Das Feuer wurde gedämpfter, als ob es sich in einer anderen Richtung entfernte, und hörte dann ganz auf.
Metschik sah sich einige Male um: von Verfolgung war nichts mehr zu merken. Nichts störte die ferne, hallende Stille, die ringsum herrschte. Atemlos warf er sich unter den ersten besten Strauch. Sein Herz klopfte wie rasend. Er legte die Hände unter die Wange, zog sich zu einem Knäuel zusammen und lag einige Minuten regungslos da, gespannt vor sich hinstarrend. Zehn Schritte vor ihm saß auf einer nackten, dünnen, kleinen, sich bis zur Erde biegenden und von der Sonne beleuchteten Birke ein gestreiftes Eichhörnchen und sah ihn mit naiven gelblichen Äuglein an.
Plötzlich setzte sich Metschik blitzschnell auf, fasste sich an den Kopf und stöhnte laut. Das Eichhörnchen quietschte erschrocken und sprang durchs Gras davon. Metschiks Augen waren ganz irr. Er raufte sich wie rasend die Haare und wand sich mit kläglichem Gewinsel auf der Erde... »Was hab' ich gemacht... o—oh... was hab' ich gemacht«, wiederholte er, sich auf Ellenbogen und Bauch wälzend. Mit jedem Augenblick stellte er sich die wahre Bedeutung seiner Flucht, den Sinn der ersten drei Schüsse und des ganzen darauf folgenden Feuergefechts immer klarer, unerträglicher und kläglicher vor. ,Was hab' ich gemacht, wie konnte ich das tun, ich, ein so braver und ehrlicher Kerl, der keinem Böses wünscht - o-oh... wie konnte ich das tun?'
Je widerlicher und niederträchtiger ihm seine Tat erschien, desto besser, reiner und edler schien er sich selbst vor dieser Tat gewesen zu sein. Und er quälte sich nicht so sehr deshalb, weil diese seine Tat Dutzenden Menschen, die sich auf ihn verlassen hatten, den Tod gebracht hatte, sondern weil der unabwaschbare, scheußlich-schmutzige Fleck dieser Tat all dem Guten und Reinen widersprach, das er in sich selbst fand.
Mechanisch zog er den Revolver und sah ihn lange mit Staunen und Entsetzen an. Zugleich aber fühlte er, dass er sich niemals töten würde, niemals töten könnte, weil er trotz allem in der ganzen Welt sich selbst am meisten liebte; seine weiße, schmutzige, schwächliche Hand, seine stöhnende Stimme, seine Leiden und seine Taten, selbst die allerwiderlichsten. Schon allein von dem Geruch des Gewehröls erstarrend, stellte er sich, als ob er nichts wüsste, und mit duckmäuserig verstohlener Geste steckte er den Revolver rasch wieder ein.
Jetzt stöhnte und weinte er nicht mehr. Das Gesicht mit den Händen verdeckend, lag er still auf dem Bauch. Alles, was er in den letzten Monaten, seitdem er die Stadt verlassen, erlebt hatte, zog in müder, wehmütiger Folge wieder an ihm vorbei: die naiven Träume, deren er sich jetzt schämte, der Schmerz der ersten Begegnungen und der ersten Wunden, Moroska, das Lazarett, der alte Pika mit den silbernen Härchen, der tote Frolow, Warja mit ihren großen einzigartigen Augen und dieser letzte furchtbare Marsch über den Sumpf, vor dem alles andere verblasste.
,Ich kann das nicht mehr ertragen', dachte Metschik mit unerwarteter Aufrichtigkeit und Nüchternheit, und ein großes Mitleid mit sich selbst ergriff ihn. ,Ich kann das nicht mehr ertragen, ich kann nicht mehr ein solch gemeines, unmenschliches, entsetzliches Leben führen', dachte er wieder, um sich selbst noch rührseliger zu stimmen und unter diesen mitleidigen Gedanken die eigene Blöße und Niedertracht zu begraben.
