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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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XIV. Metelizas Patrouillenritt

Als Lewinsohn Meteliza auf Patrouille schickte, befahl er ihm, koste es, was es wolle, noch in derselben Nacht zurückzukehren. Aber das Dorf, wohin der Zugführer geschickt worden war, lag in Wirklichkeit um vieles weiter, als Lewinsohn angenommen hatte. Meteliza verließ gegen vier Uhr nachmittags die Abteilung und trieb den Hengst erbarmungslos an. Wie ein Raubvogel saß er über ihn geneigt, grausam und freudig die dünnen Nasenflügel blähend, wie trunken von diesem rasenden Galopp nach fünf öden, trägen Tagen - doch bis es zu dämmern begann, verfolgte sie unermüdlich die herbstliche Taiga - und das Rascheln der Gräser im kalten und schwermütigen Licht des sterbenden Tages. Es war schon ganz dunkel geworden, als er endlich aus der Taiga herauskam und den Hengst vor einer alten halbverfallenen Hütte, die sichtlich seit langem unbewohnt stand, anhielt.
Er band das Pferd an und sich an das morsche, unter den Händen bröckelnde Gebälk klammernd, kletterte er auf den First, in ständiger Gefahr, in eine dunkle Grube zu stürzen, aus der der unheimliche und widerliche Geruch feuchten Holzes und verfaulter Gräser drang. So stand er zehn Minuten lang, die Knie leicht gebeugt, auf den Fußspitzen, unbeweglich in die Nacht spähend und horchend, unsichtbar auf dem scharfen Hintergrund des Waldes, und glich noch mehr als sonst einem Raubvogel. Vor ihm lag ein finsteres, von Bergkegeln zusammengepresstes Tal, deren dunkle Silhouetten sich vom rauen, ungestirnten Himmel abhoben.
Meteliza sprang in den Sattel und ritt auf den Weg hinaus. Schwarze, seit langem unbefahrene Wagenspuren waren nur undeutlich noch im Gras sichtbar. Die dünnen Stämme der Birken leuchteten still durch die Nacht wie erloschene Kerzen.
Er erklomm einen Hügel: zur Linken ragte wie früher die dunkle Reihe der kleinen Bergkegel, gekrümmt wie das Rückgrat eines gigantischen Untiers. Unten rauschte der Fluss. Zwei Werst weiter, dicht am Fluss wohl, brannte ein Feuer, es erinnerte Meteliza an die triste Einsamkeit des Hirtenlebens; dahinter, den Weg überquerend, glommen die gelben, unbeweglichen Lichter des Dorfes. Zur Rechten bog die Reihe der Kuppen ab und verlor sich in bläulichem Nebel; in dieser Richtung senkte sich der Boden; allem Anschein nach lag dort ein altes Flussbett; ein schwarzer, finsterer Wald umsäumte die Ufer.
,Das ist wohl Sumpf, dachte Meteliza. Es wurde ihm kalt. Über den Kittel mit den abgerissenen Knöpfen und dem aufgeschlagenen Kragen trug er nur ein Lederwams. Er beschloss, zuerst ans Feuer zu reiten. Für alle Fälle holte er den Revolver hervor, steckte ihn hinter den Gürtel unters Lederwams, während er die Revolvertasche im Sattelzeug versteckte. Einen Karabiner hatte er nicht mitgenommen. Jetzt sah er wie ein echter Bauer aus; nach dem deutschen Krieg gingen viele in solchen Monturen herum.
Er war schon ganz nahe am Feuer, als plötzlich aus dem Dunkel unruhiges Pferdegewieher erscholl. Der Hengst riss sich, die Ohren spitzend, nach vorn, sein mächtiger Leib erzitterte, und klagend, leidenschaftlich wieherte er zur Antwort. Im selben Augenblick bewegte sich ein Schatten am Feuer. Meteliza ließ die Gerte aufklatschen, und das Pferd bäumte sich in die Höhe.
