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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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XVI. Der Sumpf

Warja hatte sich am Angriff nicht beteiligt (sie war mit dem Tross in der Taiga geblieben) und kam erst ins Dorf, als sich alle in die Hütten zerstreut hatten. Sie bemerkte, dass die Quartiere regellos belegt worden waren, die Züge lagen durcheinander, keiner wusste, wo der andere sich befand, die Befehle der Kommandeure wurden nicht befolgt - die Abteilung zerfiel gleichsam in einzelne, voneinander unabhängige Teile.
Unterwegs stieß Warja auf den Kadaver des Pferdes von Moroska; was mit ihm selbst geschehen war, konnte ihr aber keiner mit Bestimmtheit sagen. Die einen behaupteten, er sei gefallen, sie hätten das mit eigenen Augen gesehen, andere erklärten, er sei nur verwundet; wieder andere wussten nichts von ihm und drückten schon bei den ersten Worten ihre Freude über den glücklichen Umstand aus, dass sie selber am Leben geblieben waren. All dies zusammen verstärkte nur jenen Zustand der Mutlosigkeit und hoffnungslosen Traurigkeit, in den Warja seit ihrem ergebnislosen Versöhnungsversuch mit Metschik verfallen war.
Durch die unaufhörlichen Zudringlichkeiten, durch den Hunger, durch die eigenen Gedanken und Grübeleien zerquält und zermürbt, hatte sie kaum noch die Kraft, sich im Sattel zu halten; endlich machte sie, den Tränen nahe, Dubow ausfindig, den ersten Menschen, den ihr Anblick aufrichtig erfreute und der sie mit einem grimmig-mitleidigen Lächeln anblickte.
Und als sie sein alt gewordenes, finsteres Gesicht mit dem schmierigen, schwarzen, herabhängenden Schnurrbart erblickte und auch alle übrigen sie umgebenden bekannten, lieben, ungeschlachten Gesichter, diese grau gewordenen, vom Kohlenstaub für alle Zeiten gezeichneten Gesichter, erbebte ihr Herz vor süß-bitterem Schmerz, vor Liebe zu ihnen und vor Mitleid mit sich selbst: sie brachten ihr die Tage ins Gedächtnis, als sie, ein junges naives Mädchen mit üppigen Zöpfen, mit großen traurigen Augen, die Karren in den dunklen, wassertriefenden Stollen schob und sich auf den Tanzabenden vergnügte. Sie hatten sie damals ebenso umringt wie heute, dieselben Gesichter, ebenso begierig und lächerlich.
Seitdem sie sich mit Moroska überworfen hatte, hatte sie sich ihnen ganz entfremdet, und doch waren sie die einzigen, die ihr nahe standen, diese alteingesessenen Kumpels, die vor Zeiten mit ihr gelebt und gearbeitet und ihr den Hof gemacht hatten. ,Wie lange habe ich sie schon nicht gesehen, ich habe sie ganz vergessen... Ach, meine lieben Freunde!...' dachte sie mit Liebe und Reue, ihre Schläfen durchzuckte es so süß, dass sie die Tränen kaum zurückzuhalten vermochte.
Nur Dubow allein war es diesmal gelungen, seinen Zug ordnungsgemäß in nebeneinanderliegenden Hütten unterzubringen. Seine Leute stellten die Wache für das Dorf und halfen Lewinsohn bei der Beschaffung von Proviant. An diesem Tage wurde es irgendwie plötzlich allen klar, was früher in der allgemeinen Begeisterung und im für alle gleichen Alltag verborgen geblieben war, dass sich die ganze Abteilung in der Hauptsache auf den Zug Dubows stützte.
Warja erfuhr, dass Moroska lebe und sogar nicht einmal verwundet sei. Man zeigte ihr sein neues, den Weißen abgenommenes Pferd. Es war ein brauner, langbeiniger Hengst mit kurzgeschorener Mähne und dünnem Hals, was ihm ein sehr unverlässliches, verräterisches Aussehen verlieh; man hatte ihn auch schon »Judas« getauft.
