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Alexander Fadejew - Die Neunzehn (1925)
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IV. Einsam

Die Ankunft Moroskas störte das seelische Gleichgewicht, das sich Metschiks unter dem Einfluss des gleichmäßigen, ruhigen Lazarettlebens bemächtigt hatte.
,Warum hat er mich so verächtlich angeschaut?' dachte Metschik, als die Ordonnanz fortgeritten war. ,Schön, er hat mich aus dem Feuer herausgeholt, aber gibt ihm das ein Recht, sich über mich lustig zu machen? Und alle, vor allem... alle...' Er schaute auf seine dünnen, abgemagerten Finger, seine geschienten Beine unter der Decke, alte, verdrängte Kränkungen flammten in ihm mit neuer Gewalt auf, und seine Seele krampfte sich in Verwirrung und Schmerz zusammen.
Seitdem ihn der Bursche mit den stechenden Distelaugen und dem spitzen Gesicht feindselig und roh am Kragen gepackt hatte, begegneten alle Metschik mit hämischem Lächeln, niemand wollte ihm helfen, niemand das, was ihn kränkte, begreifen. Selbst im Lazarett, wo die Taigastille Liebe und Frieden atmete, waren die
Menschen nur deshalb gut zu ihm, weil es zu ihren Obliegenheiten gehörte. Das Allerschwerste, das Allerbitterste aber war für Metschik das Gefühl, so einsam zu sein - sein Blut war doch auch irgendwo auf einem Gerstenfelde geflossen.
Es zog ihn zu Pika, aber der Alte schlief friedlich auf dem ausgebreiteten Kittel unter einem Baum am Waldesrand, der Kopf ruhte auf seiner weichen Mütze. Von der runden, glänzenden kleinen Glatze aus liefen nach allen Richtungen wie Strahlen feine silberne Härchen. Zwei Burschen - der eine mit verbundener Hand, der andere hinkend - kamen aus der Taiga. Bei dem Alten angelangt, zwinkerten sie einander verschmitzt zu. Der Lahme griff nach einem Strohhalm und kitzelte damit, die Brauen hochgezogen, als müsste er selber niesen, Pikas Nase. Pika brummelte im Schlaf, zuckte mit der Nase, bewegte mehrmals abwehrend die Hand und nieste endlich zum allgemeinen Vergnügen. Beide Burschen platzten los und liefen, in geduckter Haltung, wie Schulbuben schuldbewusst um sich blickend, zur Baracke, der eine mit behutsam angezogener Hand, der andere sein krankes Bein nachziehend.
»He du, Gehilfe des Todes!« rief der erste, als er auf dem Bänkchen vor dem Hause Chartschenko und Warja erblickte. »Was tätschelst du unsere Weiber?... Nun, mein Lieber, nun, lass mich auch mal probieren...«, brummte er mit öliger Stimme, setzte sich daneben und umfasste die »Schwester« mit dem gesunden Arm. »Wir lieben dich, du bist unsere Einzige, aber diesen Neger hier, jag ihn, jag ihn zum Teufel, jag ihn, diesen Hundesohn.'...« Er bemühte sich, mit der einen Hand Chartschenko wegzustoßen, aber der Sanitäter schmiegte sich von der anderen Seite dicht an Warja und fletschte die regelmäßigen, vom Tabak gelben Zähne.
»Und wo soll denn ich mich ankuscheln?« winselte der Lahme. »Was soll denn das bedeuten, wo ist denn da die Gerechtigkeit, und ehrt man etwa so Verwundete? Was meint ihr dazu, Genossen, werte Mitbürger?« schnarrte er wie ein aufgezogenes Uhrwerk, zwinkerte mit den feuchten Lidern und fuchtelte mit den Händen in der Luft herum.
Sein Begleiter wehrte sich, um ihn fernzuhalten, mit den Beinen, der Sanitäter aber lachte unnatürlich laut, während er sich heimlich unter Warjas Bluse zu schaffen machte. Sie blickte müde und ergeben drein und machte keine Anstalten, Chartschenkos Hand wegzuschieben. Als sie jedoch plötzlich Metschiks verwirrten Blick auffing, sprang sie, die Bluse zuknöpfend, hoch und wurde rot wie eine Pfingstrose.
