V. Der Sturm auf die „Rote Nachtigall"
Kurz nach sieben Uhr wurde in der Gasse bekannt, dass der Kaufmann Fröbius aus der Kolberger Straße, die nur wenige Minuten entfernt lag, durch einen Schuss in den Mund unter der Bahnunterführung von einem Polizisten getötet worden war. In der Antonstraße hatten sie den Kriegsbeschädigten Reitnack vor einem Restaurant, wohin er versucht hatte zu flüchten, niedergeschossen. Er war auf dem Asphalt verblutet Sie schossen auf jeden, der versuchte, ihm Hilfe zu bringen. Die 15jährige Erna Zielke wurde durch einen Oberschenkelschuss schwer verwundet. — Meldung auf Meldung kam in die „Rote Nachtigall". Tot... verwundet... niedergeschlagen... verhaftet... Männer, Frauen, Kinder! Mit jeder neuen Nachricht wuchs die Entschlossenheit, die Gasse und das Leben ihrer Bewohner mit allen Mitteln zu verteidigen. Welcher politischen Partei die Einzelnen angehörten, spielte keine Rolle mehr. Die Arbeiter waren Freiwild geworden, der Präsident hatte jedem Polizisten das Recht gegeben, nach Gutdünken hier herumzuschießen und zu prügeln. In Nr. 6 hatten sie einfach dem Sozialdemokraten Hainen durch die Scheiben in die Wohnung geknallt.
„Det is eene Strafexpedition jejen de Jasse!" rief der alte Hübner, der sich als einer der ersten, so gut er es konnte, an dem Barrikadenbau beteiligt hatte.
„Sie wissen, dass diese Straße das rote Herz des Berliner Wedding ist", sagte jemand und schob mit der Hand den vernickelten Brillenbügel hoch.
„Hallo! , . , Genosse Referent", rief Kurt und schlug dem jungen, blassen Genossen herzhaft auf die Schulter. „Fein, det du gekommen bist!"
Auch die anderen begrüßten den Referenten und der junge Mensch treute sich, dass sie ihn in dieser gefährlichen Situation so ohne weiteres anerkannten und nicht misstrauisch zu ihm waren. Er war ja ein Fremder, und außer den Mitgliedern der Straßenzelle, die ihn auf der letzten Sitzung in der Roten Nachtigall" gehört hatten,
war er hier allen unbekannt.
Eine Viertelstunde später brachten mehrere Kuriere aus verschiedenen Richtungen die Meldung, dass die Polizei mit der Einkreisung des Viertels begann. Einen Kurier, ein junger 15jähriger Arbeiter, hatten sie am Nettelbeckplatz vom Rad geschossen. Rückenschuss. Er würde kaum durchkommen. —
In der Gasse wurde es dunkel. Die Geschäftsleute in der Reinickendorfer Straße hatten Blechschilde vor ihre Schaufenster gestellt. In den Kneipen waren bis auf den Eingang Rolljalousien heruntergelassen worden. Immer wieder füllten sich die umliegenden Straßen mit Arbeitern, die Demonstrationszüge bildeten und in das Innere der Stadt abmarschierten.
Schüsse knallten in der Ferne.
An der Ecke der Gasse, oben an der Wiesenstraße, fing es an. Mit lautem Klirren zersprangen unter den Steinwürfen die Glasscheiben der Gaskandelaber. Lampe um Lampe verlosch. Zwischen den Scherben flackerte oben an dem Mundstück des Gasrohres ein kleines, blaues Flämmchen, das die Arbeiter brennen ließen, damit das Gas nicht herausströmt. Bei den alten, niedrigen Gaslaternen kletterten junge Burschen herauf und drehten den Gashebel herum. — Der dunkle Ring zog sich immer weiter um die Barrikaden, von denen bald nur noch große, unbeholfene Schattenumrisse in dem graublauen, schwachen Lichtschimmer des sinkenden Abends zu sehen waren. —
Gegen 8 Uhr krachten Schüsse am Nettelbeckplatz, die schnell näher kamen. Das polternde Rollen der schweren Polizeiwagen war zu hören. Erregte Rufe schollen laut durch die Gasse. Haustore schlugen zu. Hinter den Fenstern erloschen die Lichter. Ratternd fiel die Rolljalousie von der „Roten Nachtigall" herunter Jemand rannte über den Damm und verschwand in einer Kellertür. Dann war alles ruhig.