,Er lebt also...', dachte Warja, den Hengst zerstreut anblickend. ,Nun gut, ich bin froh
Nach dem Essen kletterte sie auf den Heuboden, und als sie allein im duftenden Heu lag, im Halbschlaf horchend, ob sich ihr nicht jemand »aus alter Freundschaft« nähere, fiel ihr wieder mit einem, weichen, warmen, traumhaften Gefühl ein, dass Moroska lebe. Mit diesem Gedanken schlief sie ein.
Sie erwachte plötzlich in starker Unruhe, ihre Hände waren zu Eis erstarrt. Undurchdringliche, im Nebel schwankende Nacht drang unter dem Dach ein. Ein kalter Wind ließ das Heu erbeben, raschelte in den Zweigen, rauschte in den Blättern des Gartens...
,Mein Gott, wo ist Moroska? Wo sind alle andern?' dachte Warja erzitternd. ,Soll ich wieder einsam und allein geblieben sein, hier in dieser schwarzen Grube?...' Sie schlüpfte in fieberhafter Eile, zitternd und die Ärmellöcher nicht findend, in ihren Mantel und kroch rasch vom Heuboden hinunter.
Am Tor ragte die Silhouette des Wachtpostens auf.
»Wer hat hier die Wache?« fragte sie, näher kommend. »Kostja ... Weißt du nicht, ob Moroska schon zurück ist?«
»Du hast also auf dem Heuboden geschlafen?« fragte Kostja enttäuscht. »Und ich hab's nicht gewusst! Brauchst nicht auf Moroska zu warten, der bummelt, da geht es hoch her, er hält Totenschmaus für sein Pferd... Es ist kalt, nicht wahr? Gib ein Streichholz...«
Sie suchte die Schachtel hervor, er rauchte an, indem er das Feuer mit seinen großen Händen schützte, dann ließ er das Licht auf sie fallen:
»Du siehst schlecht aus, junge Frau...«, und lächelte.
»Nimm dir die Streichhölzer...«, sie schlug den Mantelkragen hoch und ging durchs Tor hinaus.
»Wo gehst du hin?«
»Ich geh' ihn suchen!«
»Moroska?... Nanu!... Vielleicht könnte ich ihn vertreten?«
»Nein, das wohl kaum...«
»Seit wann denn?«
Sie gab keine Antwort. ,Das ist aber ein Mädel', dachte der Wachtposten.
Es war so finster, dass Warja nur schwer den Weg unterscheiden konnte. Ein feiner Regen rieselte nieder. Die Gärten rauschten immer unruhiger und dumpfer. Irgendwo unter einem Zaun winselte kläglich ein vor Kälte zitternder junger Hund. Warja tastete sich an ihn heran und steckte ihn unter ihren Mantel; er zitterte stark und stieß sie mit der Schnauze. Bei einer der Hütten stieß sie auf einen Posten Kubraks und fragte ihn, ob er nicht wüsste, wo Moroska herumbummelt. Der Bursche schickte sie zur Kirche. Sie durchforschte ergebnislos das halbe Dorf und kehrte ganz betrübt um.
Sie war so oft aus einem Gässchen in ein anderes eingebogen, dass sie den Weg vergessen hatte und jetzt aufs Geratewohl loslief, fast ohne an das Ziel ihrer Wanderung zu denken; sie drückte nur das erwärmte Hündchen fester an die Brust. Es verging wohl eine gute Stunde, bevor sie die Straße fand, die zu ihrem Hause führte. Sie bog in die Straße ein, mit der freien Hand sich an dem geflochtenen Zaun festhaltend, um nicht auszurutschen, und wäre fast schon nach einigen Schritten auf Moroska getreten, der am Wege lag.
Er lag auf dem Bauch, den Kopf zum Zaun gekehrt, die Hände unter den Kopf gelegt und stöhnte leise; offenbar hatte er sich gerade übergeben. Warja hatte ihn nicht so sehr erkannt als gefühlt, dass er es sei; sie fand ihn ja nicht das erste Mal in einem solchen Zustand.
