I. Moroska
Klirrend den zerbeulten japanischen Säbel über die Stufen schleifend, trat Lewinsohn auf den Hof. Von den Feldern her wehte der Honigduft des Buchweizens. In heißen, rosigweißen Dunst gehüllt, schwebte die Julisonne am Himmel.
Moroska, die Ordonnanz, war gerade damit beschäftigt, Hafer auf einer Zeltbahn zu trocknen, und musste dabei die wild gewordenen Perlhühner mit der Reitgerte vertreiben.
»Bring das zur Abteilung Schaldybas«, sagte Lewinsohn, und reichte ihm einen Brief, »sag ihm auch,... nein, ist übrigens nicht nötig, hier steht alles drin.«
Moroska wandte unzufrieden den Kopf und spielte mit der Reitgerte. Er hatte gar keine Lust, sich aufzumachen. Wie langweilten ihn die ewigen dienstlichen Ritte, die unnützen Briefe, besonders aber Lewinsohns abwesende Augen. Groß und tief wie Seen sogen sie Moroska mitsamt seinen Stiefeln in sich ein und sahen in ihm gar manches, wovon vielleicht Moroska selbst nichts wusste.
,Spitzbube', dachte die Ordonnanz, gekränkt blinzelnd, und zog sogleich gewohnheitsmäßig den Schluss: ,Alle Juden sind Spitzbuben.'
»Was stehst du noch herum?« fuhr Lewinsohn auf.
»Nun ja doch, Genosse Kommandeur, ist was zu erledigen,
muss immer Moroska 'ran. Als ob's in der Abteilung keinen andern gäbe ... «
Moroska hatte absichtlich »Genosse Kommandeur« gesagt, damit es offizieller klänge: gewöhnlich nannte er ihn einfach beim Namen.
»Soll ich etwa selber hinreiten, was?« fragte Lewinsohn bissig.
»Warum selber? Sind doch Leute genug da...«
Lewinsohn steckte den Brief in die Tasche mit der entschlossenen Miene eines Menschen, der alle friedlichen Möglichkeiten erschöpft sieht.
»Gib dem Wirtschaftsleiter dein Gewehr ab«, erwiderte er mit unheimlicher Ruhe, »und dann mach schleunigst, dass du fortkommst. Undisziplinierte Menschen kann ich nicht brauchen...«
Vom Fluss her zauste der Wind liebkosend Moroskas widerspenstige Locken. Aus dem von der Hitze welken Wermut um den Schuppen tönte das Zirpen der unermüdlichen Grillen durch die sengende Luft.
»Warte...«, brummte Moroska mürrisch. »Gib mir den Brief...«
Indem er ihn zwischen Hemd und Brust versteckte, sagte er, weniger zu Lewinsohn als zu sich selbst:
»Die Abteilung kann ich nicht verlassen und das Gewehr abgeben erst recht nicht.« Er schob die verstaubte Mütze ins Genick und setzte mit voller, plötzlich fröhlich gewordener Stimme hinzu: »... denn nicht wegen deiner schönen Augen, Freundchen Lewinsohn, haben wir den ganzen Brei angerührt. Das sag' ich dir offen, auf Kumpelart.«
»Das will ich meinen«, lachte der Kommandeur, »aber erst musst du Faxen machen... Schafskopf du.«
Moroska fasste Lewinsohn an einem Knopf, zog ihn zu sich heran und flüsterte geheimnisvoll:
»Hatte mich, Freundchen, ja schon ganz und gar zurechtgemacht, zur Warjucha ins Lazarett zu gehen, da kommst du mit deinem Brief. Stellt sich also 'raus, dass du selbst der Schafskopf bist.«
Er zwinkerte listig mit den grünlichbraunen Augen und prustete los. Und auch jetzt noch, als er von seiner Frau sprach,
klangen jene zotigen Untertöne durch sein Lachen, die wie Schimmel im Laufe der Jahre hineingewachsen waren.