Am Feuer stand, die erschrockenen Äuglein weit aufgerissen, mit der einen Hand eine Peitsche umklammernd, die andere im weiten Ärmel wie zur Abwehr hochgehoben, ein mageres, schwarzhaariges Bürschchen in Bastschuhen, zerschlissenen kurzen Höschen, den Körper in einen übergroßen, mit einem Strick umgürteten Rock gehüllt. Meteliza brachte den Hengst mit grausamem Ruck direkt vor dem Bürschchen, das er fast überrannt hatte, zum Stehen. Schon wollte er es grob anfahren, als er plötzlich vor sich über den baumelnden Ärmeln die erschrockenen Augen gewahrte, die kurzen Höschen mit den durchschimmernden nackten Knien und den unförmigen langen Rock eines Erwachsenen, aus dem kläglich und schuldbewusst der dünne, komische Kinderhals ragte...
»Was stehst du denn so? Hast dich erschreckt?... Ach, du Spatz, du Spatz, so ein Dummkopf!« begann Meteliza etwas verwirrt, mit jener gutmütigen Grobheit, mit der er sonst nur zu Pferden redete. »Stehst da wie ein Ölgötze!... Und wenn ich dich überrannt hätte?... So ein Dummkopf!« wiederholte er mit wachsender Rührung und fühlte, wie beim Anblick dieses hilflosen Bürschleins auch in ihm etwas ebenso Klägliches, Komisches, Kindliches sich zu regen begann... Der Junge wagte vor Schreck kaum zu atmen und ließ den Arm sinken.
»Was kommst du wie ein Teufel angesprengt?« sagte er, immer noch verschüchtert, aber bemüht, vernünftig und selbständig wie ein Erwachsener zu sprechen. «-Da soll einer nicht erschrecken, wenn er hier Pferde hat...«
»Pfe-erde?« dehnte ironisch Meteliza. »Was du nicht sagst!« Er warf sich zurück und stemmte die Fäuste in die Hüften, wobei er das Bürschchen mit zusammengekniffenen Augen betrachtete und kaum merklich die samtenen Brauen bewegte. Plötzlich lachte er auf, so herzhaft laut, in so hohen, gutmütigen und fröhlichen Tönen, dass er sich selbst darob verwunderte, wie solche Töne aus ihm kommen konnten.
Das Bürschchen rümpfte verwirrt und misstrauisch die Nase, verzog aber, als er verstand, dass ihm nichts Gefährliches drohe, sondern alles im Gegenteil sehr lustig sei, dermaßen sein Gesicht, dass sich die Nase nach oben schob, und brach ebenfalls in ein helles, kindliches Lachen aus. Das kam so unerwartet, dass Meteliza noch lauter losprustete und beide sich so einige Minuten lang in unbändigem Gelächter schüttelten: der eine mit im Widerschein des Feuers blitzenden Zähnen, sich im Sattel hin- und herschaukelnd, der andere, auf den Hintern gefallen, die beiden Ellenbogen aufgestützt, bei jedem neuen Auflachen den ganzen Körper hochwerfend.
»Ein Spaßvogel«, sagte Meteliza endlich, die Steigbügel von den Füßen streifend. »Wahrhaftig, ein drolliges Käuzchen...« Er sprang zu Boden und hielt die Hände übers Feuer.
Das Bürschchen, das zu lachen aufgehört hatte, betrachtete ihn mit ernstem und gleichzeitig freudigem Erstaunen, wie wenn es von ihm noch die absonderlichsten Dinge erwartete.
»Ein lustiger Teufel bist du«, bemerkte es schließlich, jede Silbe mit Nachdruck betonend, als sei dies die Bilanz seiner Beobachtungen.
»Ich?« lächelte Meteliza. »Ja, ich bin lustig...«
»Und ich hab' mich so erschreckt«, gestand das Bürschchen. »Habe Pferde da. Brate Kartoffeln....«
»Kartoffeln? Donnerwetter!...« Meteliza setzte sich zu ihm, ohne die Zügel loszulassen. »Wo nimmst du sie denn her, die Kartoffeln?«
»Wo ich sie hernehme... Haufenweise gibt's die hier!« Und das Bürschchen beschrieb mit den Händen einen Kreis.