»Kriechen wie die Fliegen auf den Honig, die verfluchten Köter!...« sagte sie wütend und lief, mit gesenktem Kopf, in die Baracke. An der Tür klemmte sie sich den Rock ein, riss ihn dann ärgerlich heraus und schlug die Tür von neuem so heftig zu, dass das Moos aus den Ritzen fiel.
»Na, das ist mir eine Schwester!...« rief näselnd der Lahme. Er verzog das Gesicht, als nähme er eine Prise, und kicherte leise, hämisch und gemein.
Und hinter dem Ahorn, von einem Feldbett her, auf einen Berg aus vier Matratzen gelagert, blickte mit zum Himmel gerichtetem gelbem, krankhaft verzehrtem Antlitz fremd und streng der verwundete Partisan Frolow. Sein Blick war matt und leer wie bei Toten. Frolows Verwundung war hoffnungslos, und das war ihm seit dem Augenblick klar, da er sich vor tödlichem Schmerz auf dem Boden wälzte, während sich der über ihm wölbende Himmel in seinen Augen widerspiegelte. Metschik fühlte den unbeweglichen Blick Frolows und wandte sich erschauernd ab.
»Die Jungens... treiben Unfug...«, sagte heiser Frolow und bewegte einen Finger, wie um jemandem zu beweisen, dass er noch lebe.
Metschik tat, als hörte er nicht.
Und obschon Frolow längst nicht mehr an ihn dachte, fürchtete Metschik noch lange, seinem Blick zu begegnen. Ihm war, als stiere der Verwundete noch immer mit einem knöchernen Lächeln.
Aus der Baracke trat, in linkisch gekrümmter Haltung, der Arzt Staschinskij. Doch plötzlich richtete er sich hoch, einem langen aufklappbaren Taschenmesser gleich, schier rätselhaft, wie er sich hatte überhaupt so krümmen können. Mit langen Schritten steuerte er auf die Burschen zu und blieb, völlig vergessend, was er von ihnen wollte, mit dem einen Auge zuckend, erstaunt stehen...
»Eine Hitze«, brummte er endlich und fuhr sich mit der Hand über den geschorenen Kopf. Eigentlich war er herausgekommen, um zu sagen, dass es nicht gut sei, einen Menschen zu belästigen, der ja nicht einem jeden die Mutter und die Frau ersetzen könne.
»Langweilig, so herumzuliegen, was?« fragte er, sich an Metschik wendend, und legte ihm seine trockene, heiße Hand auf die Stirn.
Metschik war ganz gerührt von dieser unerwarteten Teilnahme.
»Mir langweilig?... Ich werde wieder gesund und geh' fort von hier«, antwortete er, leicht bebend, »aber was wird mit Ihnen?... Ewig hier im Wald.«
»Und wenn es nun sein muss?...«
»Was denn?« erwiderte Metschik verständnislos.
»Dass ich im Wald bleibe...« Staschinskij zog seine Hand zurück und seine glänzenden, schwarzen Augen blickten zum ersten Mal mit menschlicher Neugier Metschik gerade ins Gesicht. Sie schienen aus weiter Ferne zu kommen, als hätten sie die ganze unaussprechliche Sehnsucht nach Menschen in sich aufgesogen, die die Einsamen in den langen Nächten an den blauenden Feuern von Sichote-Alin in der Taiga verzehrt.
»Ich verstehe«, sagte Metschik traurig und lächelte ebenso traurig und verträumt. »War's denn nicht möglich, sich im Dorfe einzurichten?... Ich meine natürlich nicht Sie persönlich, sondern das Lazarett«, verbesserte er sich hastig, auf einen befremdenden Blick Staschinskijs hin.
»Gefahrloser ist's hier... Aus welcher Gegend sind Sie denn?«
»Ich bin aus der Stadt.«
»Schon lange?...«
»Ja, schon über einen Monat.«
»Kennen Sie Kreiselmann?« fragte etwas lebhafter Staschinskij.