»Timoscha«, rief Lewinsohn einem ganz stier aussehenden Burschen zu, »komm, pass auf den Hafer auf: Moroska muss fort.«
Vor den Stallungen saß auf einem umgekippten Trog der Mineur Gontscharenko und flickte lederne Packtaschen. Prall brannte ihm die Sonne auf den bloßen Kopf; die Strähnen seines feuerroten Bartes waren fest verknotet wie Filz. Das stahlharte Gesicht über die Taschen geneigt, hantierte er breitspurig mit der Ahle wie mit einer Heugabel. Gleich Mühlsteinen mahlten unter dem groben Leinen seine mächtigen Schulterblätter.
»Reitest wieder los?« fragte der Mineur.
»Zu Befehl.' Euer Wohlgeboren.«
Moroska stand stramm und salutierte, die Hand an einen ungebührlichen Ort führend.
»Rührt euch!« sagte herablassend Gontscharenko, »war auch so ein Narr. In welcher Angelegenheit schickt man dich?«
»Pah, nicht der Rede wert: die Knochen rühren, hat der Kommandeur befohlen. Sonst kriegst du mir noch Kinder, sagt er.«
»Dummkopf...«, brummte der Mineur, einen Pechdraht mit den Zähnen zerbeißend, »alte Quasselstrippe.«
Moroska führte sein Pferd aus dem Stall. Der starkmähnige Hengst spitzte aufmerksam die Ohren. Er war ein kräftiger, zottiger Traber und glich seinem Herrn: dieselben klaren, grünlichbraunen Augen, ebenso gedrungen und krummbeinig, so primitiv-schlau und durchtrieben.
»Mischka-a... uh... uh... Teufel du«, knurrte Moroska liebevoll, während er die Gurte anzog, »Mischka-a... uh... uh... Gott, du armes Luder, du...«
»Wenn man's so recht überlegt, wer von euch der klügere ist«, sagte ernst der Mineur, »so müsste Mischka auf dir reiten, nicht du auf ihm, bei Gott.«
Moroska sprengte im Galopp aus der Umzäunung.
Der von Gras und Gestrüpp überwucherte Weg lief den Fluss entlang. Dahinter dehnten sich, sonnenüberflutet, Buchweizen -und Gerstenfelder. Im warmen Schleier wiegten sich die blauen Gipfel des Höhenzuges von Sichote-Alin.
Moroska war Kumpel in der zweiten Generation. Sein Großvater, zerfallen mit seinem Gott und den Menschen, hatte noch den Boden gepflügt, der Vater vertauschte die Schwarzerde mit der Kohle.
Moroska kam in einer dunklen Baracke zur Welt, beim Schacht Nr. 2, als die schrille Sirene gerade die Frühschicht zur Arbeit rief.
»Ein Sohn?« fragte der Vater nochmals, als der Bergwerkarzt aus der Kammer herauskam und ihm mitteilte, dass ihm eben ein Sohn geboren sei und niemand anders.
»Der vierte also...«, zählte der Vater ergeben nach. »Ein lustiges Leben...«
Dann zwängte er sich in den von Kohle geschwärzten Rock und ging zur Arbeit.
Mit zwölf Jahren lernte Moroska mit der Sirene aufstehen, die Hunde schieben, die unnützen und dabei meist wüsten Flüche ausstoßen und Wodka trinken. Kneipen gab es ums Sutschaner Bergwerk herum soviel wie Unkraut.
Zweihundert Meter vom Schacht endete die Schlucht und erhoben sich kleine, runde Hügel. Streng blickten von hier aus moosbewachsene stämmige Tannen auf die Siedlung herab. An graunebligen Morgen konnte man die Taiga-Elche mit den Werksirenen um die Wette schreien hören. In den blauen Schluchten des Höhenzuges, über steile Abhänge, auf endlosen Schienen krochen Tag um Tag mit Kohle beladene Loren nach der Station Kangaus. Auf den Kämmen wanden, im Krampfe ständiger Anstrengung erzitternd, von Teer geschwärzte Trommeln geschmeidige Trosse. Am Fuße der Hügel, wo sich ungebeten steinerne Bauten in den Duft des Nadelwaldes gedrängt hatten, arbeiteten - unbekannt für wen - Menschen, tönten vielstimmig die Pfiffe der Feldbahnen, surrten elektrische Aufzüge.
