VII. Der Polizeiwachtmeister Nr. 2304
Etwa 500 Schritte von der Kösliner Straße entfernt lag das Polizeirevier Nr. 95. Der Dienst auf dieser Wache war nicht besonders angenehm. Häufiger als sonstwo kamen Versetzungen vor. Meistens lag es daran, dass sich der betreffende Beamte bei irgend einer Sache falsch benommen hatte und nun nicht mehr gern allein vom Dienst nach Hause gehen wollte. Es kam auch vor, dass Beamte hierher strafversetzt wurden. Und gerade die trugen nicht dazu bei, den älteren Kollegen den Straßendienst besonders leicht zu machen. Für den Bereitschaftdienst an unruhigen Tagen kommandierte die Inspektion gewöhnlich nur besonders kräftige und als Draufgänger bekannte Leute in diese Wache ab.
Am Montag früh — es war noch dunkel — wurde vor dem Revier ein Auto mit Strohsäcken und Matratzen abgeladen. Eine Stunde später kamen die bereits erwarteten zwei Wachtzüge, die von Montag, ab 12 Uhr, den Bereitschaftsdienst übernehmen sollten. Die Revierbeamten vom Straßendienst hatten die jungen Leute schon am Tage einzeln mitzunehmen, damit sie sich mit dem Gelände vertraut machen konnten.
Als die Wagen mit den Mannschaften vorfuhren, trat der 42jäh-rige Polizeiwachtmeister Wüllner an das Fenster. Etwas neugierig sah er zu den jungen Kollegen herunter, die rasch und elastisch von dem Auto sprangen. Von dem einen Auto wurden mehrere große, anscheinend sehr schwere Kisten heruntergehoben und in das Haus getragen. Wüllner achtete nicht weiter darauf, zumal die ersten bereits oben in die Wachtstube kamen. Alles blutjunge, gesunde Gesichter, auf denen eine gewisse nervöse Unruhe zu liegen schien, wie Wüllner sie oft draußen im Felde, wenn Ersatzmannschaften zum ersten Mal nachts in Stellung gingen, beobachtet hatte. Frontfieber — sagte man damals dazu. Eine merkwürdige Mischung von Neugierde, Furcht und einer gewissen Sensationslust.
Auf dem Treppenflur hörte er eine helle, scharfe Offiziersstimme. Sofort sprangen die Mannschaften zur Seite, rissen die Hacken zusammen und legten die flach gestreckte Hand an den Rand des Tschakos. In dem Türrahmen erschien in dunkler, enganliegender Uniform der Bereitschaftsführer — Hauptmann von Malzahn, ein verhältnismäßig junger Offizier. Er verschwand in dem Zimmer des wachthabenden Polizeioberleutnants.
Die laute Heiterkeit der jungen Mannschaften, die sich lachend und erzählend in den Räumen der Wache einrichteten, klang Wüllner nicht ganz echt. Er stand hier am Wedding seit beinahe zehn Jahren im Straßendienst und hatte manches gesehen. Er war kein besonderer Freund der Arbeiter, schon gar nicht, wenn er an die Leute dachte, die hier im Viertel wohnten und von denen man nichts als Ungelegenheiten und Scherereien hatte. Entweder war Krach auf dem Wohlfahrtsamt, im Arbeitsnachweis in der Schulstraße, oder in den Speiseküchen usw... Am schlimmsten waren die Weiber. Es kam denen gar nicht darauf an, einen Polizeibeamten glatt auf die Uniform zu spucken — noch ganz andere Sachen waren schon hier vorgekommen. Aber nachdem ihn sein Dienst später in die Stuben und Küchen der Leute gebracht hatte, sah er doch vieles mit anderen Augen an. Er wusste zu gut, dass hier genug wohnten, die nicht mehr als ihr Leben zu verlieren hatten. Oft schien ihm einer solchen Hungerexistenz gegenüber der Tod noch ein gutes Geschäft zu sein, das dem Sterbenden nur Vorteile bringen konnte ...
Als er die jungen, bartlosen Gesichter seiner neuen Kollegen sah, fiel ihm wieder das Erlebnis ein, dass er vor vier Wochen gehabt hatte. Er war mit zwei Kollegen auf Nachtstreife gewesen, als ihnen plötzlich in der Reinickendorfer Straße ein kleiner, etwa sechsjähriger Junge nachgelaufen kam. Trotzdem ihnen die Kälte, selbst durch die dicken Uniformmäntel, das Fleisch zerschnitt, hatte das Kind weder Schuhe noch Strümpfe an. Es sah aus, als ob es eben aus dem Bett gesprungen war. Unter einer alten, viel zu weiten Jacke trug der Junge auf dem fast weißgefrorenen mageren Körper ein offenes, dünnes Hemd. Das Kind wurde von einem wilden, verzweifelten Schluchzen so geschüttelt, dass sie aus den unzusammenhängenden, herausgestoßenen Worten nichts anderes als nur immer: Mutti, Mutti! verstehen konnten. Der Junge versuchte dabei, ihn mit sich zu ziehen. Wüllner hatte selbst drei Kinder, sein Hans war ebenso alt wie der Junge.
