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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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V. Bauern und Kumpel

Um die Richtigkeit seiner Mutmaßungen zu überprüfen, begab sich Lewinsohn frühzeitig in die Versammlung, wollte sich unter die Bauern mischen und etwa umlaufende Gerüchte auffangen.
Die Versammlung fand in der Schule statt. Es waren erst wenige Leute anwesend: einige, die früher vom Felde aufgebrochen waren, unterhielten sich in der Abenddämmerung auf der Vortreppe. Durch eine offene Tür sah man Rjabez im Zimmer an einer verrußten Lampe hantieren.
»Ossip Abramytsch«, begrüßten die Bauern Lewinsohn und streckten ihm ehrerbietig einer nach dem andern die sonnverbrannten, von der Arbeit schwieligen Hände entgegen. Er begrüßte jeden einzelnen und nahm bescheiden auf einer Stufe Platz.
Hinter dem Fluss sangen vielstimmig die Mädchen, es roch nach Heu, feuchtem Staub und Rauchschwaden. Man konnte hören, wie an der Fähre die müden Pferde mit den Hufen stampften. Im warmen, abendlichen Nebel, im Ächzen der beladenen Leiterwagen, in dem langgedehnten Muh satter, ungemolkener Kühe erlosch der mühevolle Bauerntag.
»Reichlich wenig«, sagte Rjabez, auf die Vortreppe hinaustretend. »Viele wird man heute nicht zusammenbringen können, manche nächtigen auf dem Felde...«
»Wozu eine Versammlung am Werktag? Muss wohl was Dringendes sein?«
»Ja, 's ist da so 'ne Sache...«, ließ sich, etwas zögernd, der Vorsitzende vernehmen. »Einer von denen hat was ausgefressen, wohnt bei mir. Eigentlich ist's ja sozusagen eine Kleinigkeit und ist ein ganzer Stunk daraus geworden...« Verwirrt blickte er auf Lewinsohn und schwieg.
»Wenn's nicht der Rede wert ist, hätte man uns gar nicht erst zusammenrufen sollen!...« riefen verschiedene Bauern. »Ist nun mal so 'ne Zeit, da ist dem Bauern jede Stunde teuer.«
Lewinsohn erklärte ihnen, was los war. Da begannen sie, durcheinander redend, ihre bäuerlichen Sorgen auszukramen, die sich hauptsächlich um die Mahd und die Warennot drehten.
»Ossip Abramytsch, du solltest mal so über die Wiesen gehen und sehen, womit die Leute mähen! Keiner hat 'ne ganze Sense, wenn doch nur eine zum Jux wenigstens ganz wäre, alle sind sie geflickt. Das ist eine Schinderei, keine Arbeit.«
»Was für eine Sense der Semen neulich kaputt gemacht hat. Dem geht alles zu langsam, ist ganz arbeitsversessen. Mäht da so drauflos, schnauft wie eine Maschine und fährt mit der Sense in einen Baumstumpf 'rein... Jetzt kann er sie flicken, soviel er will, ist nichts mehr zu machen.«
»So 'ne feine Sense!...«
»Und meine Leute, wie steht's mit denen?...« fragte nachdenklich Rjabez. »Haben Sie's geschafft? Das Gras steht heuer wie ein Wald. Zum Sonntag wenigstens müsste man mit der Sommerwiese fertig werden. Teuer kommt uns dieser Krieg zu stehen.«
Neue Gestalten tauchten aus dem Dunkel in den zitternden Lichtstreifen, einige mit Bündeln beladen, in langen, schmutzigweißen Kitteln. Sie waren eben von der Arbeit gekommen, begannen lärmend nach Bauernart zu reden und verbreiteten einen Geruch von Teer und Schweiß und den Duft von frischgemähtem Gras.