»Wanja!« rief sie, sich neben ihn hinhockend, und legte ihm ihre gütige weiche Hand auf die Schulter. »Warum liegst du hier? Ist dir schlecht, ja?«
Er hob den Kopf, und sie erblickte sein zerquältes, aufgedunsenes, blasses Gesicht. Mitleid ergriff sie, erschien er ihr doch so klein und schwach. Er erkannte sie und lächelte gezwungen. Dann setzte er sich auf, sorgfältig auf seine Bewegungen achtend, lehnte sich an den Zaun und streckte die Füße aus.
»A-ah... sind Sie das?... Meine Hochachtung...«, stammelte er mit schwacher Stimme, sich bemühend, den Ton unbekümmerten Wohlergehens anzuschlagen. »Meine Hochachtung, Genossin... Morosowa...«
»Komm mit mir, Wanja«, sie nahm seine Hand, »oder kannst du nicht?... Warte, wir werden alles gleich erledigen, ich werde anklopfen...«, und sie sprang entschlossen auf, mit der Absicht, in der nächsten Hütte Einlass zu verlangen. Es kamen ihr keinen Augenblick Zweifel darüber, ob es angehe, in finsterer Nacht bei fremden Leuten anzuklopfen, und sie überlegte nicht, was man von ihr selbst denken könnte, wenn sie so mit einem betrunkenen Mann das Haus einrenne; um solche Dinge kümmerte sie sich nie.
Aber Moroska schüttelte plötzlich erschrocken den Kopf und knirschte: »Nein - nein - nein... Ich werde dir geben, anklopfen!... Pst!...« und er schüttelte die Fäuste an den Schläfen. Ihr schien sogar, dass er vor Schreck nüchtern geworden war. »Dort liegt doch Gontscharenko, weißt du denn nicht?... Wie kann man nur...«
»Na, und wenn schon Gontscharenko? Auch ein großer Herr...«
»N-nein, du weißt nicht«, er runzelte wie im Schmerz die Stirne und griff sich an den Kopf, »du weißt ja nicht, wozu denn? Er hat mich ja wie einen Menschen, und ich... wie denn?... N—nein, kann man denn das...«
»Was schwatzt du denn so sinnlos, Lieber«, sagte sie und hockte sich wieder neben ihn. »Sieh mal, es regnet, es ist feucht, morgen geht es wieder weiter, komm, Liebster...«
»Nein, mit mir ist's aus«, sagte er, jetzt schon ganz traurig und nüchtern. »Was bin ich jetzt, wer bin ich, wozu«, und er sah sich plötzlich mit seinen geschwollenen Augen, in denen die Tränen standen, im Kreise um.
Da umarmte sie ihn mit der freien Hand, und mit den Lippen fast seine Wimpern berührend, flüsterte sie ihm zärtlich und beschützend, wie einem Kinde, zu: »Was kränkst du dich so? Was kann dir so weh tun?... Ist's dir um das Pferd leid, ja? Dafür haben sie dir schon ein anderes ausgesucht, so ein braves Pferdchen... Kränk dich nicht, Lieber, weine nicht, schau, was für ein Hündchen ich gefunden habe, schau, was für ein kleines Kerlchen!« und sie zeigte ihm, den Mantel zurückschlagend, das schläfrige Tier mit den Hängeohren. Sie war so gerührt, dass nicht nur ihre Stimme, nein, ihr ganzes Wesen vor Güte zerfloss.
»Ps-ps, Kleines!« sagte Moroska mit trunkener Zärtlichkeit und streichelte plump dem Hündchen die Ohren. »Woher hast du ihn?... Er beißt ja, der Schlingel...«
»Na, siehst du!... Komm, Liebster...«
Es gelang ihr, ihn auf die Beine zu bringen, und so führte sie ihn, durch Zureden von bösen Gedanken ablenkend, bis zum Haus. Er leistete keinen Widerstand, vertraute sich ihr an.
Unterwegs erinnerte er sie kein einziges Mal an Metschik, auch sie erwähnte ihn nicht, als ob niemals zwischen ihnen ein Metschik gestanden hätte. Dann machte Moroska ein finsteres Gesicht, sprach nichts mehr und wurde merklich nüchterner.
So erreichten sie die Hütte, in der Dubow lag.
Moroska versuchte auf den Heuboden zu klettern, indem er sich an den Stufen der Leiter festhielt, aber seine Füße gehorchten nicht.