„Der Vater wird besoffen sein, und die Alte halb dod schlagen", sagte einer seiner Kollegen wegwerfend.
„Lass die Finger davon, Wüllner, wat in de Familie passiert, jeht dir nischt an. Kriegst höchstens noch 'ne Anzeige wegen Hausfriedensbruch!" Kann ja sein, dachte Wüllner und nahm den Jungen an die Hand. Er drehte sich zu seinen Kollegen um.
„Bleibt in der Nähe — ich will doch mal sehen, was los ist."
Der eine sah ihn nur achselzuckend an und sagte kurz; „Du bist Ja der Dienstälteste, mach was de willst." —
Nach ein paar Minuten zog ihn das Kind in irgend einem Hinterhaus die Treppe hinauf. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe tastete über die schmutzigen Stufen bis zu einer angelehnten Tür im vierten Stock ohne Namensschild.
Auf einem Stuhl am Bett brannte das kleine trübe Licht einer Küchenlampe. Er sah sich um. Es war das einzige Bett in dem niedrigen engen Raum. Auf der Kommode lag eine saubere, weiße Decke. Jetzt entdeckte er, dass hinter der runden Blechscheibe der Lampe im Schatten eine emaillierte Waschschüssel stand, deren Boden mit hellrotem blasigem Blut bedeckt war... Das Licht fiel auf das regungslose, kalkweiße Gesicht einer Frau in dem Bett. Erst als er vorsichtig die herabgesunkene schmale Hand der Frau auf das Bettuch legte, spürte er, dass noch ein winziger Rest des Lebens in dem ausgebluteten, kalten Körper war. Zu gering, um von einem vielleicht noch herbeigerufenen Arzt etwas anderes als die Ausfertigung des Totenscheins zu erwarten. Abschnitt 2:
„Grundursache des Todes? (deutsche Bezeichnung)... fortgeschrittene Lungentuberkulose und Blutsturz." Nein — die Ursache war eine ganz andere ... , dachte er erschüttert.
Ü ber eine halbe Stunde hatte er oben neben dem stillen weißen Gesicht der Sterbenden gesessen. Die Lautlosigkeit der Nacht war entsetzlich.
Das Kinn der Frau schob sich merkwürdig nach vorn. Die Nase wurde dünn und spitz — ein kleiner, hellroter feiner Streifen sickerte aus dem vergrämt herabgesunkenen Mundwinkel über die Haut — und dann hörten die leisen Bewegungen der eingesunkenen Brust auf... .
In der Kommode fand er ein paar Lohnabrechnungen von der Firma Löwenthai & Co., Konfektionshaus: Lieferung vom 15.—22. III. er.
Für acht fertig gestellte Kleider, Größe 38, à 2.—Mk. 16 Mk. Vorschuss ... ...................................... 10 Mk.
Berlin, den 26. März 1929.
Rest 6 Mk.
Darunter lag eine Invalidenversicherungskarte: Frau Marta Fischer . . Witwe ... geboren: 4. Juli 1894, Beruf: Näherin." Erschrocken sah er zu dem Bett herüber. Diese Frau mit dem zerfurchten Gesicht einer Greisin war — 35 Jahre?! Den weinenden Jungen hatte er mit in die Wachtstube genommen. Am nächsten Morgen wurde er abgeholt und in das städtische Waisenhaus gebracht. —
Diese halbe Stunde da oben hatte den Polizeiwachtmeister Wüllner sehr nachdenklich gemacht. Was muss das für ein Leben
gewesen sein, wenn die Näherin Marta Fischer mit 35 Jahren so vom Leben zerfetzt, zertrampelt und fertig ist!
Die sofortige Versetzung in ein anderes Stadtviertel, die der Polizeiwachtmeister Wüllner noch am gleichen Tage bei dem Gruppenkommandeur der Gruppe Nord beantragte, wurde glatt abgelehnt.
„Schämen Sie sich nicht, als gedienter Mann in der Stunde der Gefahr vor dem Feind die Flucht zu ergreifen? Nehmen Sie sich an Ihren jungen Kollegen ein Beispiel!... Waren Sie im Felde?"