»Gottes Gruß in eure Hütte...«
»Ha-ha-ha!... Iwan?... Lass mal deine Schnauze bei Licht besehen - na, haben dich die Hummeln ordentlich zugerichtet? Hab' gesehen, wie du mit wackelndem Hintern vor ihnen hergelaufen bist...«
»Was hast du, Schweinehund, in meine Wiese hineinzumähen?« »Wieso in deine Wiese? Schwatz keinen Blödsinn!... Haarscharf am Rain hab' ich gemäht... Wir brauchen nichts Fremdes, haben Eigenes genug.«
»Man kennt das... Eigenes genug! Eure Schweine sind nicht aus dem Garten herauszutreiben... Bald werden sie auf meinem Melonenfeld ferkeln... ja, Eigenes genug! Man kennt das...« Irgendein Hagerer, Derber, mit gekrümmtem Rücken und einem im Dunkeln glänzenden Auge, wuchs aus der Menge und sagte:
»Vor drei Tagen ist der Japaner nach Sandagou gekommen. Die Tschuguewer Jungens erzählen's. Kam, besetzte die Schule, und gleich auf die Weiber los: ,Ruhsische Freiein, ruhsische Freiein... sju-sju-sju'. Pfui Teufel, Gott verzeih mir...«, unterbrach er sich hasserfüllt, heftig mit der Hand die Luft durchschneidend, als hacke er etwas ab.
»Er wird auch zu uns kommen, das ist todsicher.« »Und woher dieses Unheil nur kommt?« »Dem Bauer ist keine Ruhe gegönnt.« »Und alles lastet auf dem Bauern. Wenn das doch bloß mal ein Ende hätte.«
»Die Hauptsache ist ja, es gibt keinen Ausweg! Ob direkt ins Grab oder erst in den Sarg, das kommt alles auf eins 'raus!...« Lewinsohn hörte zu, ohne sich einzumischen. Man hatte ihn ganz vergessen. Er war äußerlich so klein, so unscheinbar, bestand ganz aus Mütze, rotem Bart und über die Knie reichenden Stulpenstiefeln. Aber aus den ihn umschwirrenden rauen, bäuerlichen Stimmen fing er nur ihm verständliche, beunruhigende Töne auf. ,Die Sache steht schlecht...', überlegte er angestrengt, ,ganz schlecht...' ,Morgen schon muss man Staschinskij schreiben, dass er die Verwundeten wegschaffen lässt, wohin es nur geht... Wir müssen für eine Weile still werden, als ob wir gar nicht da wären... die Posten verstärken...'
»Baklanow!« rief er seinen Gehilfen. »Komm mal einen Augenblick... Es handelt sich um folgendes... Setz dich näher. Ich glaube, ein Wachtposten an der Umzäunung tut's nicht. Wir müssen berittene Wachen bis nach Krylowka vorschicken... besonders nachts... sind schon arg sorglos geworden...«
»Was ist denn los?« fragte erregt Baklanow. »Ist was passiert?... oder was sonst?« Er wandte seinen geschorenen Kopf Lewinsohn zu, und seine Augen blickten wachsam forschend, wie die Schlitzaugen eines Tataren.
»Im Kriege, lieber Freund, ist's immer unruhig«, sagte Lewinsohn zärtlich und giftig zugleich. »Im Kriege, mein Bester, ist das nicht so wie mit der Marussja auf dem Heuboden...«
Er stieß plötzlich ein kerniges, heiteres Lachen aus und kniff Baklanow in die Seite.
»Sieh mal an, so ein Schlaukopf...«, neckte Baklanow seinen Kommandeur, packte ihn am Arm und verwandelte sich plötzlich in einen rauflustigen, fröhlichen und gutmütigen Jungen.
»Zapple nicht, zapple nicht, kommst sowieso nicht los!...« brummte er zärtlich durch die Zähne, Lewinsohns Arm nach hinten drehend und ihn unmerklich gegen einen Treppenpfosten pressend.
»Pack dich, pack dich, dort ruft die Marussja...«, lachte Lewinsohn verschmitzt. »Na, Teufel du, lass mich doch los!... das gehört sich doch nicht hier auf der Versammlung...«
»Na eben, nur weil sich's nicht gehört, sonst hätt' ich dir's schon gezeigt...«
»Geh schon, geh schon, deine Marussja ruft... geh schon!«
»Ein Wachtposten genügt wohl, denk' ich?« fragte Baklanow, sich erhebend.