»Du stiehlst also?«
»Stehle... Zeig mir mal deinen Gaul... Halt' schon fest, hab keine Angst... ein feiner Hengst«, sagte das Bürschchen, mit Kennerauge den gestrafften, muskulösen Leib des schlanken Pferdes musternd. »Woher kommst du?«
»Ein flottes Tier«, bestätigte Meteliza. »Und von woher bist du?«
»Von dort«, der Junge machte eine Kopfbewegung nach den Lichtern hin, »aus Chanichesa... Hundertzwanzig Gehöfte, aufs Haar genau«, sagte er, einen irgendwo aufgeschnappten Ausdruck wiederholend, und spuckte aus.
»So... Und ich bin aus Worobjowka, hinterm Bergrücken. Vielleicht kennst du das Nest?«
»Aus Worobjowka? Nein, hab' nie gehört, muss wohl sehr weit sein ... «
»Ja, recht weit.«
»Und was willst du hier bei uns?«
»Wie soll ich sagen... das ist eine lange Geschichte, Freundchen... Pferde möcht' ich bei euch kaufen, ihr sollt so viele haben, erzählt man... Mag sie verdammt gern, die Pferde, Freundchen«, sagte mit pfiffigem Lächeln Meteliza, »hab' selber mein Leben lang welche gehütet, fremde allerdings.«
»Und ich eigene, meinst du?«
Das Bürschchen schob aus dem weiten Ärmel ein mageres schmutziges Händchen hervor und begann mit dem Peitschenstiel in der Glut herumzustochern, aus der verlockend schwarze Erdäpfel kullerten.
»Willst du essen?« fragte das Bürschchen. »Hab' auch Brot da, bloß wenig...«
»Danke, habe mich eben vollgefressen bis zum Hals«, log Meteliza, während es ihm jetzt erst zum Bewusstsein kam, wie hungrig er war.
Das Bürschchen brach eine Kartoffel auseinander, blies sie an, steckte die eine Hälfte mitsamt der Pelle in den Mund, ließ sie ein paar Mal auf der 'Zunge tanzen und begann dann, mit den Ohren wackelnd, drauflos zu kauen. Nachdem es sie hinuntergeschluckt hatte, blickte es auf Meteliza und sagte, ebenso deutlich betont wie vorhin, als es ihn einen lustigen Menschen nannte:
»Eine Waise bin ich, seit einem halben Jahr schon bin ich Waise. Den Vater haben die Kosaken totgeschlagen, die Mutter vergewaltigt und umgebracht, auch meinen Bruder haben sie erschossen...«
»Die Kosaken?« fuhr Meteliza auf.
»Wer denn sonst? Haben wie die Teufel gehaust. Den ganzen Hof haben sie in Brand gesteckt, nicht nur den unsrigen, noch mindestens zwölf andere, und jeden Monat kommen sie wieder, jetzt stehen auch vierzig Mann da. Und in dem Dorf Rakitnoje liegt den ganzen Sommer über schon ein Regiment! Und wie die hausen! Nimm doch Kartoffeln...«
»Warum seid ihr denn nicht geflüchtet?... Habt doch so viel Wald da...« Meteliza hatte sich sogar aufgerichtet.
»Was nützt der Wald? Kannst doch nicht dein Leben lang im Wald herumsitzen. Übrigens sind Sümpfe dort, nicht durchzukommen...«
,Hab' richtig geraten', dachte Meteliza, sich seiner Vermutung erinnernd.
»Weißt du was, pass du auf mein Pferd auf, ich werde zu Fuß ins Dorf gehen. Sehe schon, bei euch ist nichts zu handeln, eher schnappt ihr einem selber noch das Letzte weg...«
»Warum hast du's so eilig? Bleib doch noch!...« sagte der kleine Hirte plötzlich betrübt und stand gleichfalls auf. »Ist langweilig so allein«, erläuterte er mit wehleidiger Stimme und sah Meteliza mit großen, bittenden, ein wenig feuchten Augen an.
»Geht nicht, Freundchen«, Meteliza fuhr mit den Händen durch die Luft. »Muss mich tummeln, solang es dunkel ist... Aber ich bin ja bald zurück. Den Hengst koppeln wir inzwischen... wo steht ihr Oberster dort?«
Das Bürschchen erklärte ihm, wie die Hütte des Eskadronchefs zu finden und wie er sie am besten von den Hinterhöfen her erreichte.