Er verurteilte seine Tat noch immer und empfand Reue, konnte aber seine persönlichen Hoffnungen und Freuden nicht mehr unterdrücken, die sich plötzlich in ihm regten, als er daran dachte, dass er jetzt vollkommen frei sei und dahin gehen könne, wo das Leben nicht so entsetzlich ist und wo keiner von seiner Tat weiß. Jetzt gehe ich in die Stadt, es bleibt mir nichts anderes übrig, als dorthin zu gehen', dachte er und versuchte, diesem Entschluss den Anschein einer traurigen Notwendigkeit zu geben. Mit Mühe unterdrückte er in sich das Empfinden der Freude, der Scham und der Angst, dass dieser Entschluss vielleicht doch nicht verwirklicht werden würde.
Die Sonne stand schon jenseits der kleinen schmiegsamen Birke, und diese lag jetzt ganz im Schatten. Metschik nahm den Revolver und schleuderte ihn weit in die Büsche hinein. Dann fand er eine Quelle, wusch sich und setzte sich nieder. Er entschloss sich noch immer nicht, auf die Chaussee hinauszugehen. ,Am Ende sind die Weißen noch dort?... 'dachte er beklommen. Er hörte, wie das winzige Quellchen im Grase leise rieselte...
,Ist es nicht gleich?' dachte Metschik plötzlich mit der Aufrichtigkeit und Nüchternheit, die er jetzt unter der Menge allerlei guter und rührseliger Gedanken und Gefühle bereits selbst zu finden wusste.
Er seufzte tief, knöpfte das Hemd zu und entfernte sich langsam in der Richtung, in der die Straße nach Tudo-Waki lag.
Lewinsohn wusste nicht, wie lange sein Zustandhalber Bewusstlosigkeit gedauert hatte; es schien ihm, sehr lange, aber in Wirklichkeit war höchstens eine Minute vergangen. Als er jedoch wieder zu sich kam, fühlte er zu seinem großen Erstaunen, dass er noch wie früher im Sattel saß, nur dass er keinen Säbel mehr in der Hand hielt. Vor sich sah er die schwarze Mähne seines Pferdes und dessen blutiges Ohr.
Erst jetzt vernahm er die Schüsse und begriff, dass sie ihnen galten. Die Kugeln pfiffen dicht an seinem Kopf vorbei. Zugleich aber wurde es ihm klar, dass die Schüsse von hinten kamen und dass das Schlimmste schon vorüber war. In diesem Moment holten ihn zwei Reiter ein. Er erkannte Warja und Gontsdiarenko. Gontscharenkos Backe blutete. Lewinsohn entsann sich der Abteilung und sah sich um, nichts war von ihr zu sehen: die ganze Strecke war mit Menschen- und Pferdeleichen übersät, einige Reiter mit Kubrak an der Spitze eilten Lewinsohn mühsam nach, weiter sah man noch einige kleine Grüppchen, die rasch zusammenschmolzen. Ein Mann blieb auf einem hinkenden Pferd weit zurück, winkte mit der Hand und schrie etwas. Er wurde von Leuten mit gelben Mützenrändern umringt, man schlug mit Gewehrkolben auf ihn ein, er wankte und fiel. Lewinsohn runzelte die Stirn und wandte sich ab.
Jetzt erreichten er, Warja und Gontscharenko die Straßenbiegung. Das Feuer ließ etwas nach, und die Kugeln pfiffen ihnen nicht mehr um die Ohren. Lewinsohn hielt mechanisch seinen Hengst zurück. Die überlebenden Partisanen holten ihn einzeln ein. Gontscharenko zählte neunzehn Mann, sich selbst und Lewinsohn mitgerechnet. Sie galoppierten lange schweigend die Straße hinunter ohne einen einzigen Laut und richteten ihre schreckerfüllten, aber schon freudigen Augen auf den schmalen, gelben, stummen Raum, der wie ein verfolgter Hund einsam und unablässig vor ihnen davoneilte.
Allmählich begannen die Pferde zu traben. Man konnte einzelne verbrannte Baumstümpfe, Gesträuch, Kilometersteine und den klaren Himmel in der Ferne über dem Wald unterscheiden. Dann gingen die Pferde im Schritt.