Das Leben war wirklich lustig.
In diesem Leben suchte Moroska keine neuen Wege, sondern folgte alten, gewohnten Pfaden. Als die Zeit gekommen war, kaufte er ein Satinhemd, hohe Schaftstiefel und begann an Feiertagen talwärts ins Dorf zu gehen. Dort spielte er mit anderen Burschen Ziehharmonika, raufte sich herum, sang unanständige Lieder und »verdarb« die Dorfmädchen.
Auf dem Rückweg stahlen die Kumpels Melonen und runde
Muromer Gurken von den Feldern und badeten in dem reißenden Gebirgsflüsschen. Ihre laut schallenden, fröhlichen Stimmen beunruhigten die Taiga, der abnehmende Mond lugte neidvoll hinter dem Felsen hervor, indessen über dem Fluss warme, nächtliche Feuchtigkeit schwebte.
Als die Zeit gekommen war, steckte man Moroska in ein muffiges, nach Wanzen und Fußlappen stinkendes Polizeirevier. Dies geschah in dem Augenblick, als der Aprilstreik seinen Höhepunkt erreicht hatte, als das unterirdische Wasser trübe wie die Tränen der erblindeten Grubenpferde Tag und Nacht durch die Stollen sickerte, ohne dass sich eine Hand an die Pumpen legte.
Man hatte ihn keiner besonderen Taten, sondern einfach seiner Geschwätzigkeit wegen festgesetzt: man hoffte ihn einzuschüchtern und auf diese Weise etwas über die Aufwiegler zu erfahren. Während er mit Schnapsschmugglern zusammen in der stinkenden Kammer saß, erzählte ihnen Moroska zahllose schlüpfrige Anekdoten, die Aufwiegler aber verriet er nicht.
Als die Zeit gekommen war, fuhr er an die Front und kam zur Kavallerie. Dort lernte er, verächtlich wie alle, auf die »Sandhasen« herabsehen, war sechsmal schwer, zweimal leicht verwundet und wurde noch vor der Revolution als dienstuntauglich entlassen.
Nach Hause zurückgekehrt, soff er zwei Wochen herum und heiratete ein gutes, lockeres und unfruchtbares Mädchen vom Schacht Nr. 1. Er machte alles, ohne zu bedenken: das Leben schien ihm einfach, unkompliziert wie eine runde Muromer Gurke aus den Sutschaner Feldern.
Vielleicht war das der Grund, weshalb er im Jahre 1918 mitsamt seiner Frau die Sowjets verteidigen ging.
Wie dem auch sei, seit der Zeit war ihm der Zutritt zum Bergwerk verschlossen: die Verteidigung der Sowjets misslang, und die neue Regierungsmacht war solchen Jungens nicht allzu sehr gewogen...
Mischka scharrte ärgerlich mit den beschlagenen Hufen; orangefarbene Bremsen schwirrten ihm unentwegt um die Ohren, verstrickten sich in sein zottiges Fell und bissen ihn bis aufs Blut.
Moroska war ins Swiaginsker Kampfgebiet hinausgeritten. Hinter einem hellgrünen, nussbaumbestandenen Hügel schmiegte
sich unsichtbar das Dorf Krylowka; dort stand die Abteilung Schaldybas.
»W-s-s... W-s-s«, summten und surrten die unermüdlichen Bremsen.
Ein sonderbarer, krachender Laut ertönte und verhallte hinter dem Hügel. Ein zweiter, ein dritter folgte. Als hätte ein wildes Tier sich von der Kette gerissen und bräche flüchtend durch stachliges Buschwerk.
»Halt«, sagte Moroska leise und straffte die Zügel.
Mischka erstarrte gehorsam, den muskulösen Leib leicht nach vorn geneigt.
»Hörst du!... Man schießt...«, stammelte aufgeregt die Ordonnanz und reckte sich im Sattel hoch, »man schießt!... Ja?«
»Tatata«, ratterte hinter dem Hügel ein Maschinengewehr, gleichsam den ohrenbetäubenden Flintenlärm und das durchdringende Winseln japanischer Karabiner miteinander vernietend.