Leer und grau lag die schweigende Gasse hinter der Barrikade. Die stille, regungslose Luft roch nach Frühling und Armut...
Lautlos tastete sich von der Ecke der Pankstraße her ein breiter, weißer Lichtkegel über den leeren Platz. Wie ein kalter, durchsichtiger Finger fuhr er zögernd und unsicher an den dunklen Häuserfronten hoch, die ganze Gasse entlang.
Alles blieb totenstill. Nur das weiße, harte Licht fraß sich in die Mauern und irrte nach oben ab zu den Dächern, über denen die ersten Schatten der sternenlosen Nacht hingen. — Plötzlich war der Lichtkegel fest auf die breite, hohe Barrikade gerichtet. „Dahinter war der Feind... !"
Es war so still, dass das leise, scharfe Kommando wie ein spitzes Eisen in die hunderte unsichtbare Gesichter der Arbeiter stieß. Hunderte dunkle Schatten duckten sich in derselben Sekunde, in der das gellende Aufheulen einer Gewehrsalve die Luft zerriss. Knallend haute das Echo gegen die Wände und rollte durch die Straßen des ganzen Wedding.
Es ging los... Salve auf Salve krachte. Ein Stein zertrümmerte den Scheinwerfer. Zuckend erlosch das weiße Auge. Wie tanzende Irrlichter flammten die Feuerbündel vor den Mündungen der Karabiner. Pfeifend klatschten die Bleikugeln gegen die Häuser, von denen der Putz rasselnd nach unten fiel. Mit einem kurzen, hellen Ton durchbohrten sie das Eisenblech der Müllkästen, dröhnend prallten sie von den gusseisernen Rohren ab und sangen als Querschläger durch die Luft. — Die ganze Gasse war ein graues regungsloses Ungeheuer, dessen riesenhafter Leib tausendfach durchbohrt werden musste, ehe er aufhören würde zu atmen...
Aus einem Haus schrie plötzlich eine Frau gellend auf. Das Knallen der Gewehre verschluckte den Schrei. — In demselben Augenblick leuchtete auf der anderen Seite, von der Reinickendorfer Straße her, ein zweiter Scheinwerfer auf. In dem zitternden Lichtkegel über der Barrikade hing der blaue Dunst von Staub und Pulver.
Die Polizei griff von beiden Seiten an. Über die Barrikade hinweg beschossen sie sich gegenseitig, ohne dass sie es in ihrer besinnungslosen Angst merkten. Jede Seite hielt die Schüsse für die Angriffe des Gegners.
Der dunkle Schatten eines Mannes lief gebückt durch das schiefe Dreieck der Barrikade. Auf einmal stand er still, knickte vornüber, riss seine Jacke vor dem Bauch auf und fiel zusammengekrümmt mit einem kurzen, gurgelnden Brüllen auf den Boden« Dann war es still.
Ganz allein lag er auf dem Asphalt zwischen den drei Barrikaden, durch die von beiden Seiten die Kugeln flogen. Nur oben, aus einem zerschossenen Fenster, hatte es jemand gesehen, dasselbe Fenster, durch das sich jetzt der vernickelte Lauf eines Trommelrevolvers schob. — Ein kurzer Feuerstrahl blitzte auf — P e n g ! Es war der erste Schuss aus der Gasse! —
Hinter dem Fenster stand Thomas, der bisher jedem die Waffe aus der Hand geschlagen hatte. Sein Gesicht war so ruhig wie immer, als er die Hand mit dem Revolver etwas zurückzog, anlegte, zielte und wieder schoss, zielte und schoss... Sechs Patronen waren darin. Dann lud er wieder mit der verbundenen Hand, ging im Nebenzimmer an das Fenster und schoss weiter Nur ein einziges Mal drehte er sich um, als er hörte, wie jemand in das dunkle Zimmer stürzte und ihn anrief. Ein junger, parteiloser Arbeiter.
In demselben Augenblick griff der weiße Lichtkegel an die Wand des Zimmers und fasste das entsetzte Gesicht des jungen Menschen. Ein — zwei Sekunden, dann glitt er weiter. Eine wahnsinnige Angst sprang aus dem qualvoll verzerrten Mund des Jungen.
„Hund... schießen sollst du!!... " schrie Thomas. „Da . . so . . !" Peng . . peng . . peng... Er schoss hintereinander die Trommel durch das Fenster leer.
