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Klaus Neukrantz - Barrikaden am Wedding (1931)
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VII. Ein Mann geht durch die Stadt

Mit dem ersten Frühlicht des 2. Mai verschwand Kurt aus der Gasse. Man musste damit rechnen, dass später das Viertel wieder abgeriegelt wurde und jetzt war nichts notwendiger, als Verbindung nach außen zu bekommen, sehen, wie die Stimmung in der Stadt war, sich informieren, um den Leuten in der Gasse einen Bericht zu geben.
An den Zeitungskiosken sammelten sich Arbeiter, die in die Fabriken gingen Sie rissen den Verkäufern die noch druckfeuchten Blätter förmlich aus den Händen.
„Die Blutschuld der Kommunisten", schrie der „Vorwärts" in fetter Schlagzeile auf der ersten Seite. „Moskau braucht Leichen", das war das „Volksblatt" der „linken" SPD. Die Arbeiter lachten höhnisch: dieselben „Linken", die vorher den Polizeipräsidenten als „Mörder" des 1. Mai bezeichnet hatten. Die Kommunistenhetze feierte Orgien. Mit den SPD.-Blättern kam kein bürgerliches Blatt an Schmähungen und Lügen mit. „Der Louis als Demonstrant", stand über einem sozialdemokratischen Leitartikel. Kurt las die saftigsten Stellen auf dem Bahnhof Wedding den dicht um ihn stehenden Arbeitern vor: „Die Freiheit der Straßendemonstration besteht... aber nicht für das Gesindel... das namentlich in den letzten Jahren in Berlin gezeigt hat, dass es keinen Anspruch auf politische, sondern nur Anspruch auf kriminelle Wertung erhebt."
Ein alter, sozialdemokratischer Arbeiter riss ihm die Zeitung mit zornrotem Gesicht aus der Hand, warf sie auf die Erde und trampelte darauf herum. „Strolche, die... Strolche, die", schrie er immer wieder.....Leute... bin ich ein Louis... sind wir Gesindel, wie?"
Das Stichwort, das in verschiedenen Variationen durch alle SPD.-Zeitungen ging, hatte der sozialdemokratische Pressedienst gegeben: „Moskau braucht Leichen!"
Wie im Fieber versuchte Kurt alle Zeitungen zu lesen, die er kriegen konnte Kaufen konnte er sie nicht alle. Wo er einen Mann mit einer Zeitung stehen sah, ging er heran und bat ihn, ihm das Blatt einen Augenblick zu geben. Das ist ja alles Wahnsinn! — dachte er nur immer wieder. So viele Lügen gibt es ja gar nicht! Er suchte immer zuerst die Berichte über die Kämpfe in der Gasse.
In einer Zeitung war der Sturmangriff der Polizei auf die Barrikade vor der „Roten Nachtigall" geschildert: „... Auf Kommando 6türzten aus den umliegenden Häusern etwa 150 Kommunisten, die Arbeitswagen, fahrbare Umkleideräume, Gasrohre, Steine und Balken zusammenholten und eine fast 2 Meter hohe Barrikade über die ganze Straßenseite errichteten. Das Vorhaben war so gut vorbereitet, dass die Polizei, die knapp 10 Minuten später anrückte, mit wahren Salven empfangen wurde. Hinter der Barrikade hatten etwa 100 Kommunisten Aufstellung genommen, die aus Armeepistolen und Gewehren ein wütendes Feuer eröffneten. Plötzlich krachten auch im Rücken der Beamten Schüsse. Kommunisten hatten die Böden und Dächer besetzt, von wo aus sie unaufhörlich nach unten schossen. — In kurzer Zeit wurden viele hundert Schüsse abgefeuert. Das schwache Polizeiaufgebot musste sich schließlich auf wenige Minuten zurückziehen und Verstärkungen abwarten . ."
Kurt griff sich fassungslos an den Kopf... Bei dem ersten Erscheinen der Schupo war überhaupt kein einziger Schuss gefallen. „Hinter den Barrikaden hatten etwa hundert Kommunisten Aufstellung genommen, die aus Armeepistolen und Gewehren... " Hinter der Barrikade lagen vor dem Angriff zwei Tote, das waren die, die „Salven" geschossen hatten... !
Er wurde immer verwirrter. Wer schrieb das? Er drehte das Blatt um: — Der „Vorwärts". — Wie ein Fieberkranker taumelte Kurt durch die Stadt. Wenn er einen Polizisten sah, begann er zu zittern — aus Hass!