»Galopp!...« schrie Moroska mit gekrampfter, erregter Stimme.
Seine Fußspitzen pressten sich gewohnheitsmäßig in die Steigbügel, seine zuckenden Finger öffneten die Halfter, und schon stürmte Mischka durch die knackenden Zweige des Gebüschs zum Gipfel empor.
Moroska riss, noch bevor er den Kamm erreichte, das Pferd zurück:
»Warte hier«, sagte er, rasch zu Boden springend, und warf die Zügel über den Sattelknauf: Mischka, der treue Sklave, brauchte nicht angebunden zu werden.
Moroska kroch zum Gipfel hinauf. Zur Rechten bewegten sich, Krylowka hinter sich lassend, in ausgerichteten Ketten, gedrillt, wie auf einer Parade, kleine gleichmäßige Figürchen mit gelbgrün umränderten Mützen. Zur Linken flohen in panischem Schrecken durch golden wogende Gerstenfelder in ungeordneten Haufen Menschen, die im Laufen um sich schossen. Der rasende Schaldyba (Moroska erkannte ihn an dem rabenschwarzen Pferd und der spitzen Dachsfellmütze) hieb mit der Peitsche, ohne die Flüchtenden aufhalten zu können, nach allen Seiten um sich. Es war zu sehen, wie einige von ihnen heimlich die roten Bändchen herunterrissen.
»So ein Gesindel, was machen die, was machen die bloß!...« murmelte Moroska, den die Schießerei immer stärker erregte.
Im Nachtrab der panisch flüchtenden Menschen lief hinkend, den Kopf mit einem Taschentuch verbunden, den Körper in ein enges städtisches Jackett gezwängt, ungeschickt das Gewehr hinter sich herschleifend, ein mageres Bürschchen. Die anderen schienen absichtlich neben ihm herzulaufen, um ihn nicht allein zu lassen. Das Häufchen lichtete sich rasch, auch der Bursche in der weißen Kopfbinde fiel nieder. Doch er war nicht tot, versuchte einige Male sich zu erheben und fortzukriechen, streckte die Hand aus und schrie etwas Unvernehmbares. Die Menschen begannen schneller zu laufen und ließen den Burschen, ohne sich umzublicken, zurück.
»So ein Gesindel, was machen die bloß!« sagte Moroska von neuem, seine Finger nervös um den schweißigen Karabiner krampfend.
»Mischka, hierher!...« schrie er wie wahnsinnig.
Leise wiehernd, mit weit geblähten Nüstern, trabte der Hengst, mit blutigen Schrammen bedeckt, den Gipfel hinan.
Nach einigen Sekunden flog Moroska wie ein beschwingter Vogel über das Gerstenfeld. Drohend surrten über seinem Kopf feurig-bleierne Bremsen, der Pferderücken unter ihm stürzte irgendwohin in den Abgrund, pfeifend rauschte die Gerste unter seinen Füßen...
»Leg dich!« brüllte Moroska, riss die Zügel herum und stieß mit dem einen Sporn wild in die Flanke des Pferdes.
Mischka wollte sich im Kugelregen nicht niederlegen und umsprang die stöhnende, lang ausgestreckte Gestalt mit der weißen, blutbefleckten Kopfbinde.
»Leg dich!...« ächzte wutentbrannt, an den Zügeln zerrend, Moroska.
Die vor Anstrengung zitternden Knie beugend, legte sich das Tier zu Boden.
»Es tut weh, oh, es tut weh!...« stöhnte der Verwundete, als die Ordonnanz ihn über den Sattel warf. Das Gesicht des Burschen war bleich, bartlos und rein, obgleich mit Blut beschmiert.
»Schweig, Memme...«, zischte Moroska.
Und mit gelockerten Zügeln sprengte er kurz darauf, mit beiden Händen die Last stützend, um den Hügel, dem Dorf zu, in dem die Abteilung Lewinsohn stand. |
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