XI. Der Todeskampf
Die Tage liefen dahin, wie ein Gewebe von Qual aus einer unerbittlichen, herrschsüchtigen Maschine läuft, von dem jede Handbreit der anderen gleicht, die Frucht schlafloser Nächte und unmenschlicher Mühen. Doch über das Gewebe der Tage des Menschen eilt das unermüdliche Schiffchen...
Nach dem Kampf in einer von Zittergras und Farnen überwucherten Schlucht versteckt, inspizierte Lewinsohn die Pferde und stieß auf die »Sütschicha«.
»Was ist denn das?«
»Was denn?« murmelte Metschik.
»Na, sattle mal ab, zeig den Rücken...«
Mit zitternden Händen löste Metschik die Gurte.
»Na, ja, natürlich... der Rücken ist durchgescheuert«, sagte Lewinsohn in einem Ton, als hätte er auch gar nichts Gutes erwartet. »Oder glaubst du, ein Pferd ist nur zum Reiten da, und wer wird es pflegen?... «
Lewinsohn mußte an sich halten, um nicht laut zu werden, und das fiel ihm sehr schwer. Er war schrecklich müde, sein Bart zuckte, und seine Hände zerdrückten nervös einen kleinen Zweig, den er irgendwo abgerissen hatte.
»Zugführer, he, komm her... Womit schaust du eigentlich?
Der Zugführer starrte, ohne zu zwinkern, auf den Sattel, den Metschik, unerfindlich weshalb, in der Hand hielt. Dann sagte er düster und bedächtig:
»Dem Dummkopf da, wie oft hat man's ihm schon gesagt...«
»Das wusste ich doch...« Lewinsohn ließ den Zweig fallen. Sein auf Metschik gerichteter Blick war streng und kalt. »Gehst zum Wirtschaftsleiter und reitest auf den Packpferden, bis du deins wiederhergestellt hast...«
»Hören Sie, Genosse Lewinsohn...«, stieß Metschik zitternd hervor, übermannt von einem Gefühl der Erniedrigung, nicht weil er das Pferd schlecht gepflegt, sondern der läppischen und erniedrigenden Haltung wegen, die er eingenommen... »Ich habe keine Schuld... Hören Sie mich an... warten Sie doch... jetzt können Sie mir wirklich glauben... ich werde es gut behandeln...«
Aber Lewinsohn ging, ohne sich umzublicken, zum nächsten Pferd.... Die knapp gewordenen Lebensmittel zwangen sie bald, das Nachbartal aufzusuchen. Viele Tage zog die Abteilung die unzähligen Wasserläufe des Ulachinsker Tals entlang, sich in Kämpfen und qualvollen Märschen aufreibend. Immer mehr schrumpfte die Zahl der unbesetzten Gehöfte zusammen, jede Brotkrume, jedes Haferkorn mußte erkämpft werden, immer und immer wieder klafften die kaum verheilten Wunden auf. Die Leute wurden ständig dürrer, schweigsamer, erbitterter.
Lewinsohn war zutiefst davon überzeugt, dass nicht nur das Gefühl der Selbsterhaltung diese Menschen treibt, sondern noch ein anderer, auf den ersten Blick nicht erkennbarer, nicht minder wichtiger Instinkt, der den meisten nicht einmal zum Bewusstsein kam und der alles, was sie zu erdulden hatten, selbst den Tod, durch das Endziel rechtfertigte, und ohne den nicht einer von ihnen gekommen wäre, um in der Ulachinsker Taiga freiwillig zu sterben. Doch er wusste auch, dass dieser wichtige Instinkt in den Menschen lebt, versenkt in die Tiefe der Seele, unter winzig kleinen, alltäglichen Bedürfnissen und Sorgen ihrer ebenso kleinen, aber lebendigen Persönlichkeit, weil doch jeder Mensch essen und schlafen will, weil doch jeder Mensch schwach ist. Bedrängt von der Bürde täglichen Kleinkrams, sich ihrer Schwäche bewusst, schienen die Leute ihre wichtigste Sorge anderen anvertraut zu haben, stärkeren, Menschen vom Schlage Lewinsohns, Baklanows, Dubows, indem sie diese verpflichteten, an diese Sorge mehr zu denken als daran, dass auch sie essen und schlafen müssen, und
ihnen gleichzeitig das Amt übertrugen, die anderen daran zu erinnern.