»Soll ich helfen?« fragte Warja.
»Nein, ich kann schon selbst, Närrin!« antwortete er roh und verlegen.
»Dann leb wohl...«
Er ließ die Leiter los und blickte erschrocken auf.
»Wieso ,leb wohl'?«
»Na, so«, sie lachte gekünstelt und traurig auf.
Er ging plötzlich auf sie zu, umarmte sie ungelenk und schmiegte sich mit seiner rauen Backe an ihr Gesicht. Sie fühlte, dass er sie gerne küssen wollte, und das stimmte auch wirklich, aber er schämte sich, weil die Burschen im Bergwerk selten mit den Mädchen zärtlich waren, sondern eben nur mit ihnen gingen. Während ihres ganzen gemeinsamen Lebens hatte er Warja nur. ein einziges Mal geküsst, am Tage ihrer Hochzeit, als er stark betrunken war und die Hochzeitsgäste ihn aufmunterten.
,Hier ist also das Ende, und alles hat sich zum alten gewendet, als ob überhaupt nichts gewesen wäre', dachte Warja mit Schmerz und Sehnsucht, als der befriedigte Moroska an ihrer Schulter einschlief. ,Wieder der alte Weg, wieder dieselbe Geschichte, und alle wollen dasselbe... Aber, mein Gott, wie wenig Freude macht das!'
Sie drehte Moroska den Rücken zu, schloss die Augen, zog die Beine wie ein Kind an, konnte aber nicht einschlafen... Ferne, hinter dem Dorf, wo die zum Chaunichedsa führende Gemeindelandstraße begann und wo die Wachtposten standen, knatterten drei Signalschüsse... Warja weckte Moroska, und kaum hatte er seinen zottigen Kopf erhoben, krachten schon hinter dem Dorf die Gewehre der Wache, und als Antwort fuhr sofort das Rattern und Heulen des Maschinengewehrschnellfeuers durch die Stille und Finsternis der Nacht...
Moroska winkte finster mit der Hand und kroch hinter Warja vom Heuboden hinab. Der Regen hatte aufgehört, aber der Wind wurde stärker, irgendwo schlug ein Fensterladen, und nasse, gelbe Blätter flatterten im Nebel. In den Hütten wurde Licht gemacht. Der Wachthabende lief rufend durch die Straßen und klopfte an die Fenster.
In den wenigen Minuten, während Moroska zum Stall lief und seinen »Judas« herausführte, durchlebte er noch einmal alles, was gestern mit ihm vorgefallen war. Sein Herz krampfte sich zusammen beim Gedanken an den toten Mischka mit den starren Augen, und er erinnerte sich auf einmal voller Ekel und Angst an sein ganzes gestriges unwürdiges Benehmen; er war betrunken durch die Straßen gelaufen, und alle hatten ihn gesehen, ihn, den betrunkenen Partisanen, und er hatte schamlose Lieder gebrüllt, dass das ganze Dorf es hören mußte. Mit ihm war Metschik, sein Feind, gewesen. Sie hatten zusammen gebummelt, wie ein Herz und eine Seele, und er, Moroska, hatte ihm Liebe geschworen und ihn um Verzeihung gebeten. - ,Warum? Wofür?...' Er empfand jetzt die ganze Verlogenheit seines Verhaltens. Was wird Lewinsohn dazu sagen? Und kann man wirklich nach einem solchen Skandal Gontscharenko unter die Augen treten?
Die meisten seiner Kameraden hatten schon ihre Pferde gesattelt und führten sie zum Tore hinaus, aber bei ihm war nichts in Ordnung: der Sattelgurt war nicht da, und das Gewehr war bei Gontscharenko in der Hütte geblieben.
»Timofej, Freund, hilf mir aus!...« bat Moroska mit kläglicher, fast weinender Stimme Dubow, der über den Hof lief. »Gib mir einen übrigen Sattelgurt, du hast einen, ich hab's gesehen...«
»Was?!!« brüllte ihn Dubow an. »Und wo warst du bisher?...« und wütend fluchend, die Pferde auseinanderstoßend, dass sie sich aufbäumten, bahnte er sich den Weg zu seinem Pferd, um den Sattelgurt zu holen. »Da!...« sagte er zornig, kurz darauf zu Moroska kommend und ihm plötzlich aus aller Kraft mit dem Sattelgurt eins überziehend.