Da unten liegt Emil von Nummer 5... hörste? . . Jetzt is et soweit... wer wat hat, Jungs, der schießt... sonst sind wa alle... " An der Mauerkante vor ihm prallte kalkspritzend eine Kugel ab und schlug klatschend in die Decke. Er drehte sich um, etwas ruhiger.
„Wo is Kurt Zimmermann? . . wo is Paul... ?"
„In Nummer 3, gloob ick!"
„Jeh'ste hin — kletterst hier hinten über'n Hof — verstanden! und sagst: keenen mehr hindern... wer wat... "
„Sa . nitÄ... ter!!" Aus der Wohnung üb« ihm schrie eine Frau aus dem Fenster.
„... wer wat hat, soll schießen!... " Der Mensch rannte aus dem Zimmer.
Die Mannschaften in der Pankstraße gingen zum Sturmangriff über.
Das Feuer auf die Fenster und in die Gasse wurde verstärkt. Nach oben wurde für die anstürmenden Polizisten Deckungsfeuer gegeben. Tschakos und Nickelknöpfe blitzten in dem Eingang der Gasse auf. Ununterbrochen schießend rannten sie auf die Barrikade zu. Von der anderen Seite feuerte die Polizei, die die Lage überhaupt nicht übersah, über die Barrikade hinweg auf die eigenen Leute. Erst als die Polizisten oben auf der Barrikade standen, stoppten sie das Feuer und liefen in die Straße hinein.
Aus den dunklen Fensterlöchern flogen Steine heraus. Schreiend und schießend sprangen die Polizisten auf die Barrikade, bereit zum Nahkampf. Die Barrikade war — leer!?
„Verfluchter Mist!"
Ein Stein zerriss das Gesicht eines ostpreußischen Bauernjungen. „Hunde, verdammte!!" Er wischte sich das Blut vom Gesicht. Die Gewehrschlösser rasselten... immer reingehalten in das große, unsichtbare, rote Tier! Wenn man nur ein Ziel hätte ..!
Die schmale, blanke Stiefelspitze eines Offiziers drehte den Mann um, der wie ein regungsloser Klumpen auf der Erde zwischen den Balken lag. Der Bauch war schwarz und feucht wie der dunkle Fleck auf dem Asphalt. —
In dem Hausflur neben der „Roten Nachtigall" blitzte Mündungsfeuer auf. Kolbenschläge donnerten gegen die Rolljalousie des Lokals.
„Los Leute", schrie der Offizier, „... da sitzen sie drin!"
Die Tür zur „Roten Nachtigall" zersplitterte. Die Polizisten wussten, dass hier die kommunistische Hochburg des Kösliner Viertels war.
„Hände hoch — alles rauskommen!" Der Handscheinwerfer des Majors griff in den dunklen Raum. Er war — leer!
„Saubande... !!" Jemand drehte den Lichtkontakt an. Knack — sagte der Schalter, aber es blieb dunkel, Sie holten Taschenlampen und warfen vor Wut Tische und Stühle um. An der Wand klebte eine Zeitung „Kampf-Mai 1929". Fluchend riss ein Polizist das Titelblatt der „Roten Fahne" herunter. Sie fanden niemand.
Dunkel und unheimlich lag der Gang, der nach hinten in den Saal führte, vor ihnen. Die neuen Mannschaften kannten das Innere des Lokals nicht. Der Major hatte den Gang entdeckt und stürzte mit entsicherter Pistole hinein. Ein Fußtritt stieß am Ende des Ganges die Tür zurück. Dahinter war Licht — leer. Nur in einer Ecke saßen zwei junge Menschen und spielten — Karten!
Die Glastür nach dem dunklen Hof zu stand offen. Die anderen waren fort! Wieder irgendwo unsichtbar, ungreifbar verschwunden, untergetaucht in die unbekannten Schlupfwinkel der Häuser, spurlos verschluckt von der Finsternis der Höfe und Durchgänge...
Ein paar Patronenhülsen war alles, was sie fanden. Und dann die beiden Burschen da, die „Karten spielten". Nichts in der Tasche, als ein paar Hosenknöpfe, ein Stück Bindfaden, Zigaretten und ein schmutziges Taschentuch. Kein Ausweis, keine Mitgliedskarte des „Roten Frontkämpferbundes" oder der „Kommunistischen Jugend" __ nichts als zwei junge, regungslose Gesichter, die mit fest aufeinander gepressten Lippen die furchtbaren Misshandlungen über sich ergehen ließen. —
In den stillen, dunkeln Hof wagte sich niemand...