Lewinsohn war jetzt immer unter den Leuten, er führte sie persönlich in den Kampf, aß mit ihnen aus einem Topf, durchwachte Nächte, kontrollierte die Posten und war der einzige Mensch fast, der noch das Lachen nicht verlernt hatte. Selbst wenn er von den allergewöhnlichsten Dingen mit seinen Leuten redete, so klang aus jedem Wort: ,Seht nur, auch ich leide mit euch, auch mich kann morgen eine Kugel treffen, auch ich kann vor Hunger krepieren, und doch bin ich frisch und fest wie nur je, denn letzten Endes spielt das alles doch keine so große Rolle...'
Ungeachtet dessen aber rissen Tag für Tag jene unsichtbaren Fäden, die ihn mit dem Partisanentum verbanden... Und je weniger solcher Fäden übrig blieben, um so schwerer fiel es ihm, zu überzeugen; er wurde zu einer Kraft, die über der Abteilung stand.
Gewöhnlich hatte keiner Lust, ins kalte Wasser zu steigen, um die Fische aus dem Netz zu holen. Daher wurden dazu die Schwächsten angehalten, am häufigsten traf es den ehemaligen Schweinehirten Lawruschka, einen schüchternen, stotternden Menschen unbekannter Herkunft. Er war entsetzlich wasserscheu, zitternd und Kreuze schlagend kroch er die Böschung hinunter, und Metschik betrachtete stets mit schmerzlichem Bedauern seinen hageren, einem ausgebuddelten Kartoffelfeld ähnlichen, wie von Erdhöckern bedeckten Rücken. Eines Tages bemerkte Lewinsohn das.
»Wart mal...«, sagte er zu Lawruschka, »warum steigst du nicht selber 'rein?« Diese Worte galten einem schiefen Burschen, der Lawruschka mit Püffen antrieb und aussah, als wäre seine eine Seite von einer zuklappenden Türe gequetscht worden.
Der richtete seine bösen, weißbewimperten Augen auf ihn und erwiderte unerwartet:
»Steig selber 'rein, versuch's mal...«
»Ich nicht«, antwortete Lewinsohn gelassen, »ich hab' auch so alle Hände voll zu tun, aber dir wird wohl nichts anderes übrig bleiben... schnell, 'runter mit den Hosen... Da, die Fische schwimmen schon weg.«
»Lass sie schwimmen... ich bin doch kein dummer August...« Der Bursche drehte sich um und entfernte sich langsam vom Ufer. Einige Dutzend Augenpaare sahen bald beifällig auf ihn, bald spöttisch auf Lewinsohn.
,Man hat schon seine Plage mit solchem Volk...', wollte Gontscharenko eben loslegen, während er den Kittel aufknöpfte, hielt aber zusammenfahrend inne, als er einen ungewohnt lauten Schrei seines Kommandeurs vernahm:
»Zurück!...« In Lewinsohns Stimme schmetterten herrische Töne voll unerwarteter Kraft.
Der Bursche blieb stehen. Schon bereute er, diese Suppe eingebrockt zu haben, wollte sich aber vor den andern keine Blöße geben und wiederholte:
»Tu's nicht, und dabei bleibt's...«
Schweren Schrittes ging Lewinsohn auf ihn zu, die Hand an der Mauserpistole, und die Augen, die ungewöhnlich stechend und klein geworden waren, unverwandt auf ihn gerichtet. Der Bursche fing an, langsam und unwillig seine Hosen aufzuknöpfen.
»Bisschen schneller!« sagte Lewinsohn grimmig drohend.