»Ja, flüchtig...«
»Nun, wie geht's ihm dort? Und wen kennen Sie noch?«
Der Doktor zuckte heftiger mit dem Auge und setzte sich so unvermittelt auf einen Baumstumpf, als hätte ihm jemand hinterrücks einen Schlag in die Kniekehlen versetzt.
»Den Wonsik kenne ich, den Jefremow...«, begann Metschik, aufzählend, »Gurjew, Fränkel, nicht den mit der Brille, den kenne ich nicht, sondern den kleinen...«
»Aber das sind doch alles ,Maximalisten'!« verwunderte sich Staschinskij. »Woher kennen Sie die?«
»Ich bin doch mit ihnen immer...«, murmelte Metschik unsicher, irgendwie zaghaft.
»Ah, ha...«, wollte Staschinskij anscheinend sagen, schluckte es aber hinunter.
»Schöne Sache«, brummte er trocken mit fremder Stimme und stand auf. »Na also... gute Besserung...«, fügte er dann hinzu, ohne Metschik anzusehen. Und als fürchte er, dass jener ihn zurückrufen könnte, schritt er schnell auf die Baracke zu.
»Die Wassjutina kenne ich auch!...« rief Metschik ihm nach, als versuche er, sich noch an etwas zu klammern.
»Ja... ja...«, wiederholte Staschinskij einige Male, sich halb umwendend und seine Schritte beschleunigend.
Metschik begriff, dass er einen Fehler gemacht hatte, krümmte sich zusammen und wurde rot.
Plötzlich stürzten alle Ereignisse des letzten Monats auf ihn ein, er machte eine letzte Anstrengung, sich an irgend etwas zu klammern, doch das misslang ihm. Seine Lippen erbebten, und heftig schluckend versuchte er, die aufsteigenden Tränen zurückzuhalten. Jedoch er vermochte nicht, ihrer Herr zu werden, und sie perlten in großen dichten Tropfen über sein Gesicht. Schließlich konnte er sich nicht mehr beherrschen, zog die Decke über die Ohren und weinte leise, leise, bemüht, nicht zu zittern und nicht laut zu schluchzen, damit niemand seine Schwäche bemerke.
Lange und untröstlich weinte er, und seine Gedanken waren salzig und stumpf wie seine Tränen. Als er sich beruhigt hatte, lag er mit bedecktem Gesicht unbeweglich da. Einige Male trat Warja an sein Bett. Er kannte sehr wohl ihren festen Schritt, es war, als ob die »Schwester« sich verpflichtet habe, eine vollbeladene Lore bis zu ihrem Tode vor sich herzuschieben. Sie stand eine Weile unschlüssig da, ging dann aber immer wieder fort. Schließlich kam Pika angehumpelt.
»Schläfst du?« fragte er zärtlich.
Metschik stellte sich schlafend. Pika wartete ein wenig. Über der Decke hörte man die Abendmücken surren.
»Nun, so schlaf...«
Als es schon dunkel war, traten von neuem zwei an sein Lager, Warja und noch jemand. Vorsichtig hoben sie das Feldbett und trugen ihn in die Baracke. Dort war es heiß und feucht.
»Geh... geh... geh zu Frolow... ich komme gleich«, sagte Warja zu dem zweiten.
Sie stand einige Sekunden über das Bett gebeugt und fragte, indem sie vorsichtig die Decke hob:
»Was hast du, Pawluscha?... Ist dir nicht gut?...«
Sie hatte ihn zum ersten Mal Pawluscha genannt.
Metschik konnte sie im Dunkel nicht erkennen, spürte aber ihre Gegenwart ebenso deutlich, wie er fühlte, dass sie ganz allein in der Baracke waren.
»Mir ist nicht gut...«, presste er wehmütig hervor.
»Tun dir die Beine weh?...«
»Nein, nur so...«
Sie beugte sich blitzschnell über ihn, und sich fest mit ihren starken weichen Brüsten an ihn schmiegend, küsste sie ihn auf den Mund.

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