Er verstand das alles nicht. Warum gingen denn die Menschen so ruhig weiter, als wenn überhaupt nichts geschehen wäre... ? Die Straßenbahnen fuhren wie immer. Die Stadtbahnzüge rollten über die Brücken, unter denen Kurt stand und den hämmernden Lärm der dröhnenden Eisenträger wie eine Musik in der unerträglichen Stille dieses Morgens empfand. — Krachen müsste es, alles müsste krachen, kaputt gehen... ! Warum zerschlagen denn die Arbeiter nicht die Rotationsmaschinen, die diese Lügen ausspeien, warum reden sie denn nur alle und schimpfen und gehen dann, wie jeden Tag, in den Betrieb —?!
Am Oranienburger Tor war eine Zeitungsfiliale. Vor dem Schaufenster standen Menschen und lasen die ausgehängten Morgenblätter. Arbeiter, ein Straßenbahner in Uniform mit der Tasche unter dem Arm, Prostituierte, die keinen zum Schlafen gefunden hatten, Nachtbummler mit hochgeklappten Rockkragen, die nach Zigaretten und Bier rochen... Kurt drängte sich bis zur Schaufensterscheibe vor. Er hörte gar nicht, dass hinter ihm jemand schimpfte. Wahllos fing er an, irgendwo mitten drin zu lesen: „. , . Wenn auch die Nervosität der überanstrengten Polizeimannschaften und Offiziere zu verstehen ist, so muss doch die Handhabung des Gummiknüppels vielfach Bedenken erregen. In der Justizverwaltung wurde die Prügelstrafe abgeschafft, nicht zuletzt deswegen, weil sie verrohend auf die Beamten wirkte. Die Polizei hat sie wieder eingeführt und die Folge ist, dass es den Beamten anscheinend Spaß macht, immer feste drauf los zu klopfen. Passanten, die in keiner Weise mit der Demonstration etwas zu tun hatten, die nur der Zufall vorbeiführte, wurden grob angefasst. Wenn man sich beschwerdeführend an einen Polizeioffizier wandte, wurde, wie es beispielsweise an der Ecke der Turm- und Stromstraße geschehen ist, erwidert: „Wir sind doch keine Juden, wir verhandeln nicht." Der Gummiknüppel sitzt zu locker. Und wenn man sich nicht im Laufschritt entfernte, hatte man bereits einen Schlag bekommen."
Kurt sah auf den Kopf der Zeitung, ein bürgerliches Blatt. Die erste Stimme, die sich vorsichtig gegen die Polizei wandte. Ach, wie dumm war das geschrieben, dachte er, „grob angefasst" — der Idiot hätte mal bei uns am Wedding sein sollen...
„Mensch, da haben wir in der „Weißen Maus" nischt von gemerkt", sagte hinter ihm eine fette Stimme. Er drehte sich um. Eine Dunstwolke von Alkohol, Rauch und einem penetranten, widerlichen Parfüm umspülte ihn.
„Na, wat denn, Männecken-------?!" sprach ihn ein dicker Herr
mit einem roten, schwammigen Gesicht und einem schief in das Gesicht geschobenen, steifen Hut gemütlich an. An dem Mantelaufschlag hing eine weiße, verwelkte Blume. Vor dem Nachtschwärmer stand das müde, graue Gesicht des Arbeiters. Zwischen den entzündeten, übernächtigten Augen sah ihn ein hasserfüllter, halb irrer Blick an. — Sein Vollgesoffenes Gehirn begriff nicht, aber dieser starre Blick machte ihn unruhig, störte sein schwankendes, sattes Wohlbehagen.
„Wat is denn los... ?!" brummte er, unangenehm berührt, mit einer vorsichtigen, inneren Abwehr. Er fasste in die Manteltasche und zog eine Hand voll loses Geld heraus.
„Da — Mann! — trinken Sie mal nen Schoppen!" Er hielt ihm ein Geldstück hin. — Kurt sah den silbernen Kreis auf der fetten, wulstigen Handfläche liegen. Im nächsten Moment schlug er dagegen, wie man ein Ungeziefer wegwischt. Mit einem harten, hellen Ton klirrte das Geld auf dem Trottoire, — eine Frau bückte sich schnell danach.
Ohne jemand anzusehen schob er wortlos die Menschen beiseite und ging weiter. „Gesindel... !" knirschte er und zog die frische Morgenluft ein, um den ekelhaften Geruch dieses Menschen los zu werden.