Der Bursche sah ihn von der Seite an, und von plötzlichem Schreck ergriffen, begann er sich hastig auszuziehen, blieb aber in den Hosen hängen, und aus Angst, dass Lewinsohn, der dies nicht als einen Zufall gelten lassen würde, ihn niederschieße, stammelte er, sich überstürzend:
»Gleich, gleich... bin hängen geblieben, da, ach, verdammt!... gleich, gleich...«
Als Lewinsohn sich im Kreise umsah, blickten ihn alle mit Achtung und Furcht an, und nur so: Mitgefühl hatte keiner. In diesem Augenblick kam er sich selbst als feindliche Kraft vor, die über der Abteilung stand. Aber auch dazu war er bereit, war er doch überzeugt, dass seine Kraft eine gerechte sei.
Von diesem Tag an ließ Lewinsohn keine Rücksicht gelten, wenn es darum ging, Lebensmittel zu beschaffen oder einen übrigen Tag der Ruhe zu gewinnen. Er trieb die Kühe fort, plünderte die Felder und Gärten der Bauern, aber selbst Moroska erkannte, dass das alles keine Ähnlichkeit hatte mit dem Diebstahl im Melonenfeld des Rjabez.
Nach einem meilenlangen Marsch über die Ausläufer der Udeginsker Berge, wobei sich die Abteilung einzig von Trauben und über Feuer gedämpften Pilzen nährte, gelangte Lewinsohn an eine einsame koreanische Hütte, zwanzig Werst von der Mündung des Irochedsa entfernt. Ein hochgewachsener Mensch, behaart wie seine langen Filzstiefel, trat ihnen barhäuptig, einen rostigen »Smith« im Gürtel, entgegen. Lewinsohn erkannte den Schnapsschmuggler Styrkscha.
»Aha, Lewinsohn!...« begrüßte Styrkscha ihn mit seiner chronisch heiseren Stimme. Unter seinem struppigen Haar lugten mit dem gewöhnlich bitteren Lächeln seine Augen hervor. »Lebst noch? Tolle Sache... Und hier sucht man dich.«
»Wer sucht mich?«
»Die Japaner, die Koltschakleute... Wer fragt denn sonst nach dir?...«
»Sie suchen wohl vergebens... Gibt's da was zu fressen für uns?«
»Vielleicht auch nicht«, erwiderte Styrkscha vieldeutig. »Sie sind auch keine Dummköpfe. Dein Kopf steht hoch im Preis... In den Dorfversammlungen wird angekündigt: tot oder lebendig gefangen - wird eine Belohnung gezahlt.«
»Oho!... Und bieten sie viel?...«
»Fünfhundert sibirische Rubel.«
»Ein Spottpreis!« lachte Lewinsohn. »Zu fressen, habe ich gefragt, gibt's da was für uns?«
»Einen Dreck gibt's... der Koreaner löffelt selber nur noch Maisbrei. Eine zehn Pud schwere Sau haben sie hier, die verehren sie wie eine Heilige, ist Fleisch für den ganzen Winter.«
Lewinsohn ging den Besitzer suchen. Ein schlottriger, grauhaariger Koreaner mit einem zerdrückten, geflochtenen Hut auf dem Kopf, begann bei den ersten Worten schon flehentlich darum zu bitten, ihm sein Schwein zu lassen. Lewinsohn, der hinter sich anderthalb Hundert hungriger Mäuler spürte und andererseits den Koreaner bedauerte, gab sich alle erdenkliche Mühe, ihm zu beweisen, dass er nicht in der Lage sei, anders zu handeln. Der Koreaner, der ihn nicht begriff, fuhr fort, seine Hände flehentlich zu falten und wiederholte:
»Nicht essen, nicht essen... nicht, nicht...«
»Einerlei, schießt«, Lewinsohn machte eine Handbewegung, und sein Gesicht verzerrte sich, als sollte er selbst erschossen werden.
Auch des Koreaners Gesicht verzerrte sich, und er begann zu weinen. Plötzlich fiel er auf die Knie, und mit dem Bart den Boden wischend, begann er, Lewinsohns Füße zu küssen. Aber dieser hob ihn nicht einmal auf; er fürchtete, wenn er das tun würde, könnte er es nicht aushalten und müsste seinen Befehl zurückziehen.