»Habt ihr viel Hunde?«
»Hunde haben wir genug, die beißen aber nicht.«
Nachdem Meteliza das Pferd festgemacht und sich verabschiedet hatte, schritt er das Flussufer entlang über den Fußpfad, dem Dorfe zu. Das Bürschchen sah ihm mit wehmütigen Blicken nach, bis er im Dunkel verschwunden war.
Eine halbe Stunde später hatte Meteliza das Dorf erreicht. Der Fußpfad wandte sich nach rechts, aber er ging, wie ihm der Hirte geraten, über die gemähte Wiese weiter, bis er auf einen Zaun stieß, der die bäuerlichen Felder umfriedete, dann bog er um die Hinterhöfe. Das Dorf lag schon im Schlaf; die Lichter waren erloschen; im matten Schein der Sterne schimmerten kaum sichtbar in den stillen, verödeten Gärten die warmen Strohdächer der Hütten; von den Feldern her trug der Wind den herben Geruch frischer, feuchter Erde.
Meteliza schlug sich in eine kleine Seitengasse, die dritte, die er passierte. Die Hunde begleiteten ihn mit heiserem, ängstlichem Gebell, wie wenn sie selber erschrocken wären, aber niemand zeigte sich, keiner rief ihn an. Man fühlte, die Leute hier waren an alles gewöhnt, auch daran, dass fremde, unbekannte Menschen durch die Straßen irrten und sich wie sie Lust hatten benahmen. Selbst jene herumtuschelnden Pärchen, die sich sonst zur Herbstzeit herumtrieben, wenn auf den Dörfern die Hochzeiten gefeiert wurden, waren nirgends zu erblicken: im dichten Schatten unter den Weidenbüschen raunte in diesem Herbst niemand von Liebe.
Den Kennzeichen folgend, die ihm der kleine Hirte genannt, durchschritt er, die Kirche umkreisend, noch einige Gässchen, bis ihm endlich der gestrichene Zaun des Pfarrhauses den Weg versperrte. (Der Eskadronchef hatte im Hause des Popen Quartier genommen.) Meteliza lugte hinein, horchte, und als er nichts Verdächtiges fand, schwang er sich rasch und geräuschlos über den Zaun.
Es war ein dichter, mit vielen Bäumen bestandener Garten, aber die Zweige waren schon kahl. Meteliza, der kaum zu atmen wagte, drang pochenden Herzens tief in den Garten ein. Das Gebüsch, von einer Allee durchschnitten, brach plötzlich ab, und er gewahrte links von sich, in einer Entfernung von zwanzig Metern, ein erleuchtetes Fenster. Es stand offen. Dahinter saßen Menschen. Weiches, ruhiges Licht bestrahlte die Blätter am Boden und ließ die Silhouetten der Apfelbäume sonderbar und golden schimmern.
,Das also ist's', dachte Meteliza, nervös mit einer Wange zuckend. Er bebte vor innerer Aufregung in jenem unheimlichen, unabwendbaren Gefühl verzweifelter Tollkühnheit, das ihn oft genug zu den unsinnigsten Taten trieb: während er noch überlegte, ob es jemandem von Nutzen sein könne, wenn er das Gespräch dieser Leute im erleuchteten Zimmer belauschte, wusste er im Grunde schon sehr wohl, dass er diesen Ort nicht verlassen würde, ehe dies nicht geschehen sei. Eine Weile später stand er hinter dem Apfelbaum dicht am Fenster, spitzte die Ohren und merkte sich alles, was dort vor sich ging.