Vor der „Roten Nachtigall" rissen die Polizisten im Scheinwerferlicht die Barrikaden ab, gedeckt durch das Feuer einer besonderen Abteilung, die auf beiden Seiten der Gasse stand und ununterbrochen in die Fenster schoss. Die schwarzen Löcher in den grauen Wänden waren die unzähligen scharfen, gefährlichen Augen des großen Tiers — die rote Gasse! Immer noch atmete sie und lebte unsichtbar, unangreifbar, wie eine gewaltige, zähe Molluske, blutend aus hundert Wunden. Aber das Herz — das rote Herz des Wedding — hämmerte weiter, stärker und wilder wie die bellenden Gewehre der Polizisten. —
Als sie einen Müllkasten wegzogen, fiel eine kleine, schmutzige Hand herunter. Über der hängenden Hand sah der Ärmel eines grauen Kittels hervor. Sie räumten Bretter und Balken fort und leuchteten mit der Taschenlampe in das weiße, blutjunge Gesicht eines 16jährigen Arbeiters. Über dem linken Auge war ein dunkles, kreisrundes Loch, von dem ein dünner, schon festgetrockneter, rotglänzender Streifen über die zusammengewachsenen Augenbrauen geronnen war. Der Mund war klein und schmal, wie der eines jungen Mädchens.
Neben ihm im Sand fanden die Polizisten ein kleines, blankes Tesching und einen Haufen Zündhütchen.
Die Taschenlampe verlosch...
Die Barrikade war erobert, aber nicht die Gasse. Der dunkle Schlauch zwischen den hohen Häusern schien uneinnehmbar.
Notdürftig war zwischen den Barrikaden auf dem Fahrdamm eine Lücke freigemacht worden. Die Polizisten zogen sich zurück. Der Schall ihrer genagelten Stiefel wurde durch ein hartes, klirrendes Rattern aus der Reinickendorfer Straße abgelöst- Taghell beleuchtete ein mächtiger Scheinwerfer die Gasse und fasste dunkle, fliehende Schatten. In demselben Moment hämmerte ein Maschinengewehr los. Durch die Trümmer der Barrikade schob sich der schwankende Umriss eines Panzerwagens.
Sturm auf die Gasse!
Tack... tack... tack... tack... Die weißen, blanken Stahlmantelgeschosse pfiffen und sangen das Lied von Ruhe und Ordnung. Steine und Kugeln aus armseligen, verrosteten Kleinkaliberpistolen prallten wirkungslos an den Stahlplatten ab. Immer weiter rückte die feuerspeiende Festung. Einige Meter dahinter kam die ausgeschwärmte Linie der Polizisten, die Besten, die Tapfersten, die Jüngsten — die Brutalsten!
Und dann fing es an. Jedes Haus, jede Toreinfahrt, Jeder Hof sollte erobert werden. Mit vorgehaltenen Gewehrmündungen wurden Frauen und Kinder aus den Betten gerissen, die Matratzen durchgewühlt, die Schränke, die Kammern. In Todesangst auf den Treppen fliehende Schatten wurden bis unter das Dach verfolgt, eingeholt, niedergeschlagen, misshandelt und verhaftet. Aber in den meisten Fällen hatte wieder irgendeine große Wand die Menschen aufgenommen.
„Aus Ihrer Wohnung ist geschossen worden!"
,Ja, hier in der Wand, in den Spinden stecken noch die Kugeln, die Sie ringeknallt haben!"
„Maul halten! — wo habt ihr die Hunde versteckt? He... ?!"
„Seh'n Sie doch nach... ", antworteten die Weiber höhnisch. Sie wussten, dass sich die Polizisten nicht tiefer in die Gasse und in die anderen Häuser hineinwagen würden. In den paar Häusern vorn an der Barrikade konnten sie ihretwegen ruhig die Dielen aufreißen. Wanzen und Schwaben würden sie vielleicht finden, aber nicht ihre Männer...
Zu derselben Zeit läutete im Dienstzimmer des Kommandeurs der Schutzpolizei am Alexanderplatz das Telefon.