Metschik sah dies alles, und sein Herz krampfte sich zusammen. Er lief hinter die Hütte und steckte sein Gesicht ins Stroh. Aber auch hier noch sah er das verweinte Greisengesicht, die kleine weiße Gestalt, wie sie sich zu Lewinsohns Füßen krümmte. ,Geht es denn wirklich nicht ohne das?' überlegte Metschik fieberhaft, und in langer Reihe zogen an ihm die ergebenen, wie zerfallenen Gesichter der Bauern vorüber, denen sie auch das Letzte genommen hatten. ,Nein, nein, das ist grausam, das ist zu grausam', dachte er von neuem und vergrub sich noch tiefer ins Stroh.
Metschik wusste, dass er selbst niemals mit dem Koreaner so umgegangen wäre; das Schwein aber aß er zusammen mit den anderen, weil er Hunger hatte.
In früher Morgenstunde wurde Lewinsohn vom Gebirge abgeschnitten, und nach zweistündigem Kampf, in dem er an die dreißig Mann verlor, bahnte er sich gewaltsam einen Weg in das Irochedsa-Tal. Die Koltschaksche Reiterei folgte ihm auf den Fersen. Er ließ die Packpferde laufen und erreichte gegen Abend erst den bekannten Pfad zum Lazarett.
Da spürte er, dass er sich kaum noch im Sattel hielt. Das Herz schlug nach der unglaublichen Anstrengung ganz, ganz langsam, und es schien, als würde es jeden Augenblick erstarren. Der Schlaf übermannte ihn, er senkte den Kopf, und plötzlich verschwamm alles, wurde einfach und unwichtig. Auf einmal zuckte er auf wie von einem inneren Stoß und sah sich um... Niemand hatte bemerkt, dass er geschlafen hatte. Alle sahen vor sich den gewohnten, leicht gekrümmten Rücken, wie hätte auch jemand denken können, dass er müde ist wie alle und schlafen will?... ,Ob meine Kräfte wohl ausreichen werden!' überlegte Lewinsohn, und es hatte den Anschein, als frage nicht er, sondern irgendein anderer. Lewinsohn warf den Kopf zurück und fühlte ein leises, widerwärtiges Zittern in den Knien.
»Endlich mal... wirst du auch dein Weibchen sehen«, sagte Dubow zu Moroska, als sie sich dem Lazarett näherten.
Moroska schwieg. Er betrachtete diese Sache als erledigt, obgleich er die ganzen Tage schon gewünscht hatte, Warja zu sehen. Sich selbst betrügend, hielt er seinen Wunsch nur für die natürliche Neugier eines unbeteiligten Beobachters: ,Wie ist das bei denen wohl geworden?'
Als er sie aber sah - Warja, Staschinskij und Chartschenko standen lachend und händeschüttelnd an der Baracke -, ging in ihm alles drunter und drüber. Er ritt, ohne anzuhalten, mit dem Zuge weiter bis zu den Ahornbäumen und machte sich dort, die Gurte lockernd, lange am Sattelzeug des Hengstes zu schaffen.
Warja, die nach Metschik forschte, begrüßte nur flüchtig die Ankommenden und lächelte ihnen zerstreut und verlegen zu. Metschik begegnete ihr mit den Augen, nickte und senkte errötend den Kopf: er hatte Angst, sie würde ihm entgegenlaufen, und alle würden dann sehen, dass da etwas nicht stimmte. Aber einem inneren Taktgefühl gehorchend, verbarg sie die Freude über dieses Wiedersehen.
Er band in Eile die Stute fest und schlüpfte ins Gehölz. Nach einigen Schritten stieß er auf Pika. Dieser lag neben seinem Pferd, sein nach innen gerichteter Blick war trübe und leer.
»Setz dich...«, sagte er müde.
Metschik hockte sich neben ihn.
»Wo gehen wir nun hin?...« Metschik antwortete nicht.