Lewinsohn ritt, den Kopf auf die Brust gesenkt, in Gedanken versunken, ein wenig vor. Zuweilen sah er sich hilflos um, als ob er etwas fragen wollte, aber sich nicht entsinnen konnte was; er schaute auf alle sonderbar und unheimlich mit einem langen Blick, der blind ins Leere sah. Plötzlich riss er sein Pferd jäh zurück, wandte sich um und sah zum ersten Mal seine Leute mit seinen großen, tiefgründigen blauen Augen an. Achtzehn Menschen blieben stehen wie ein Mann. Es wurde ganz still.
»Wo ist Baklanow?« fragte Lewinsohn.
Achtzehn Mann sahen ihn stumm und verwirrt an.
»Baklanow ist gefallen...«, sagte endlich Gontscharenko und blickte streng auf seine große schwielige Hand, die die Zügel hielt.
Warja, die im Sattel zusammengekauert neben ihm ritt, warf sich plötzlich auf den Hals ihres Pferdes und weinte laut und hysterisch auf. Ihre langen, zerzausten Zöpfe hingen fast bis zur Erde und zitterten. Das Pferd zuckte müde mit den Ohren und zog die herabhängende Lippe ein. Tschish schielte zu Warja hin, schluchzte auf und wandte sich ab.
Die Augen Lewinsohns hielten sich einige Sekunden noch über den Leuten. Dann schrumpfte er gleichsam zusammen, sank in sich, und alle merkten plötzlich, wie schwach und alt er geworden war. Doch schämte er sich seiner Schwäche nicht mehr und verbarg sie nicht: er saß mit gesenkten Augen, blinzelte langsam mit den langen feuchten Wimpern, und die Tränen rollten ihm in den Bart... Die Leute blickten weg, um ihre Selbstbeherrschung nicht zu verlieren.
Lewinsohn wandte sein Pferd und ritt langsam vor. Die Abteilung folgte ihm.
»Wein doch nicht, wozu denn...«, sagte schuldbewusst Gontscharenko und fasste Warja an der Schulter.
Immer wenn Lewinsohn auch nur ein wenig Ruhe und Vergessen gefunden hatte, sah er sich verwirrt um und besann sich dann jedes Mal darauf, dass Baklanow nicht mehr war. Und jedes Mal standen ihm dann Tränen in den Augen.
So ritten sie aus dem Wald hinaus, die Neunzehn.
Ganz unerwartet weitete sich dieser Wald vor ihnen zur unabsehbaren Ferne; hoch und blau der Himmel, grellrot und sonnenüberflutet ein abgemähtes Feld, das sich zu beiden Seiten der Straße, so weit das Auge reichte, erstreckte. In der entgegengesetzten Richtung, beim Weidengehölz, das ein wasserreiches Flüsschen blau durchschimmern ließ, lag ein von den goldenen Kuppeln der fetten Getreideschober glänzender Dreschboden. Dort ging das lustig tönende, mühereiche Leben seinen Gang. Wie kleine bunte Käfer kribbelten die Menschen, flogen die Garben, rhythmisch-trocken klopfte die Dreschmaschine; aus der Wolke glitzernder Spreu und Staubes klangen erregte Stimmen und perlendes, hohes Lachen der Mädchen. Hinter dem Fluss blaute das Gebirge, gleichsam das Himmelsgewölbe stützend und mit seinen Ausläufern in den gelbgelockten Wald übergehend. Über die scharfen Zackenkämme floss ein durchsichtiger Schaum rosaschimmernder weißer Wolken in das Tal herab, sich blähend und sprudelnd wie kuhwarme Milch.
Lewinsohn sah mit schweigendem, noch tränenfeuchtem Blick diesen weiten Himmel, diese Brot und Ruhe verheißende Erde, diese fernen Menschen auf dem Dreschboden. Bald wird er sie zu ebensolchen ihm nahestehenden Menschen machen "müssen, wie es jene schweigend hinter ihm herreitenden Achtzehn waren. Er hörte auf zu weinen: man musste leben und seinen Verpflichtungen nachkommen.

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