Paul hatte während des Sturmangriffs versucht, aus einem Geschäft telefonische Verbindung nach außen zu bekommen. Überall waren die verantwortlichen Parteistellen unterwegs, auf der Straße, in Versammlungen oder sonstwo. Endlich bekam er die Landtagsfraktion der Partei und gab — draußen knallten dabei die Schüsse — einen kurzen Bericht über die Lage in der Gasse durch. Paul wusste nicht, dass in der gleichen Stunde die Straßen Neuköllns von der Arbeiterschaft auf den Barrikaden gegen die Panzerwagen der Polizei verteidigt wurden. Er wusste nicht, dass der Polizeipräsident schon lange vorher die Forderung der Landtagsfraktion, die Mannschaften sofort aus den gefährdeten Arbeitervierteln zurückzuziehen, zurückgewiesen hatte. Paul war fest davon überzeugt, dass dieser Sturm in der Gasse ein eigenmächtiges Vorgehen der Offiziere ohne Wissen der Leitung war.
Auf seinen Bericht hin unternahm der Abgeordnete M. gegen 10 Uhr abends noch einmal den Versuch, sich mit dem Polizeipräsidium in Verbindung zu setzen, um den Rückzug der Polizei zu verlangen.
Der stellvertretende Kommandeur, Oberst Hellriegel, meldete sich am Apparat.
„Wissen Sie, Herr Oberst, was jetzt in der Kösliner Straße vor sich geht? Wissen Sie, dass das keine Schlacht mehr, sondern ein sinnloses Abschlachten von Bewohnern ist, wie wir es seit den 50 Jahren des Sozialistengesetzes nicht mehr gehabt haben? Wir verlangen, dass Sie sofort den Befehl zur Entfernung Ihrer Truppen geben!"
„Bedaure unendlich, Herr Abgeordneter, aber der Kommandeur Heimannsberg hat sich persönlich vor einer Viertelstunde an Ort und Stelle begeben, und ohne seine Anweisung kann ich nichts unter« nehmen."
„Dann müssen Sie sich sofort mit dem Kommandeur in Verbindung setzen."
„Ich werde es tun. Bitte, rufen Sie mich in 20 Minuten noch
einmal an."
Zwanzig Minuten... !? Was konnte in dieser Zeit nicht alles geschehen? Wie viel Menschen würden noch erschossen werden... ?! — Der Polizeipräsident hatte die Aktion in die Hände der Offiziere gelegt, von denen jeder Mensch in Berlin wusste, dass sie die Leitung vorläufig nicht wieder hergeben würden. Jetzt hatten sie die Arbeiter endlich soweit. Gehetzt, geschlagen, geprügelt, niedergeknallt wie tolle Hunde und provoziert, bis sie angefangen hatten, sich zur Wehr zu setzen — der „Putsch" war in Sicht! Und jetzt plötzlich alles abstoppen? Niemals! — Einem bürgerlichen Journalisten, der telefonisch den ihm bekannten Major L. im Präsidium sprechen wollte, wurde geantwortet: „Herr Major sind an der Front!"
Bei den Berliner Polizeioffizieren im Amtszimmer der Polizeipräsidenten war Frontstimmung, Offensivgeist. Der Vizepräsident, der „überhaupt nie dachte", hatte sich beurlauben lassen. Der aufrechten Gesinnung bester Teil war die Flucht...
Nach der verabredeten Zeit schrillte das Telefon: „Nun, Herr Oberst . .?"
„Ich kann Ihnen, Herr Abgeordneter, mitteilen, dass die Polizei aus der Kösliner Straße zurückgezogen worden ist. In der Straße ist alles ruhig. — Bitte sorgen Sie jetzt aber auch dafür, dass alle weiteren Angriffe auf die Polizei unterbleiben."
„Herr Oberst, niemals hat die Arbeiterschaft am heutigen Tage die Ruhe gestört oder die Polizei von sich aus angegriffen. Wir haben lediglich das Recht, am 1. Mai zu demonstrieren, was die Arbeiterschaft seit 40 Jahren getan hat, auch diesmal für uns in Anspruch genommen. Weiter nichts! Niemals sind am heutigen Tage von Seiten der Arbeiterschaft irgendwelche Kampfhandlungen gegen die Polizei eröffnet worden! Aber Sie haben wohl gemerkt, dass die Geduld der Arbeiter ein Ende hat!" —
Was sich die Landtagsfraktion selber dachte, wurde wenige Minuten später bestätigt. Es kam die telefonische Meldung, dass die Polizei, ohne sich auch nur eine Minute aus der Gasse zurückgezogen zu haben, nach wie vor in der Gasse wütete. Der Bericht der Polizei war eine Täuschung gewesen.
Erst viele Stunden später, gegen Morgen, wurde es in der Kösliner Straße und in dem Neuköllner Kampfviertel ruhiger.
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