»Fische fangen möchte ich gerne«, sagte nachdenklich Pika. »In der Imkerei... Die Fische schwimmen jetzt abwärts... würd' einen kleinen Wasserfall aufbauen... da braucht man nur hineinzugreifen...« Er hielt inne und setzte traurig hinzu: »Aber es gibt ja jetzt gar keine Imkerei mehr... nein! Sonst war' ja alles gut. Ganz still ist's dort. Kein Bienchen summt...«
Plötzlich richtete er sich auf, berührte Metschik und sagte mit einer vor Schmerz und Sehnsucht bebenden Stimme:
»Hör, Pawluscha... mein Jungchen, hör.'... gibt's denn wirklich kein solches Plätzchen?... Wie soll man da bloß leben, mein Jungchen, Pawluscha?... Hab' ja niemanden auf der Welt... bin ganz allein... mutterseelenallein... ein Greis... der Tod wartet schon...« Er fand keine Worte mehr, schnappte hilflos nach Luft, und seine Finger verkrampften sich im Gras.
Metschik sah ihn nicht an, er hörte ihm nicht einmal zu, aber mit jedem seiner Worte zuckte etwas leise in ihm auf, als rissen zaghafte Finger in seiner Brust längst verdorrte Blätter vom noch grünen Stengel ab. ,Das alles ist vorbei und kehrt nie wieder...' dachte Metschik, und es tat ihm leid um seine verdorrten Blätter.
»Werde schlafen gehen...«, sagte er zu Pika, um ihn auf irgendeine Weise loszuwerden, »bin müde...«
Er schlug sich tiefer ins Gehölz, legte sich unter einen Strauch und fiel in unruhigen Halbschlummer. Plötzlich schreckte er auf. Sein Herz hämmerte heftig, das schweiß durchtränkte Hemd klebte ihm am Körper. Hinter dem Strauch unterhielten sich zwei: Metschik erkannte Staschinskij und Lewinsohn. Vorsichtig schob er einen Zweig beiseite, um besser zu sehen.
»... So oder anders«, sagte Lewinsohn düster, »sich länger in dieser Gegend zu halten, ist unmöglich. Nur ein Weg nach Norden ist offen, ins Tudo-Waki-Tal...« Er öffnete seine Feldtasche und zog eine Karte hervor. »Hier... diesen Grat entlang können wir gehen und zum Chaunichedsa absteigen, 's ist allerdings ein weiter Weg, aber was tun... «
Staschinskij sah nicht auf die Karte, sondern irgendwo in die Tiefe der Taiga, als prüfe er jede, von menschlichem Schweiß durchtränkte Werst. Plötzlich begann er heftig mit den Augen zu zwinkern und fragte, Lewinsohn ansehend:
»Und Frolow?... das vergisst du wieder...«
»Ja, Frolow...« Lewinsohn sank schwer ins Gras nieder. Metschik sah das bleiche Profil seines Kommandeurs dicht vor sich.
»Ich kann ja natürlich bei ihm bleiben...«, sagte Staschinskij dumpf, nach einer kurzen Pause... »Im Grunde genommen ist es doch meine Pflicht...«
»Unsinn«, Lewinsohn winkte mit der Hand ab. »Auf unseren frischen Spuren werden die Japaner spätestens morgen mittag hier sein... oder ist es vielleicht deine Pflicht, dich totschlagen zu lassen?«
»Aber was kann man denn machen?«
»Ich weiß nicht...«
Noch niemals hatte Metschik einen so hilflosen Ausdruck in Lewinsohns Gesicht gesehen.
»Es bleibt vielleicht nur eins noch übrig... ich habe mir das schon überlegt...« Lewinsohn stockte, verstummte dann und presste grimmig die Kiefer aufeinander.
»Ja?...« fragte lauernd Staschinskij.
Metschik, Böses ahnend, beugte sich erregt vor und hätte fast seine Anwesenheit verraten.
Lewinsohn wollte mit einem Wort dieses Eine nennen, was ihnen zu tun übrig blieb, aber dieses Wort schien so schwer zu sein, dass er es nicht aussprechen konnte. Mit ängstlichem Staunen betrachtete ihn Staschinskij... und begriff.