Lächelnd blickte Lewinsohn ihm nach.
»Einen Mordskerl von Gehilfen hast du«, sagte jemand, »trinkt nicht, raucht nicht, und was die Hauptsache ist, er ist jung. Kommt da vor drei Tagen zu mir in die Hütte, ein Kummet holen... ,Na', sage ich, ,willst nicht ein Schnäpschen?' ,Nein', sagt er, ,trinke nicht. Wenn du mir schon was vorsetzen willst', sagt er, ,gib mir etwas Milch.' - ,Milch', sagt er, ,die trink' ich gern, das stimmt.' Und trinkt sie, weißt du, wie so'n kleines Kind, aus einem Schüsselchen, und krümelt sich Brot 'rein... mit einem Wort, ein Teufelsjunge.«
In der Menge tauchten immer zahlreicher die Gestalten der Partisanen mit ihren blitzenden Gewehrläufen auf. Die Jungens waren einmütig und pünktlich zur Stelle. Endlich erschienen die Kumpels, ihnen voran Timofej Dubow, ein hochgewachsener Hauer aus Sutschan, der jetzt Zugführer war. Sie fluteten in einer einzigen brüderlichen Masse, ohne sich zu zerstreuen, in die Menge, nur Moroska setzte sich finster abseits auf ein Hügelchen.
»Ah, ah... du bist auch hier?« trompetete Dubow, als er Lewinsohn erblickte, als ob er ihn Jahr und Tag nicht gesehen und nie und nimmer erwartet hätte, ihn hier zu treffen. »Was hat unser Freundchen da denn angestellt?« fragte er bedächtig mit tiefer Stimme und streckte seine schwere, geschwärzte Hand Lewinsohn entgegen. »Man muss ihm einen tüchtigen Denkzettel geben, einen tüchtigen Denkzettel, dass die andern sich das merken!...« trompetete er dann weiter, ohne die Erklärungen Lewinsohns abzuwarten.
»War schon längst nötig, diesem Moroska ein wenig auf die Finger zu gucken, er bringt die ganze Abteilung in Verruf«, entgegnete ein geziert sprechender Bursche. Er hieß Tschish, trug eine Studentenmütze und gewichste Stiefel.
»Du bist nicht gefragt!« schnitt ihm Dubow, ohne ihn eines Blickes zu würdigen, das Wort ab.
Der Bursche kniff schon gekränkt und stolz die Lippen zusammen, als er jedoch den spöttischen Blick Lewinsohns auffing, zog er es vor, spurlos in der Menge zu verschwinden.
»Hast du den Schafskopf gesehen?« fragte düster der Zugführer. »Wozu lässt du ihn hier?... Man erzählt, dass er selber wegen Diebstahls aus dem Institut gejagt worden ist.«
»Glaub nicht jedem Gerücht«, sagte Lewinsohn.
»Wie lange werdet ihr hier noch herumstehen!...« rief von der Vordertreppe Rjabez, verwirrt mit den Händen herumfuchtelnd, als hätte er nie im Leben erwartet, dass sein mit Unkraut überwuchertes Melonenfeld die Ursache einer solchen Menschenansammlung werden könnte. »Fängt man nicht bald an, Genosse Kommandeur?... Oder sollen wir uns hier herumtreiben, bis die Hähne krähen?...«
Im Zimmer war es heiß und blau vor Rauch geworden. Die
Bänke reichten nicht aus. Bauern und Partisanen in buntem Durcheinander verstopften die Durchgänge, drängten sich an den Türen. Lewinsohn spürte ihren Atem im Genick.
»Fang an, Ossip Abramytsch«, sagte mürrisch Rjabez. Er war unzufrieden mit sich und mit dem Kommandeur. Die ganze Geschichte schien jetzt nichtig und lästig.
Moroska drängte sich durch die Tür und stellte sich böse und finster neben Dubow.
