XIII. Ende und Anfang...
Als Kurt Zimmermann am Abend des 28. Mai nach Hause kam und das Küchenfenster, wie immer seitdem, wenn er müde nach der Arbeit über den dunklen Hof ging, ohne Licht war, sprach ihn Hermanns Frau an. Ein Brief war für ihn gekommen mit einem Polizeistempel auf der Rückseite. Sie hatte es von dem Briefträger, der die Familien in der Gasse seit Jahren kannte, gehört. Es war schon zu dunkel auf dem Hof, als dass sie die plötzliche Veränderung in seinem Gesicht hätte merken können. Ohne ihr zu antworten, verschwand er sofort in dem niedrigen Eingang des Seitenflügels zu seiner Wohnung. Die weiße Glasglocke der Gaslampe in der Küche klirrte ein wenig durch die Unruhe seiner Hände...
Ein schmaler, kleiner Dienstumschlag, auf der Rückseite mit einer runden, blauen Stempelmarke zugeklebt. Die Vorderseite war ohne Aufdruck. Er hob den Brief gegen das Licht, als wenn sich dadurch vielleicht etwas Besonderes feststellen ließe. Es dauerte noch ein paar Minuten, — dann riss er das Kuvert auf:
Gefängnislazarett Berlin
Lehrter Straße Tgb.-Nr. III/ 126/29.
Abtlg. I A. Berlin, den 27. Mai 1929.
An Herrn
Kurt Zimmermann
Berlin N. Kösliner Straße 6
In Beantwortung Ihrer schriftlichen Anfrage vom 6. Mai er. teilen wir Ihnen mit, dass sich die Untersuchungsgefangene Anna Zimmermann geb. Berthold, wohnhaft Berlin N-, Kösliner Straße 6, zur Zeit im Gefängnislazarett Berlin, Lehrter Straße, Abtlg. G, Saal 4, Bett Nr. 32 befindet.
Gesuche um Besuchserlaubnis sind drei Tage vorher unter Angabe obenstehender Aktenzeichen an die Gefängnisinspektion, Berlin-Moabit, Lehrter Straße, zu richten.
Gefängnis-Lazarett-Verwaltung. gez. Hermann, Justizwachtmeister, (Stempel.)
Als nach einer Stunde Hermanns Frau, die sich in diesen Tagen etwas um Kurt gekümmert hatte, durch das Hoffenster in die Küche sah, saß Kurt am Küchentisch, den Kopf auf beide Hände gestützt und starrte regungslos auf die Tischplatte, auf der der Brief lag...
Drei Tage später.
Geführt von einer Gefängnisbeamtin betrat Kurt ein langgestrecktes Zimmer, links und rechts eine Reihe dicht nebeneinanderstehender, graugestrichener Betten mit Frauen, die sofort von der Beamtin zur Ordnung gerufen wurden, als sie sich in ihren Betten aufrichteten und den Mann anstarrten. Kurts Blick irrte von Gesicht zu Gesicht, haftete einen Moment an den vergitterten Fenstern und suchte weiter. In einem Bett lag eine Frau mit einem zu Knoten gedrehten, schmutzigen Handtuch, das sie, als wenn sie ein Kind in den Armen hätte, zärtlich wiegte. Ihr weißes Gesicht hatte einen verzückt-glücklichen Ausdruck, ihre leisen, unverständlichen Worte formten irgendwelche Liebkosungen, während ihre Hände mit einer unendlichen Weichheit über das Handtuch strichen. Die Frau daneben tippte, hinter dem Rücken der Beamtin, mit einer frech-vertraulichen Bewegung zu Kurt, den Finger an die Stirn und verzog das Gesicht zu einem hässlichen Grinsen. Hinter sich hörte er das kurze Auflachen einer Frau.
Am letzten Bett rechts blieb die Beamtin stehen.
„Sie ist heute zum erstenmal fieberfrei", sagte sie zu Kurt, „sonst hätten Sie wohl kaum Sprecherlaubnis bekommen. Sie haben zehn Minuten Zeit!"
Kurt hörte nicht, was sie sagte, er sah nur dieses schmale, blutleere Gesicht in dem Kopfkissen, mit eingefallenen Schläfen, auf denen die blauen Äderchen wie unter einer hauchdünnen Glasschicht lagen. Aus zwei dunklen Schattenringen unter der Stirn sahen ihn Augen an, in denen irgendetwas Neues, Fremdes war.
Das war — Anna?!
Sie war heute zum erstenmal bei klarem Bewusstsein. Tage-und Nächtelang hatte sie in einem heftigen Nervenfieber gelegen. Sie wusste überhaupt nicht, wie sie hierher gekommen war. Kurt hielt ihre dünne, merkwürdig trockene Hand so vorsichtig zwischen seinen Fingern, als wenn sie aus bläulichweißem, zerbrechlichem Porzellan wäre.