Überall war die „Rote Fahne" bereits ausverkauft. Nicht nur die Arbeiter hatten heute darauf gewartet... Kurt lief durch die Elsässer Straße. Je näher er an den Bülow-Platz kam, desto läufiger wehten rote Fahnen an den Fenstern, Hier wohnten Arbeiter.
Ratternd fuhr ein großes Auto mit Polizisten an ihm vorbei. Sturmriemen herunter, Karabiner in den Händen. Unter der letzten Bank ein Maschinengewehr. Blasse, übernächtigte Gesichter. — Sein Blut hämmerte in den Schläfen...
Am Rosenthaler Tor gab es überhaupt keine Zeitungen mehr. Aus einem Restaurant roch es nach warmer Suppe Ihm fiel ein, dass er gestern früh das letzte Mal gegessen hatte. Später, später . . jetzt hatte er doch keine Ruhe dazu! Über den Bülow-Platz fuhr schwankend ein hoch mit Gemüsekörben beladener Lastwagen aus der Markthalle Vor den kleinen Geschäften standen Leute und sprachen miteinander. Einzelne Arbeiter gingen über den großen, leeren Platz. Hinter der „Volksbühne", dem Sandsteinkasten, lag das „Karl-Liebknecht-Haus", das Zentralgebäude der Kommunistischen Partei. Auf dem Eckturm wehte die große rote Fahne — auf Halbmast. In der Straße vor den rotgestrichenen Schaufensterkästen standen die Arbeiter Kopf an Kopf und lasen die ausgehängten Seiten der „Roten Fahne":

„Heraus aus den Betrieben!
Politischer Massenstreik gegen die Arbeitermörder!
Weg mit Zörgiebel! — Aufhebung des Belagerungszustandes!
Heraus mit den Gefangenen! — Bestrafung der Mörder!
Nehmt in allen Betrieben sofort Stellung! Beschließt den Streik! Wählt Delegierte! Die Vertreter aller Betriebe, Delegierte, Betriebsräte, Funktionäre, erscheinen heute abend, acht Uhr, zur allgemeinen Groß-Berliner Delegierten-Konferenz in den Sophien-Sälen. Kein Betrieb darf fehlen.
10 Tote und 150 Verwundete! — Das proletarische Berlin legt die Arbeit nieder! Ein brodelndes Meer sind heute die Betriebe. Es gibt nicht einen sozialdemokratischen Arbeiter, der den furchtbaren von Zörgiebel angerichteten Mord zu verteidigen wagt. Immer wieder entlädt 6ich die grenzenlose Wut und Empörung, die in den erregten Gesprächen zum Ausdruck kommt, in der Forderung nach dem unverzüglich auszurufenden politischen Massenstreik.
Inzwischen beginnen die Arbeiter bereits, spontan die Betriebe zu verlassen. Bei Karstadt, am Hermannplatz, hat die Belegschaft heut« morgen die Arbeitsaufnahme verweigert. Der Polizeipräsident muss verschwinden — das ist die einhellige Forderung des Berliner Proletariats.
Die Rohrleger und Helfer der Fa. Voltz & Co., Baustelle Eden-Hotel, sowie die Rohrleger und Helfer der Baustelle Dubliner Straße legten heute morgen aus Protest gegen die entsetzlichen Arbeitermord« geschlossen die Arbeit nieder.
Die Belegschaft der Baustelle am Karlplatz, der Fa. Jakobowitz, erhebt den schärfsten Protest und fordert die deutsche Arbeiterschaft auf, sofort in den politischen Massenstreik einzutreten, mit der Forderung der sofortigen Auflösung des gesamten sozialdemokratischen Polizei-Regime.
Die Baustelle der Fa. Holtzmann nahm heute in der Belegschaftsversammlung, in der 500 Mann anwesend waren, den Beschluss an, sofort als Protest gegen das Mai-Blutbad in den Streik zu treten. Mit dem Gesang der „Internationale" verließen die Proleten den Bau. — Die Notstandsarbeiter des Volksparks traten in Streik. Folgt dem Beispiel
Hamburg 2. Mai. (Eig. Drahtbericht.):
Die Belegschaft der Reiherstieg-Werft ist in vierundzwanzigstündigen Proteststreik getreten. Fast alle SPD.- und Reichsbannerarbeiter haben sich dem Proteststreik angeschlossen... "