Lewinsohn betonte besonders, dass er die Bauern niemals von der Arbeit abberufen hätte, wäre er nicht der Ansicht gewesen, dass es sich hier um eine gemeinsame Sache handele, die beide Seiten anginge, und außerdem waren viele in der Abteilung aus dem Orte.
»Wie ihr's beschließt, so soll's auch sein«, endete er nachdrücklich, indem er sich die bedächtige bäuerliche Art zu eigen machte. Ruhig ließ er sich auf die Bank nieder, lehnte sich zurück und wurde plötzlich wieder klein und unscheinbar, verlosch wie ein Docht und überließ so der Versammlung, die ins Dunkel fiel, die Aufgabe der Entscheidung.
Zuerst traten verschiedene Personen auf, die sich nebelhaft und unsicher äußerten, sich in Nebensächlichkeiten verloren, dann mischten sich andere ein, und die Versammlung kam langsam in Schwung. Schon nach einigen Minuten war nichts mehr zu verstehen. Meist waren es Bauern, die das Wort ergriffen, die Partisanen schwiegen dumpf und abwartend.
»Das ist so auch keine Ordnung«, brummte streng der alte weißhaarige Jewstafij und runzelte die buschigen Brauen. »In der guten alten Zeit unter Zar Nikolaschka wurde man für solche Sachen durchs Dorf geführt. Man behing den Dieb mit dem gestohlenen Gut und gab ihm unter Topfmusik das Geleit!...« Eindringlich drohte er jemandem mit seinem dürren Finger.
»Lass uns zufrieden mit deinem Nikolaschka!...« schrie der Einäugige mit dem krummen Rücken, derselbe, der von den Japanern erzählt hatte. Ständig drängte es ihn, mit den Armen herumzufuchteln, aber es war zu eng, und so ereiferte er sich denn um so mehr. »Dein Nikolaschka fehlt dir!... Die Zeiten sind vorbei... futsch für immer!...«
»Nikolaschka hin, Nikolaschka her, aber das ist auch kein Recht«, widersetzte sich der Alte. »Die ganze Bande füttern wir schon. Aber Diebe züchten haben wir nicht nötig.«
»Wer spricht von züchten? Keiner hängt sich an Diebe! Diebe züchtest du vielleicht selber!...« entgegnete der Einäugige und spielte damit auf den Sohn des Alten an, der vor zehn Jahren spurlos verschwunden war. »Wir brauchen hier unser eigenes Maß! Der Junge da kämpft vielleicht schon das sechste Jahr, sollte er sich etwa nicht an einer Wassermelone gütlich tun dürfen?...«
»Wozu treibt er solchen Unfug?...« warf einer verständnislos ein. »Mein Gott, wenn es sich noch gelohnt hätte!... Wäre er zu mir gekommen, einen ganzen Sack hätte ich ihm gefüllt. Hier, nimm, gereut uns nicht fürs Vieh, soll uns für einen guten Menschen auch nicht leid tun!...«
In den bäuerlichen Stimmen war keinerlei Verbitterung zu spüren. Die Mehrzahl war sich über eines einig: die alten Gesetze taugten nichts, dieser Sache musste man ganz anders beikommen.
»Sollen sie selber entscheiden mit ihrem Vorsitzenden!« rief jemand. »Wir haben da unsere Nase nicht 'reinzustecken...«
Lewinsohn erhob sich von neuem und klopfte auf den Tisch.
»Genossen, einer nach dem andern«, sagte er leise, aber vernehmlich, so dass jeder es hören konnte. »Wenn wir alle gleichzeitig reden, werden wir zu keinem Beschluss kommen. Aber wo ist denn überhaupt Moroska?... He, komm mal her...«, setzte er düster hinzu, und aller Augen waren auf die Ordonnanz gerichtet.
»Ich sehe auch von hier aus...«, sagte Moroska dumpf.
»Geh schon, geh schon!...« drängte ihn Dubow.
Moroska zögerte, Lewinsohn begab sich nach vorn, durchbohrte ihn mit seinem stählernen Blick und riss ihn gleichsam wie einen Nagel aus der Menge.