Ohne einander anzusehen, begannen sie, in qualvoller Pein, zitternd und stockend, davon zu reden, was beiden schon klar war, was sie sich aber nicht getrauten beim richtigen Namen zu nennen, obschon damit sofort alles ausgesprochen und das Qualvolle der Situation beendet worden wäre.
,Sie wollen ihn töten...' durchfuhr es Metschik, und er erbleichte. Sein Herz pochte so laut, dass es schien, man müsste es jeden Augenblick auch hinter dem Strauch vernehmen.
»Wie steht's denn mit ihm - schlecht? sehr schlecht?...« fragte Lewinsohn einige Male. »Wenn das nicht... ich meine... wenn wir ihn nicht... mit einem Wort, besteht auch nur die geringste Hoffnung, dass er gesund wird?«
»Nicht die geringste... aber ist denn das die Hauptsache?«
»Es ist immerhin doch irgendwie leichter«, gestand Lewinsohn. Allein im nächsten Augenblick schon schämte er sich dieses Selbstbetruges, aber es war ihm in der Tat leichter dabei geworden. Er schwieg etwas und sagte dann leise: »Das wird heute noch geschehen müssen... nur pass auf, dass keiner was merkt, vor allem er selbst nicht... geht das?...«
»Er wird nichts ahnen... bald bekommt er sein Brom, da kann man statt dessen... Aber vielleicht lassen wir das bis morgen?...«
»Wozu die Sache hinziehen... Was für ein Unterschied«, Lewinsohn steckte die Karte ein und erhob sich. »Ist mal nicht zu ändern, muss ja sein... oder nicht?...« Er suchte unwillkürlich Halt bei einem Menschen, dem er selber Halt geben wollte.
,Es muss also sein...', dachte Staschinskij, sprach es aber nicht aus.
»Hör mal«, begann Lewinsohn bedächtig. »Sag's ganz offen, bist du bereit? Sag's lieber offen...«
»Ob ich bereit bin?« fragte Staschinskij, »ja, ich bin's.«
»Komm...« Lewinsohn legte ihm die Hand auf die Schulter, und beide schritten langsam zur Baracke zurück.
»Werden sie das wirklich tun?'... Metschik warf sich der Länge nach hin und vergrub sein Gesicht in den Händen. Er wusste nicht, wie lange er so dagelegen hatte. Dann richtete er sich auf und ging, taumelnd wie ein Verwundeter, sich ans Gesträuch klammernd, Lewinsohn und Staschinskij nach.
Die abgesattelten Pferde wandten ihre müden Köpfe nach ihm, die Partisanen schnarchten in der Lichtung, einige kochten ihr Mittagessen. Metschik suchte Staschinskij und eilte, als er ihn nicht fand, im Laufschritt zur Baracke.
Er kam noch zur rechten Zeit. Staschinskij stand mit dem Rücken zu Frolow, die zitternden Hände ins Licht gehoben, und träufelte etwas in ein Mensurglas.
»Warten Sie doch!... Was tun Sie?...« rief Metschik und warf sich ihm mit vor Entsetzen geweiteten Augen entgegen. »Warten Sie! Ich habe alles gehört...«
Staschinskij drehte aufzuckend den Kopf, und seine Hände erzitterten noch heftiger... Plötzlich ging er auf Metschik zu, und auf seiner Stirne schwoll furchterregend eine dunkelrote Ader.
»Weg von hier!...« zischte er drohend, mit gepresster Stimme. »Schlag' dich tot!...«
Metschik schrie auf und stürzte, kaum seiner Sinne mächtig, aus der Baracke. Staschinskij riss sich zusammen und wandte sich Frolow zu.
»Was... was ist das?...« fragte dieser, ängstlich nach dem Mensurglas schielend.
»Das ist Brom, trink aus...«, antwortete streng und eindringlich Staschinskij.