Es waren ihrer vier. Sie saßen an einem Tisch im Hintergrund des Zimmers und spielten Karten. Zur Rechten ein kleiner alter Pope, mit flach zurückgekämmten schütteren Härchen und flitzenden Äuglein. Seine mageren, kleinen Hände glitten, geschickt die Karten verteilend, über das grüne Tuch, während seine Blicke unter jedes Blatt zu huschen schienen, so dass sein Nachbar, der Meteliza den Rücken kehrte, sein Spiel in ängstlicher Hast durchsah und es dann schleunigst unter den Tisch verschwinden ließ. Das Gesicht Meteliza zugewandt, saß ein schöner, wohlgenährter, träger und dem Aussehen nach gutmütiger Offizier mit einer Pfeife im Mund; wahrscheinlich hielt ihn Meteliza seiner Wohlbeleibtheit wegen für den Eskadronchef. Die ganze nächste Zeit jedoch interessierte er sich, aus Gründen, die ihm selber verborgen blieben, für den vierten Spieler, einen Mann mit aufgedunsenem Gesicht und unbeweglichen farblosen Wimpern. Dieser trug eine schwarze Fellmütze und einen kaukasischen Mantel ohne Achselstücke, den er, sobald er eine Karte abgeworfen, erneut fest um die Schultern zog.
Entgegen Metelizas Erwartung redeten sie von lauter belanglosen und uninteressanten Dingen: die gute Hälfte ihrer Unterhaltung drehte sich um das Kartenspiel.
»Achtzig«, sagte der Mann, der Meteliza den Rücken kehrte.
»Etwas wenig, Euer Wohlgeboren«, ließ sich die schwarze Fellmütze vernehmen und fügte nachlässig hinzu, »hundert, blind.«
Der Schöne und Wohlgenährte zog die Brauen zusammen, besah sich nochmals das Blatt, nahm die Pfeife aus dem Mund und steigerte auf hundertfünf.
»Ich passe«, sagte der erste zum kleinen Popen gewandt, der die Kaufkarten in der Hand hielt.
»Das habe ich mir gedacht«, lachte die schwarze Fellmütze.
»Kann ich was dafür, wenn ich keine Karten kriege?« sagte der erste, wie zur Rechtfertigung zum Popen, als suche er dessen Mitgefühl zu erregen.
»Immer sachte, immer sachte«, scherzte der Pope und kicherte ganz leise, wie wenn er mit diesem Gekicher das kleinliche Spiel seines Partners betonen wollte. »Aber zweihundertundzwei Augen haben Sie dabei schon abgeschrieben... wir kennen Sie, Freundchen.« Und er drohte mit gemachter Freundlichkeit verschmitzt mit dem Finger.
,So ein Schurke', dachte Meteliza.
»Ach, und Sie passen auch?« wandte sich der Pope an den trägen Offizier. »Hier, bitte, die Kaufkarten«, sagte er zur schwarzen Fellmütze und steckte ihr die Karten zu, ohne sie aufzuschlagen.
Einige Minuten klopften sie eifrig auf den Tisch, bis die schwarze Fellmütze verspielt hatte. ,Aber erst groß aufschneiden', dachte verächtlich Meteliza, ohne sich schlüssig zu sein, ob er sich entfernen oder noch bleiben sollte. Allein er konnte nicht fort, denn die schwarze Fellmütze hatte sich zum Fenster gedreht, und Meteliza fühlte ihren durchdringenden Blick furchterregend und unbeweglich starr auf sich gerichtet.
Jetzt gerade begann der Mann, der mit dem Rücken zum Fenster saß, die Karten zu mischen. Er machte das sorgfältig, mit sparsamen Bewegungen, wie ein altes Mütterchen sein Gebet verrichtet.
»Und Netschitailo ist nicht da«, bemerkte gähnend der Träge. »Hat, scheint's, Erfolg gehabt. Wäre ich nur auch mitgegangen...«
»Zu zweit?« fragte die Fellmütze und wandte sich vom Fenster. Dann fügte sie mit hässlicher Grimasse hinzu: »Sie hätte sich mit euch schon geeinigt.«
»Die Wassenka?« forschte der Pope. »Hu-u... mit der wäret ihr schon ins reine gekommen!... War mal so ein Psalmenleser bei uns... doch, das habe ich euch ja schon erzählt... aber Sergej Iwanowitsch wäre nicht darauf eingegangen... auf keinen Fall. Wisst ihr, was er mir gestern im Vertrauen sagte?... ,Ich werde sie mitnehmen', sagte er, ,und soll mir auch nicht darauf ankommen, sie zu heiraten', sagte er...Oi, oi!« rief plötzlich der Pope und schlug sich mit der Hand auf den Mund, listig mit den klugen Äuglein zwinkernd. »Ein Gedächtnis wie ein Sieb! So sich zu verplappern. Aber um Gottes willen nichts verraten!« und begann in gespielter Ängstlichkeit mit den Händen zu fuchteln. Und obschon die anderen, ebenso wie Meteliza, die Unaufrichtigkeit und die versteckte Kriecherei in seinen Worten und Gesten erkannten, gab es ihm keiner zu verstehen, und alle lachten.