,Freilich, jetzt kann er mich schlagen, ich hab's verdient', dachte Moroska und muckste nicht; er empfand keinen Schmerz. Aber die Welt schien ihm jetzt noch düsterer. Und diese Schüsse, die im Nebel knatterten, diese Finsternis, das Schicksal, das hinter der Umfriedung seiner harrte, all das schien ihm eine gerechte Strafe für das, was er im Leben begangen hatte.
Während der Zug sich sammelte und aufstellte, erweiterte sich das Feuergefecht im Halbkreis bis zum Flusse hinab, die Minenwerfer erdröhnten, und hellblinkende, klirrende Fische schwirrten über dem Dorf. Baklanow rannte, den Mantel umgehängt, mit dem Revolver in der Hand, zum Tor und schrie:
»Absitzen!... Ausrichten in einem Glied!... Zwanzig Mann lässt du bei den Pferden«, sagte er zu Dubow.
»Mir nach! Laufschritt!...« schrie er nach einigen Minuten und stürmte irgendwohin in das Dunkel. Die Schützenkette lief ihm nach, im Laufe die Mäntel zusammenschlagend und die Patronentaschen aufknöpfend.
Unterwegs trafen sie die fliehenden Wachtposten.
»Die sind dort ungeheuer stark!« schrieen sie, in ihrer Panik mit den Händen fuchtelnd.
Eine Geschützsalve donnerte, die Geschosse barsten mitten im Dorf, ein Stück Himmel, den krummgeschossenen Glockenturm, den im Tau glänzenden Garten des Popen einen Augenblick erleuchtend. Dann wurde der Himmel noch dunkler. Die Geschosse platzten jetzt eines nach dem andern in kurzen, gleichmäßigen Abständen. Irgendwo abseits sprang eine Flamme auf, ein Heuschober oder Haus hatte Feuer gefangen.
Baklanow sollte den Feind so lange aufhalten, bis Lewinsohn die im ganzen Dorf zerstreute Abteilung gesammelt hatte. Aber Baklanow gelang es nicht einmal, seinen Zug bis zur Dorfweide zu führen: im Lichte der platzenden Bomben erblickte er die ihm entgegenstürmende Kette der Feinde. Die Richtung der Schüsse und der Pfiff der Kugeln zeigten ihm an, dass der Feind sie vom linken Flügel, vom Fluss aus umgangen hatte und jeden Augenblick vom andern Ende in das Dorf einrücken konnte.
Der Zug erwiderte das Feuer und zog sich schräg nach der rechten Ecke zurück, laufend, sich niederwerfend, wieder laufend und in den Seitengassen und den Gemüsegärten manövrierend. Baklanow horchte auf die Kanonade am Fluss, sie verschob sich nach der Mitte hin; offenbar war jene Seite schon vom Feind besetzt. Plötzlich stürmte mit furchtbarem Geschrei die feindliche Kavallerie von der Hauptstraße her vorbei, man sah die dunkle, polternde, vielköpfige Lawine von Menschen und Pferden sich ungestüm die Straße lang ergießen.
Baklanow kümmerte sich nicht mehr um das Aufhalten des Feindes und rannte mit seinem Zug, der ein Dutzend Leute verloren hatte, zum noch freien Geländekeil in der Richtung des Waldes. Fast schon am Abhang der kleinen Vertiefung, wo die letzte Reihe von Hütten sich hinzog, stießen sie auf die Abteilung, die mit Lewinsohn an der Spitze auf sie wartete. Sie war merklich zusammengeschmolzen.