Moroska schob sich zum Tisch vor, den Kopf tief gesenkt, ohne jemanden anzublicken. Er war schweißbedeckt, seine Hände zitterten. Hunderte neugieriger Blicke fühlend, hätte er wohl versucht, den Kopf zu heben, bemerkte jedoch das raue, bärtige Gesicht Gontscharenkos. Der Mineur betrachtete ihn teilnehmend und streng. Moroska ertrug das nicht, wandte sich zum Fenster und bohrte wie erstarrt den Blick ins Leere.
»Also, jetzt lasst uns beraten«, sagte Lewinsohn ebenso erstaunlich leise wie vorhin, aber hörbar für alle, selbst für die, die hinter der Türe standen. »Wer verlangt das Wort?... Na, du, Väterchen, wolltest doch was sagen?«
»Was soll man da sagen«, meinte verlegen der alte Jewstafij, »das war nur so unter uns...«
»Da gibt's nicht viel zu fackeln, beratet selbst!« schrieen die Bauern von neuem.
»Na, Alter, lass mich mal reden...«, sagte Dubow ganz unerwartet, mit dumpfer, verhaltener Kraft, und da er dabei Jewstafij ansah, hatte er irrtümlich Lewinsohn mit »Alter« angeredet. In der Stimme Dubows lag etwas, das alle Köpfe emporfahren und sich ihm zuwenden ließ. Er drängte sich zum Tisch und stellte sich, mit seiner großen massigen Gestalt Lewinsohn verdeckend, neben Moroska.
»Wir sollen selbst beraten?... Ihr habt wohl Angst?!« fuhr er drohend und leidenschaftlich auf, mit der Brust gleichsam die Luft durchschneidend. »Nun wohl, wir werden selbst entscheiden!...« Er neigte sich schnell zu Moroska und sog sich mit flammenden Augen an ihm fest. »Bist einer der Unsrigen, sagst du, Moroska?... ein Kumpel?« knirschte er giftig. »Huh-huh... unsauberes Blut, Sutschaner Erz!... Willst nicht einer der Unsrigen sein? Gehst auf Abwege? Befleckst das Geschlecht der Kumpels? Schon gut!...« Die Worte Dubows fielen mit schwerem Dröhnen in die Stille, wie tönender Anthrazit.
Moroska, bleich wie ein Laken, blickte ihn unverwandt an, ohne sich loszureißen, und das Herz zuckte in ihm wie angeschossen.
»Schon gut!« wiederholte Dubow... »Treib dich nur weiter herum!... Wollen sehen, wie du ohne uns auskommst!... Aber wir... zum Teufel müssen wir ihn jagen!...« riss er kurz ab, indem er sich hastig zu Lewinsohn wandte.
»Sieh mal zu, verrechne dich bloß nicht!...« rief einer der Partisanen.
»Was?!« fragte Dubow mit schrecklicher Stimme und stapfte vorwärts.
»Aber mein Gott, genug schon...«, stieß kläglich eine erschrockene Greisenstimme aus einer Ecke hervor.
Lewinsohn packte den Zugführer von hinten am Ärmel.
»Dubow... Dubow...«, sagte er ruhig. »Komm, tritt etwas zur Seite, verstellst die Leute...«
Die Ladung Dubows war verpufft, der Zugführer sank, verwirrt zwinkernd, in sich zusammen.