Ihre Blicke trafen sich und erstarrten, sich verstehend, gefesselt von ein und demselben Gedanken... ,Aus'... dachte Frolow, ohne sonderlich überrascht zu sein; er empfand keine Angst, weder Erregung noch Bitternis. Alles war ja im Grunde genommen so einfach und leicht, und es war ihm selbst unverständlich, weshalb er so lange gelitten, sich so hartnäckig ans Leben geklammert und den Tod gefürchtet hatte, wenn das Leben für ihn nur neue Leiden barg, der Tod aber die Erlösung brachte. Unschlüssig irrten seine Augen umher, als suchten sie etwas, dann blieben sie plötzlich an dem unberührten Essen, das neben ihm auf einem Hocker stand, haften, einer schon kalt gewordenen, von Fliegen umschwärmten Milchsuppe. Zum ersten Mal, seit Frolow krank war, lag in seinen Augen ein menschlicher Ausdruck, Mitleid mit sich selbst oder vielleicht auch mit Staschinskij. Er senkte die Lider, und als er sie wieder öffnete, war sein Gesicht ruhig und mild.
»Kommst gelegentlich mal nach Sutschan«, sagte er ruhig, »bringst's ihnen bei, dass es nicht allzu weh tut... 's ist aus mit mir... werden alle eines Tages an demselben Ort landen... Alle«, wiederholte er mit einem Ausdruck, wie wenn der Gedanke über die Unvermeidlichkeit des menschlichen Todes für ihn noch nicht ganz geklärt und bewiesen wäre, aber es war eben jener Gedanke, der dem eigenen - seinem, Frolows - Tod den besonderen, schrecklichen Sinn nahm und für ihn diesen Tod zu etwas Alltäglichem, allen Menschen Eigenem machte. Dann überlegte er ein wenig und sagte: »Hab' dort einen Buben... im Bergwerk... Fedja heißt er... Man soll sich seiner annehmen, wenn alles zu Ende ist - vielleicht irgendwie helfen oder so... Nun, gib schon her!...« brach er unvermutet mit belegter, bebender Stimme ab.
Die bleichen Lippen verzerrend, fröstelnd und unheimlich mit dem einen Auge zuckend, brachte ihm Staschinskij das Mensurglas. Frolow fasste es mit beiden Händen und trank es aus...
Ohne auf den Weg zu achten, rannte Metschik, über das Gestrüpp stolpernd und fallend, durch die Taiga. Er hatte seine Mütze verloren, und die Haare hingen ihm über die Augen, widerlich und klebrig wie Spinnengewebe; die Schläfen hämmerten, und mit jedem Schlag seines Blutes wiederholte er irgendein unnütz-jämmerliches Wort, klammerte sich daran, da er sonst nichts hatte, an das er sich klammern konnte. Plötzlich stieß er auf Warja und sprang mit wild blitzenden Augen zur Seite.
»Und ich suche dich...«, begann sie erfreut und verstummte, erschreckt durch sein irres Aussehen.
Er packte sie am Arm und begann hastig und zusammenhanglos auf sie einzureden:
»Hör nur... sie haben ihn vergiftet... Frolow... weißt du?... sie haben ihn...«
»Was?... vergiftet?... schweig!...« rief sie plötzlich, alles begreifend. Sie zog ihn mit Gewalt an sich und verschloss ihm mit ihrer heißen, weichen Hand den Mund. »Schweig, lass das... komm, fort von hier...«
»Wohin?... ach, lass doch!« Er riss sich los und stieß sie, mit den Zähnen klappernd, von sich.
Sie packte ihn abermals am Ärmel, zog ihn mit sich und wiederholte hartnäckig:
»Lass das... komm, fort von hier... man wird uns sehen... da ist irgendein Bursche... er hängt mir an den Fersen... komm schneller!...«
Metschik riss sich nochmals los und hätte ihr beinahe einen Schlag versetzt.
»Wo willst du hin?... Bleib hier!...« rief sie, ihm nachstürzend.
In diesem Augenblick sprang Tschish aus dem Gebüsch hervor, sie aber wich blitzschnell zur Seite, setzte mit raschem Sprung über den Bach und verschwand im Gebüsch.
»Wollte nicht herhalten, was?« fragte sogleich Tschish und lief zu Metschik. »Wollen sehen, vielleicht habe ich mehr Glück!« Er klatschte sich auf die Schenkel und stürzte Warja nach. |
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