»Da sind sie«, sagte Lewinsohn erleichtert. »Rasch aufsitzen!«
Sie saßen auf und sprengten im Galopp zum Wald, der schwarz in der Talsenke lag. Man hatte sie offenbar bemerkt, die Maschinengewehre knatterten ihnen nach, und über ihren Köpfen flogen bleierne, nächtliche Hummeln. Dröhnende Feuerfische schwirrten wieder am Himmel. Sie tauchten von ihrer Höhe hinab, ihre funkelnden Schwänze zerflossen, sie bohrten sich mit lautem Zischen vor den Füßen der Pferde in den Boden. Die Pferde scheuten, hoben ihre heißen blutigen Mäuler in die Höhe und schrieen wie Weiber - die Abteilung schloss die Reihen und ließ eine wimmelnde Masse von Leibern hinter sich.
Als Lewinsohn sich umsah, erblickte er den Schein einer großen Feuersbrunst, der über dem Dorfe lag; es brannte ein ganzes Viertel, und vor diesem feurigen Hintergrund liefen einzeln und gruppenweise kleine, schwarze Gestalten mit feurigen Gesichtern. Staschinskij, der neben ihm ritt, kippte plötzlich vom Pferd, das ihn noch einige Augenblicke mitschleifte - sein Fuß hatte sich im Steigbügel verfangen -, dann blieb er liegen und das Pferd galoppierte weiter. Die ganze Abteilung wich aus, um den toten Körper nicht zu treten.
»Lewinsohn, schau!« schrie Baklanow erregt und wies mit der Hand nach rechts.
Die Abteilung hatte schon die Senke erreicht und näherte sich rasch dem Wald, oben aber sprengte, an der Schnittlinie des schwarzen Feldes und des Himmels sichtbar werdend, die feindliche Kavallerie dahin, um ihnen den Weg abzuschneiden. Die Pferde, ihre vorgestreckten schwarzen Köpfe, und die über sie gebeugten Reiter hoben sich einen Augenblick von dem helleren Hintergrund des Himmels ab und verschwanden sogleich in der Richtung der Talsenke im Dunkel.
»Rasch!... Rasch!...« schrie Lewinsohn, sich fortwährend umblickend und seinem Hengst die Sporen gebend.
Endlich erreichten sie den Waldrand und saßen ab. Baklanow blieb mit dem Zug Dubows wieder zurück, um den Rückzug zu decken, die anderen verschwanden im Wald, ihre Pferde am Zügel führend.
Im Wald war es stiller und ruhiger: das Rattern der Maschinengewehre, das Knattern der Gewehre, die Salven der Geschütze blieben zurück und schienen bereits nebensächlich und die Ruhe des Waldes in keiner Weise zu berühren. Man hörte nur zuweilen, wie irgendwo in der Tiefe die Geschosse mit Gepolter niedergingen und die Bäume zersplitterten. An einigen Stellen drang der Feuerschein in das Dickicht ein und warf trübe, kupferfarbene, an den Rändern dunkel verlaufende Lichtflecke auf die Erde und auf die Stämme der Bäume, und das die Stämme bedeckende feuchte Moos sah wie blutdurchtränkt aus.
Lewinsohn übergab Jefimka sein Pferd und ließ Kubrak vorgehen, ihm die Richtung weisend, die er einschlagen sollte (er wählte diese Richtung, weil er der Abteilung irgendeine Richtung unbedingt angeben musste), und stellte sich selbst abseits, um zu sehen, wie viel Leute ihm überhaupt übrig geblieben waren.
Sie gingen an ihm vorbei, diese Leute, niedergeschlagen, nass und erbost, knickten schwerfällig in den Knien und blickten angestrengt in die Dunkelheit; unter ihren Tritten spritzte das Wasser auf. Zuweilen versanken die Pferde bis an den Bauch, denn der Boden war sehr glitschig. Besonders schwer hatten es die Leute aus dem Zug Dubows, von denen jeder drei Pferde führen musste, nur Warja führte bloß zwei, ihr eigenes und Moroskas. Und hinter diesem ganzen Zug abgequälter Menschen wand sich in der Taiga eine schmutzige, übel riechende Spur dahin, als ob ein stinkendes, unreines Reptil entlanggekrochen wäre.
Lewinsohn ging, auf beiden Füßen hinkend, hinter allen anderen. Plötzlich machte die Abteilung halt...
»Was ist dort los?« fragte er.
»Ich weiß nicht«, antwortete der Partisane, der vor ihm ging. Es war Metschik.