Ein paar mal versuchte die Beamtin das Gespräch zu unterbrechen. Anna fing immer wieder von den Leuten in der Gasse an. Sie hatte keine Zeitung gelesen, nur heute früh hatte sie von einer Neuen im Saal gehört, was nach ihrer Verhaftung in Berlin vor sich gegangen war. Ebenso, dass ein Rechtsanwalt von der Partei dafür gesorgt hatte, dass sie in das Lazarett gebracht wurde. Zum erstenmal lächelte sie ein wenig, als sie Kurt erzählte, dass sie eine Anklage wegen Aufruhr und Widerstands gegen die Staatsgewalt bekommen hatte.
„Aber, Anna, das ist doch heller Wahnsinn... !"
„Nein, Junge . . , ich war früher sehr dumm. Aber warum hast du mir das nie gesagt? Ich dachte auch, dass das alles nichts mit „Widerstand gegen die Staatsgewalt" zu tun hat. Weißt du, ich bin im Anfang nur mitgegangen, weil ich Angst um dich hatte. Und dann — ist das alles anders gekommen. Ich wusste nicht, dass der „Widerstand" gegen diese Staatsgewalt, gegen diesen Staat, den ich immer für etwas „Neutrales", über den Parteien stehendes gehalten habe, mit zum Klassenkampf gehört. Junge, ich habe gelernt, dass jeder Kampf der Arbeiter um ihr Recht ein Kampf gegen diesen Staat sein muss. Wie sie auf der Wache den kleinen Willi halbtot geschlagen haben — Kurt, da begriff ich, was „Staatsgewalt" heißt!"
„Sie dürfen nicht so sprechen, Frau Zimmermann", unterbrach sie die Beamtin, aber sie sagte es nicht unfreundlich. Kurt spürte, dass sie still und aufmerksam zugehört hatte. Die zehn Minuten mussten übrigens schon lange vorüber sein, fiel ihm ein.
Lassen Sie nur", antwortete Anna mit einer leisen Abwehr, „ich werde vor dem Richter noch viel mehr sagen. Ich werde ihm sagen, dass die Leute, die heute die Staatsgewalt in den Händen haben, nichts weiter sind, als die Todfeinde der Arbeiterschaft, dass sie die Staatsgewalt zu nichts anderem benutzen, als für die Unternehmer zu sorgen und die Rechte der Arbeiter mit „Staatsgewalt" zu unterdrücken. Und den sozialdemokratischen Arbeitern will ich 6agen — vor Gericht werde ich es tun — dass ihre Führer, die diesen Staat unterstützen, genau dieselben Feinde von uns sind, die wir vernichten müssen, wenn wir — leben wollen. Das habe ich von diesem I. Mai gelernt."
„Anna, du fragst gar nicht nach dem Jungen", sagte Kurt, nur um sie auf andere Gedanken zu bringen. Über ihr blasses Gesicht zogen schon wieder die Schatten der Fieberröte,
„Ich habe so viel an ihn gedacht, aber noch mehr dachte ich an die Genossen. Von den meisten kenne ich ja nur die Gesichter, weiß noch nicht mal immer, wie sie heißen. Kurt, ich schäme mich so, dass du eine so schlechte Genossin gehabt hast."
Kurt nahm ihre beiden Hände zusammen: „Und jetzt haben wir eine sehr, sehr gute und tapfere Genossin, nicht wahr? Anna, wir werden alle auf dich warten ... " —
Leise erhob er sich, als ihn die Beamtin an der Schulter berührte. Anna lag mit geschlossenen Augen im Bett, über das die Tafel mit den wilden Sprüngen der Fieberkurve hing. Es schien, als wenn sie schliefe. Auf dem schmalen, harten Mund in dem müden, blassen Gesicht lag ein junges, zukunftsfrohes Lächeln —.
„Vorwärts" am 5. November 1930:
„Genosse Zörgiebel, der in den einstweiligen Ruhestand tritt, gewiss aber bald einen, seinen hohen Verdiensten und Fähigkeiten entsprechenden Wirkungskreis finden wird, hat sich während der Jahre seiner Berliner Wirksamkeit in den weitesten Kreisen der Berliner Bevölkerung Achtung und Sympathie erworben. Wer sein Wirken von der nächsten Nähe zu verfolgen Gelegenheil hatte, weiß, dass Menschlichkeit und der Wille zu helfen und zu schützen, stets' seine leitenden Gesichts»punkte waren. Dank und beste Wünsche aller vernünftigen und anständigen Berliner werden ihn in seine neue Tätigkeit begleiten."
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