»Nun, wie sollen wir ihn zum Teufel jagen, diesen Dummkopf?« ließ sich plötzlich Gontscharenko, seinen lockigen, sonnengebräunten Kopf über die Menge erhebend, vernehmen. »Ich sage das nicht zu seiner Verteidigung, hier kann man nur ja oder nein sagen, der Bursche hat eine Schweinerei begangen, ich balge mich selber jeden Tag mit ihm herum... aber er ist auch ein tapferer Junge, das muss man ihm lassen. An der ganzen Ussurischen Front haben wir zusammen gekämpft, in der vordersten Linie. Er ist einer der Unsern, wird keinen verraten noch verkaufen...«
»Einer der Unsern...«, unterbrach ihn Dubow bitter. »Und uns, meinst du, ist er etwa ein Fremder?... In einem Loch haben wir gehaust... Den dritten Monat schlafen wir unter einem Mante! Und da kommt irgendein Hergelaufener« (er erinnert sich plötzlich an den geziert sprechenden Tschish) »und will einem was beibringen!...«
»Das ist's ja, worauf ich hinauswill«, fuhr Gontscharenko, verständnislos zu Dubow hinschielend, fort (er hatte die Beschimpfung auf sich bezogen). »Die Sache so einfach begraben, das geht nicht, und ihn plötzlich davonjagen, das ist auch keine Art, wir verlieren so unsere Leute. Meine Meinung ist: man soll ihn selbst fragen!...« Und er schlug gewichtig mit der Handkante auf, als ob er alles Fremde und Überflüssige von dem Seinigen und dem Richtigen scheide.
»Richtig!... Man frage ihn selbst.'... Er soll selber reden, wenn er es einsieht.'...«
Dubow, im Begriff, seinen Platz aufzusuchen, blieb im Durchgang stehen und blickte forschend auf Moroska. Dieser schaute verständnislos drein und zupfte nervös mit schweißigen Fingern an seinem Hemd.
»Sag, was denkst du?...«
Moroska schielte zu Lewinsohn.
»Ja, hätte ich denn...«, begann er leise, fand keine Worte und verstummte.
»Sprich, sprich...«, rief man ihm aufmunternd entgegen. »Ja, hätte ich denn... so etwas getan...« Er fand wieder nicht das richtige Wort und nickte Rjabez verlegen zu... »Na, diese Wassermelonen... hätt' ich denn das gemacht, wenn ich's überlegt hätte..., oder war's vielleicht aus Gemeinheit?... Schon die Kinder bei uns, alle wissen's, und so habe ich's auch... und wie Dubow sagte, dass ich unsere Jungens alle...ja hätte ich denn, Brüder!...« riss es sich plötzlich aus seinem Innern, und wie von unsichtbarer Kraft getrieben, fasste er sich an die Brust und seine Augen sprühten von einem warmen und feuchten Glanz, »... ich geb' ja meinen letzten Blutstropfen für einen jeden, und da...da sollt' ich noch Schande über euch... oder was!...«
Von der Straße her drangen fremde Töne ins Zimmer. Ein Hund bellte irgendwo auf dem Snitkinschen Gehöft, Mädchen sangen, neben dem Haus des Popen pochte es dumpf und gleichmäßig, wie das Stampfen eines Mörsers. »Hol uns 'rü-über!...«, rief es in langgezogenen Tönen von der Fähre her.
»Nun, und wie ich mich selber bestrafen werde?...« fuhr Moroska schmerzlich, aber schon bedeutend sicherer und weniger aufrichtig fort, »... kann nur mein Wort geben...mein Kumpelwort... daran ist nicht zu rütteln, lass' nichts auf mich kommen....«
»Und wenn du's nicht hältst?« fragte Lewinsohn vorsichtig.
»Werd's halten...« Moroska verzog das Gesicht. Er schämte sich vor den Bauern.
»Und wenn nicht?...«
»Dann macht, was ihr wollt... Stellt mich an die Wand...«
»Werden's auch tun!« sagte streng Dubow, aber seine Augen leuchteten schon ohne jeglichen Zorn, liebevoll und spöttisch.
»Also, jetzt genug damit!... Schluss!« rief es von den Bänken.