„Jawohl, Herr Oberst."
„Na also — dann werden Sie sich doch nicht vor diesem roten Gesindel fürchten, was Wüllner?"
„Nein, Herr Oberst."
„Wenn ich nicht von Ihrem Vorgesetzten ein gutes Zeugnis über Sie bekommen hätte, könnte man wirklich glauben, Sie hätten für diesen halbwüchsigen Straßenpöbel noch was übrig! — Ihre Dienstnummer?"
„2304, Herr Oberst." Der Gruppenkommandeur machte sich flüchtig eine Notiz.
„Mittwoch wird scharf angefasst, verstanden, Wüllner, Ich will keine Klagen über Sie hören! — Abtreten!" —
In dem leeren Vorzimmer blieb Wachtmeister Wüllner einen Augenblick stehen. Er war wie betäubt. Natürlich, er war ein gedienter Mann. Vor diesem verhassten, preußischen Offizierston schaltete irgend etwas automatisch in seinem Gehirn um, Da wurden die Finger lang, die Hacken fuhren zusammen, Kinn an der Binde: Jawohl, Her Oberst... Nein, Herr Oberst... Abtreten... Maul halten... raus! Er knirschte vor Wut mit den Zähnen. Das haben sie einem gut eingehämmert. „Flucht vor dem Feinde... " hatte der Oberst zu ihm gesagt, murmelte er vor sich hin, also — Feinde waren das... auch die Näherin Marta Fischer war ein solcher Feind! Die Flurtür wurde plötzlich aufgerissen, der Adjutant des Inspektionsleiters kam herein. Wüllner schrak zusammen, machte eine unbeholfene Ehrenbezeugung und ging rasch aus dem Zimmer. — Der Oberst tobte. Das Gewitter entlud sich über den ahnungslosen Adjutanten. „Das ist der Vierte heute aus meiner Inspektion der desertieren will... Sind denn die Kerls auf einmal alle verrückt geworden, oder was ist eigentlich los? Und immer meine besten, älteren Beamten, die seit Jahren hier im Dienst sind."
„Verzeihen, Herr Oberst", wagte der Leutnant einzuwenden, „es scheint, dass die alten Revierbeamten mit den neuen Bereitmannschaften nicht ganz einverstanden sind. Wir haben aus verschiedenen Revieren darüber Meldung, dass... "
Der Oberst polterte schon wieder erregt los: „Natürlich — wir werden die Herren Wachtmeister erst fragen, ob auf dieses rote Judenpack geknallt werden darf! — Nein, mein lieber Boddin, die Leute sind zersetzt von dem Gesindel, die sind schon zu lange im Revier — das ist hier zu gemütlich zugegangen in der ganzen Zeit — das ist alles!"
„Sehr wohl, Herr Oberst", beeilte sich der Adjutant zu sagen, „es wird viel zu viel von „Volkspolizei" gesprochen, das macht die Leute nur schlapp."
Der Oberst nahm aus einer kleinen silbernen Dose vom Schreibtisch eine Zigarette. Mit einer knappen Verbeugung bot der Adjutant seinem Chef ein Zündholz.
Danke, lieber Boddin." Der Oberst sprach jetzt etwas ruhiger.
„Wissen Sie, ich glaube, diese verdammten Zeitungen sind auch daran schuld. Wenn man das so seit einigen Tagen liest, was die Presse von der „Deutschen Tageszeitung" bis zum „Vorwärts" über die — Gott behüte — Kampfvorbereitungen der Kommunisten schreibt . ., phantastisch, wie? Diese Judenpresse von Ullstein und Mosse natürlich immer vorneweg dabei. Unsere Leute lesen ja das schließlich auch und es muss ihnen Angst und Bange dabei werden. — Na, schad' nischt! Aus Notwehr schießt man leichter als aus Feigheit oder Sentimentalität... Gute Rennpferde werden auch mal ein bisschen gedoppt."
„Herr Oberst vergessen unsere Ostpreußen, diese Jungs vom Lande sind bestimmt noch nicht „proletarisch" angekränkelt."
„Ja — auf die können wir uns, glaube ich, verlassen", erwiderte der Oberst, „der kleine Herr von Malzahn ist ja ganz begeistert von seinen strammen Kerls! — Aber, lieber Boddin, nun an die Arbeit — wir haben heute noch viel zu tun — mal her mit der Unterschriftenmappe."
Der Adjutant stellte sich links hinter den Oberst und reichte ihm
Blatt für Blatt einzeln hin.