Meteliza schlich, zur Seite tretend, mit gekrümmtem Rücken vom Fenster. Kaum war er in eine Querstraße eingebogen, als er plötzlich mit einem Mann in einem über die Schulter geworfenen Kosakenmantel zusammenprallte, zwei andere standen hinter ihm.
»Was machst du hier?« rief dieser Mann erstaunt, während er mit unbewusster Bewegung nach dem Mantel griff, der ihm bei dem Zusammenprall mit Meteliza fast heruntergefallen wäre.
Der Zugführer sprang zur Seite und stürzte sich ins Gebüsch.
»Halt! Pack ihn! Pack ihn! Hierher!... He!...« schrieen mehrere Stimmen. Ein heftiger, kurzer Knall krachte hinter ihm her.
Meteliza stürmte vorwärts, blieb an den Sträuchern hängen und verlor die Mütze, aber die Stimmen ächzten und heulten schon irgendwo vor ihm, und von der Straße her erscholl wütendes Hundegekläff.
»Da ist er, halt ihn!« rief einer, sich mit ausgestrecktem Arm auf Meteliza werfend. Eine Kugel pfiff an seinem Ohr vorbei. Auch Meteliza feuerte los. Der Mann, der ihm nachgerannt war, stolperte und fiel hin.
»Hast dich verrechnet, wirst mich nicht zu fassen kriegen...«, rief Meteliza siegesgewiss, bis zum letzten Augenblick wirklich glaubend, dass man ihn nicht überwältigen könne.
Aber ein Großer, Schwerer warf sich von hinten auf ihn und begrub ihn unter sich. Meteliza versuchte, eine Hand zu befreien, allein ein grausamer Schlag über den Kopf raubte ihm die Besinnung...
Dann hieben alle der Reihe nach auf ihn ein, und selbst in seiner Betäubung noch spürte er die Schläge, immer wieder, ohne Ende...
In der Niederung, wo die Abteilung lagerte, war es schummerig und feucht, aber aus der rötlichen Lichtung, hinter dem Chaunichedsa, blickte die Sonne hervor, und der Tag, vom Duft herbstlicher Fäulnis erfüllt, stieg über der Taiga auf.
Der Wachtposten hockte neben den Pferden und döste. In seinem Schlaf schlugen eintönige, hartnäckige Laute, ähnlich dem fernen Ticken feuernder Maschinengewehre. Erschrocken fuhr er auf und griff nach dem Gewehr. Aber es war nur ein Specht, der an einer alten Erle beim Fluss klopfte — die Wache fluchte und trat, während sie vor Kälte schaudernd sich fester in den zerfetzten Mantel hüllte, in die Lichtung hinaus. Noch niemand war aufgewacht: die Leute schliefen einen dumpfen, tiefen Schlaf, wie ihn zermarterte, hungrige Menschen schlafen, denen der kommende Morgen keinerlei Hoffnung verspricht.
,Der Zugführer ist immer noch nicht zurück... wird sich wohl vollgefressen haben und pennt jetzt in irgendeiner Hütte, und wir können hier Kohldampf schieben', dachte der Wachtposten. Für gewöhnlich war er nicht minder stolz auf Meteliza als die andern, jetzt aber schien ihm dieser ein ziemlich niederträchtiger Kerl zu sein, den man sehr zu Unrecht zum Zugführer gemacht hatte. Ganz plötzlich lehnte er sich dagegen auf, hier in der Taiga zu leiden, während andere, wie zum Beispiel dieser Meteliza, sich an allen irdischen Freuden ergötzen, aber er wagte es nicht, Lewinsohn ohne genügend triftige Gründe zu beunruhigen und weckte daher Baklanow.