»Na, das wäre erledigt...«, sagten die Bauern, erfreut, dass diese langwierige Versammlung sich ihrem Ende näherte. »So 'ne Bagatelle, aber Redereien für ein ganzes Jahr...«
»Dabei bleibt es, oder?... Andere Vorschläge liegen nicht vor? ... «
»Mach schon Schluss, zum Teufel!...« lärmten die Partisanen, die lange genug stillgesessen hatten. »Hängt einem schon zum Halse 'raus... wollen fressen gehen... wie lange sollen wir noch Kohldampf schieben?«
»Abwarten«, sagte Lewinsohn, indem er die Hand hochhob und verhalten die Stirn runzelte. »Diese Frage ist erledigt, jetzt eine andere...«
»Was ist denn noch los?!«
»Ich bin der Meinung, wir müssen eine Resolution fassen...« Er blickte sich um. »Aber wir haben ja überhaupt keinen Sekretär gehabt!« lachte er plötzlich gutmütig und gedämpft auf. »Tschish, komm mal her, schreib...es wird folgende Resolution angenommen: dass die von Kriegshandlungen freie Zeit nicht zum Maulaffenfeilhalten verwendet wird, sondern den Wirtsleuten mitzuhelfen ist, wenigstens ein wenig... « Er sagte dies so überzeugend, als glaubte er wirklich, es würde jemand den Wirtsleuten jemals zur Hand gehen.
»Aber das verlangen wir ja gar nicht!...« rief ein Bauer.
Lewinsohn dachte: ,Angebissen...'
»Seht... Seht!...« wurde der Bauer unterbrochen. »Hör lieber zu. Lasst sie doch wirklich mal arbeiten, die Hände werden ihnen schon davon nicht abfallen...«
»Und bei Rjabez werden wir es noch besonders abarbeiten...«
»Warum besonders?« ereiferten sich die Bauern: »Was ist der denn für ein großer Herr?... Was ist schon dabei, Vorsitzender zu sein, das kann jeder!...«
»Schluss! Schluss!... einverstanden!... schreib!...« Die Partisanen sprangen von den Plätzen und drängten, ohne auf den Kommandeur zu hören, hinaus.
»Hei-ja... Wanja!...« Ein struppiger, spitznäsiger Kerl stürzte auf Moroska zu und zog ihn, mit den Stiefeln aufstampfend, zum Ausgang. »Du mein allerliebstes Bübchen, Söhnchen, Rotznäschen... hei-ja!...« Zu jedem Wort mit den Stiefeln den Takt schlagend, schob er sich die Mütze übermütig ins Genick und legte Moroska den anderen Arm um den Hals.
»Lass mich, lass mich!« stieß ihn Moroska gutmütig beiseite.
Lewinsohn und Baklanow schritten rasch an ihnen vorüber.
»Na, ein Kerl dieser Dubow«, sagte der Gehilfe, spuckte, da er aufgeregt war, beim Sprechen und gestikulierte heftig. »Gontscharenko und Dubow, die beiden müsste man mal aufeinander hetzen! Wer würde wen, was meinst du wohl?...«
Lewinsohn, der mit etwas anderem beschäftigt war, hörte nicht zu. Weich und locker gab der feuchte, staubige Boden unter ihren Füßen nach.
Unbemerkt war Moroska hinter ihnen zurückgeblieben. Die letzten Bauern hatten ihn schon überholt. Sie sprachen jetzt ruhig, ohne sich zu beeilen, als kämen sie von der Arbeit und nicht von einer Versammlung.
»Der Jud hat's in sich«, sagte einer, allem Anschein nach von Lewinsohn.
Ü ber den Hügel glommen die traulichen Lichter der Hütten auf, sie riefen zum Abendessen. Der Fluss lärmte im Nebel in vielen hundert murmelnden Stimmen.
»Hab' Mischka noch nicht getränkt...«, fuhr Moroska auf, der langsam wieder in das altgewohnte Gleis zurückkehrte.
Mischka, der seinen Herrn witterte, wieherte leise und unzufrieden im Stall, als wollte er ihn fragen: ,Wo treibst du dich denn herum?' Moroska tastete im Dunkeln nach der struppigen Mähne und zog das Pferd aus dem Schuppen.
»Sieh einer an, wie der sich freut«, er stieß Mischkas Kopf zurück, als dieser frech die feuchten Nüstern gegen seinen Hals presste: »Nichts als Sperenzchen machen kannst du, und ich, ich hab's dann auszubaden.«

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