»Frag vorne an...«
Nach einiger Zeit kam die Antwort, von vielen erbleichenden Lippen weitergegeben:
»Wir können nicht weiter, dort ist Sumpf...«
Ein plötzliches Zittern in den Beinen überwindend, lief Lewinsohn zu Kubrak vor. Kaum war er hinter den Bäumen verschwunden, stürzte die ganze Masse zurück und rannte durcheinander in allen Richtungen. Doch überall verlegte der sich hinziehende, finstere, ungangbare Sumpf den Weg. Nur ein Weg führte von dort, das war der eben von ihnen begangene, auf dem sich der Zug der Kumpels tapfer durchkämpfte. Doch das vom Waldrand hörbare Krachen der Schüsse schien nicht mehr etwas Nebensächliches, es bezog sich jetzt unmittelbar auf sie, und es war, als ob diese Schüsse ihnen jetzt fortwährend näher kämen.
Verzweiflung und Wut packte die Leute. Sie suchten einen Schuldigen an ihrem Unglück! Natürlich, der Schuldige war niemand anders als Lewinsohn... Hätten sie ihn jetzt alle zugleich sehen können, sie hätten sich mit der ganzen Wucht ihrer Angst auf ihn gestürzt; soll er sie doch jetzt von hier herausführen, wenn er sie hereingeführt hat!...
Da erschien er plötzlich selber vor ihnen, mitten im Menschengewirr, in der Hand eine brennende Fackel haltend, die sein totenbleiches, bärtiges Gesicht mit den zusammengebissenen Zähnen beleuchtete. Mit großen, brennenden, runden Augen blickte er rasch von einem Gesicht zum anderen. Und durch die entstandene Stille, die nur von den Lauten des dort am Waldrand sich entspinnenden tödlichen Spieles unterbrochen wurde, drang für alle hörbar, nervös und scharf seine hohe, heisere Stimme:
»Wer tritt dort aus der Reihe?... Zurück!... Keine Panik... Ruhe da!« schrie er plötzlich, wie ein Wolf die Zähne fletschend, und zog seine Mauserpistole. Die protestierenden Rufe erstarben sofort auf aller Lippen. »Abteilung! Achtung! Wir überdämmen den Sumpf, einen anderen Ausweg haben wir nicht... Borissow (das war der neue Zugführer des dritten Zuges), lass die Leute, die die Pferde führen, zurück und eile Baklanow zu Hilfe! Sag ihm, er soll sich so lange halten, bis ich den Befehl zum Rückzug gebe... Kubrak! Drei Leute für die Verbindung mit Baklanow bestimmen... Achtung, alle! Bindet die Pferde an! Zwei Gruppen holen Reisig! Die Säbel nicht geschont!... Alle übrigen -zur Verfügung Kubraks. Seinen Befehlen unbedingt Folge leisten. Kubrak! Mir nach!...« Er wandte den Leuten den Rücken und ging gebückt auf den Sumpf zu, die schwelende Fackel über dem Kopf haltend.
Und die verstummte, niedergeschlagene, in einen Haufen sich zusammendrängende Masse, die eben noch in Verzweiflung die Hände erhoben hatte und bereit gewesen war, zu weinen oder zu töten, geriet plötzlich in eine unmenschlich rasche, gehorsame, eifrige Bewegung. Im Nu waren die Pferde angebunden, die Äxte dröhnten, der Erlenwald krachte unter den Schlägen der Degen. Als der Zug Borissows, im Nebel mit den Waffen klirrend, mit den Stiefeln im Schlamm schmatzend, zurücklief, kam man ihm schon mit den ersten Bündeln nasser Zweige entgegen... Man hörte das Krachen fallenden Holzes, riesiges verzweigtes Geäst klatschte pfeifend in etwas Weiches und Unheilvolles. Beim Lichte der Harzfackeln sah man, wie die dunkelgrüne, mit Wasserlinsen bewachsene Oberfläche pralle Wellen schlug, wie der Körper einer Riesenschlange.