»Was?... Noch nicht zurück?...« Baklanow starrte ihn mit verschlafenen, leeren Augen an. »Was heißt das, noch nicht zurück?« schrie er plötzlich, noch halbverwirrt, begriff aber schon, wovon die Rede war, und bekam einen Schreck. »Mach keine Witze, Freundchen, das ist doch gar nicht möglich... Ach doch! Dann weck gleich Lewinsohn.« Er sprang auf, straffte mit schnellem Griff den Riemen, zog die verschlafenen Brauen über der Nasenwurzel zusammen und wurde auf einmal hart und verschlossen.
Lewinsohn, so fest er auch schlief, hatte kaum seinen Namen gehört, als er die Augen aufschlug und sich aufrichtete. Er warf einen Blick auf die Wache und Baklanow und verstand, dass Meteliza nicht zurückgekommen war und es längst Zeit gewesen wäre aufzubrechen. Anfangs fühlte er sich so müde und zerschlagen, dass er am liebsten den Kopf in den Mantel vergraben hätte, um von neuem einzuschlafen, Meteliza und seine eigenen Leiden vergessend. In der nächsten Minute aber kniete er schon hoch, rollte seinen Mantel ein und beantwortete in trockenem, gleichgültigem Tone die angsterfüllten Fragen Baklanows.
»Nun, und was ist dabei? Hab's mir auch nicht anders gedacht... Selbstverständlich werden wir ihn unterwegs treffen.«
»Und wenn wir ihn nicht treffen?«
»Wenn wir ihn nicht treffen?... Sag mal, hast du nicht noch eine Reserveschnur da für meine Rolle?«
»Aufstehen, aufstehen, faule Bande!« rief der Wachtposten und stieß die Schlafenden mit den Füßen.
Aus dem Grase tauchten die zerzausten Köpfe der Partisanen auf, und von allen Seiten schwirrten dem Posten die ersten zotigen Flüche entgegen - in guten Zeiten pflegte Dubow sie die »Morgendlichen« zu nennen.
»Wie böse sie alle sind«, meinte nachdenklich Baklanow. »Wollen fressen...«
»Und du?« fragte Lewinsohn.
»Was - ich? Von mir ist nicht die Rede. Mit mir ist's genau wie mit dir, als ob du das nicht wüsstest?...«
»Nein, ich weiß davon«, erwiderte Lewinsohn mit so weicher, sanfter Stimme, dass Baklanow zum ersten Mal aufmerksam zu ihm hinüberblickte.
»Bist du aber abgemagert, mein Guter«, sagte Baklanow mit unerwartetem Bedauern. »Nur der Bart ist geblieben. An deiner Stelle würde ich...«
»Komm, komm, wir wollen uns lieber waschen«, unterbrach Lewinsohn ihn mit schuldbewusstem, trübem Lächeln.
Sie gingen zum Fluss. Baklanow zog beide Hemden aus und begann sich zu waschen. Man sah, dass er das kalte Wasser nicht fürchtete. Sein Körper war gedrungen und kräftig, braun, wie aus Erz gegossen, sein Kopf jedoch, rund und gutmütig, glich dem eines Kindes, auch wusch er ihn mit naiver, kindlicher Gebärde, goss aus hohler Hand Wasser drüber und rieb ihn dann kräftig ab.