In der Revierwache Nr. 95 ging alles drunter und drüber. Einer hockte fast auf dem anderen. Während sich sonst hier selten mehr als 15 Beamte gleichzeitig aufhielten, drückten sich zirka 150 Mann in den völlig unzureichenden Räumen herum. Bis jetzt waren allein 6 Zivilbeamte da, darunter ein Herr der IA. Außerdem sollten dem Revier noch eine ganze Anzahl „Zivilaufklärer" zugeteilt werden. In der Bevölkerung nannte man sie „Achtgroschenjungs." Meistens berufsmäßige Verbrecher, Zuhälter usw., denen aber auch für diesen „Beruf" ein gewisser Charakter fehlte. Nachdem sie erst einmal ihre eigenen Leute verpfiffen hatten, waren sie auf den Schutz der Polizei angewiesen.
Was Wüllner an diesem Tage von den jungen Polizeimannschaften hörte, brachte ihn immer mehr zu der Überzeugung, dass weit mehr, als nur eine polizeiliche Wahrung des Demonstrationsverbotes geplant war. Die Leute unterhielten sich überhaupt ausschließlich nur von den verschiedenen Methoden der Straßenkämpfe, von Stoßtruppübungen, von „Bürgersteig aufrollen" usw. Ein lebhafter Streit war darüber entstanden, ob man auf einer Treppe vorteilhaft mit Handgranaten arbeiten könne oder zweckmäßiger mit der Schusswaffe. Man merkte, dass sie seit Monaten mit diesen Bürgerkriegsübungen beschäftigt worden waren.
Die meisten fingen übrigens erst jetzt in Berlin an, Zeitungen zu lesen. Politisch waren sie fast alle indifferent, richtiger gesagt, sie
wussten überhaupt nicht, was Politik ist. Die Bezeichnung „Arbeiter" schien ihnen identisch mit „Feind" zu sein. Jemand behauptete, dass die Maifeier erst nach der Revolution 1918 von den Kommunisten eingeführt worden sei. Wüllner hörte nicht, dass einer diesem Unsinn widersprach.
Er hätte sich sehr gerne über verschiedene Dinge mit den Kollegen unterhalten, aber er hatte Angst. Diese unangenehme, scharfe Stimme des Oberst lag immer noch in seinen Ohren.
Unter den jungen Polizisten befand sich ein etwa 22 Jahre alter Hilfsswachtmeister, der Wüllner auffiel, weil er immer wieder an das Fenster ging, und von dort, schräg nach der Brücke zu, heruntersah.
„Das ist da unten die Wiesenstraße... , nicht wahr, Herr Kollege?" fragte er bescheiden Wüllner, der neben ihn getreten war.
„Ja — was Sie da hinter der Brücke sehen — da, wo die Panke, das ist das Flüsschen hier unten, durchgeht, sind die Hinterhäuser der Kösliner Straße. — Rechte Elendsquartiere", setzte er nach einer kleinen Pause hinzu.
Der Hilfswachtmeister starrte wie abwesend aus dem Fenster. Plötzlich drehte er sich um. Sein Gesicht hatte einen merkwürdig erregten Ausdruck bekommen.
„Wissen Sie... ich bin zum ersten Mal in Berlin", sagte er mit einer leisen Stimme, hinter der sich eine innere Erregung verbarg, „es ist doch für uns Ostpreußen eine große Auszeichnung, dass man uns in dieser gefährlichen Stunde hergeholt hat... "
Er machte eine Pause und sah schweigend auf seine schweren breiten Bauernhände herunter. Dann fuhr er halblaut, wie im Selbstgespräch fort: „Es ist so ein komisches Gefühl, wenn man auf einmal diese... Macht hat, nicht? Sonst lachen sie uns ja immer aus in der Stadt, besonders die Berliner... aber nu werden se wohl nich mehr lachen, wenn wir losknallen!... In Insterburg habe ich auf 50 Meter von einer Flasche dreimal hintereinander stehend freihändig mit der Parabellum ein Ei runtergeschossen... Wissen Sie, ich — freue mich so auf übermorgen!"
Wüllner fragte erstaunt: „Ja, wer sagt Ihnen denn, dass Mittwoch geschossen wird?"
Der Ostpreuße sah verblüfft hoch. „Ha, ha . . haha... ", platzte er lachend los, „Sie sind spaßig. Die Kommunisten sind doch nicht umsonst alle bewaffnet, die werden doch keinen Putsch mit Knallerbsen machen . . !"
Wüllner wurde es doch jetzt ängstlich zumute: „Wer hat Ihnen denn das von den „bewaffneten Kommunisten" erzählt —?"