Zwischen den diskutierenden Arbeitern stand Kurt und las. Die Buchstaben schwammen durcheinander. Seine müden, entzündeten, Augen brannten , . . Zum erstenmal wurde er ruhig, ganz ruhig. Jetzt wusste er: alles ging in Ordnung! Die Nacht ist doch nicht umsonst gewesen. —
Als er sich umdrehte und langsam über den Platz zurückging, schämte er sich seiner entsetzlichen Angst, die er vorhin gehabt hatte. Ganz verrückt war er gewesen... dachte er, wütend auf sich selber! Unterwegs hatte er Arbeiter sprechen hören, die auf die Kommunisten schimpften, die geglaubt hatten, was die Lügenblätter schrieben, dass nur „Ganoven" und „Lumpenproletariat" in der Kösliner Stra3e und in Neukölln gekämpft hatten. Angst hatte er gehabt, dass alle so denken... Erst jetzt übersah er, dass es die alte Taktik der SPD. und des Bürgertums war, in jeder Kampfsituation alle wirklich revolutionären Arbeiter als Lumpenproletariat und Verbrecher hinzustellen, um durch Verleumdungen zu verhindern, dass sich die übrige Arbeiterschaft mit den Kämpfenden solidarisiert.
Mit der inneren Ruhe kam eine tiefe Entspannung über ihn. Er fühlte plötzlich, wie müde und hungrig er war, es war mehr eine psychische Reaktion. — Mit der nächsten Straßenbahn fuhr er zurück in die Gasse.
In unzähligen Fabriken und Betrieben fanden im Laufe des Tages Protestversammlungen statt. Als erste große Fabrik beschloss die aus 2500 Arbeiterinnen und Arbeitern bestehende Belegschaft der Zigaretten-Werke Manoli, Massary und Josetti den Proteststreik, Transformatoren-Werk Ober-Schöneweide folgte mit 2300 Arbeitern einstimmig den Anweisungen des roten Maikomitees. Die Norddeutsche Kugellagerfabrik schloss sich an. Mittags um 3 Uhr legte die zum größten Teil aus Frauen zusammengesetzte Belegschaft der Schuhfabrik Leiser die Arbeit nieder. Die Arbeiter der Firma Huta kündigten mit 400 Mann Gesamtbelegschaft den Proteststreik für morgen an.
Aus dem Ruhrgebiet meldeten die Zeitungen, dass auf sämtlichen Zechen in Bottrop und Osterfeld am frühen Morgen Flugblätter über die Vorgänge in Berlin verteilt worden waren. Der größte Teil der Bergarbeiter hatte sofort die Arbeit niedergelegt und den Generalstreik gefordert. Eine in Halle einberufene Betriebsräte-Konferenz, auf der 77 Werke vertreten waren, beschloss für Samstag den 24stündigen Proteststreik. Die Bergarbeiter der großen Schachtanlage Thyssen III. in Hamborn verweigerten die Einfahrt. Auf Zeche Prosper II. erzwangen die Bergarbeiter die Stilllegung der Schachtanlagen II. und III. Aus allen Teilen des Reiches kamen Meldungen über Proteststillegungen von Fabriken und Betrieben. Auf den Baustellen in Berlin ruhte die Arbeit. Die Betriebsbelegschaft einer ganzen Straße mit fünf Werken stimmte gemeinsam für einen Proteststreik. — Am Abend des 2. Mai fanden allein in Berlin fünfzehn überfüllte Protestversammlungen in den größten Sälen statt Sämtliche Straßenzellen der Partei tagten. Der Rote Frontkämpferhund und die Rote Jungfront riefen ihre Mitglieder in den Zuglokalen zusammen.
Im Reichstag stimmte die kommunistische Fraktion, nachdem die SPD. mit den anderen bürgerlichen Parteien die Behandlung der Mai-Vorgänge abgelehnt hatte, die „Internationale" an und sprengte die Sitzung... Draußen, in den Straßen Berlins, — schoss die Polizei.
Bei einer Protestdemonstration in Neukölln wurden drei Arbeiter getötet und zwanzig schwer verletzt. Reichswehr und Artillerie waren mobilisiert und standen für die Nacht bereit. Der Kampf ging weiter...

 

 

 

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