»Worüber habe ich denn gestern so viel geredet, und versprochen habe ich auch was, und so unbehaglich ist mir zumute jetzt', dachte Lewinsohn plötzlich, indessen die Erinnerung an das gestrige Gespräch mit Metschik und die eigenen Gedanken dabei, dunkel und von peinlichem Gefühl begleitet, in ihm aufstiegen. Nicht etwa, dass diese Gedanken ihm jetzt falsch erschienen, das heißt, dass sie nicht dem entsprochen hätten, was in ihm in Wirklichkeit vorging, nein, nicht das war es. Er wusste, es waren richtige, kluge und interessante Gedanken, und doch empfand er jetzt, als er sich wieder auf sie besann, ein dumpfes Unbehagen. ,Ach so, ich habe ihm ein anderes Pferd versprochen... aber sollte denn das etwa nicht in Ordnung sein? Nein, ich würde es heute ebenso machen, in diesem Punkt ist alles, wie sich's gehört... Um was also handelt es sich?... Es handelt sich
»Warum wäschst du dich nicht?« fragte Baklanow, der seine Prozedur beendet hatte und sich mit dem schmutzigen Handtuch krebsrot rieb. »Schön, dieses kalte Wasser!«
,... Es handelt sich darum, dass ich krank bin und mit jedem Tage immer mehr die Herrschaft über mich verliere', dachte Lewinsohn, zum Wasser hinabsteigend.
Gewaschen, gegürtet und auf der Hüfte das gewohnte Gewicht der Pistole, fühlte er sich doch ausgeruht.
,Was ist mit Meteliza geschehen?' Dieser Gedanke beherrschte ihn jetzt ganz.
Lewinsohn konnte sich Meteliza ohne Bewegung oder leblos überhaupt nicht vorstellen. Seit je schon hatte es ihn dunkel zu diesem Menschen hingezogen, und oft genug stellte er fest, wie angenehm es ihm war, neben ihm zu reiten, mit ihm zu sprechen oder ihn auch nur anzusehen. Allgemeinnützliche, hervorragende Eigenschaften, deren Meteliza übrigens nicht allzu viele besaß und über die Lewinsohn selber in weit größerem Maße verfügte, waren nicht die Ursache dieser Zuneigung; Meteliza gefiel ihm durch seine ungewöhnliche physische Zähigkeit, durch die urwüchsige Kraft seiner Vitalität, die, gleich einem unversiegbaren Quell, in ihm sprudelte und die eben gerade Lewinsohn fehlte. Wenn er vor sich Metelizas behände, stets tatbereite Gestalt sah oder wusste, dass dieser sieh irgendwo in seiner Nähe aufhielt, vergaß er unwillkürlich seine eigene körperliche Schwäche, und es kam ihm vor, als sei auch er so unermüdlich und stark wie Meteliza. Im stillen war er sogar stolz darauf, der Kommandeur eines solchen Menschen zu sein.
Den Gedanken, Meteliza könnte dem Feind in die Hände gefallen sein, vermochten die Partisanen nicht zu Ende zu denken, obschon dieser Gedanke in Lewinsohn selber immer fester Wurzel schlug. Jeder der erschöpften Partisanen wollte beharrlich und ängstlich nichts davon wissen. Sie wiesen diesen Gedanken als den letzten, Unheil und Leiden kündenden und daher gänzlich unmöglichen von sich... Die Annahme des Postens, der Zugführer habe sich »vollgefressen und pennt in irgendeiner Hütte« -wie schlecht dies auch zu dem behänden und pflichtgetreuen Meteliza passte -, fand immer mehr Zuspruch. Viele murrten offen gegen die »Niederträchtigkeit und Verantwortungslosigkeit« Metelizas und mahnten Lewinsohn in einem fort zum Aufbruch, um dem Zugführer entgegenzureiten. Und als Lewinsohn, nachdem er die täglichen Angelegenheiten mit ungewöhnlicher Sorgfalt geregelt, auch Metschik das Pferd ausgewechselt hatte, endlich den Befehl zum Aufbruch gab, entstand in der Abteilung ein solcher Jubel, als würden mit diesem Befehl von nun an alle Qualen und alles Übel ein Ende nehmen.
Eine Stunde um die andere ritten sie dahin, jedoch von dem Zugführer mit dem kecken, schwarzen Haarschopf war auf dem Pfad noch immer nichts zu sehen. Sie ritten weiter und weiter, aber ihre Blicke suchten ihn vergebens. Und jetzt zweifelte nicht Lewinsohn allein mehr, sondern auch die ausgesprochensten Neider und Verleumder Metelizas an dem glücklichen Ausgang seiner Fahrt.
In gedrücktem, ahnungsschwerem Schweigen näherte sich die Abteilung dem Rande der Taiga.

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