„Na — Oberleutnant von Malzahn! Wissen Sie, der hat uns noch ganz andere Dinge von diesem roten Kroppzeug erzählt."
„So... !!"
Wüllner ließ den jungen Beamten, Jochen Schlopsnies hieß er, wie er später hörte, stehen, und ging wortlos aus dem Zimmer.
Als Wüllner am Abend von der ersten Streife zurückkam, zeigte ihm de. Polizeioberwachtmeister, der den ruhigen, zuverlässigen Beamten schätzte, einen neuen Polizeibefehl des Gruppenkommandeurs:
Polizeigruppe Nord, Abt. I
Tagb. Nr. 2044/29
vom 28. April 1929.
„Gelegentlich des Verstoßes gegen das Umzugsverbot ist festgestellt worden, dass die Beamten nicht energisch genug eingeschritten sind. Als aus der Menge Steine geworfen wurden, schritten die Beamten mit dem Gummiknüppel ein, es wurde hierbei unterlassen, die Täter aus den Reihen der Demonstranten zwangszustellen. Das Kommando ist hiermit nicht einverstanden, sondern vertritt die Ansicht, wenn von mehreren Beamten der Gummiknüppel gebraucht wird, müsste es möglich sein, auch Demonstranten zwangszustellen und einzuliefern.
Gez. Basedow."
Eigentlich wunderte Wüllner sich, dass nicht noch mehr darin stand. Die Situation wurde ihm langsam klar. Er fühlte, dass es hier um eine Strafexpedition gegen die Kösliner Straße ging, wenn sich auch die Herren hüteten, jetzt schon darüber zu sprechen. Er erinnerte sich noch sehr gut, wie der Oberst bei einer Revierinspektion, auf der er erfuhr, dass am Tage des Demonstrationsverbots allein in den 23 Vorderhäusern der Kösliner Straße 80 rote Fahnen heraushingen, zähneknirschend gesagt hatte: „Nun, mit diesem Gesindel wird am 1. Mai aufgeräumt, meine Herren!" Das war deutlich genug. Bis zur Vollendung des 10. Dienstjahres hatte Wüllner noch drei Monate. Er kannte nur zu gut das Polizeibeamtengesetz, das 1927 im Landtag auch von seiner sozialdemokratischen Fraktion mit angenommen war. Oh... man würde ihn nicht wegen „Dienstverweigerung" oder „Verstöße gegen die Manneszucht", wie es so schön heißt, entlassen können. Dazu hatte er immerhin eine zu lange makellose Dienstzeit hinter sich. Aber da gab es in diesem Schandgesetz einen Paragraphen 11, den er auswendig kannte, so viel war seiner Zeit darüber gesprochen worden.
„Dem Schutzpolizeibeamten kann, auch, wenn die Voraussetzungen der Paragraphen 9 oder 10 nicht vorliegen, bis zur Vollendung des 10. Dienstjahres gekündigt werden, wenn er die für seine dienstliche Verwendung nötigen Fähigkeiten zu richtigem Verhalten und Wirken als Polizeibeamter, insbesondere die für den Polizeidienst erforderliche geistige und körperliche Frische, sowie die Kraft zu schnellem Entschluss und energischem Handeln nicht besitzt; diese Voraussetzung ist unter Würdigung des Urteils der Dienstvorgesetzten festzustellen."
Fein war das eingerichtet! Wer hier nicht mitmachte, würde einfach nicht mehr die „erforderliche geistige und körperliche Frische" besitzen und konnte sehen, wie er mit 42 Jahren noch einen neuen Beruf beginnt. Man hatte sie schon herrlich in der Hand!
Einen Moment dachte er flüchtig daran, ob er sich nicht einfach unter Umgehung des Dienstweges, bei dem Berliner Polizeipräsidenten, der doch immerhin ein Parteigenosse von ihm war, melden lassen sollte?! Er lachte sich selbst aus. Nicht umsonst zählte, was jeder in der Polizeigruppe wusste, gerade der reaktionäre Oberst zu
den intimen Freunden des Polizeipräsidenten. Ebenso konnte er lieber gleich abschnallen und den Rock für immer an den Nagel hängen. Etwas anderes würde bei einem solchen Versuch auch nicht herauskommen. —
Am Abend entdeckte er, als er einen Augenblick im Zimmer des Oberleutnants allein war, dass sich in den großen Kisten, die dort standen, Stahlhelme, Handgranaten, zwei leichte und ein schweres Maschinengewehr und zirka 400 Karabiner, Modell 98, befanden...
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