Dort im Wasser, im Schlamm, im Verderben, wimmelte es von Leuten, die sich am Gestrüpp festhielten - die rauchende Flamme der Fackeln hob ihre verzerrten Gesichter, ihre gekrümmten Rücken, das ungeheure Gewirr von Zweigen aus der Finsternis heraus. Sie hatten zur Arbeit ihre Mäntel abgeworfen, und durch die zerrissenen Hemden und Hosen schimmerten ihre angespannten, verschwitzten, bis aufs Blut zerschundenen Leiber durch. Sie hatten jedes Gefühl von Zeit und Raum verloren, jedes Gefühl des eigenen Körpers, der Scham, des Schmerzes, der Müdigkeit. Sie schöpften in ihren Mützen das Sumpfwasser, das nach Froschlaich stank, und tranken es eilig, gierig, wie verwundete Tiere...
Das Feuer kam immer näher und näher, wurde immer hörbarer und häufiger. Baklanow schickte einen Mann nach dem anderen und ließ fragen: noch lange? bald?... Er verlor die Hälfte seiner Kämpfer, verlor Dubow, der an seinen zahlreichen Wunden verbluten musste, und zog sich langsam zurück, jede Handbreit Boden verteidigend. Endlich erreichte er das Gestrüpp, das für den Damm geschnitten wurde, ein weiteres Zurück gab es nicht mehr. Die feindlichen Kugeln strichen jetzt dicht über den Sumpf. Einige der Arbeitenden waren schon verwundet, Warja legte ihnen Verbände an. Die Pferde wieherten laut, von den Schüssen verängstigt, und bäumten sich, einige rissen ihre Halfter ab und rannten los, fielen in den Sumpf und schrieen kläglich wie um Hilfe.
Dann erfuhren die Partisanen, die sich im Weidengestrüpp eingenistet hatten, dass der Damm fertig sei und wollten die Flucht ergreifen. Baklanow lief ihnen mit eingefallenen Wangen, entzündeten Augen, mit von Pulverrauch geschwärztem Gesicht nach, drohte ihnen mit seiner leergeschossenen Pistole und weinte vor Wut.
Schreiend, mit den Waffen und Fackeln fuchtelnd, die widerstrebenden Pferde hinter sich herzerrend, stürzte sich die ganze Abteilung fast gleichzeitig auf den Damm. Die aufgeregten Pferde gehorchten ihren Führern nicht und schlugen wie im Anfall um sich; die hinteren stiegen toll vor Angst auf die vorderen; der Damm knirschte und begann sich aufzulösen. Beim Übergang auf das gegenüberliegende Ufer glitt das Pferd Metschiks vom Damm ab und wurde unter wüstem, unflätigem Geschimpfe mit Stricken herausgezerrt. Metsdiik klammerte sich krampfhaft an das schlüpfrige Seil, das von dem wilden Zerren des Pferdes in seinen Händen zitterte, und zog, zog, sich mit den Füßen im schlammigen Gezweig verfangend. Und als das Pferd endlich herausgezogen war, konnte er lange den Knoten nicht lösen, der sich um dessen Vorderbeine geschlungen hatte, und mit grimmiger Genugtuung biss er sich an diesem bitteren, vom Geruch des Sumpfes und von einem ekelhaften Schleim durchtränkten Knoten fest...
Als letzte überschritten Lewinsohn und Gontscharenko den Damm.
Der Mineur konnte noch rechtzeitig eine Sprengladung legen, und fast im selben Augenblick, als der Gegner den Übergang erreichte, flog der Damm in die Luft...
Nach einiger Zeit kamen die Menschen zu sich und begriffen, dass es Morgen geworden war. Glitzernd lag die Taiga vor ihnen im rosafarbenen Reif. Zwischen den Bäumen schimmerten helle
Flecken blauen Himmels durch, man spürte, dass dort hinter dem Wald die Sonne aufging. Die Leute warfen die heißen Fackelstümpfe, die sie bis dahin aus irgendeinem Grunde in den Händen behalten hatten, fort und erblickten ihre eigenen roten, zerschundenen Hände, die nassen, abgequälten Pferde, von denen ein dünner verwehender Dampf aufstieg, und staunten darüber, was sie in dieser Nacht vollbracht hatten.

 

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